Alexander Roda Roda
Der Schnaps, der Rauchtabak und die verfluchte Liebe
Alexander Roda Roda

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Die Folgen eines zu hohen Kragens.

Rudi Meder zählte sein Geld und fand, daß es gerade noch reichen würde.

Wieviel doch solch ein Sonntagnachmittag eigentlich verschlingt:

Billardpartie im Café Kaisergarten – bis 4 Uhr – 20 Kreuzer.
Um 4 Uhr 30 Rendezvous mit Rosa auf dem Schillerplatz und Spaziergang in den Prater – verbunden mit einem Aufenthalt vor dem dritten Kaffeehaus, wo die Musik spielt – kostenlos
Gemeinsame Rückfahrt in die Stadt zu 10 Kreuzer 20 kr.
Gemeinsames Abendessen beim »Grünen Baum« in der Schleifmühlgasse – zweimal 40 Kreuzer – macht 80 kr.
10 Uhr 30 Abschied. – Sie fährt nach Währing, er löst ihr dazu, galant wie er ist, die Karte 10 kr.
Er kehrt heim in die Technische Militärakademie 10 kr.

Zusammen 1 fl.  40 kr.

Es wird gerade, gerade, gerade reichen.

»Sie – Zögling!« rief plötzlich eine näselnde Stimme – »Sie, Zögling – warten S' ein bissel!«

Meder stellte sich stramm in Respektsdistanz auf, salutierte und würgte an einem Angstknödel, der ihm in der Gurgel saß. 72

Der Exzellenzherr sah ihn sehr lang an – eine halbe Stunde die Kappe, eine halbe Stunde den Kragen, einige Minuten lang den Bauch und die Beine, kehrte langsam bis zum Kragen zurück und sagte:

»Sie . . . mnja . . . der . . . der . . . Kragen is um min – des – tens sechs Zentimeter . . . Sie – sagen S' einmal, is denn das überhaupt ein Kragen?«

Meder blieb stumm.

»Mnja . . . Ich glaub, das is eine Sehnenbandasch. – Gehn S' nach Haus und kommen S' morgen mit diesem merkwürdigen Hals zum Rapport!«

Sprachs, winkte mit dem Finger und ging.

Meder ging auch – zurück in die Stiftskaserne.

Hm. Schließlich – der Kaisergarten wäre noch zu verschmerzen. Aber Rosa? Was wird die allein beginnen? Heute – und die fünf oder sechs Sonntage, die er wird zu Haus verbringen müssen – bei Ausgangsentzug und einer alten, zerblätterten Leipziger Illustrierten?

Er meldete sein Abenteuer im Inspektionszimmer, gab seine Elf-Uhr-Karte ab und dachte dann nach, wie er Rosa verständigen könnte. – Schreiben? Das geht nicht. Sie wohnt in Währing und ist wohl schon auf dem Weg in die Stadt . . .

Silberer aus dem ersten Jahrgang kam vorüber.

»Du, Silberer«, rief Rudi und ahmte möglichst getreu den Exzellenzherrn nach.

Silberer hatte eben erst seine Elf-Uhr-Karte bekommen und erschrak gewaltig. – Doch Meder verleugnete diesmal den Dritten Jahrgänger und fragte lieblich: 73

»Hast du was besondres vor?«

Nein, Silberer hatte nichts besondres vor.

»Kannst du vielleicht um 4 Uhr 30 auf dem Schillerplatz sein? – Es kommt eine Dame hin – blond, hübsch, mittelgroß, in einem hellblauen Kleid mit Girardihut. Sie heißt Rosa. – Möchst du ihr sagen, daß ich nicht kommen kann?«

»Aber natürlich – mit dem größten Vergnügen. Schillerplatz – 4 Uhr 30? Du kannst dich drauf verlassen.«

»Es is eine Dame, weißt du, eine Dame. Du darfst ihr nicht vielleicht irgendwie . . .«

»P! Ich wer doch wissen, wie ich mich zu einer Dame benehmen muß.«


Silberer ging zuerst zu Leidinger, aß dort ein Filet à la Chateaubriand und eine Omelette, trank eine Flasche St. Estèphe, einen Mokka in der Maschine und rauchte Gianaclis dazu.

Da schlug die Pendule des kleinen Speisesaales vier Uhr. – Er zahlte, befahl einen Gummiradler und richtete so lang an seiner Frisur, bis der Wagen vorfuhr. Der Oberkellner unterstützte ihn beim Einsteigen.

»Schillerplatz!«

»Welches Numero, Herr Baron?«

»Gar keins. Einfach Schillerplatz«, sagte Silberer und lehnte sich in den Fond zurück. – Er war sehr gespannt auf – sie.

Sie, Roserl nämlich, stand eben an der Herme Anastasius Grüns und sah nach der Uhr, als zu ihrer 74 Überraschung ein ganz fremder Akademiker auf sie zutrat.

»– 'tschuldigen, Fräulein, sind Sie Fräulein Rosa?«

Roserl wurde rot und lispelte:

»Ja.«

»Herr Rudi Meder hat Besuch von seinem Onkel und läßt sich entschuldigen, daß er nicht früher schreiben konnte. Er . . . er meint, ob . . . ob Sie nicht für heute mit mir vorlieb nehmen möchten?« – Dabei zog er seine goldene Uhr.

»Oh,« sagte sie, »i waaß wirklich net . . . I hab doch wieder zruck nach Währing wollen.«

Er winkte – der Wagen kam.

»Is das Ihr Wagen?« fragte sie.

Silberer lud mit einer Handbewegung zum Platznehmen ein. Roserl lächelte glückselig und tats.

»Währing!«

Der Wagen rollte.

»Wie ruhig daß das fahrt, so a Fiaker. I bin noch nie in kan Fiaker net gfahren.«

Sie war auch noch nie in der Ausstellung gewesen, wie es sich bald herausstellte, aß sehr gern Erdbeeren mit Obersschaum und war vollkommen einverstanden damit, statt nach Währing – in die Ausstellung zu fahren und dort Erdbeeren mit Obersschaum zu essen.


»Roserl – was möchst trinken?« fragte Silberer, als sie bei den Schrammeln saßen. »Willst du Schokolade?«

»Geh ja, Hans«, jubelte sie und klammerte sich an 75 seinen Arm, daß es ihm ganz warm wurde. – Sie war einfach selig: der Fiaker – die Schrammeln mit dem picksüßen Hölzl – die Erdbeeren mit Obersschaum – und nun die Tschokolad – dazu der fesche, liebe, gute, noble, hübsche Hans – Himmel, das war doch alles so ganz anders als sonst.

Es wurde acht. Sie hatte eine Menge Sachen zum erstenmal gesehen, gekostet, genossen, und ihr wirbelte der Kopf vor Glück. – Jetzt fuhren sie in den Stefanskeller.

Hans war mit seinem Cousin schon oft dagewesen und kannte sich aus. Der Kellner öffnete stumm ein Separée – sie schlüpften hinein. Als die Tür ins Schloß fiel, fielen auch die letzten Schranken. In überströmender Seligkeit nahm Roserl ihren Hans um den Hals und küßte ihn und küßte ihn – und er wieder sie.

Drei Stunden später – im Kommißbett – träumte er noch von diesen Küssen – und sie um dieselbe Stunde in Währing von Eiscreme, Schokolade, Hans, Erdbeeren, Fiakern, Musik, Champagner . . .

Es war zu schön, viel zu schön gewesen.


Am nächsten Sonntag gürtete Rudi Meder im Kaisergarten seinen Pioniersäbel um und schritt nach dem Schillerplatz. Er war mit einem blauen Auge davongekommen – damals des Kragens wegen – mit einem einfachen Verweis nämlich. Nun wollte er selbstverständlich Roserl treffen und doppelt lustig sein, denn am Morgen war seine Zulage gekommen.

76 Roserl kam. Etwas später – aber dafür in einer nagelneuen Seidenbluse und in den Ohren zwei pompöse Simili-Boutons. Die hatte ihr Hans gestern geschickt.

Man begrüßte sich – (»Schau, schau, wie elegant!« staunte Rudi) – und begann den gewohnten Spaziergang. Aber schon beim Imperial, wo die Fiaker stehen, erklärte Roserl entschieden, sie könne nicht weiter, weil der Schuh sie drücke.

Rudi wunderte sich sehr und besah ihre Schuhe.

»Aber sonst sein s' dir doch immer recht gewesen.«

»I hab derfrörte Füß.«

»Im Mai? – Na, wir können ja mit der Tramway fahren«, sagte er und bemühte sich instinktiv, sie von den Fiakern wegzulocken.

Doch das Unglück war schon geschehen. – »Fahrn mr, Euer Gnaden?« rief ein Kutscher mit freundlichem Gruß. – Roserl saß im Nu im Fond und lud ihn, ganz Weltdame, an ihre Seite.

Er stieg ein. Er hatte noch nicht Zeit gehabt, nachzudenken, als Roserl befahl:

»Drittes Kaffeehaus.«

»Heiliger Bimbam! Warum nicht gleich zu Sacher?«

»Wanns du lieber zum Sacher willst? Mir ist es ganz egal«, antwortete sie kaltblütig in auffälligem Hochdeutsch.

Als sie zur Stelle waren, zahlte er seufzend und wurde fast grob, als sich der Kutscher erbot, auf die Herrschaften warten zu wollen. Im stillen rechnete er: 77

Melange und zwei Kipfel für Roserl  29  kr.
Ein Glas Bier für sich 12  kr.
Zusammen mit dem Trinkgeld 1  Krone.

Und dann das Nachtmahl? – Nein, heute wird Roserl früher nach Haus geschickt.

Aber es kam ganz anders. Roserl verlangte vor allem Eiskaffee und aß Waffeln dazu – immer mehr Waffeln. Dabei wiegte sie den Kopf im Takt der Musik, lachte, schwatzte, freute sich – und schien bereit, alles andre eher zu tun, als sich nach Haus schicken zu lassen.

Satt war sie natürlich vom Eiskaffee und den Waffeln auch nicht geworden. Rudi versuchte anfangs, zu überhören, wenn sie von Hunger sprach – aber ewig ging das doch nicht. Er schlug kleinlaut vor, für zwei Sechserln Wurst beim Salamutschi zu kaufen. – Da blickte ihn Roserl so höhnisch an, so höhnisch, daß ihm alle Lust zu ähnlichen Anträgen verging. Sie habe sich schon die ganze Woche auf Backhühner gefreut, und müsse jetzt unbedingt Backhühner haben – und wenn er ihr die etwa versagen wollte, wäre das gar nicht schön von ihm. – Überhaupt – wenn sie gewußt hätte, daß er nicht einmal bereit sei, ihre kleinsten Wünsche zu erfüllen, so . . . und so weiter.

Rudi seufzte: »Weil doch schon alles hin is –«, lehnte sich entsagend in den Stuhl zurück und bestellte Backhühner mit Kompott, später auch Doboschtorte und eine Flasche Goldeck. – Roserl nippte, kaute, summte mit den Schrammeln und nannte ihn dazwischen urfad und einen angemalenen Türken.

Ja, er war ein angemalener Türk. Die 78 Monatszulage beim Teufel – dabei zehn Uhr und Zeit, nach Haus zu gehen. Das ärgste aber: er fühlte, daß er alle Macht über Roserl verloren hatte. Das allerletzte Restchen der alten Macht hatte knapp genügt, Roserl zu bewegen, daß sie mit der Tramway heim nach Währing fahre . . .

Roserl hatte das Wurzen erlernt.

Aber woher? Von wem? Darüber dachte er auf dem ganzen Marsch in die Stiftskaserne nach.

Woher? Von wem? Sie war Näherin draußen in der Vorstadt und kam die Woche über nie nach Wien. Ihre Eltern waren Taglöhner. Bei denen hatte sie sicherlich nicht Doboschtorten und Eiscreme gesehen. Und das Fiakerfahren? Er hatte ihr immer erzählt, in Fiakern führen nur Grafen und Fürsten – und sie hatte es ihm geglaubt. – – Woher auf einmal diese Wandlung?

Plötzlich fiels ihm ein: Silberer. Darum war ihm der Bengel letzthin so ausgewichen. Darum.

Na warte! Rache ist süß. – Na warte!


Beim Exerzieren am nächsten Tag bestimmte Rudi Meder seinen Feind »wegen Indolenz« zum Rapport.

In der Pause darnach aber ging er in tiefem Sinnen umher.

Auf einmal trat er auf Silberer zu, faßte ihn am Knopf und sagte:

»Du – sei ein andermal aufmerksamer. Zum Rapport brauchst du nicht zu gehen.«

Und weg war er.

79 Silberer sah ihm verwundert nach.

Am Sonntag hatte Rudi »den Tag«.

Als sich Silberer zum Ausgehen meldete, sprach Rudi:

»Du hast mich mit Roserl betrogen – ich nehm dirs nicht übel . . . Aber du hast . . . das Mädel . . . verdorben. Das ist niederträchtig.«

Darauf wars eine Zeitlang still, bis Hans fragte:

»Und Roserl?«

»Sie erwartet dich um 4 Uhr 30 auf dem Schillerplatz«, sprach Rudi Meder. 80

 

Die Inspizierung.

So propper hatte unsre Kaserne noch nie ausgesehen, wie am Tag der Inspizierung durch Seine Exzellenz.

Sogar den intimsten Örtlichkeiten hatte der Oberst seine volle Aufmerksamkeit zugewendet – sie waren blank wie Damenboudoirs – und seit drei Tagen durfte sie bei Strafe niemand betreten.

Als Seine Exzellenz die Sache besichtigte und das Klosettpapier erblickte, fragte er:

»Und das, Herr Oberst, ist wohl zum – Augenauswischen?« 81

 

Der Mantel.

Es war am Morgen nach Sankta Barbara, und ein Regen wie aus Tränkeimern. Unser Hauptmann kam sehr verstört in die Batteriekanzlei, hängte seinen Mantel an den Ofen und zog sich ins anstoßende Zimmer zurück.

Da pochte jemand an die Tür: Feuerwerker Steiner. Mit irrem Blick trat er – natürlich gleich mit der Direktion auf den Mantel – ein. Auf drei Schritte Distanz schlug er die Hacken zusammen, pendelte aus, salutierte stramm und rief:

»Herr Hauptmann, meld ghorsamst: nix neues.«

Darüber erwachte der Hauptmann im Nebenzimmer. Wütend kam er hervor und brüllte:

»Sie, Feuerwerker, sein Sie glücklich wieder so besoffen, daß Sie meinen Mantel für mich hal . . .«

Plötzlich brach der Herr Hauptmann ab. Der Feuerwerker war nämlich gar nicht mehr da. Das, was der Herr Hauptmann angehaucht hatte, war – auch nur der Mantel gewesen. 82

 

Pardon.

Der Feuerwerker-Offiziersaspirant Wytahal hat eine unglückselige Kommißfigur.

Unlängst stand er auf der Reitschule, vom Tor abgewendet, da trat der Herr Major ein und bemerkte auch schon eine zu lange Kinnkette.

»Du Strohsack!« rief der Herr Major – er hielt Wytahal für einen gewöhnlichen Feuerwerker.

Wytahal fuhr herum.

Da erkannte der Major den Aspiranten.

»Oh, Pardon!« sagte er. »Pardon Sie Strohsack!« 83

 

Der hochadelige Stab.

Der Kriegsminister arbeitete mit seinem Rat an dem neuen Beförderungsturnus. Es sollte unter anderm ein neuer Generalstabschef für den General der Kavallerie Fürsten Wimbinski-Trambitzki ernannt werden.

Der Herr Rat schlug den Obersten Meyer vor, eine bewährte, tüchtige Kraft.

»Nein, nein,« wandte Seine Exzellenz ein, der Minister – »das geht nicht, der ganze Stab des Fürsten ist hochadelig – sie würden sich mit einem bürgerlichen Chef nicht vertragen.«

»Exzellenz,« sagte der Rat schüchtern – »ich hab mir gedacht . . . es wär vielleicht gut, auch einen für den Verstand hinzugeben.« 84

 

Schreibfaul.

Anno 1887 wurden die beiden Brüder Wagner aus der Kadettenschule ausgemustert – einer nach Lemberg, der andre nach Triest.

Weiß Gott, wieso – beim Einpacken vertauschten sie ihre Klassifikationsausweise.

Immerfort nahmen sie sich vor, einander deswegen zu schreiben – der eine in Lemberg, der andre in Triest – aber, mein Gott, man kommt so schwer zum Schreiben.

Endlich – heuer – nach fünfzehn Jahren – wurde ein Oberleutnant von Triest nach Lemberg transferiert.

»Du,« sagte ihm der jüngere Wagner, »sei so gut, nimm den Wisch da mit und gib ihn in Lemberg meinem Bruder. Bei Gelegenheit einmal soll er mir meinen Ausweis schicken.« 85

 

Die letzte Ehre.

Heute nachmittag soll das Begräbnis des pensionierten Herrn Generals stattfinden – noch dazu regnets.

Das Stationskommando schickt einen Dienstzettel ad circulandum:

». . . Jene Herren, die dem Verstorbenen aus Herzensbedürfnis die letzte Ehre zu erweisen wünschen, werden ersucht, sich um zwei Uhr einzufinden. Ausreden werden aber nicht angenommen.« 86

 

Der russische Gast.

In Stanislau war bei uns ein Leutnant aus Rußland zu Gast.

Man servierte frische Nüsse.

Da verschwand der Herr Leutnant plötzlich und kam nach einer Weile mit einer ganzen Ladung sauber geputzter Kerne zurück.

Galant bot er sie der Regimentstochter dar.

»Wie haben Sie das so rasch fertiggebracht, Herr Leutnant?« fragte die Kleine geschmeichelt.

Er antwortete schlicht:

»Ich unj mei Djenschtschik – Bursch – mits Muul.« 87

 

Der gemütskranke Husar.

Oberleutnant Baron Hortobágyi von Forgatsch-Husaren war nicht immer so, wie er jetzt ist. Ah. beileibe. Er soll ja noch kurz vor der Korpsschule die berühmte Husarenprobe bestanden haben: in drei Stunden – drei Meilen zu reiten, drei Flaschen zu trinken und drei Weiber zu lieben – –.

Aber dann kams über ihn. In Mosty-maly, einem ostgalizischen Nest, verschaute er sich vor lauter Langeweile in eine Schlachzizentochter, die zwei Millionen Mitgift haben sollte. – Als sich herausstellte, daß alles purer Schwindel war, wurde Hortobágyi gemütskrank und bekam ein eigentümliches cholerisch-phlegmatisch-melancholisches Temperament.

Er konnte stundenlang am Dnjestr sitzen und den Papierschiffchen nachblicken, die er aus den Mahnbriefen Hirsch Baruch Leimtiegels gefaltet hatte. Wenn eines um die Ecke schwamm, ohne zu kentern, stahl sich in Hortobágyis Züge sogar ein leichter Schimmer von Freude.

Ansonsten befleißigte er sich eines zahmen, gottesfürchtigen Wandels. Nur einmal in jedem Vierteljahr sprang er aus diesem ekelhaften Dasein mit einem Satz heraus und kaufte sich im Hotel de Paris von Mosty-maly eine sanfte Berauschung. Hie und da pausierte er ein Quartal – dann trank er sich am Schluß des nächsten zwei Berauschungen auf einmal an.

Es ist kein Fall bekannt, daß ein Mensch dieser Sorte lang bei Forgatsch-Husaren geduldet worden wäre. 88 Tatsächlich stand sein Name bald genug unter den Transferierten im Verordnungsblatt. Hortobágyi zog das große Los – er kam nach Budapest.

Seit langem zum erstenmal hatte er zwei Termine absichtlich verstreichen lassen. In Pest, im heimatlichen Pest, da wollte er alles nachholen. Gleich am ersten Abend, solang er noch frei von den Fesseln des neuen Truppenkörpers war, wollte er jung werden, aufleben, das oberste zu unterst kehren, eine Ergänzung zu sich selber sein.

Als er gegen ein Uhr nach Mitternacht in das Extrazimmer bei Szikszay eintrat, wo die Zigeuner so schön spielen – da wußte er, daß er auf dem Weg war, sein Ziel zu erreichen. Sein Blick fiel in den Spiegel gegenüber. Der Zivilist Hortobágyi, der ihn daraus begrüßte – das war der gesuchte andre Mensch, die Ergänzung zu sich selber. Jeder Zoll ein junger Großhändler aus der Provinz, der seine Frau daheimgelassen hat.

Der Kellner kam und wollte fragen – doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen, als er Hortobágyi ein Auge zukneifen und an der Zigarre saugen sah. Hurtig mit Donnergepolter bracht er den eisigen Kübel.

Zigeuner und Raben haben feine Witterung. Der Primgeiger stellte sich wortlos hin und fiedelte

»Csak egy szép leány van a villágon...«
»Nur ein einzig Mädel auf der Welt
Ists, das mir vom Herzen wohlgefällt . . .«

89 – fiedelte es so traurig und kokett, daß dem armen Großhändler fast die Tränen gekommen wären. Wars doch seines Freundes, des Husaren, Leiblied.

Der Großhändler schlenkerte das Taschentuch in der Luft, tanzte sitzend Tschardasch im langsamsten, wiegenden Laschutakt – dann wurden die Zigeuner frischer, der Großhändler auch – und – –

»Euer Wohlgeboren müssen ajnmal geruht hoben, bei ajnem Rajterregiment zu dienen«, rief der Primasch.

»Worum, Zigajner?«

»Hát, wajl Euer Hochwohlgeboren belieben großartig zu tonzen.«

Und sie spielten:

Megy a gözes...

»Auf der Donau, auf der Theiß und auf der Marosch
Geht ein Schiff, ein Schiff hinab nach Kaposchwarosch.
Droben sitzt der Maschinführer,
Und er lenkt das Dampf, wohin der Schiff soll fahrosch.
Dreimal hot geschlogen – dreimal hot g.eschlogen –
Der Amsêl, die Amsêl, das Amsêl.
Mir konn nix befehlen – mir konn nix befehlen –
Der Richtêr, die Richtêr, dos Richtêr.
Mir befiehlt nur Ferencz József, mein König.
Ihm muß exerzieren, ihm muß salutieren
Infantrist, Kanonier und Husar.«

Hei, das war ein Leben! »Niemals sterb ich«, rief Hortobágyi – denn das, was sie da spielten, war – aller Hortobágyis andres, lustiges Leiblied.

Es gibt ein Stadium bei Husaren, wo sie Einkehr 90 in sich halten und allein sein wollen. Eine Gemütskrankheit ändert nichts daran.

Hortobágyi war so weit, hielt Umschau im Zimmer und gewahrte die Anwesenheit zweier alter Herren.

Das tat ihm weh. Aber er wollte zuerst versuchen, sie in aller Güte ans Heimgehen zu mahnen. Er nahm seinen Kübel in eine Hand, den Schnurrbart des Primgeigers in die andre und segelte auf die beiden Herren los.

Sie standen artig auf und stellten sich irgendwie vor. Hortobágyi mochte nicht an Lebensart zurückstehen, riskierte auch eine Verbeugung und sagte einfach:

»Kralitzky«.

»Wohl ein Verwandter des Finanzministers Kralitzky?« fragten die Herren wie aus einem Mund.

»Najn. Ich bin dos Minister selber.«

»Ah.«

Die beiden Herren machten Platz, man setzte sich und sprach von allerlei. Dann kams zum Singen, nach etlichen Kelchen zur Bruderschaft. Béla, der älteste – Familienname tat nichts zur Sache – hielt einen Speech auf Seine Exzellenz.

Hortobágyi antwortete mit einigen herzlichen Worten und einem Hoch auf die Steuerkraft der Bürger. – Die beiden Herren waren sichtlich geschmeichelt.

Hortobágyi ließ noch einmal »Auf der Donau, auf der Theiß . . .« spielen und versprach dem Primgeiger eine Hofratsstelle im Ministerium.

So kam das Gespräch auf den Dienst.

Seine Exzellenz schilderte ihn sehr einfach:

»Von acht bis elf schrajb ich Steuern aus, von elf 91 bis ajns kommen die Hofräte und zählen mir den Papiergeld vor. Donn um ajns geh ich wieder auf die Rajtschule – he – ich nenn majnen Kanzlaj nämlich Rajtschule, weil ich immer um die Schrajbtisch herumlauf.«

»Ah – so – darum.«

»Jo. Donn moch ich bis abends Staatsschulden und schrajb Mahnbriefen an die Lajt, wos mit Steuern im Rückstond sajn. Sie sajn doch Ihre Verpflichtigungen bis hierher immer pünktlichkeitlich nachgekommen, majne Herren?«

»Immer«, versicherten die beiden.

»Dos frajt meine Herz von Herzen. Moncher is in diese Bezüglichkajt ohne Gewissen. Der Rothschild, zum Bajspiel, is jetzt mit hajte mitajngeschlossen acht Millionen gonz allajn für Hundesteuer schuldig – ungerechnet dos ondre. Um so mehr bin ich geentzückt von die Ordnungslieblichkajt von majne verehrte naje Frajnderln.«

Die Frajnderln verbeugten sich, wobei der eine nur schwer wieder hochkam.

»Zu wenig Gymnastik!« schalt Hortobágyi. »Belieben Sie mich zu ansehen – ich übe täglich mit mir. Ober ich könnte auch wetten, doß ich imstonde bin, mit majne rechte Sporen linken Ohr zu kratzen.«

»Nicht möglich, Exzellenz.«

Die Wette kam zustande – Hortobágyi zog seinen Stiefel aus und kratzte sein linkes Ohr.

»Pardon, Exzellenz,« wandte Béla ein, »es war vom Kratzen mit Sporen die Rede.«

92 »Hundert Hektoliter Tajfel – do hob ich gevergeßt, doß ich nicht bin in Uniform.«

»Wie – haben die Finanzminister Sporen zur Uniform?«

»Hât – weißt du dos nicht? Mit wos möchten s' sonst zu immer ernajerter Tätigkajt anspornen dos gonzen Stetsmanechismus – Stechmasochismus – niederträchtiger Wort! – Staatsmechanismus?«

Aber da half keine Sophistik, der Korb Sekt mußte gezahlt werden.

Der Älteste war hungrig geworden und bestellte Eier mit Kaviar. Als er zu essen anfing, winkte Hortobágyi den Primgeiger herbei und ließ den Radetzkymarsch spielen.

Der alte Herr aß ruhig weiter. Das war nicht ganz in Hortobágyis Sinn, den die verlorene Wette und die Gemütskrankheit kampflustig gemacht hatten.

»Ich bitte mir aus, daß Radetzkymarsch zu Ehren von Voter Radetzky stehend geonhört wird.«

»Wieso –? Wozu –?«

»Hauptsächlich wajl ich es hoben will und dann auch aus kaiserlichen und königlichen Patriotismus.«

»So? Na, gut. Zigeuner, komm her! Da hast du hundert Gulden, spiel bis Mittag die Volkshymne. Ich hoffe, daß Seine Exzellenz sie stehend anhören wird.«


Als Hortobágyi am nächsten Morgen mit heftig schmerzendem Kopfhaar erwachte und sich zur Meldung ankleidete, da – war es ihm immer so, als habe er 93 heute nacht irgendwo einen großen Krawall gehabt. Er konnte sich bloß nicht erinnern, wo . . . Doch ja, bei Szikszay. Mit einem alten Herrn . . . Wie hat er denn schnell geheißen? . . . Béla. Herrgott, wenn der am Ende den Finanzminister fordert!

Na – geschehen ist geschehen.

Hortobágyi machte sich fertig, kletterte in einen Fiaker und fuhr in die Kaserne, um sich beim neuen Regimentskommandanten zu melden.

Als er die Tür des Dienstzimmers öffnete . . .

Als er die Tür des Dienstzimmers öffnete, da . . . da stand am Fenster in Uniform der – alte Herr von gestern.

»Herr Oberst . . .«, stammelte Hortobágyi und kramte in seinem deutschen Sprachschatz entsetzt nach dem nächsten Wort. – Vergebens.

Herr Oberst von Bálawáry fuhr ein wenig zusammen und sagte:

»Sie sind offenbar der zutransferierte gemütskranke Herr Oberleutnant? Ja? Dann danke ich für die Vorstellung – ich weiß schon. Was Ihre Pflicht und Schuldigkeit in meinem Regiment ist, brauche ich Ihnen wohl nicht auseinanderzusetzen. Nur eins, Herr Oberleutnant: ich liebe nicht, wenn man zuviel redet. Ein guter Husar kämpft mit dem Arm und hält das M . . .und. Plauschen haß ich – das ist meine Gemütskrankheit. Ich glaube, wir verstehen uns, Herr Oberleutnant.« 94

 

Es wird ernst.

Der alte Ischbary, Husarenmajor, lag krank. Nur wußte er nicht, wie krank.

Die Kinder redeten zu, die Frau bat – . . .

»Gut,« sagte der Alte, »– wann ihr durchaus wollts – laßts den Stabsarzt holen. – Aber es is einfach lächerlich. Mir fehlt nix.«

Eines Nachts bekam er Herzkrämpfe.

»Es wird ernst,« stöhnte er, »i . . . ich krieg keine Luft. Holts . . .«

». . . . den Stabsarzt, Papa?«

»Nein. Diesmal wirds ernst. Holts den Kurschmied.« 95

 

Der Rittmeister.

Fast vierzehn Tage lang – vom 6. bis zum 18. Dezember – hatten die Zehner-Ulanen mit der Armeereserve in Janowitze und Konkurrenz gelegen – die Schwadron Riedl, gemeinsam mit der Brigade Nagelmüller nach Norden vorgeschoben – in einem elenden Dorf.

Es waren schreckliche Tage. Keine Unterkünfte – der General mit dem ganzen Stab auf dem Heu im Schulzimmer, die Stabsoffiziere zusammengepfercht in einer unheizbaren Stube daneben. – Wenns doch wenigstens einen Popen im Ort gegeben hätte!

Am 11. Dezember wurde die Kälte so arg, daß der General den Befehl gab, alle Stallungen für die Infanterie zu räumen. Nun mußten die Pferde sämtlich hinaus – ohne Unterschied. – Rittmeister Riedl erhob Vorstellungen – es nutzte nichts. Die Ulanen haben ja Pelze und Pferdedecken, sie können eher im Schnee schlafen. Aber Zeltblätter gab man ihnen wenigstens nach vielem Bitten.

Wie lang das so fortgehen sollte, wußte niemand. Es wußte überhaupt niemand etwas. – Am rechten Flügel, bei Drohobytsch, sollte eine Schlacht geschlagen worden sein – gestern – oder vor fünf Tagen – oder vor etlichen Wochen . . . Der zugeteilte Oberleutnant bei der Brigade behauptete, die Schlacht wäre unentschieden gewesen. – Gott, man kennt das: zuerst heißts immer unentschieden oder gar siegreich. Und dann auf einmal der Krach.

Am 14. kam ein großer Verwundetentransport 96 durch. Ein Reserveleutnant vom Train war Kommandant. Man bestürmte ihn mit Fragen. Er wußte aber auch nichts – nicht einmal, wohin er sollte.

Am Abend war die Verpflegsstaffel fällig und blieb aus. Man wartete bis elf Uhr nacht – vergebens. Rittmeister Riedl ließ in der Brigadekanzlei nachfragen, ob er die Reserveportionen angreifen dürfe – der General sagte: nein. Am Morgen kam der Befehl an die Schwadron, der Verpflegskolonne eine Patrouille entgegenzuschicken. Rittmeister Riedl bestimmte den Leutnant Grafen Pilen. Der Leutnant ging – und kam erregt zurück: beide Pferde waren ihm in der Nacht umgestanden. Da ließ der Rittmeister auf eigene Faust abkochen und füttern.

Ah – nur hinaus aus dieser trägen Öde! Lieber vor dem Feind sterben, lieber irgendwie zugrunde gehen – nur nicht diese gräuliche, hungrige Hilflosigkeit . . .

Endlich, am 19. Dezember, früh um vier Uhr, brach die Brigade auf – gen Norden. Gott sei Dank – vorwärts!

Am Heiligen Abend war Freilager zwischen Majdan und Tarnobrzeg, am ersten Weihnachtstag gings – zu Pferd und stolz – über die dickgefrorene Weichsel – hinüber. – Alle waren wie neugeboren. In Tarnobrzeg hatte man heißen Tee mit Allasch getrunken – Wachtmeister Paschitsch verteilte mit einem silbernen Suppenschöpfer Kaviar, und seine linke Sattelpacktasche war noch voll davon.

Und immer noch kein Feind. Donnerwetter, heut 97 sollte es zu einer Affäre kommen! Die Sonne scheint, die Burschen singen wieder.


Rittmeister Riedl gab am Silvestertag um elf Uhr vormittag dem Schwadronstrompeter einen Befehl. Da hörte mans »pink!« gegen die Feldflasche des Mannes schlagen – der Trompeter öffnete langsam die Augen – weit – überweit, so daß das Weiß vortrat – ließ langsam die Zügel aus – – ein Blutstrom kam ihm aus dem Mund – – – und langsam, langsam glitt der Trompeter mausetot an der Mähne vorbei vom Pferd. – Der Gaul sah zu und schnob ihn an, als müßte das so sein.

In diesem Augenblick packte den Rittmeister Riedl eine lähmende Furcht. Das »Pink« der ersten Kugel tönte ihm immerfort im Ohr nach.


Als Seitenhut der gegen Iwangorod vorgehenden Armee war die Brigade Nagelmüller auf dem äußersten linken Flügel. – Die Schwadron Riedl und eine zweite, auch von Zehner-Ulanen, die gestern zur Brigade gestoßen war, marschierten, täglich abwechselnd, entweder geschlossen an der Tete des Gros oder vorn als aufklärende Kavallerie.

Am 4. Januar wurden die Belästigungen durch Kosakenpatrouillen so arg, daß General Nagelmüller beide Schwadronen vorausschickte.

So geht das nun schon eine Woche. Die Leute halten sich verhältnismäßig gut. Die Pferde aber sind vollkommen hin.

98 Rittmeister Riedl gerät durch jede feindliche Lanzenspitze in Erregung. Allemal sieht er den Feind zuerst.

»Schießen! Schießen!« ruft er.

Zwei, drei Ulanen hinter ihm schnallen die Karabiner ab und – schießen. Sie nehmen sich nicht einmal die Mühe, abzusitzen. Wozu auch? Die Pferde stehen ja so still – so still . . . – Der scharfe Knall verhallt in die Landschaft – pink – pink – pink . . . Von den Mündungen steigts wie Zigarettenrauch. Nichts. Niemand getroffen. Aber sie gehen wenigstens zurück.


»Schießen! Schießen!« schreit der Rittmeister wieder einmal.

Die Leute blicken – blicken dorthin, wohin er zeigt . . .

»Schießen – auf wen?« fragen sie verlegen.

Wachtmeister Paschitsch zottelt von der Queue des Zuges herbei – späht falkenäugig hinaus, wo sich am Horizont die Lysa Gora als dunkelgraue Silhouette zeichnet – und schüttelt den Kopf.

»Ich habe gedacht . . . ich . . . ich . . . hab doch geglaubt . . .« murmelt Riedl – beschämt und entsetzt darüber, daß er schon Trugbilder sieht.

Er möchte tapfer sein – möchte dreinschlagen – morden – Blut – Blut vergießen – den Säbel jemand ins Herz stoßen. Er ballt die Faust – er reckt sich – ein paar Eisen – vor! Geh, Fuchs! – Da – sieht er einen Busch im Schneefeld, und alle Pulse stocken ihm. Gewiß, dort lauert etwas. Er ist schon daran, wieder »Schießen« zu rufen – er fühlt, wie 99 ihm die Lippen den Dienst versagen. – Nein, nein, ruhig. Es ist ja nichts.

Scheu blickt er aus den Augenwinkeln zurück, ob ihm die Leute folgen. Wenn sie ihm nicht auf den Stollen sind, verhält er das Pferd unmerklich, bis er wieder das Stampfen und Knirschen der Hufe knapp hinter sich hat. – Nur nicht allein sein. Er ist ja wehrlos. Die Leute haben wenigstens Karabiner.

Gott im Himmel, wenn die Mannschaft merkte, wie sehr, wie sehr er sich fürchtet! Am Ende haben sie es schon gemerkt. Wenn sie sich doch auch fürchteten wie er – dann könnte er ihnen in die Augen sehen.

Und er, er soll führen, kommandieren. Er ist hungrig, müd, überreizt, er sieht Trugbilder – und soll führen.

»Paschitsch!«

Der Wachtmeister trabt vor und will links hinter ihm herreiten. Riedl pariert und winkt dem Unteroffizier, daß er sich vor ihn stelle.

Als sie sich gegenüberstehen, blickt der Rittmeister dem Paschitsch sekundenlang in die Augen.

»Weiter!« sagt er nur heiser und gibt dem Fuchs die Schenkel.– Paschitsch traversiert verwundert zur Seite.

Der Mann hat also keine Angst. Die andern wahrscheinlich auch nicht. Nur er allein, der Kommandant, hat Angst. – Wenns die Mannschaft noch nicht gemerkt haben sollte, wird sies in der nächsten Minute merken. Und dann . . .

»Dann ists am besten, ich erschieß mich.«


100 Paschitsch ist auf Requisition gewesen, hat aber nichts gefunden. Nur einen Kosaken haben sie eingebracht.

Rittmeister Riedl läßt nicht den Blick von ihm Also dieser Kerl hat damals geschossen . . . Pink! – da riß der Trompeter die Augen auf – weit – überweit – ließ langsam die Zügel los – ein Blutstrom – – dann glitt er an der Mähne hinunter.

Also dieser Kerl . . .

Die Ulanen kommen neugierig herbei und betrachten den ausgehungerten Kosaken, den ersten, den sie so nahe sehen.

»Wie–r–a Drahtbinder«, sagt Paschitsch mit grausamem Lächeln. Und alle lachen.

Rittmeister Riedl schrickt auf. »Wahnsinn, Wahnsinn! Warum sollte gerade dieser geschossen haben!« gehts ihm durch den Kopf. »Schritt – maaarsch!«

Wie kalt es heute ist! Die Nüstern, die Mähnen, sogar das Deckhaar der Pferde ist bereift. Das Leder des Sattels kracht. Die Bügel brennen am Ballen, die Zügel rutschen aus den klammen Fingern. In den Hufeisen haben sich Schneeklumpen angeballt, die Pferde treten unsicher. – Riedl bohrt die stieren Augen auf den Tannenwald. Dort durchreiten – um Jesu willen – das ist ja der Tod . . .

Wo kommt denn auf einmal Oberleutnant Schembera her? Ja, so – die Schwadron marschiert ja heute geschlossen. Wie hat er das nur vergessen können?

Die Leute – die Mannschaft – hols der Teufel – mögen sie sich denken, was sie wollen. – Aber 101 Schembera soll nicht um seinen Seelenzustand wissen. Um keinen Preis. Nur der nicht. Er will sich bezwingen.

Als die beiden Spitzenreiter in den Tannen untertauchen, da kann er doch nicht weiter.

»Schembera!«

»Befehlen, Herr Rittmeister?«

»Schembera . . . ich . . . ich . . . fühle mich so . . . ich ahne . . . – Man kann doch Ahnungen haben – nicht?«

»Wie meinst du das, Herr Rittmeister?«

»Ah – nichts – ich hab nur etwas . . . ich hab mirs überlegt.«

In den Tannen knistert leise der Wind. Wenn jetzt aus diesem Wald der Feind bricht, dann ist alles, alles verloren.

»Schembera!«

»Befehlen, Herr Rittmeister?«

»Du – Kamerad – meine Frau wohnt in Wien, Paniglgasse.«

Der Oberleutnant nickt.

»Du wirst ihr doch sagen – Schembera . . .?«

»Ach, Unsinn, Riedl!«

»Nein, du mußt ihr sagen . . . Weißt du, sag ihr, ich hab sie grüßen lassen. Nein, nein, sag ihr das nur . . .«

Plötzlich biegt der Weg um die Ecke, die Anhöhe wird sichtbar. Von den Spitzenreitern steht einer vorwärts über den Bergkamm lugend in den Bügeln, der andre winkt zurück. Was ist das?

Riedl sprengt vor. Er stellt sich neben den Korporal und schaut – und schaut:

102 Dort unten reitet sorglos und sicher – der Feind, der Feind, der Tod.

Ein langer Heerwurm kriecht aus der Ebene bergauf entgegen. Reiter – blitzende Gewehre – Geschütze – der Tod. Sorglos und sicher.

Den Rittmeister packt etwas an der Kehle und will ihn erdrosseln. In einer einzigen Sekunde fliegen alle Mühsale und Schrecknisse des ganzen Lebens an ihm vorüber. Pink! – weite Augen – Blutstrom –

Mit einem Riß hat er den Pallasch aus der Scheide. Er weiß nicht, woher er die Worte hat, aber er findet sie.

»Ergreift den Säbel!« gurgelt er. »Kolonne!«

Nein, das ist ja schlecht. Alles muß zugrunde gehen.

»Aufmarschieren!« –

Es klirrt, es trappelt – die Schwadron formt sich zu einer breiten Front.

Rasend haut er die Sporen ein. Nur vor! – Mord – Blut – Tod – Galopp –!

Hinter ihm die Reiterschar.

Der Trompeter hat die Schnur vom Horn gewickelt und bläst zwei klägliche Töne – nichts mehr.

Und vorwärts durch die schneidende Luft – ins blinde Nichts – gehts den Schneehang hinunter.

Noch einmal will Riedl parieren – der Fuchs gehorcht nicht. Also drauf!

Ehe sich die unten noch gefaßt haben – ein Stoß – drein – drauf – drüber – mitten hinein – und hinter ihnen her.

Mit furchtbarem Anprall rammt der Fuchs an 103 einen Knäuel von Pferden und Menschen, die nicht fliehen können.

Wütend fallen die Hiebe des verrückten Rittmeisters auf die Rücken, auf die Furaschkas, auf die Papachas – bis ihm der Säbel aus der Faust fliegt und am Portepee hangen bleibt.

Der Knäuel löst sich. Ledige Pferde – Offiziere – Infanterie – Kosaken – Dragoner – Schreie – klatschende Hiebe – ein paar Schüsse – Schreie – Schreie – tausend wechselnde Bilder.

Hilflos in dem Trubel steht Rittmeister Riedl. Da spürt er einen Ruck in der Schultergegend – jemand zieht ihm ein breites, schwarzes Seidenband mit grünen und roten glänzenden Tupfen durch das Hirn – ein wohliger, warmer, süßlicher Geschmack im Mund – und dann nichts mehr.


Als Rittmeister Riedl wiedererwacht, rollt und rüttelt es unter ihm. Er hat Durst, und ein Sanitätsmann reicht ihm Wasser aus einem Zinnbecher.

Das Wasser ist lau. – Alles ist lau. – Schön, angenehm lau.

Er fährt in einem gutgeheizten Ambulanzwagen des Deutschen Ritterordens – nach Wien.


Fünf Monate später ist er Major, Freiherr und Theresienritter. Er hat ja »ohne erhaltenen Befehl unter Bezeigung größter Bravour und selbständiger Umsicht mit seiner 3/10 U. R. Schwadron eine zur Deckung der gegnerischen rechten Flanke ausgesandte, 104 mindestens zehnfach überlegene feindliche Abteilung angegriffen und zersprengt und dadurch nicht nur zur Entscheidung der nachfolgenden Schlacht an der Lysa Gora, sondern auch zur siegreichen Beendigung des Feldzuges überhaupt wesentlich beigetragen«.

Der vom Rittmeister Riedl über die Affäre verfaßte Gefechtsbericht steht wörtlich im Generalstabswerk. Ebenso das Tapferkeitszeugnis (unterschrieben vom Oberleutnant Schembera, Leutnant Grafen Pilen, Wachtmeister Paschitsch und je einem Zugsführer, Korporal, Patrouilleführer und Ulanen).

Ein Hofrat hat über die Affäre eine Geschichte geschrieben, die alle Sonntagmorgen von zehn bis zwölf Uhr der Mannschaft vorzutragen und zu erläutern ist. 105

 


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