Alexander Roda Roda
Der Schnaps, der Rauchtabak und die verfluchte Liebe
Alexander Roda Roda

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Insurrektion in Wlassenitza – 1878. –

Schon während des russisch-türkischen Krieges hatte der Sultan einem Sarajevoer Türken namens Djaferagitsch die Erlaubnis gegeben, ein berittenes Freiwilligenkorps anzuwerben. Es sollte an die serbische Grenze marschieren – zu welchem Zweck, war nicht bekannt. An die tausend Mann warens, verwegene Söhne erregter Zeiten. Sie fielen in Wlassenitza ein, um hier zu rasten. Da ging es ihnen so wohl, daß sie ihre Bestimmung ganz vergaßen. Der arme Ort mußte sie wochenlang aufs beste nähren, Tag und Nacht zechte die Rotte, erpreßte bei Islam und Rajah Kontribution und schändete die christlichen Weiber.

Als die Leiden schon weit über das Maß der landesüblichen Bedrückung gingen, versammelten sich die Häupter der Gemeinde – Moslim, Serben und Katholiken – um zu beraten, wie man sich der Auswürflinge entledigen könnte. Lutfi Effendi, ein Anatolier, Kommandant der kleinen ständigen Besatzung, nahm an der Beratung teil.

Während der lebhaftesten Debatte öffnete sich die Tür, und es trat – Djaferagitsch ein. Sein Gesicht war teuflisch verzerrt. Bleich vor Wut, schrie er ins Zimmer:

»Willkommen, Leute! Was gibt es so wichtiges zu besprechen ohne den Bevollmächtigten des Sultans? – Na, ich will euch helfen, mich vertreiben: legt fünftausend Dukaten auf den Tisch, und wir sagen euch Lebewohl!«

Bestürzt über das Erscheinen des Wildlings und die 136 Höhe seiner Forderung blieben die Alten still. Lutfi Effendi aber sagte, ohne mit einer Wimper zu zucken:

»Djaferaga, meine Soldaten stehen an den Schießscharten. Das Pulver ist trocken. Wenn der Muezzin zum Vierten Gebet ruft, wird der erste Schuß fallen.«

Djaferagitsch hob drohend die Faust, antwortete aber nichts und verschwand. Vor dem Haus bestieg er seinen Falben und galoppierte davon, daß die Funken vom Pflaster stoben.

Am Abend war die ganze Schar verschwunden. Eine unbeschreibliche Freude herrschte im Städtchen. Alle örtlichen Gegnerschaften waren vergessen. Todfeinde verziehen einander, umarmten und küßten sich.


Das war das Vorspiel der Insurrektion. Noch heute trinkt man am Tag des Namenspatrons in jedem serbischen Haus von Wlassenitza ein Glas auf das Wohl Lutfi Effendis, des Befreiers.

Mittlerweile waren wirre Gerüchte vom Ende des Krieges zu uns gedrungen, der Sultan sollte Bosnien dem Kaiser von Österreich geschenkt haben. Doch die Kunde schien so abenteuerlich, daß niemand recht daran glaubte.

Und wieder eines Tages brachte der Pope eine gedruckte Zeitung, in der es deutlich zu lesen stand: Österreich hatte die Save überschritten. – Sofort rieten einige Serben zum Aufstand, und es wäre vielleicht zu einem Massaker der Türken gekommen, wenn nicht . . . Wenn nicht ein kleiner, zerlumpter Kerl aus Maglei berichtet hätte, wie man dort eine Husarenabteilung 137 aufgerieben und den Österreicher bis an die Save zurückgetrieben habe.

»Kinder,« sagte der Pope, »solang der Österreicher nicht dreimal in der Pfarre gefrühstückt hat, ruft: ›Padischahu tschok jascha!‹ – Dann aber: ›Živio Franjo Josip!‹


Einige Zeit verging für die Christen in banger Erwartung. Eines Morgens wurden sie durch Knall und Lärm aus dem Schlaf geweckt. Zehn oder zwölf fremde Türken zogen durch die Gassen, schossen in die Luft und riefen die Einwohner zur Erhebung. Als Feldzeichen trugen sie auf einer Stange den Kopf eines Mönchs vorauf.

Der Kaimakam berief die Ältesten ins Stadthaus und befahl ein allgemeines Aufgebot. Er selbst war zu alt, es zu führen, sein Sohn aber bestieg den Schimmel und stellte sich an die Straßenkreuzung. Der Zigeuner Schimo mit der grünen Fahne des Propheten zu Fuß neben ihm.

Alsbald erhob sich allerseits ein Gehen und Trappeln. Beritten oder zu Fuß – je nach Vermögen – aber alle wohlbewaffnet und schweigsam, nahten die Türken. Drüben an der andern Straßenkreuzung sammelten sich die Christen um den blonden Hünen Ilia und seine serbische Fahne. Sammelten sich mit melancholischen Gesängen, von tausend kreischenden Weibern begleitet. Solang der Sieg der Österreicher nicht entschieden sein würde, wollten die Christen in Gottes Namen schlecht und recht mittun.

138 Um die dritte Stunde nach türkischer Uhr setzte sich der Führer in Bewegung. Die Suhari, seine berittene Garde, folgten ihm zunächst, dann ein Trupp andrer Türken. Endlich die Serben; sie sangen die Heldenlieder vom Königssohn Marko. Wieder jammerten und heulten Weiber und Kinder, hängten sich den Pferden an die Hälse und ließen erst los, als Mitscho, der Spaßmacher von Wlassenitza, sie mit groben Verwünschungen zurückjagte.

Das Aufgebot verschwand im Wald in der Richtung nach Tusla. Aus den Gitterfenstern ihrer Söller blickten ihm tränenvoll die türkischen Frauen nach, die Serbinnen knieten vor den Heiligenbildern und rauften sich das Haar. Sie wußten nicht und durften ja nicht wissen, daß ihre Männer nur mitgezogen waren, um den Schein zu wahren.

Schon der nächste Tag brachte Nachrichten vom Kriegsschauplatz. Die Suhari hatten in Tusla ein Einkehrhaus besetzt und schmorten in mächtigen Schnapskesseln Eierspeisen. So berichtete ein »Kurier«, bei dem das Heimweh die Kampfbegierde besiegt hatte.

Wieder nach einigen Tagen sah man auf dem Weg von Tusla ein Staubwölkchen nahen. Das war Mitscho, der auf seinem kleinen Pferdchen heransprengte, ein Werndlgewehr über dem Kopf schwang und schrie:

»He, ihr Leute! Die erste schwäbische Flinte.«

»Wo hast du sie gefunden?« fragte man ihn. – Im Türkenviertel nahm man es aber ernst und freute sich unbändig.

Noch am selben Abend nach dem Fünften Gebet – 139 keine Seele mehr auf den Straßen – kam gemächlich eine Patrouille von drei ungarischen Husaren eingeritten, saß vor dem Stadthaus ab und fragte nach dem Kaimakam. Der hatte sie noch nicht aus dem ersten Stockwerk erblickt, als er schon durchs Hintertürchen verschwand, ohne sich jemals wieder hier sehen zu lassen. Im selben Augenblick nahmen auch die zehn Saptieh der Garnisonswache spornstreichs gegen den Wald zu reißaus.

Mein Vater war zu alt, das Possenspiel seiner serbischen Mitbürger mitzumachen – man hatte ihn mit der Bestimmung zurückgelassen, den Proviantnachschub für die Kämpfer des Ortes zu besorgen. Tag und Nacht war er, wie die andern Alten, unter Waffen und schlief – seine Pistolen im Gürtel. Jetzt übernahm er ohne Zögern die Geschäfte der Gemeinde. Bebend empfing er aus der Hand des Husarenkorporals eine offene Order: die Einwohnerschaft von Wlassenitza habe spätestens bis morgen früh sämtliche Waffen vor die Kaserne zu bringen, aufzuschlichten und anzuzünden.

Diese Nacht konnte niemand ein Auge schließen. Die städtischen Saptieh durchsuchten die Häuser, rissen sogar die Fußböden auf und bauten aus den Gewehren und Handschars einen Scheiterhaufen, höher als das höchste Haus der Stadt. Tausende der teuersten Waffen, von Gold, Silber und Edelsteinen strotzend, gingen in Flammen auf.

Aber die Order des Husarenkorporals enthielt noch einen zweiten Befehl: die dreißig Ältesten der Gemeinde sollten dem österreichischen Brigadier bis zum 140 Kraljewo-Polje entgegenreiten und ihn dort erwarten. Wenn auf dem Weg bis Wlassenitza ein einziger Schuß fiele, würden die Geiseln augenblicklich gehenkt werden.

Zeitig am Morgen ritten unsre Notabeln aus, zum erstenmal im Leben unbewaffnet – Jussuf Aga Kurtagitsch und Sulejman Effendi Salaharewitsch an der Spitze. Der Korporal führte. So gings nach dem Kraljewo-Polje. Alle in schwerer Sorge: denn wenns einem übermütigen Schäfer einfiele, die Österreicher anzuschießen – es kostete allen das Leben.

Vor dem Lager hielt man die Geiseln an. Der General schritt auf sie zu, umgeben von einem Zug Infanterie. Die Eskorte teilte sich, stellte sich rechts und links der Straße auf und nahm die Gewehre fertig. Das Geklirr des Griffes ging den unsern durch Mark und Bem.

»Habt ihr meinen Brief gelesen?« fragte der General.

»Ja, ja«, riefen alle.

»Habt ihr ihn verstanden und die Waffen verbrannt?«

»Herr, es ist kein Messer zum Brotschneiden im Haus«, beeilte sich Jussuf Aga zu versichern.

»Ihr bürgt mir mit euerm Leben für einen friedlichen Einmarsch?«

»Ja, Herr. Es ist des Kaisers Wille, so muß es wohl auch Gottes Wille sein.«

Der General lud die Deputation in sein Zelt und bewirtete sie mit Kaffee. Er war so leutselig, daß die Serben ihre Freude kaum mehr zu verbergen wußten.

Nun noch die ängstliche Spannung des Einmarsches. Er geschah mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen.

141 Die serbischen Weiber hatten ihre Häuser rasch mit Genferkreuzen bezeichnet. Als der Wind die ersten Trompetenklänge vom Wald herübertrug, gab die Mutter mir und dem Schwesterchen Messer in die Hand und rief.

»Macht Licht, Kinder! Macht Licht!«

Wir zerschlugen jubelnd die Gittersiebe vor den Fenstern – man hatte sie der schrecklichen Gesellen Djafers willen angebracht – und sahen zum erstenmal seit unserm Erinnern die volle Sonne in die Stube fluten.

Die Neugier wollte uns hinaustreiben, die Furcht zu Hause halten, und die Neugier siegte. Wir bewunderten die unendliche, farbenreiche Menge der Soldaten und jauchzten und sprangen nach dem Takt der großen Trommel. Ein Hund zog sie, der war so groß wie Onkel Mitschos Pferd.

Es war ein Tag des Triumphes für die Christen. Sie meinten nicht anders als: nun würde es dem Islam an die Gurgel gehen.

Der Vater erschien im Hoftor.

»Macht Ordnung, macht fertig,« rief er mit tollem Lachen, »ein Offizier kommt zu uns ins Quartier.«

Und schon trat Major von Scharunatz ein. (Er ist nachher als Brigadier in Zara gestorben.) Die Mutter geleitete ihn, weinend vor Freude, in das Gastzimmer, und soviel er sich auch sträubte, sie zog ihm die Stiefel aus und wusch ihm eigenhändig die Füße. Zum Mahl mußte er unter dem Bild des Hauptpatrons Platz nehmen. Ehe er noch den Willkommtrunk getan hatte, ergriff er mich, zog mich auf die Knie und küßte mich mit seinen bärtigen Lippen.

142 Da rannte mein Vater ans offene Fenster und schrie mit voller Kehle ins Türkenviertel hinüber:

»Živio Franjo Josip! Es lebe unser christlicher Kaiser und Herr!«

Die dreihundertjährige Türkenherrschaft in Bosnien war vernichtet. 143

 

Falkenflug in Nöten.

Herr Doktor Andreas Pajor ging also nach Haus – immer mit dem Gedanken beschäftigt, wer dieser Mausi nur sein könnte. Im Geist nahm er eine Defilierung der Garnison vor und versuchte, unter den Offizieren seiner Bekanntschaft den niedlichsten herauszufinden – einen, den Frauen Mausi nennen könnten.

Ein Offizier mußte es ja sein. Im Brief war von einer Ausrückung die Rede. – – Oder . . . hatte man sich einen schlechten Spaß mit ihm erlaubt? Und Mausi existierte gar nicht? – Immerhin – er wird den peinlichen Versuch wagen, der Sache auf den Grund zu kommen. – – Mausi –. Der Name klingt nicht allzu rabiat.

Herr Doktor Pajor betrat das Vorzimmer seiner Wohnung – da erblickte er eine Offizierskappe auf dem Kleiderrechen. Es gab ihm einen Stich.

»Pepi, wer is drinnen?« fragte er das Mädchen.

Sie lächelte unverschämt mitleidig.

»Der Herr Leutnant Falkenflug.«

So –. Also der –. Gott sei Dank, nur der –. Der ungelenke Schwabe –.

Doktor Pajor rückte die Weste straff, blickte martialisch in den Spiegel und riß die Tü . . . die Türe auf, ganz bleich vor Erregung.

»Sie! – Das ist unglaublich –«, schrie er.

Als Frau Mari stumm blieb und Falkenflug noch stummer:

»Das ist geradezu gemein.«


144 Oberst Cibula hörte davon am Abend im Bürgerkasino erzählen. Zuerst kams ihm sehr amüsant vor. »Verfluchter Schwabe!« dachte er. Aber bald versank er in Nachdenken. Die Affäre war eigentlich gar nicht so einfach . . .

»Also darum –! Also darum –!« gings ihm immerzu durch den Kopf, als sein Schatten auf dem mondübergossenen Asphalt rhythmisch vor ihm hertanzte.

Nervös erwartete er am nächsten Tag den Adjutanten zum Referat. Er unterschrieb hastig die täglichen Eingaben – denn seine Neugier brannte – und sprudelte dann – möglichst gleichgültig – hervor:

»Sonst noch etwas?«

»Jawohl, Herr Oberst – Herr Leutnant Falkenflug.«

»Herein mit ihm!«

Er schnallte den Säbel um.

Und schon klirrte Falkenflug ins Zimmer, ungewöhnlich rot, ganz ungewöhnlich rot – und meldete gehorsamst . . . den . . . Vorfall . . . mit Doktor Andreas Pajor, Sekretär der Handelskammer. – Notdürftig und dürftig, denn ein Redner war Falkenflug, weiß Gott, nie gewesen.

Oberst Cibula zwang sich zur Ruhe.

»Herr Leutnant – er hat Ihnen also gesagt, Sie seien gemein?«

»Er hat gesagt: ›Das ist gemein.‹ – Glaub ich. Ganz sicher weiß ichs nicht. Ich war . . .« – Falkenflug suchte mühsam nach einem Ausdruck.

»Na – gleichgültig, Herr Leutnant. Sei es wie immer gewesen. – Was haben Sie getan?«

145 Falkenflug zog die Stirn in Falten und blickte zu Boden – denn . . . er hatte nichts getan.

Eine Weile blieb es still. Dann wandte sich Oberst Cibula herum und klingelte einmal. In Gegenwart des Adjutanten befahl er:

»Herr Leutnant, Sie werden mir binnen vier und zwanzig Stunden melden, was Sie nachträglich veranlaßt haben.«


Falkenflug bewohnte eine weißgetünchte Stube in der letzten Gasse. Sie war, bei Gott, nicht darnach angetan, so viele Gäste zu empfangen. Es war ein ewiges Kommen und Gehen. Selbst Rittmeister Graf Bülen ließ sich die Mühe nicht verdrießen – und das will was heißen.

»Also, mein lieber Falkenflug, da bleibt dir nichts übrig – du mußt den Menschen durchwichsen.«

Falkenflug schüttelte störrisch den Quadratschädel.

»Ich begreif dich wirklich nicht, Falkenflug. Spiel doch nicht mit deiner Karriere. Du mußt bedenken – schon aus Kameradschaft . . . das ganze Regiment ist in deiner Person beleidigt.«

»Ich tus nicht«, stöhnte Falkenflug.

»Ja, aber warum nicht, um Himmels willen? Ich bitte, der Oberst – alle Achtung – geht da geradezu kavaliersmäßig vor. Weniger verlangen schon man kann nicht. Einen Handelskammersekretär durchwichsen – das is doch keine Kunst?«

Falkenflug sprang auf. Als wälze er sich eine Zentnerlast von der Brust, sagte er zum erstenmal seine Meinung: 146

»Ja, ich seh ein, es ist eine Schand für alle. Aber wenn ich gleich Charge ablegen müßt, Herr Rittmeister – ich tus nicht. – Warum? Weil, wenn Frau Mari meine Frau wär, und ich möcht den Pajor bei ihr finden oder einen andern Unbekannten – ich . . . ich . . .«

»Davon is keine Rede. Das is ja selbstverständlich. Hier handelt sichs nicht mehr darum. Hier liegt ein Befehl des Obersten vor.«

»Wenn der Herr Oberst will, daß ich dem Pajor glatt den Kopf abschlag – da bin ich Soldat und muß gehorchen: in einer halben Stund bring ich ihm den Kopf. – Aber zur Reinigung meiner Ehre rupf ich dem Pajor kein Haar aus. Das gibts nicht.«

Graf Bülen stand auf und zuckte die Achseln.

»Du bist ein eigensinniger Schwab, mein lieber Falkenflug – dir is nicht zu helfen.«

»Nein –schau, Herr Rittmeister, sei nicht bös – es . . . es . . . geht nicht.«

Nachmittag brachte dann die Ordonnanz aus der Regimentskanzlei ein Dienststück.

Falkenflug setzte zitternd seinen Paraphe in das Zustellungsbuch und las:

K. u. k. Ulanenregiment Fürst von Flandern Nr. 9.

Reservat.

Ehrenrätlicher Ausschuß.

Dienstzettel.

Erdut, am 11. Februar 1902.

Ew. Wohlgeboren haben aus Anlaß der seitens des Regimentskommandos angeordneten ehrenrätlichen 147 Erhebungen am 12. d. M., 10 Uhr 30' vormittag im Bibliothekszimmer des Menagelokales zu erscheinen. Adjustierung: kommode.

v. Welikowski, Mjr.


Wundern – nein, wundern durfte sich Falkenflug nicht darüber. Es hatte nicht anders kommen können.

Einen Augenblick dachte er ans Erschießen. – Wenn er so erwog, wie lustig er noch vorgestern gewesen war – Frau Mari hatte ihm mit ihrem Batisttaschentuch die Rockknöpfe geputzt und war ihm dabei immer an die Nase gefahren – und keins hatte auch nur geahnt . . .

Zum erstenmal kam ihm das Verlangen, zu wissen, was eigentlich mit ihr geschehen war. Ob sich Pajors scheiden lassen werden?

Immerhin – sie wird nach wie vor Frau Mari bleiben.

Ihm aber – ihm wird der Ehrenrätliche Ausschuß die Ulanka abknöpfen.


Und vor einem Abgrund, der nicht weniger tief war, stand auch Oberst Cibula. Kein Zweifel – er wird pensioniert werden, wenn es erst so weit ist . . .

Sein Leben lang lernen, buckerln, kuschen, sich plagen – durch alle Fallstricke der Manöver, Kriegsspiele, Beschreibungen durchwinden – und dann so plötzlich über ein so kleines Steinchen straucheln – zu dumm.

Zu dumm und doch verzeihlich. Wenn einem auch 148 die Jahre ihr Stammblatt ins Gesicht geschrieben haben – man bleibt Soldat und jung genug, das herausfordernde Lächeln einer Frau zu quittieren . . .

»Herr Leutnant Kalnay«, meldet Martin.

Kalnay tritt ein.

»Herr Oberst, ich bitte gehorsamst um eine private Unterredung.«

»Nehmen Sie Platz.«

Kalnay rührt sich nicht.

»Es ist dem Herrn Obersten wohl bekannt, daß ich Mitglied des Ehrenrätlichen Ausschusses bin. Ich bitte gehorsamst um Enthebung von dieser Stelle.«

Oberst Cibula sieht den Sprecher groß an. Dann aber geht ihm ein Licht auf: – Ah, du auch?

Er geht in die Kanzlei, um in der Vorschrift nachzulesen, was da zu tun wäre. Da trifft er den Grafen Bülen.

»Schöne Geschichte das«, schmettert der Rittmeister. »Statt mich als Mitglied des Ausschusses nobel hinzusetzen und Zigarren zu rauchen, kann ich jetzt zwanzigmal in Paradehosen – Zeugenaussagen machen.«

»Zeu–gen–aus–sa–gen, Bülen?«

»Ja, ja, Herr Oberst. Die alten Herren haben leicht lachen.« – Und schon besteigt er seinen Braun und reitet davon.


»Geben Sie mir das Dienstbuch A – 46.«

Der Adjutant:

»Herr Oberst, ich meld gehorsamst, das hat Oberleutnant Zink entliehen.«

149 »Braucht denn der es so notwendig?«

»Er . . . er . . . hat morgen Sitzung, Herr Oberst.«

»Zink? Der ist doch meines Wissens nur Ersatzmann?«

»Jawohl, Herr Oberst. Aber da ich in der Sache ein wenig . . . voreingenommen bin, oder . . . wie . . . ich mich sonst ausdrücken soll . . .«

»Es ist gut – es ist gut«, ruft Oberst Cibula und läuft durchs Zimmer. – Ihm wirbelt der Kopf. Diese Mari! Diese Mari!

Da streckt Major Welikowski fragend den Schädel in die Türspalte.

»Erlaubt, Herr Oberst?«

»Wie gerufen, Welikowski! Ich muß dir ganz sonderbare Sachen bekannt geben. Aber zuerst zu deiner Angelegenheit. Was wünschst du?«

»Acht Wochen Urlaub, Herr Oberst.«

»Urlaub? Entschuldige, lieber Freund, muß das grad jetzt sein? Du weißt doch, es ist die Affäre mit der Frau Mari anhängig . . .«

»Eben darum«, sagt der Major und beißt sich auf die Lippen . . .


Ob nun die Vorerhebungen andauern oder nicht – darin kennt sich eigentlich kein Mensch aus. Es sind fast zwei Jahre seitdem vergangen – Falkenflug macht Dienst und wartet. Wie gespannt er auf das Kommende ist, kann man sich denken: im November ist er an der Tour zum Oberleutnant. Wird er ernannt, so ist das ein Zeichen, daß die Untersuchung eingestellt ist. 150

 

Not.

Wir hatten Manöver in Ostgalizien, da kamen wir aufs Schloß des Grafen Zakrzerzyschski ins Quartier.

Am Abend führte mich der Haushofmeister auf den Flur, wo die Ahnenbilder hingen, und bot mir zwei Porträts zum Kauf an.

»Ja – dürfen Sie die denn verkaufen?« fragte ich.

»Muß ijch, Panje. Herrj Grjaff faljsche Wechsjel unterschrjibben – Frau Grjäffin mitj andern Grjaffen in Parriß – ljebb ijch seit zwei Jahren vonnj Ahnnjen.« 151

 

Die Rettung des Großen Schnapses.

Da hatten wir vor ein paar Jahren einen Herrn in der Equitation, einen ganz jungen Leutnant – vorzüglicher Reiter und Kamerad. Er trank bloß manchmal ein wenig und war dann sehr rabiat. Wenn er seine zehn, zwölf Schluck Kognak unten hatte und in seinem Normalzustand war, blieb nichts übrig, als ihn in einen Wagen zu packen und aus der Stadt aufs freie Feld zum Austoben zu führen.

Gott, man hätte ihm ja längst sanft den Kragen gebrochen, wenn er nicht ein gar so vorzüglicher Reiter und Kamerad gewesen wäre. Aber obs nun einen Jagdritt galt oder eine Privataffäre oder ein Arrangement mit Salonweibern und Klaviertee – wenn es gelang, den Großen Schnaps nüchtern zu erhalten, da konnte man schwören: er wird in Ehren bestehen. Außerdem hatte er drei eigene Pferde. Also so was läßt schon über eine kleine Charakterschwäche hinwegsehen.

Eines Abends, wir sitzen im Restaurant, da nimmt der Große Schnaps die Kappe und will gehen.

»Halloh – wohin so zeitig?« fragt ihn der Equitationskommandant mißtrauisch. Denn man ließ den Großen Schnaps nicht gern allein abenteuern.

Der Große Schnaps tut fromm wie ein Suitepferd. »Nach Haus«, sagt er scheinheilig. »Ich hab heut fünf Gäule im Magen und bin müd.« – Darauf geht er.

Uns hats gleich leid getan.

Richtig, am nächsten Morgen kommt er mit einer ganz zerdrückten Etikette in den Kobel. Alle reden ihm 152 zu, er möge beichten. Er aber schüttelt nur den Kopf und geht unter die Wasserleitung.

Von Arbeit ist natürlich an diesem Vormittag keine Rede – das heißt beim Großen Schnaps nicht. Wir andern hatten Voltigieren, Bügellose auf Schulsätteln und von neun bis zwölf Uhr Depotremonten.

Unser erster Reitlehrer, ich will über seine sonstigen Qualitäten kein Wort verlieren – Ehrenpreis des Zaren, Petersburg, 1898 – – – aber eines hatte er: er war furchtbar pathetisch und furchtbar – neugierig. Länger als bis zwölf Uhr läßt ihm das Geheimnis des Großen Schnapses keine Ruhe.

»Kornitzer«, sagt er – das war der Große Schnaps – »Kornitzer, schäm dich ein wenig! Du hast sicher wieder etwas angestellt, was auf die ganze Equitation fallen wird. Du hast unsern Ehrenschild beschmutzt, der bisher strahlend rein in meiner Faust geflattert hat.«

Der Große Schnaps seufzt, wackelt mit dem Kork und beginnt zu erzählen.

Was vorgefallen ist? Schnaps ist gestern abend selbstverständlich nicht schlafen gegangen, sondern eigenmächtig in Zivil nach Wien gefahren und erst heute morgen mit dem Lumpenzug zurückgekehrt.

Na, das ist zwar ein Vergehen, wenn man in Training ist und so kurz vor einem Rennen – aber doch noch kein Verbrechen. – Was aber Schnaps nach seiner Aussage in Wien getan hat, übersteigt wohl alle Grenzen. – Er geht zuerst zu Ronacher auf den Logengang und dann ins Café hinunter, zu den 153 Zigeunern. Die Menscher dort begrüßen ihn mit Jubelgeheul und flößen ihm Alkohol ein. – Das geht so bis vier Uhr. – Da erst fällt ihm ein, daß er doch heute noch arbeiten muß, und er nimmt Direktion Südbahnhof.

Angeblich ist er auf dem Naschmarkt einem Herrn mit einem Hund begegnet.

»Guten Tag, Dackel!« sagt der Große Schnaps.

»Sie, das ist kein Dackel, das ist ein Moppel«, sagt der Herr.

»Guten Tag, Dackel!« sagt der Große Schnaps noch einmal – jedenfalls schon mit Stimme Nr. 3.

Dackel – Moppel, Moppel – Dackel – ein Wort gibt das andre, und die Keilerei ist fertig. Der Große Schnaps haut seinem Gegner mit Stichfinte – Primhieb eine aufs Dach, tut den Hund unter den Überzieher und will gehen.

In diesem Augenblick tritt ein Gasarbeiter auf, der in dem Drama bisher nicht vorgekommen war, und nimmt für irgend jemand Partei – der Große Schnaps kann sich bloß nicht erinnern, für wen. Soviel weiß Schnaps, daß er spornstreichs auf den Südbahnhof gelaufen und in den Lumpenzug gestiegen ist, den ersten Zug, der morgens von Wien weggeht. Ein ganzes Rudel von Wachleuten hinter ihm drein.

Da hatten wir also die Bescherung! Jetzt, dicht vor dem Rennen werden wir in allen Zeitungen stehen!

Der Erste und der Zweite Reitlehrer zogen sich denn auch gleich in den Marodenstall zu einer Beratung zurück.

154 Von einer Einvernahme des Großen Schnapses mußte abgesehen werden – der Mann war einfach in Agonie.

Nach einer Weile kam der Erste Reitlehrer hervor und fragte:

»Wer meldet sich freiwillig zu einer Fahrt nach Wien, um den Gasarbeiter vom Naschmarkt ausfindig zu machen?«

Sofort meldete sich der Große Schnaps. Der Erste wählte aber Machalub, weil der doch wegen seiner 37. Entzündung ohnehin nicht reiten konnte, gab ihm Verhaltungsmaßregeln, einen Zehner aus dem Pumpfond, und Machalub fuhr ab.

Am Abend brachte er richtig den Gasarbeiter.

»Kennen Sie diesen Herrn?« fragte der Erste Reitlehrer und zeigte auf den Großen Schnaps.

»Awa freili kenn i eahm! Serwas Schurl mit der Blechhauben!«

Die Augen des Ersten gerieten in ein Phosphorfunkeln und irrten vom Großen Schnaps auf den Gasarbeiter und wieder zurück. So groß auch unser aller Empörung war – die Sache ließ sich nicht ungeschehen machen – der Große Schnaps hatte am Rand einer Gasgrube mit dem Herrn Gasarbeiter Bruderschaft getrunken.

Und das alles kommt ins Extrablatt. Womöglich mit Illustration.

Ein solcher Skandal war in der Equitation noch nicht dagewesen. Einige rieten sofort zur Anzeige ans Regiment. Aber der Equitationskommandant sprach:

155 »Nein, die Angelegenheit ist intern, denn sie is mehr sportlich, und von Sport versteht der Ehrenrat einen Dineff. Außerdem halte ich den Großen Schnaps für nicht ohne Besserungsfähigkeit bei gelindem Zuspruch.« –(Schnaps war auf dem Sprungstrohsack eingeschlafen.) – »Ich schlag vor, daß wir uns Punkt sechs Uhr abend hier versammeln – alles in Salonadjustierung – dann will ich an Kornitzer eine öffentliche Ansprache halten und ihm zu verstehen geben, daß das der letzte Versuch der Equitation ist, ihn moralisch zu retten

Um sechs Uhr waren wir also da.

Der Große Schnaps hatte seinen Rausch ausgeschlafen und stand mit bleichem Gesicht abseits. Der ungewohnte Anblick so vieler Salonhosen im Kobel – die schweigende Versammlung, die Erwartung einer feierlichen Predigt, deren Berechtigung er fühlte – vielleicht auch ein bedeutender Kater – das alles wirkte sichtlich auf ihn.

Sechs Uhr zehn.

Der Erste Reitlehrer ist noch immer nicht da. Man beginnt leise zu tuscheln. Die Erregung des Großen Schnapses steigt.

»In dieser Beziehung,« sagt der Zweite, »ist unser weltliches Oberhaupt wirklich bewundernswert. Der Mann hat eine Pose wie der Dalei-Lama. Jetzt, zum Beispiel: dadurch, daß er uns hier warten läßt, hebt er die Feierlichkeit des Momentes ungemein plastisch hervor. Und paßts auf, meine Herren, was der Mann uns zu sagen haben wird! Die höchsten Begriffe, von die man sonst kaum in die Sonntagsblätter liest, 156 gurgelt er nur so heraus. Es muß einer schon rein ein Raubmörder sein, wenn er noch einmal rückfällig werden soll.«

Da öffnet sich die Tür, und der Equitationskommandant erscheint. Wir verbeugen uns und blicken zu Boden.

»Kornitzer,« beginnt der Kommandant mit einer Stimme – mit einer Stimme, daß alle überrascht aufblicken – »es gilt, dich dem Laster der Trunksucht, dem du zur Schande der Equitation fröhnst, zu entreißen.«

Ich bitte, so ein Satz! Man mustert den Großen Schnaps, ob der zerschmettert in sich zusammenfallen wird. Statt dessen – grinst Schnaps von einem Ohr zum andern.

Was ist das?

Die Aufklärung folgt auf dem Fuß. Man hat vom Ersten eine große, schöne Rede erwartet – und er fängt an zu gröhlen und zu weinen, fällt dem Großen Schnaps um den Hals, leckt ihm die Stanniolkapsel ab – kurz, der Erste ist stockbesoffen.

Die Rettung des Großen Schnapses vom Laster der Trunksucht war also vollkommen mißlungen.

Der Erste hat zwar nachher geschworen, er werde sich nie mehr vor feierlichen Momenten Courage antrinken – gehalten hat er den Eid nicht. – Im Gegenteil. Er säuft jetzt gewöhnlich mit dem Großen Schnaps zusammen.

Nur verträgt Kornitzer mehr. 157

 

Die Prüfung.

Bei der letzten Fähnrichsprüfung fragte der Konteradmiral einen Akademiker:

»Welche Insel lief Kolumbus zuerst an?«

Dem armen Akademiker fiel Guanahani nicht ein – er nannte aufs Geratewohl Fuegos, eine der Kanarischen Inseln.

»Fuegos –? Was wollte er denn da?«

»Kohlen.« 158

 

Der Vorsichtige.

Ich lud Herrn Oberstleutnant Fattinger – vom Generalstab – zu uns auf die Jagd.

»Mittwoch?« – sagte er – »– gut. – Wer kommt denn sonst noch?«

»Herr Major Pomeisl vom Generalstab, Herr Hauptmann Katscher vom Generalstab . . .«

»Nein, nein – ich danke. Mit Hintermännern im Avancement geh ich nicht auf die Jagd.« 159

 

Tod im Busch.

Wir debuschierten aus einem Wäldchen in langer Front. Es ging über einen Sturzacker – das war sehr mühsam. Alle Leute keuchten.

Von rechts entstand ein Drängen und Stoßen gegen unsre Kompagnie, aber wir konnten nicht nachgeben, unser linker Flügel ging hart am Wasser. So ballten wir uns sechs, sieben Mann hoch zusammen und marschierten im feinen Sand.

»Öffnen!« rief Hauptmann Stewan und wandte sich mit blitzenden Augen zu uns. – Überall ist er voran, dieser Stewan.

Ich versuchte meine Leute nach rechts abzudrücken – Oberleutnant Mittler trieb sie wieder zurück. Er hatte selbst nicht Raum für seinen Zug.

Die neben uns hatten wohl einen Befehl bekommen, denn sie begannen zu laufen und besetzten einen Graben.

Stewan zeigte mit dem Säbel dahin. Doch als wir an die kleine Böschung kamen, war für uns kein Platz mehr, die Leute mußten sich ihn erst innerhalb der Nachbarabteilung mit den Ellenbogen erkämpfen.

Und schossen sofort.

»Seid ihr verrückt?« rief der Hauptmann und tat einen gellenden Pfiff. »Fünfzehnte Kompagnie auf! Laufschritt – mir nach!«

Vorn krümmte sich der Fluß ein wenig, dort legten wir uns in eine Terrainwelle.

»Heda – Jungens! – Das gelbe Feld?! Wo die Rauchwolke aufsteigt?! – Feinde im gelben Feld – zwölfhundert. Langsames Plänklerfeuer.« 160

So schossen wir – weiß Gott, wie lang. Einschläfernd lang. Hinter uns der Rest des Regiments auch. Ein ewiges, melancholisches Knattern – als griffen tausend Zahnräder schnarrend ineinander.

Auf einmal sprang der Feldwebel auf und zeigte dem Hauptmann etwas. Da wechselten wir das Ziel.

Ich wollte Stewan auf eine Bewegung drüben aufmerksam machen, aber er winkte ab, erhob sich und jagte uns weiter. – Zwei-, dreihundert Schritte oder noch mehr, in einen Busch hinein – und durch.

Ein Sausen und Sausen, daß sich alles duckte.

Im Marschieren warf der Freiwillige Birkner einen Arm in die Höhe, drehte sich um und fiel mit einem Schrei auf die Schulter. – Der erste Verlust.

Dann lagen wir vor dem Dickicht.

Krächzend gab der Hauptmann einen Befehl.

Ich war wie taub und verstand ihn nicht.

»Herr Leutnant! Herr Leutnant!« schrie er mir zu – aber wieder ging die Stimme im scharfen Knall des Kleingewehrs verloren. Oberleutnant Mittler, immer neben dem Hauptmann, wiederholte die Distanz.

Vom Fluß her trieb der Wind und machte uns plötzlich freie Sicht.

Ich pfiff. Eben wollte ich schießen lassen, da spritzte vorn ein Springbrunnen von Erde auf, ein kugeliger Dampf – Feuer ballte sich darüber, und etwas kam zischend auf uns zu. Ein glühender Strom, ein Knall, gefolgt von dumpfem Dröhnen.

Im Nu wars still um uns. 161

Dann begann das Geknatter wütender als früher. Dichte Schwaden vom Pulverrauch legten sich vor uns. Ein Höllenlärm durchdrang sie. Ich war von Sinnen vor Furcht. – Die Soldaten habens gut: sie schießen. Aber ich – ich muß untätig den Tod auf mich kommen lassen. Auf mich ganz allein. Ganz allein. Niemand kümmert sich um mich.

Immer stecken Stewan und Mittler beisammen und kümmern sich nicht um mich.

Ich rochiere nach rechts zu ihnen. Sie liegen nebeneinander im Gras und sehen sich an.

»Ja – ja«, ruft der Hauptmann – so, als hätte ich was wollen – und befiehlt, das Feuer einzustellen. Er ist von Staub und Ruß ganz schwarz im Gesicht und noch magerer als sonst.

Der Feldwebel, den Oberleib aufrecht auf den Händen, brüllt wie besessen.

Endlich hört das Knattern auf. Hoch über uns krepiert ein Geschoß, die Fülladung brummt.

Tausendstimmiges Schreien tönt, daneben fadendünn und abgerissen – Trompetensang.

Da – – ein Feuerschein.

Mittler wälzt die Augen heraus und öffnet den Mund.

Stewan ist wie ein Hirsch aufgesprungen.

Noch ein Feuerschein, ein furchtbarer Donnerschlag – Stewan wälzt sich auf dem Boden.

Eine Sekunde bin ich vor Schreck gelähmt. Dann ergreife ich den Säbel und rufe etwas.

Dem Feldwebel klafft der Kopf – er kommandiert: »Vor!« 162

Ich besinne mich und rufe es auch.

Fünf oder sechs fangen an, gesenkten Hauptes zu laufen.

Jammern und Stöhnen.

Von hinten trampelt eine Abteilung mit Trommelwirbel in unsre Stellung und über uns hinweg. Ich folge ihr, ein Haufe von unsern Leuten mir nach.

In der grauen Wolke taucht eine schwarze Gestalt auf – ein Baschibosuk. Ein großer Kerl, und noch einer und noch einer . . . Da reißt der erste drüben den Kolben an die Backe, ich fühle einen heißen Sturmwind, man überrennt mich – ich stürze, erhebe mich wieder, stürze noch einmal. Kappe und Säbel sind verloren.

Jesus Christus – ich bin doch nicht getroffen?


Stundenlang lagern wir nun schon in bunten Scharen, todmüd, geschunden, blutend und beschmutzt auf einem Feld. – Keinen von den Leuten um mich kenne ich.

Ein General sprengt mit großer Suite heran und belobt uns:

»Brav, Kinder, brav! Der Sieg ist unser.«

In wildem Taumel brüllen wir »Hurra!« zurück.

Ich ermanne mich und will meine Kompagnie suchen. Im Schatten einer Ulme sehe ich den Feldwebel mit verbundenem Schädel.

»Hierher, Herr Leutnant!« rufen die Soldaten. Ihrer zwanzig vielleicht sinds.

»Das sind alle?« 163

»Ja, das sind alle.«

»Und der Hauptmann?«

Ein Gefreiter weist zurück in die alte Stellung am Fluß.

Ich folge der Richtung. Der Feldwebel schickt mir drei Mann nach.

Jetzt erinnere ich mich: es muß ein Schrapnell gewesen sein. Beide hats mitgenommen, Stewan und Mittler. – Sie sind ja von jeher Freunde gewesen. Schon als ich in die Garnison einrückte, sagte man mir: sie sind die besten Freunde und stecken immer beisammen. – Nun liegen sie auch zu zweit im Blut.

An zerschmetterten Leichen, an furchtbar Verwundeten vorbei führt der Weg.

Von meinen Begleitern hat sich ihn einer gut gemerkt und führt mich.

»Da, am End von an Haberfeld muß es sein«, sagt er. »Am End von an zertretenen Haberfeld, bei aaner Wiesen. Unter die Fünf dort bei die Büsche.«

Sie sinds.

Von fern erkennt man sie an den kaisergelben Feldbinden. Dicht aneinandergeschmiegt sind sie, jeder die Beine zu Häupten des andern.

Mit großen Schritten eile ich auf sie zu.

Gott sei gelobt! Wenigstens der eine lebt – der Hauptmann. Er rührt sich, als wir kommen, und will sich erheben.

»Dank! Dank!« röchelt er.

Die drei Soldaten fassen ihn langsam, lüften ihn, und einer schiebt ihm den gerollten Mantel als Kissen unter. 164

Wir werden ihn zur Ambulanz tragen.

Und Oberleutnant Mittler – der schläft mit verglasten Augen.

Seine verglasten Augen aber sind auf das Bild eines Weibes gerichtet. Er hat das Bild gewiß mit letzter Kraft aus der Brusttasche gezogen. – Jetzt ist es ihm entglitten.

Mir kommen die Tränen.

»Das ist wohl seine Frau?« frage ich.

»Nein, es ist die meine«, stöhnt Stewan. 165

 


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