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Die Chorherren

Der Bischof war gestorben. Sein Ende war tapfer gewesen, wie sein Leben. Monseigneur Prat hatte die Sterbesakramente empfangen und seine Seele entlastet, und nun lag er ruhig, fast heiter da, bereit vor Gottes Antlitz zu treten, während sein Großvikar und die Chorherren ihn ernst umstanden und seine Dienerschaft, besonders sein treuer Kammerdiener, heiße Tränen vergoß. Er dachte an die Vergangenheit zurück. Sein Leben war gut, schön und bewegt gewesen, ganz wie er es sich erträumt hatte. Seinem Wirken dankte die Diözese eine ganze Saat von Klöstern und Hospizen. Er war beliebt und selbst berühmt geworden. Er dachte an seine Tätigkeit als klerikaler Abgeordneter, seine Reisen nach Paris, die hübsche Junggesellenwohnung im Faubourg Saint-Germain und seine Erfolge als Redner, die Triumphtage auf der Tribüne, wo seine Priesterarme sich gleich Flügeln bewegten und seine weißen Hände über der Versammlung schwebten wie der Geist Gottes über den Wassern ...

Monseigneur Prat entsann sich alles dessen ganz genau. Er geriet in Feuer, frohlockte und versuchte noch Rednergebärden. Aufrecht saß er in seinem Bett, den Körper von Kissen gestützt, aber heiter und fröhlich, fast kampflustig, in der Rechten ein großes elfenbeinernes Kruzifix schwingend. Er ließ es spielend durch seine Finger gleiten, warf es in die Luft, fing es wieder auf, schwenkte es hin und her und trieb unbewußt seine Kurzweil damit, wie ein nervöser Zeitungsleser mit einem Papiermesser ...

Die gestrengen Chorherren fühlten sich verletzt. Sie hätten das heilige Kruzifix gern aus den unehrerbietigen Händen des Sterbenden befreit, aber sie wagten es nicht. Starrköpfig und herrisch, wie er gegen sie war, schüchterte er sie noch an der Schwelle seines Grabes ein. Seine Augen flackerten im letzten Schimmer. Er sprach noch völlig klar und sehr schnell; er traf tausend Anordnungen. Mit boshaftem Lächeln, dessen ganze Tücke sie erst später ermessen sollten, winkte er dem Großvikar zu und sagte röchelnd: »Testament ... da ... Schreibtischschublade ... Selbstgeschrieben... Nicht Notar... Morgen... dem Kapitel vorlesen ...« Und alsbald verschied er, wie wenn ihm nach dieser Mitteilung nichts andres übrig bliebe, als in den Tod zu flüchten ... Das große Kruzifix entglitt seiner Hand, sank um und fiel ihm auf die Brust, an der es zu entschlafen schien, wie am Busen eines Freundes.

Tiefe Trauer erfüllte das ganze Land. Der Bischof war wegen seiner Freigebigkeit, seiner Behäbigkeit und Unerschrockenheit überall beliebt gewesen. In der Stadt wie im ganzen Bistum herrschte aufrichtige Betrübnis. In allen Gemeinden läuteten die Glocken und zogen schwarze Trauerpfade durch die Luft, die wie von Wehklagen bevölkert schienen ...

Im bischöflichen Palast ward der Leichnam nach seiner Einbalsamierung im großen Prunksaale aufgebahrt; er lag im Bischofsornat auf einem Paradebett, einer Art von riesiger Estrade mit Kerzen ringsum, und die Seminaristen lösten sich in der Totenwache ab. Auch sie liebten den Entschlafenen. Er hatte die Herzen dieser angehenden Priester schnell gewonnen; war er doch selbst ganz so sorglos und vertrauensselig, zu Gott und dem Zufall ergeben, so lyrisch angehaucht und ahnungslos, wie die Jugend! Die Chorherren dagegen lagen in stetem Konflikt mit ihrem Bischof; es verdroß sie, ihn so unüberlegt, waghalsig, redselig und undiplomatisch zu sehen. Er berechnete seine Worte und Gedanken nicht besser, als seine Ausgaben. In welchem Zustande würden sie die Geldangelegenheiten der Diözese wohl finden?

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Dem letzten Willen Seiner Eminenz gemäß versammelte der Großvikar das Domkapitel am folgenden Tage im großen Kapitelsaale des Bischofspalastes, um das Testament des Monseigneur Prat zu verlesen. Es hatte sich tatsächlich in der bezeichneten Schreibtischschublade gefunden.

Von den ersten Zeilen an war alles starr: der Bischof gestand die Unordnung seiner Finanzen ein. Dies Testament war eine Rechnungslegung von einer für den ungeordneten Geist, den man dem Bischof insgemein zuschrieb, geradezu verblüffenden Zuverlässigkeit. Er hatte viel zu viel angefangen: Rechnungen von Baumeistern für Kinder- und Greisenhospize, neue Klöster, Anleihen für Priesterschulen, die in der Zeit des Kampfes gegen den Laienunterricht so viel Geld gekostet hatten und so weiter. Die Gegenrechnung bildeten seine Aktiva: Dreihunderttausend Franken eigenes Vermögen, mit dem wenigstens ein Teil der Schulden gedeckt werden sollte, ferner eine Aufzählung seines Mobiliars, das sich in Paris in der »Junggesellenwohnung« im Faubourg Saint-Germain befand.

Der Großvikar stockte mitten im Vorlesen. Er erstickte schier ... Seine Stimme bebte vor Wut und auch vor Scham über einen solchen Stand der Dinge, der sich da plötzlich enthüllte.

»Welch ein Skandal!« wagte einer der jüngsten Chorherren zu bemerken. Er löste dem allgemeinen Empfinden die Zunge.

Jetzt wurden auch die anderen kecker.

»Er hat uns hinters Licht geführt.«

»Er war ein Narr.«

»Ein Spitzbube.«

»Zwei Millionen Schulden?«

»Was sollen wir anfangen?«

»Bankerott! Ein Bistum in Bankerott!« schrie es durcheinander.

Der Großvikar las weiter:

»In meiner Wohnung in Paris befinden sich einige Gegenstände, durch deren Verkauf sich die aktive Hinterlassenschaft noch vermehren läßt, nämlich: die seltenen Bücher meiner Bibliothek, erste Ausgaben von Bossuet, Racine, Ronsard, sowie meine Kunstgegenstande: ich habe zwei Zeichnungen von Latour, die ihre 30 000 Franken wert sind, und einen Delacroix, der ebensoviel bringen muß.«

Jetzt brach unter den Chorherren ein Entrüstungssturm los. »Ein Delacroix! Er kaufte also Gemälde und bezahlte die Maurer nicht! Also dafür sammelte er Almosen und raubte die Frommen aus,« schrie abermals alles durcheinander. Der Großvikar fuhr fort: »Ich habe zehn Pastoralringe, einige mit seltenen Steinen. Der Erlös hierfür, der in der Gesamtrechnung nicht aufgeführt zu werden braucht, wird die Ansprüche meines Verlegers decken, der meine gesammelten Werke veröffentlicht hat: zehn Bände Parlamentsreden, Verordnungen und Predigten.«

Wiederum ein Zornesausbruch der Chorherren, noch heftiger, als vorher. Wie der Schaum über die Wogen, lief ein Gelächter von Mund zu Mund.

»Seine gesammelten Werke!«

»Nicht ein Exemplar ist verkauft!«

»Und überall abgeschrieben.«

»Jawohl, von Lacordaire, von Bourdaloue ...«

Der Groll, die lange gehegte Feindschaft brach offen aus. Der rote Wein des Ehrgeizes, den die Autorität des Bischofs so lange gepreßt hatte, war in Essig und Galle umgeschlagen und strömte nun aus übervollem Herzen. – Ein Sumpf von Haß stagnierte; langes, verblüfftes Schweigen herrschte.

Dann fingen die Spottreden wieder an.

»Seine Ringe, um die Bücher zu bezahlen.«

»Zehn Ringe, wie ein Frauenzimmer.«

»Geschenke vielleicht ...«

»Wer weiß, was für ein Leben er in Paris geführt hat!« bemerkte einer der ältesten Chorherren, der auf den Bischofstuhl gehofft hatte, als Monseigneur Prat ihn erhielt – o, durch welche Kabalen und schmählichen Kompromisse in den Vorzimmern der Pariser Ministerien! ...

»Eine Wohnung,« fuhr der rachsüchtige Chorherr fort. »Steigt ein frommer Bischof nicht in einem Kloster ab, oder bei einem Priester und zur Not in einem Gasthof, wo Geistliche abzusteigen pflegen? Aber eine Wohnung!«

»Eine Junggesellenwohnung,« zischelte der jüngste Chorherr.

»Jawohl, wie ein Lebemann.«

»Vielleicht hat er auch Damen empfangen.«

»Dahin also ist das Geld des Bistums gewandert!«

Eine Sturmflut von Ausrufen, Hohngelächtern, Flüchen und boshaften Witzen prallte gegen die Wände des Kapitelsaals, als wollte sie die Türen sprengen und den Monseigneur, der da nebenan im Prunksaale ruhte, hinwegschwemmen. Es war ein wahrer Höllenlärm. Der Großvikar winkte der tosenden Versammlung, innezuhalten. »Vorsicht!« mahnte der ergraute Heuchler und erinnerte die Chorherren an die jungen Seminaristen nebenan, die sich von ihrem Bischof hatten blenden lassen und nun weinend an seiner Leiche die Wacht hielten.

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Monseigneur Prat ward mit allem Pomp bestattet. Die ganze offizielle Welt war bei der Leichenfeier zugegen und pries die große politische und religiöse Erscheinung, den Bischof und Abgeordneten, der vor allem ein guter Patriot gewesen war. Das Volk weinte und drängte sich auf den Straßen, deren Laternen angezündet und mit Flor umhüllt waren, wie goldene Herzen oder vom Himmel herabgekommene lichte Vögel, die Trauer angelegt hatten. Eine tiefe Bewegung ergriff die Menge, als der Tote auf seinem hohen Paradebett vorbeigetragen wurde. Wie er da ruhte, gen Himmel blickend, von wo der Glockenklang kam! Ein regungsloses Antlitz, auf dem die Schönheit des Todes und mehr noch die Ruhe der Ewigkeit lag! ... Sein Antlitz, doch zu Marmor erstarrt! Rührung ergriff jeden, der dieses Antlitz sah, als der Tote vom Bischofspalast nach dem Dom gebracht ward. Denn so wollte es die alte Sitte, an der man in der Provinz zäh hängt. Die Totenmesse ward mit großem Pomp gefeiert. Die Orgel spannte ihren schwarzen Sammet aus; tausend Lichter flirrten an den totenbleichen Kerzen, und der Weihwedel besprengte die Andächtigen mit kalten Tropfen, wie mit zerstäubten Tränenschauern ...

Als die Menge den Dom verlassen hatte und die schweren Pforten mit den eisernen Riegeln sich schlossen, trugen die Meßner den Sarg des Bischofs neben das Paradebett, das während des Totenamts den Katafalk vertreten hatte. Und wie es Brauch war, erhoben sich die Chorherren, um Seine Eminenz in den Sarg zu betten.

Es war dies ihre letzte Pflicht, die ihnen niemand abnehmen konnte. Sie hoben den Leichnam auf und legten ihn in den Sarg, dann zogen sie die Kissen fort, auf denen er ruhte, um ihn wagerecht auszustrecken. Aber, o seltsames Schauspiel: Der Bischof blieb aufrecht sitzen. Der Körper war im Augenblick des Todes in sitzender Stellung gewesen und so erkaltet. Jetzt war er nicht wieder auszustrecken; dieser Winkel war nicht mehr gerade zu biegen, und der grausige Zirkel, den er mit sich selbst bildete, ließ sich nicht mehr öffnen. Er blieb am Rande seines Sarges sitzen ...

Man versuchte ihn zu strecken und zu legen: er leistete Widerstand. Die Chorherren blickten sich bald sprachlos, bald wütend an. Selbst im Tode schien er sie noch zum besten zu haben und zu reizen...

Da packte der jüngste Chorherr den Toten an der Brust und drückte ihn mit den Schulterblättern auf den Sargboden nieder, wie ein Sieger seinen bezwungenen Feind. Ein dumpfer Krach... Alle Chorherren griffen zu, streckten den Leichnam lang aus und legten ihn mit Püffen flach in den Bleisarg. Dann falteten sie die zusammengelegten Hände, der Großvikar warf, ohne sich zu bücken, den goldenen Krummstab hinterher, so daß er dem Toten ins Gesicht schlug, und zuletzt ließ man den Sargdeckel mit großem Gepolter niederfallen. Aber er schloß schlecht, denn Kopf und Körper der Leiche standen wegen ihrer langen sitzenden Haltung noch immer in die Höhe, und so mußten die Chorherren ihren Bischof schließlich mit vereinigten Kräften niederdrücken, indem sie sich einmütig und mit kaum verhehltem Lachen, wie im Gefühl einer befriedigten Rache, auf den Sarg setzten.


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