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Schreit der Frühjahrswind und klatscht der Regen,
Geh, mein Pferdchen, geh dem Sturm entgegen.
Laß es toben – toben unt und oben,
Halt die Augen auf, den Kopf erhoben.
Was der Regen schlägt, der arge Schelm,
Schlägt er nicht durch deines Reiters Helm.
Was der Wind auch schreit mit schrillen Kehlen –
Nicht einmal den Mantel kann er stehlen.
Schlägt die blanke Scheide deine Flanke,
Sei die Schlacht dein einziger Gedanke.
Der da sitzt, mein Pferd, auf deinem Rücken,
Packt den Teufel selbst an der Perücken. 12
In Trebinje, bei Parmanninfanterie, stand einmal im Regimentsbefehl:
»Während der Karwoche versammelt sich die zum Kirchengang kommandierte Mannschaft vor der Kirche hinter der Kirche, nach der Kirche aber vor der Kirche – und zwar an geraden Tagen die ungeraden, an ungeraden Tagen die geraden Kompagnien – vormittag mit der höhern, nachmittag mit der niedern Nummer im ersten Glied.« 13
Der Hauptmann Kobenzel bewarb sich um eine Lokalanstellung und brachte dazu ein ärztliches Zeugnis bei:
»Petent leidet an Paralysis progressiva und ist zum Truppendienst nicht geeignet. Einer Verwendung im Kriegsministerium steht nichts im Wege.« 14
Unser Militärpfarrer weiß mit der Mannschaft umzugehen – das muß man ihm lassen.
»Kanonier Wotruba,« sagte er einmal, »hier frage ich dich, mein Sohn, im Beichtstuhl: Hast du gefluchet?«
»Nein, Hochwürden.«
»Ich frage dich abermals eindringlich: Hast du gefluchet?«
»Nein, Hochwürden.«
»Ich frage dich zum drittenmal: Hast du gefluchet?«
»Nein, Hochwürden.«
»Himmelsakra, verdammtes Schwein, niederträchtiges – du hast gefluchet, ich habs selbst gehört.« 15
Ich stand ihnen zu Haus im Weg. Warum, weiß ich nicht mehr. Vielleicht wollten sie die Zimmer tünchen oder sonst was dergleichen.
Kurz, Mama wusch mir den Hals, gab mir ein Hemd, ein Taschentuch und einen Gulden, Papa die Hand – und unser Kutscher brachte mich in die Stadt zu Onkel Jonas und Tante Barbara mit dem Auftrag: sie sollten nicht böse sein, man würde mich schon bald wieder abholen. – – – – So, da war ich also.
»Küß die Hand Onkel! Küß die Hand, Tante!«
Sie kümmerten sich beide nicht im geringsten um mich. Der Onkel lief mit langen Schritten im Zimmer auf und ab, kaute seinen Schnurrbart und warf nach jedem fünften Schritt einen wütenden Blick auf die Tante. Die Tante saß am Fenster, streichelte eine Katze und schien sich über des Onkels Wut höchlich zu amüsieren.
Eine Weile sah ich ihnen zu. Als mir das Schweigen aber gar zu lange dauerte, rief ich:
»Ja – seid ihr denn bös aufeinander?«
Tante Bara lachte hell auf, Onkel Jonas stutzte. Als er sich von seiner Verblüffung erholt hatte, lief er hinaus und warf die Tür krachend hinter sich ins Schloß. Ich kriegte ihn an dem Tag überhaupt nicht mehr zu sehen.
»Komm her, kleiner Mann,« sagte die Tante fröhlich, »du sollst sehen, daß wenigstens ich dir nicht böse bin.« – Sie küßte mich herzhaft. – »Wie alt bist du?«
»Elf.« 16
»Was, schon elf Jahre? Und noch so klein? Da sieh zu, daß du wächst, sonst wirst du nicht Soldat.«
So sprach sie lustig fort; ich antwortete, wie ich konnte – und jede meiner Antworten begleitete sie mit liebem Gelächter. – Sie gefiel mir überaus wohl, meine Tante Barbara. Ich setzte mich zu ihren Füßen auf einen Schemel, mit dem Rücken zu ihr, beugte den Kopf zurück auf ihren Schoß und blickte sie an, während sie zu mir sprach. – Oh, sie war sehr schön. Kastanienbraunes, gekraustes Haar hatte sie, schneeweiße Zähne, Grübchen in den Wangen – und Augen – tiefdunkel wie frische Tintenkleckse. Ich sagte ihrs auch, daß ich sie sehr schön fände und daß sie ganz anders zu küssen verstehe, als die andern Tanten. Das belustigte sie ungemein.
»Danke, mein Knabe, für die Komplimente. Willst du mir aber auch hübsch gehorchen?«
»Gewiß, Tante.«
»Wenn ich dich irgendwohin schicke, wirst du gehen? Und niemand was davon erzählen?«
»Nein, sicher nicht. Keinem Menschen.«
»Auch Onkel Jonas nicht . . .?«
»Oh, dem schon lange nicht,« sagte ich mit wahrer Begeisterung.
Sie drückte mich an sich, küßte mich und sagte, ich sei ein braver Junge.
Ich wäre durchs Feuer für sie gegangen.
Am nächsten Morgen stand sie an meinem Bett und rief: 17
»Ei, Herr Siebenschläfer, wann will man aufstehen?«
Dann ging sie.
Ich war kaum angekleidet, da lief ich zu ihr. – Sie saß vor einem Spiegel und frisierte sich. Aus dem Korsett blickten die vollen Brüste. Tante Bara ahnte nicht, welch ein frühreifer Strick ich war – sonst hätte sie nicht geduldet, daß ich sie beim Morgengruß so umständlich umarme.
Als auch sie angekleidet war, nahm sie mich vor, küßte mich, lachte und sprach:
»Alex, ich will sehen, ob du ein schlauer Bursch bist. Hol mir vom Kaufmann Baitsch für zehn Kreuzer Bonbons.« – Ein Abschiedskuß.
Ich lief um die Bonbons.
Herzliche Begrüßung. Tante küßte mich und lachte.
»Seht das Leckermaul an,« sagte sie, »– wie viel Anlässe zu Umarmungen er herausfindet! – Bist du auch wirklich bei Baitsch gewesen? – So? – Sicherlich? – Nun sag einmal, Kind, weißt du, was ein Rittmeister ist?«
»Ja, Tante. Er hat drei goldene Sterne auf dem Kragen.«
»Und ein Leutnant?«
»Ein Leutnant ist weniger. Er hat nur einen Stern.«
»Gut,« jubelte die Tante, walkte mein Gesicht zwischen ihren Händen – auch der Kuß blieb nicht aus – »gut. Hier hast du einen Brief, Alex, mit dem stellst du dich vor den Laden von Baitsch und wartest, bis ein Leutnant mit roten Aufschlägen vorbeikommt. Er hat 18 einen großen gesprenkelten Hund mit; daran wirst du ihn erkennen. Diesem Leutnant, er heißt Helmer, gib den Brief, ohne daß es jemand sieht. – Verstanden? – Dann geh, Herzensjunge!«
Sie lachte und küßte mich.
Ich ging und führte den Befehl aus.
Nachmittag brachte ich wieder die Antwort.
So gings eine Woche.
Zu Haus belohnte mich meine Engelstante für jede Besorgung mit süßen Küssen – beim Leutnant – denn ihm trug ich die Botschaften in die Wohnung – gabs andre, meinem Bubenherzen noch herrlichere Freuden: ich durfte seinen Helm aufsetzen und den Säbel umschnallen. Mir zu Ehren produzierte Spagatel seine Künste, und meine erste Zigarette habe ich bei Leutnant Helmer geraucht. – Oh – Leutnant Helmer – ich liebte ihn wie einen wachen Traum. – – Wenn er die Antwort geschrieben hatte, lief ich hochbefriedigt heim, und je näher ich unsrer Wohnung kam, um so schneller. Dann flog ich in Tante Barbaras Arme und umfing sie mit aller Kraft. Wie sie mich küßte –!
Tante Barbara konnte famos küssen. Und lachen vom Morgen bis in die Nacht.
Bei den Mahlzeiten redeten nur wir zwei miteinander. – Onkel Jonas saß verärgert da, schüttelte den Kopf über ihre ausgelassene Heiterkeit, schnüffelte am Fleisch, schob es weg und zankte mit dem Stubenmädchen.
19 Eines Mittags war er nicht da. Ich fragte nach ihm, da sagte mir die Tante, er sei weggefahren. Und war überaus fröhlich. – Auch am Abend kam er nicht wieder.
Die Tante und ich aßen wie gewöhnlich. – Dann gingen wir schlafen.
Plötzlich, mitten in der Nacht, rüttelte mich jemand wach und fragte leise:
»Bist dus, Alex?«
»Ja, Onkel.«
»Hast du Zündhölzer?«
»Ja.«
»So mach Licht! – Still! Still, du Esel!«
Kaum brannte die Lampe, da stand schon Tante Bara in der Tür des Nebenzimmers – rot, verschlafen und lachend.
»Guten Abend, Jonas! So leise kommst du? Ich hab schon geglaubt, es käme ein Dieb.«
Er antwortete nicht, nahm die Lampe in die linke Hand und hielt in der rechten – mein Gott! – einen Revolver – einen Revolver mit gespanntem Hammer.
So schritt er vor.
Mir stand das Herz still.
Kaum war der Onkel in den Türrahmen getreten, da packte Tante Bara von hinten seinen rechten Arm mit beiden Händen und rief mir zu:
»Hilf, Alex, hilf!«
Ich stand und wußte nicht –
Da tauchte von irgendwoher ein großer Mann auf 20 in weitem Mantel. Entriß dem Onkel den Revolver und drückte den armen Onkel an die Wand.
Onkel Jonas hielt noch immer die Lampe in der linken Hand.
Der große Mann im weiten Mantel, das war der Leutnant, dem ich immer die Briefe gebracht hatte.
»Otto! Otto! Laß ihn, um Himmels willen!« krisch Tante Bara und – lachte.
Der Leutnant ließ meinen Onkel los.
Der Onkel stellte die nichtsnutzige Lampe weg, die ihn so sehr gehindert hatte, und ging gegen den Leutnant vor.
»Herr,« schrie er, »was haben Sie um diese Stunde hier zu suchen?«
Das hatte ich mir eigentlich auch gedacht. Was wollte er hier?
»Na,« sagte Leutnant Helmer, »darüber werden Sie wohl kaum im Zweifel sein, Herr Roda.«
Helmer sagte es sehr ruhig. – Und die Tante – lachte.
»Sie verlassen sofort meine Wohnung!« brüllte Onkel Jonas. – »Sofort – hören Sie?«
»Ich höre – sogar sehr gut. Sie brauchen sich gar nicht mal so anzustrengen, Herr Roda. – Wenn Sie noch einmal so schreien, bind ich Sie an den Tisch und soupiere mit Ihrer Frau Gemahlin im Nebenzimmer. – – Aber wir wollen in Frieden auseinandergehen. Daß ich mich vorher ankleide, werden Sie mir doch erlauben?«
»Nehmen Sie Ihre Sachen und gehen Sie!«
21 Leutnant Helmer zog gemütlich seine Stiefel an, schimpfte darüber, daß sie miserabel gemacht wären, nahm den Säbel um, die Krawatte, Waffenrock, Mantel und Kappe . . .
Onkel Jonas trampelte nervös herum und rief immerfort:
»Na – wirds einmal?«
»Gleich, Herr Roda! Jetzt muß ich Ihnen ja erst den Revolver zurückgeben.«
Es war ein Buldogg. – Leutnant Helmer entfernte mit einigen geschickten Griffen den Zylinder und sprach freundlich:
»Sie gestatten, daß ich Ihnen den Zylinder erst morgen übersende.«
Die Tante lachte unbändig.
»Ich wünsche, daß Sie sich entfernen,« keuchte Onkel Jonas, bleich vor Zorn.
»Gleich, Herr Roda. Aber vorher schwören Sie mir, daß Sie Ihre Frau nicht anrühren.«
»Marsch! Nun ists genug. Gar nichts schwöre ich.«
»Ist auch nicht nötig, Otto,« sagte die Tante, »wir sind unser zwei.« – Dabei streichelte sie mir den Kopf und küßte mich.
Der Leutnant ging sporenklirrend.
Onkel Jonas schritt eine Weile im Zimmer auf und ab; dann verschwand auch er.
Am nächsten Tag kam der Wagen und brachte mich zu meinen Eltern.
22 Tante Barbara aber sah ich nach acht Jahren einmal wieder. Freilich, meine Tante war sie nicht mehr, denn Onkel Jonas hatte sich von ihr scheiden lassen.
Feodora Nikolajewna Barnin, die unlängst bei Ronacher auftrat, war – Tante Barbara.
Ich hörte ihr nicht zu. Ich ging still nach Haus.
Am nächsten Tag schickte ich ihr anonym einen Rosenstrauß.
Sie war ja meine erste Liebe gewesen. 23
Das Bauerngehöft lag noch in tiefer Finsternis. Die Uhr im Zimmer schlug zwei nach Mitternacht.
Um halb drei sollte die Kompagnie abmarschieren.
Signale blies man nicht, man war ja in Feindesnähe. Der Korporal vom Dienst ging zuerst in den Viehstall, da war der zweite Zug einquartiert, und rief:
»Hörts, Burschen! Es is Tagwach.«
Er mußte nicht einmal sehr laut rufen. Die meisten waren ohnehin schon wach. Je müder der Mensch ist, desto weniger Schlaf hat er.
Die im Viehstall sammelten sich also aus dem Stroh, räkelten sich und wischten die Montur obenhin mit der Hand vom Stroh rein. – In diesem Viehstall und immer auf demselben Stroh hatte heute schon die achte Einquartierung geschlafen – jede Nacht eine andre – so wie sich die Truppen nordwärts konzentrierten. Das Stroh war klein gebrochen und mürb wie Kleie.
Der Korporal vom Tag weckte in der Scheune noch den ersten und den dritten Zug. Um den vierten brauchte er nicht zu sorgen, der kampierte im Garten und hatte sicherlich schon das Reißen in allen Gliedern von dem verdammten Nebel und Tau.
Dann kletterte der Korporal die Leiter hinan auf den Heuboden. Da schliefen die drei Herren Offiziere, dann der Herr Dienstführende, der Herr Manipulierende, der Herr Kadett-Korporal und – die Herren Offiziersdiener. Allerwärts schmuggeln sich ja die Diener in die Vorrechte ihrer Herren ein.
24 Eine kleine Viertelstunde später war schon alles parat. Aber der Nebel – der Nebel . . .
Der Herr Hauptmann nahm die Meldungen ab und kommandierte: – »Habt acht!« – so ernst, wie nie, seit sie die Garnison Essegg verlassen hatten. Da merkten alle, daß etwas ungewöhnliches vorgehe.
»Burschen,« sagte er, »heut führ ich die meisten von euch zum erschtenmal vorn Feind. Nehmts euch zusamm, machts es denen Kapitulanten nach, die was mit mir schon bei Magenta und Solferino gewesen sein. Zeigts denen Preisen, was ihr könnts. – Das gilt auch für Sie, Herr Leutnant.«
Darüber errötete der Herr Leutnant. Und ärgerte sich, daß man ihn, den neuausgemusterten Neustädter, mit den Rekruten in einem Atem genannt hatte.
Der »altgediente« präterierte Kadett-Korporal biß sich auf die Lippen.
Dann gings aus dem Gehöft auf die Straße.
In diesem Augenblick hörte man weit – weit zwei Schüsse hallen.
Der Herr Hauptmann befragte einen vom Adjutantenkorps, der grade vorbeiritt, und kriegte zur Antwort:
»Ja – es geht los – – wahrscheinlich bei Chlum.«
Sie marschierten zwei Stunden und rasteten drei Stunden mit den Tornistern auf dem Rücken.
Die Sonne stand ziemlich hoch wie ein silberner Teller am Himmel, aber immer noch Nebel überall. – Wie unheimlich das war: Kanonengrollen auf allen Seiten, und keiner wußte, woher und wohin. 25 Dragoner, Artilleristen, Likaner, Jäger, Husaren, Ulanen, Infanterie, Generale, Sachsen, Ordonnanzen, Adjutanten – alles sah man grau auftauchen, im Näherkommen Farbe gewinnen und wieder verschwinden.
Auf einmal hieß es:
»Habt acht! – Schultert! Marschieren – mir nach! – Kompagnie marsch!«
Drei geschlagene Stunden und in welchem Tempo!
Um halb zwei nachmittag, die Landschaft hatte sich ein wenig aufgehellt – da kam ein Reiter und meldete irgend etwas.
Der Herr Hauptmann sah sich um und rief:
»Korporal Enzinger mit zwei Mann! Suchen S' sich die Leut selber aus. Zwaa gschickte ältere Leut. Gehn S' da in das Buschwerk – segen S' dorten die zwaa kleinen Fichten? Dort gehn S' hinein in das Buschwerk, rekognoszieren S' es gut durch und kommen S' mir melden.«
Korporal Enzinger war ein syrmischer Schwab, aus Ruma gebürtig, und hatte zwei Landsleute in der Kompagnie. Die rief er sich – ein wenig familiär – heraus:
»Geh her do, hörst es, Pfirter – un du aa, Jakob.«
Dieser Jakob hieß mit dem Zunamen Pader.
Der Herr Hauptmann hätte dem Enzinger jetzt gern was erzählt über solch lässige Art, zu befehlen, überlegte sichs aber. »Lassen wirs für heut. Wer weiß, ob wir . . .«
Ehe noch der Gedanke gedacht war, dröhnten in nächster Nähe Kartätschenlagen. Jawohl, 26 Kartätschenlagen – man erkannte es deutlich am Brausen. Und ein Gewehrfeuer, als würde ein Sack Erbsen auf Blech geschüttet.
Korporal Enzinger also ging mit den zwei Gemeinen los – zuerst ein wenig zaghaft, das Gewehr angriffsbereit – los auf die Fichten. Ihre Silhouette verschwamm wieder von Minute zu Minute.
»Paßts obacht, Burschen, paßts obacht – indem daß ma wenig siecht bein dem Nebel.«
Pader sagte:
»Herr Kapral, soll aaner von uns zerscht hinschießen in dö Schikara. Is richtig a Preiß dorten, nachher . . .«
»Is eh wahr,« erwiderte Enzinger. »Alsdann – An! Feuer! – schieß du!«
Pader schoß mit einigem Widerstreben.
Sie knieten alle drei in einer Rainfurche und starrten erwartungsvoll nach dem Busch. Aber dort rührte sich nichts. Natürlich: der Nebel trog, die Fichten standen eine Stunde weit, aber vor der Sonne.
»Gehn mr.«
Und sie gingen weiter.
Als sie endlich bei den Fichten auf dem Bergkamm waren, da sahen die Spitzbuben erst, daß sie mit ihrem Patrouillengang das große Los gezogen hatten: da war keine Seele; man hatte sie offenbar vom äußersten Flügel weggeschickt.
»Alsdann jetzt zruck!« rief Enzinger, ging aber statt zurück, vor.
Die zwei andern merktens – er vielleicht auch. Sie 27 sagten aber einer dem andern nichts in ihrer heimlichen Freude. Es war ein Komplott der Seelen, durch kein Wort, nicht einmal durch einen Blick eingestanden.
So gingen sie weiter – immer weiter. Keine Spur von Soldaten. Nicht Freund, noch Feind. Sie waren weit ab vom Schlachtfeld, der Kanonendonner dröhnte schrecklich hinter ihnen her.
Als die Sonne zur Rüste ging, sah sie die drei Schwaben allein im tiefsten Waldesfrieden.
Der Korporal bekam Angst. Alle möglichen Kriegsartikel drohten ihm mit Pulver und Blei.
»Gemeiner Pader und Gemeiner Pfirter,« begann er plötzlich in dienstlichem Ton, »jetz ihr könnts mir bezeugen: indem daß a so a Nebel war, ham mir halt net zruckgfunden. No – is es so oder is es net so? – Jakob, sag auf dein ehrlichs Gewissen: jetz – kannst du dös ableugnen?«
Gemeiner Jakob Pader blieb stehen und sagte mit kristallner Überzeugung:
»Wann mi der Herr Hauptmann fragt: Wo seids ös gesteckt? Jetzt – lugen kann i net, Herr Kapral. Alsdann kann i nur dös melden: Herr Hauptmann, sag i, i meld ghursamst, mir ham rekomesziert, un wie mir zruck san – indem daß mr nindersch net die Kommanie gsegen ham – no ja . . . no – so san mir immer weider – immer weider . . . No ja, lugen kann i do net?«
»So is,« bestätigte Pfirter. »Mir ham rekomesziert.«
Der Korporal ließ die Gewehre zusammensetzen. Dann legten sie sich in eine Mulde und schliefen wie tot ein. Die Tornister waren ihre Kissen.
28 Enzinger, Pfirter und Pader versäumten so die Schlacht bei Königgrätz mit all ihrem schrecklichen Blutvergießen – Enzinger, Pfirter und Pader verschliefen so den Rückzug über die Elbe.
Und es fielen in dieser Schlacht vier hundert fünfzig Offiziere und sieben tausend zwei hundert drei und achtzig Mann.
Pfirter erwachte am andern Morgen zuerst, denn er war der gefräßigste. Bald fuhren auch die andern auf, und nun saßen sie da und ratschlagten, was zu tun wäre. Daß vor allem menagiert werden sollte, war allen dreien klar. Aber was? – Kommißbrot. – Sie hatten sonst nichts.
Pader meinte, ob man sich nicht etwas schießen könnte.
»Wie willst denn mit der Kugel?« wandte Pfirter ein.
»Ma könnt a Kugel mit 'n Baganet af Schrot zerhacken.«
Ehe sie Zeit hatten, darüber nachzudenken, erfaßte Enzinger mit jeder Faust einen von ihnen eisenfest am Ärmel und blickte starr in eine Lichtung.
Halb verdeckt durch dünne Zweige tanzten dort hinten preußische Pickelhauben.
Die drei syrmischen Schwaben legten sich platt nieder, die Gewehre auf die Tornister und warteten, was es würde. – Totenblaß.
»Wie vieli saans?« lispelte Enzinger.
Keine Antwort.
29 Er seufzte leise:
»Wenigsens a Sticker zehni werns sein.«
»I sieg zwaa.« – Wenn Enzinger geseufzt hatte, Pader hauchte nur. – »Zwaa siegt ma. Aber fragen S' mi, wie vieli daß es saan – jetzt dös waaß i net.«
Die drei sahen in herzbeklemmender Spannung die Pickelhauben hinter dem Astwerk wackeln – da knackte und trampfte gerade vor ihnen ein schwerer Tritt durchs Reisig, und im nächsten Augenblick starrte . . .
Ja, im nächsten Augenblick starrte ein rotbärtiger, schmutziger, hungriger Preuße von drei Schritt weit auf drei Büchsenläufe – die hatten sich unwillkürlich halb und schwankend auf ihn erhoben.
Er gurgelte etwas, erbleichte und – stand.
Pader faßte sich zuerst und schlug an.
»Pardon,« stammelte der Preuße mit blutleeren Lippen.
Er tats nicht etwa, um sich gefangen zu geben. Er sagte Pardon, weil . . . weil . . . nun, weil . . . mein Gott, was sollte er sagen? Er ist ein gut erzogener Mensch, Papierfritze von Profession – und da wollen ihn drei in einem böhmischen Wald erschießen. Wenn ein Meteorstein neben ihm niedersauste – Fritze hätte sicherlich auch Pardon gesagt.
Pader ist ganz Held.
»Alsdann Sö ergöben S' Ihnen?« fragt er Papierfritzen – leise aber fest.
Enzinger sieht, daß er jetzt auf dem Punkt steht, seine Autorität zu halten oder zu verlieren.
»Ergeben S' Ihnen oder net?« fragt er und richtet 30 die Spitze des glitzernden Bajonetts gegen Fritzens Brust.
»Pardon.«
»Alsdann knien S' nieder!«
Fritze – er heißt wirklich Fritze und ist aus Pankow – Fritze kniet. Jeder Papierhändler an seiner Stelle täte dasselbe.
Die drei Schwaben sehen einer den andern an. Denn keiner weiß, was tun.
»Gefangener – wie vieli seids ös?« fragt Pfirter – um doch auch teil am Ruhm der Genossen zu haben.
»Wie, bitte, meenen Se?«
»Wie vieli daß ös seids, Gefangener!«
»So. – Es – seitz«, murmelt Fritze verständnislos und höflich. Höflichkeit ist die Seele des Papiergeschäftes.
»Wie vieli?« wiederholt Pader.
»'ch so – 'ch so – 'ch so – bitte sehr, wa sinn hier vier Mann, meene Herren, allens jebildete Familienväter – deutsche Familienväter.« – Papierfritze heult immer lauter.
»Fritze, Fritze,« tönt es von hinten, »wo treibst de dir man rum, Menschenskind? Bist de in wat jetreten?«
Die Pickelhauben nähern sich.
Enzinger legt an und schießt. Trifft aber niemand.
Bum – wrr . . . – schwirrt eine Kugel vom Zündnadelgewehr durch die Luft. Die drei Schwaben machen vorschriftsmäßig ihr Kompliment: die erste Kugel, die so nahe an Fritzen, an Enzinger und den andern vorbeikommt.
31 Fritze schreit:
»Herr Jefreita! Herr Jefreita! – Hören Se doch. Ick bins. – Landwehrmann Friedrich Schmidt.«
Hier drei und dort drei stehen sich gegenüber, Fritze zwischen den beiden Parteien.
Pader springt auf, nimmt Gewehr bei Fuß und sagt:
»Mir saan deitsche Leit.«
Jetzt ists an den Preußen, sich stumm zu beraten.
»Drei un drei,« sagt der Gefreite endlich – »Fritze zählt nich. Ick jloobe, meine Herren, wa tun uns nischt.«
Sie saßen zwei Stunden später in einem kleinen Hegerhaus und teilten vier preußische Erbswürste in sieben Teile. Die Hegerin hatte Milch, Brot und schwarze Pegatsche gebracht.
Sie erzählten einander ihre Erlebnisse, verglichen und betasteten ihre Armatursorten, sprachen von der Politik, vom Krieg, von Weib und Kind, die sie zu Hause hatten – lachten einander mancher Namen und Ausdrücke wegen aus – wunderten sich über die Verschiedenheit ihrer Dialekte – und auch darüber, daß sie alle Deutsche sind, so weit voneinander sie auch ihr Heim haben.
Sie gefielen einander und beschlossen, die Nacht über beisammen zu bleiben. Und sie blieben auch und schliefen seelenruhig unter einem gastlichen Dach – viel länger und bequemer als jemals seit ihrem Abmarsch vom Haus.
Am nächsten Morgen wollten sie aufbrechen.
32 Aber wohin?
Aus der Alten brachten sie nichts heraus. Sie konnte nur tschechisch.
»Co se mně pláte vohyn - vohyn - dyt' Vás nerozumím.«
Überdies – mit dem Fortmarschieren hatte es seinen Haken. Da draußen, jenseits des Waldes, hatte eine furchtbare Schlacht getobt, da standen Tausende und Tausende Soldaten beider Heere.
Gingen sie aus dem Wald – konnten sie nicht gradenwegs in die Gefangenschaft rennen?
Oder gar in den Tod?
Wer weiß, was draußen vorging?
Das Kanonenfeuer ruhte – aber für wie lang?
Pader hatte eine Idee:
Sie sollten die Monturen tauschen. Sind dann die drei Österreicher als Preußen gekleidet und treten aus dem Wald – auf jeden Fall sind sie sicher: treffen sie auf Preußen, bleiben sie unbehelligt; man wird sie für Brüder halten. Treffen sie auf Österreicher – nun, so geben sie sich gefangen und zu erkennen. –Die Preußen in österreichischer Montur machens dann ähnlich. –
Was? Ein prächtiger Gedanke? Er blieb aber unausgeführt. Erstens, weil er den beiden Kommandanten zu gewagt schien – alles wäre herausgekommen, denn die Maskerade hätte doch erklärt werden müssen. – Zweitens, weil Papierfritze heftig widersprach – denn für ihn war kein weißer Waffenrock mehr vorhanden.
Sie berieten und erwogen – unterdessen wurde es Nacht, und sie blieben wiederum im Hegerhaus.
33 Sie fanden ein Spiel Karten, aus denen pflegte die Hegerin wahrzusagen. Das gab eine unterhaltliche Partie Schwarzen Peter – zwei Pfennig für einen Kreuzer gerechnet.
Österreich siegte.
Die sieben Deutschen saßen am dritten, saßen am vierten Tag immer noch da.
Endlich, als die arme, einsame Alte nichts mehr zu essen für die Krieger hatte, marschierten sie fürbaß. Enzinger, der Älteste, führte. Die Hegerin wies ihnen den Weg.
Am Waldessaum schüttelten sie einander kräftig die Hände – wie innige Freunde, die gemeinsam an ein waghalsiges Werk gehen.
Dann formulierten sie die Bedingungen ihres Separatfriedens:
Je nachdem, ob die erste Truppe, auf die sie stoßen, preußisch ist oder österreichisch, soll die eine oder die andre Patrouille die Gewehre wegwerfen und gefangen sein.
Die Hegerin ging ins Dorf als Spionin.
Korporal Enzinger Andreas,
Gemeiner Pader Jakob,
Gemeiner Pfirter Josef
und
Gefreiter Müller II.,
Landwehrmann Ostrowsky,
Landwehrmann Schmidt,
Landwehrmann Tiedemann
34 warteten am 8. Juli 1866 gespannt auf die Rückkunft ihrer Wirtin. Es handelte sich darum, wer am dritten die Schlacht bei Königgrätz gewonnen hatte: Preußen oder Österreich.
Sie saßen im Kühlen.
»Ob wa uns denn nu im Leben wiedasehn?« fragte Schmidt schwermütig.
»Ja, ja – da Kriech!« seufzte Tiedemann. »Da dämliche Kriech! – So jemütliche Leute, die Östreicher! Is nu nich schade, daß wa nich beisammbleiben könn?«
»Wahr is,« bestätigte Pader. Die beiden andern Schwaben nickten.
Da kam ein tschechischer Bauer des Wegs. Er führte einen Wagen mit zwei Kühen und erschrak gewaltig, als er die Soldaten im Busch erblickte. Bleich hing er an der Leitkette und glotzte um die Wette mit seinen Kühen.
Korporal Enzinger hatte das zehnte Dienstjahr hinter sich und konnte sich, wie alle alten Soldaten, armeeslavisch verständigen. Er begann auch gleich ein Gespräch:
»He, guten Tag – dobar dan,« rief er kroatisch. Und setzte ruthenisch fort: »Kuta wy idschotsche – Wohin gehts?« – Polnisch – slovenisch – tschechisch – alles durcheinander, bis der Bauer endlich Laut gab und genug erzählte.
35 Und was tat der treulose schwäbische Schlaufuchs Enzinger?
»Brider,« sagte er, »indem, daß bei eich Preisen alles hin is – ös seids gschloga – so gengen mir zruck.«
Sprachs und marschierte mit seinen Leuten auf und davon.
Als die arme Hegerin spät am Abend heimkehrte, traute sie ihren Augen nicht: alle Zivilkleider ihres seligen Mannes hatten ihr die verdammten Soldaten gestohlen.
Vierzehn Tage später waren Enzinger, Pader und Pfirter nach mannigfachen Fahrten und Fährnissen glücklich bei ihrem Regiment.
Sie erzählten, sie kämen aus preußischer Gefangenschaft und hätten sich selbst ranzioniert.
Man fragte sie viel und staunte sie gehörig an.
Der Herr Oberst ließ sich sie zum Regimentsrapport vorführen und klopfte jedem besonders auf die Schulter. 36
Beim 13. Armeekorps in Agram besteht eine Messestiftung für die bei Aspern gefallenen Krieger.
Aber wie alles schöne, heilige und große geriet auch diese Messe in unsrer gottlosen Zeit in Vergessenheit – bis ein General nach Agram transferiert wurde, der sich dunkel erinnerte, in seiner Kindheit – also als Leutnant – in dieser Messe sehr oft geschlafen zu haben. Und er wollte den schönen Brauch zugunsten der gegenwärtigen Generation wieder aufleben lassen.
Man durchstöberte alle Akten. Man suchte unter den Schlagwörtern »Aspern«, »Messe«, »Stiftung«, »Gefallene« – nirgends eine Spur.
»Wenn da überhaupt zu helfen ist,« sagte der Hauptmann-Rechnungsführer, »kann uns nur der alte Registrator Boschner helfen.«
Und man rief den alten Registrator Boschner.
»Aber natürlich,« sagte der Jubelgreis, »natürlich besteht eine Messestiftung. Is auch urntlich registriert – noch aus meiner Zeit. Suchts nur!«
»Aber wo, Herr Registrator, wo?«
»Selbstverständlich unter H.«
»Unter H??«
»No – wo denn sonst? Die Messe soll doch stiftungsgemäß am Pfingstsonntag um halber zehne gelesen werden.« 37
Seine Exzellenz, der Korpskommandant und kommandierende General hatte das Infanterieregiment besichtigt und alles in schönster Ordnung befunden. Er hatte das den Herren Stabsoffizieren und Kompagniekommandanten in einer wohlgesetzten Ansprache gesagt und wollte eben ins Hotel zurückfahren, da erinnerte der Generalstabschef Seine Exzellenz an den Dekorierten.
»Ah . . . ja . . . ja . . . richtig,« rief Seine Exzellenz gedehnt, »Herr Oberst, bitte, führen Sie mir den dekorierten Feldwebel vor!«
Es geschah.
»Sie sind also der Mann,« sprach Seine Exzellenz, »der jüngst durch die Allerhöchste Gnade so schön, so herrlich ausgezeichnet wurde. Ihre wackere Tat, die Rettung zweier Knaben vom Tode des Ertrinkens, hat Ihnen die Auszeichnung vollauf verdient. Ich danke Ihnen. Es freut mich, einen Mann kennen zu lernen, der nicht nur seine Pflicht voll und ganz getan, nein, der auch noch über seine Pflicht hinaus . . ., Mut, . . . Waghalsigkeit, . . . Wagemut, . . . na, und andre abstrakte Begriffe gezeigt hat. Ich danke Ihnen, junger Mann, im Namen des Allerhöchsten Dienstes. Es freut mich, Ihnen gratulieren zu können – insbesondre, weil Sie ein längerdienender Unteroffizier sind. Ich liebe die längerdienenden Unteroffiziere. Ich schätze die längerdienenden Unteroffiziere. Sie sind Stützen der Armee. Ja, ich kann sagen: ich verehre die längerdienenden Unteroffiziere. Treten 38 Sie näher, junger Held, und reichen Sie mir die Hand. Nur näher! Ganz nahe, junger Held! Aber rasieren hätten Sie sich lassen sollen, Sie Schweinkerl.« 39