Rainer Maria Rilke
Von Kunst-Dingen
Rainer Maria Rilke

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Das Testament

24.-30. April 1921; ersch. unter dem Titel: Rainer Maria Rilke, Das Testament, Insel Verlag Frankfurt am Main, 1974

Um seine Lage am Ausgang jenes Winters verständlich zu machen, muß man bis in den Sommer des Jahres Vierzehn zurückblicken. Der Ausbruch des heillosen Krieges, der die Welt für die Dauer vieler Menschenleben verzerrte, verhinderte ihn, in jene unvergleichliche Stadt zurückzukehren, der er den größten Teil seiner Möglichkeiten verdankte. Es begann eine endlose Wartezeit in einem Lande, mit dem er nur durch die Sprache zusammenhing –, und auch die hatte er, in den verschiedensten Ländern wohnend, seinen innersten Aufgaben so völlig dienstbar gemacht, daß er sie seit einiger Zeit für den reinen und unabhängigen Stoff seiner Gebilde halten durfte.

Der Anschluß an jenen Freund, in dessen besonderen Fähigkeiten er zugleich den Arzt sich zu gewinnen hoffte, dessen er zuzeiten so sehr bedurfte, wurde immer loser und war an dem Tage, an dem dieser seinem Berufe mit eigentümlicher Hingebung unterworfene Mensch plötzlich und erschöpft starb, längst vollkommen entspannt.

Der einzige Versuch zur Wiederaufnehmung seiner durch Enteignung des ganzen natürlichen Lebens unterbrochenen Arbeiten fand ein jähes Ende in seiner Einberufung zu einem Landwehr-Regiment, durch welchen Zwang ihm eine widerwärtige und nun erst recht verlorene Frist in der Hauptstadt des über ihn verfügenden Landes zugemutet wurde. Nach vielen Monaten aus diesen untätigen Verpflichtungen befreit und in den Wohnsitz seines Abwartens wieder zurückgekehrt, fehlte es ihm an jener inneren Klarheit und Freiheit, in der allein seine unbeschreibliche Arbeit gedeihen konnte. Auch widerstrebte es ihm, sie irgendwie mit dem böswilligen Unheil dieser schmerzlichen Jahre zu vermischen: wenigstens entschuldigte er seine Unfähigkeit so in mehreren Briefen, in denen er gestand, es sei ihm wie dem Kinde zumut, das, solange es von Zahnschmerzen gequält war, seine liebsten Dinge nicht anrühren mochte.

Schließlich als der Krieg schon in die diffuse Unordnung revolutionärer Zuckungen übergesprungen war und er auch noch diese Sinnlosigkeit, indem er Mallarmé übersetzte, einigermaßen sich vom Körper hielt, gelang es ihm, auf die Einladung zu Vorträgen hin, die längst ganz und gar verleidete Stadt und seine dortige, beinah öffentliche Wohnung – so sehr war sie von den Besuchen Fremder und Halbbekannter heimgesucht – zu verlassen, um dem erwünschten Rufe in ein anderes, übrigens in den Wirren der letzten Jahre unparteiisches und hülfreiches Land zu folgen. Es traf sich allerdings, daß das gerade jene Landschaft war, durch die er früher, aus südlichen Gegenden kommend, oft hinter absichtlich verhängten Wagenfenstern durchgereist war: so sehr widersprach etwas in seiner Natur der pathetischen und zugleich nüchternen Gebirgigkeit, durch die sie bei vorigen Generationen sich berühmt gemacht hatte. Dieses Land war es, das sich ihm nun durch jene aufmerksame Berufung sowohl wie durch eine Gastfreundschaft an einem seiner Seen anbot.

Aber auch sein neues Wohnen jenseits der bisherigen so schwer ertragenen Grenzen wurde zu einer die frühere nur etwas milder fortsetzenden Wartezeit. Zwar eine gewisse Erleichterung war ihm damit verstattet worden; zu jener inneren Besinnung, die der Konstellation seiner Arbeit vorausgehen mußte, fehlten indessen auch hier die entscheidenden Bedingungen. Sein Wohnsitz war ein wechselnder. Anknüpfungen vieler neuer Beziehungen waren nicht zu vermeiden, erwiesen sich wohl auch zum Teil als erfreuend. Die Anziehung, die seine ernste, aber doch nicht völlig geleistete Einsamkeit gelegentlich auf allerhand Menschen wider seinen Willen (vielleicht durch eine ihn fortwährend dementierende Sehnsucht) ausübte, trug ihm auch hier merkwürdige Verhältnisse ein, in denen er freilich so sehr zum Gebenden und Mitteilenden werden mußte, daß ein Ansammeln jener innerlichen Vorräte, das endlich zu einer Spannung im eignen Wesen führt, von Monat zu Monat vereitelt wurde.

Da, nach mehr als anderthalb Jahren, am Anfange eines neuen Winters, als es schien, als sollte er in jenes verunglückte Land zurückkehren müssen, das ihm gleichsam wie ein Krankenzimmer noch vom Kriege und den Ausatmungen seiner trüben Verhängnisse überfüllt war –, ergab sich ein durchaus Unerwartetes: Ein sehr entlegener alter Herrensitz wurde ihm mit einem Male zur Verfügung gestellt, eine freundliche, schweigsame Wirtschafterin erwartete ihn dort, und er war (am 12. November) kaum eingezogen, als ihm schon alles Umgebende eine Gefälligkeit und Brauchbarkeit zukehrte, die seine beste Erwartung übertraf.

Der weite niedere weißgetäfelte Arbeitsraum mit seinem großen alten Kachelofen und dem Kaminplatz außerdem schien wirklich genau auf ihn gewartet zu haben; die Versorgung war, von einem Tag zum anderen, ohne daß eine Erläuterung seiner Gewohnheiten nötig geworden wäre, eingerichtet, – vor den Fenstern lag der stille Park. Langsam entblätternde Charmillen begrenzten rechts und links den geräumigen Rasenplatz und einen ungerahmten Weiher, dessen immer fallende Fontäne gleichsam das, was für die Augen von so erfüllender Stille war, nun auch in das Gehör übersetzte. Als der Park mit einigen schönen Platanen und einer ihn in der offenen Tiefe quer abschließenden Allee weitgestellter alter Kastanien sich immer mehr dem Herbste überließ, gewann der Ausblick an Einfluß. Ohne das Bedürfnis des Auges zu beengen, bereiteten dort sanft ansteigende Wiesen die Hänge eines bewaldeten Hügels vor: und sosehr er die Ebenen liebte, so war ihm in diesem zur Besinnung entschlossenen Moment doch auch diese Beschränkung recht, die dem Bewußtsein eines Intérieurs, das er von Tag zu Tag in sich zu steigern hoffte, gewissermaßen landschaftlich entgegenkam.

Soweit er denken konnte, hatte er sich nie natürlicher und geschützter aufgenommen gefühlt; selbst nicht damals in jenem älteren fürstlichen Schloß, das in seinem Leben so bedeutend gewesen war und das er in sich fast leidenschaftlich bewahrte, seit das blinde Zugreifen des Krieges die ungeheueren Mauern, die unvergänglich schienen, bis auf den Felsengrund zerstört hatte. Jenes Schloß über dem Meer war weitläufig gewesen, die Kraft der Zeiten und Gestalten, die in ihm nachwirkte, bereitete der Seele zahllose Aufgaben; sie mußte mit vielem Überlegenem vertraut sein, eh sie sich selber bleiben durfte.

Hier, in diesem übersehbaren kleinen Edelsitz war eine mindere Vergangenheit zu bewältigen. Räume und Gänge, lange nicht mehr in ihrem eigensten Begriffe bewohnt, hatten für den, der sie verständig erkannte, eine einfache Zustimmung; an Bildnissen war nicht viel da, was stark genug gewesen wäre, Gestalt aufzuerlegen, der Lebende überwog, und die Dinge, bescheiden in ihrer Art, beanspruchten nicht, mit mehr unterhalten zu sein als mit dem unwillkürlichen Überfluß seines sofort dankbaren Gemüts.

Konnte der in diese unerwartete Bergung Gerettete nun an die Wiederaufnehmung seines zerrissenen Wesens gehen? Man vermutet's. Wie sehr aber denkt man ihn erst dazu begünstigt, wenn man erfährt, daß ihm, gerade ehe er sich in diesen neuen Umgebungen einschließen sollte, eine doppelte, ebenso unvermutliche Fügung zuteil geworden war: es war ihm vergönnt, zwei berühmte Orte in verschiedenen Ländern wieder aufzusuchen, die unabtrennbar in die Geschichte seiner Vergangenheit gehören. Einer davon war jene einzige Stadt, der er nicht allein seine ganze Erziehung-im-Geiste verdankte, sondern deren Einwirkung er es auch mit Recht zuschrieb, wenn die besonderen Leiden und Seligkeiten seines Wesens sich ihm kenntlicher und größer geoffenbart hatten, als das selbst Menschen von starkem innerem Gesicht in seinem Alter widerfuhr.

Und zu allem dies: die unerschöpfliche Gnade hatte ihn (wunderbar rechtzeitig, möchte man ausrufen) auch noch mit jener ungeheueren Bewegtheit überfüllt, die ein Herz überstürzt, das sich unter dem Andrang eines neuen Geliebtwerdens entschließt, zu lieben . . .

Ja, auch dies.

Wenn sich nun hinter diesem so vollkommen Begünstigten und Begabten die Türe schließt, so meint man, ihn einem so großartig ausgestatteten Alleinsein mit Zuversicht überlassen zu dürfen.

Die Anmerkungen indessen, die Briefentwürfe, in denen der Abschluß jenes merkwürdigen Winters bruchstückhaft niedergelegt ist, verzeichnen ein Mißlingen, einen grausamen, verwirrenden Verlust.

Der Schreiber hat (nachträglich offenbar) diese losen Blätter unter dem Titel ›Das Testament‹ zusammengefaßt, wahrscheinlich, weil mit diesen Einsichten in sein eigentümliches Verhängnis ein Wille ausgesprochen ist, der sein letzter bleiben wird, auch wenn seinem Herzen noch die Aufgabe vieler Jahre bevorsteht.


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