Rainer Maria Rilke
Von Kunst-Dingen
Rainer Maria Rilke

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Jakob Wassermann Der Moloch

5. November 1902; ersch. in: Bremer Tageblatt und General-Anzeiger, VI. Jg., Nr. 270, 16. November 1902

Was man von wenigen sagen darf, die deutsche Romane schreiben: Wassermann hat seinen eigenen Stil. Er hat eine bestimmte Art von Aufrichtigkeit, eine gewissenhafte Genauigkeit, eine bis an Pedanterie reichende Vorsicht im Ausdruck. Er wacht über sich und will, daß sein Schauen und sein Erfassen der Dinge ohne Umweg in die Worte eintrete, verschleiert eintrete und erst in ihnen sich enthülle. Er lebt seine Erlebnisse nicht, er zwingt sie, sich in den Worten, die er ihnen giebt, abzuspielen. Und sein ganzes tägliches Bemühen ist, ihnen die rechten, die geeigneten Worte zu finden. Man kann in seine Worte hineinsehen wie in Zimmer, wie in Säle, wie auf weite Treppen und dunkle Flure. Sie haben alle Zauber des Interieurs, jedes für sich. Und doch, wie sie so aneinandergereiht sind, geben sie den Eindruck eines Hospitals oder eines Gefängnisses. Die Zeilen dehnen sich wie lange Gänge, an denen die Worte liegen; es giebt solche, deren Türen offenstehen, und man sieht in ihre merkwürdige Tiefe oder in ihre atemlose Enge hinein; bei anderen ist die Türe ins Schloß gefallen, und viele sind so, als wären sie lange nicht geöffnet worden. Und schließlich geht man an allen den Zimmern und Zellen vorbei, verwirrt von den vielen verschiedenen Bildern, und müde wie aus einem großen Haus tritt man aus dem Buche heraus. Es ist vieles darin, aber man kann es nicht überschauen. Die Erinnerungen überschneiden und verdecken einander, und man weiß schließlich nur, daß man einen weiten Weg gemacht hat. Wie die Dinge und Eindrücke einer Reisenacht seltsam verworren und wie ohne Zeit und Raum in der Erinnerung des nächsten Morgens stehen, so sind die Bilder und Begebnisse dieses Buches im Gefühle dessen, der es gelesen hat. Man fühlt am Schluß etwas von der Müdigkeit, die man empfindet, wenn man aus einem Museum tritt, in dem man einen langen Vormittag umhergegangen ist, und es ist etwas vom Sammler in Wassermann und etwas von der Leidenschaft des Sammlers, der es nicht verträgt, daß etwas Seltenes in seiner Sammlung fehlt, und dem Vollständigkeit und Fülle das Ziel aller Mühe scheinen. Wassermann, soweit er Psychologe ist, ist ein Sammler von seltsamen Zügen, Worten, Gebärden und Winken. In diesem Sinne will er vollständig sein. Wie aus kleinen farbigen Steinen baut er seine Bilder mosaikartig auf, und da soll nirgends ein Stein fehlen, und jeder soll eine andere Farbe haben. Sein Schreiben ist wie eine mühsame Handarbeit, die man von ganz nahe betrachten darf. Jede Stelle zeigt die gleiche Sorgfalt und Vorsicht, aber das Ganze wird, sobald man zurücktritt, nicht klarer, nicht größer. Indem man sich von den Details entfernt, entfernt man sich auch von ihren Zusammenhängen. Man findet unendliche Feinheiten in seinen Büchern, Aufschlüsse, Offenbarungen; aber jedes neue Bild nimmt einem das vorhergehende aus den Händen und ersetzt es so ganz und gar, daß man nichts vermißt. Das Wort, vor dem man gerade steht, hat recht, alle anderen sind wie nicht vorhanden. Es ist ein Kommen und Gehen durch fünfhundert Seiten.

In diesem Sinne sind Wassermanns Bücher ›Romane‹. Sie beanspruchen nicht zu bleiben, sie gehen vorbei, ihre Worte verlöschen wie Laternen, sobald man vorüber ist. Mit dieser Vergänglichkeit bezahlen sie das starke Licht eines Augenblicks, die intensive Wirkung, die sie eine Sekunde lang ausstrahlen. Die Augen des Lesenden gehen wie Lichter durch das Buch, hinter ihnen fällt es in tiefe Dunkelheit. Nicht in die Dunkelheit seiner Geheimnisse, sondern in einen schweren Schlaf. Es ist, als ob alle diese Worte, die Wassermann gebraucht, überangestrengt wären, überwach, als ob unter ihrer Gelassenheit eine nervöse Unruhe verborgen wäre und als ob sie sich nur in Gegenwart des Lesers aufrecht hielten. Er erzählt Schicksale mit ihnen; einmal das Leben ›der jungen Renate Fuchs‹, ein anderes Mal Arnold Ansorges Schicksal und das derjenigen, die ihm begegnet sind. Er will nicht nach merkwürdigen Menschen suchen, nach außergewöhnlichen und seltenen. Er will zeigen, daß alle merkwürdig sind, ungewiß, tief, phantastisch, unheimlich und heroisch, und er verlangt von den Worten, daß sie ihm dazu helfen. Da wird es offenbar, daß es eigentlich nicht ein Stil ist, den Wassermann sich geschaffen hat, sondern eine kluge, überlegene, bewunderungswürdige Technik, die er gewissenhaft gebraucht. In dieser Technik hat er Arnold Ansorge und seine Umgebung gemalt, mit kleinen Farbenteilchen ein weites Bild. Das Beste in diesem pointillistischen Buche ist vielleicht die Kindheit und Jugend Arnolds, die Zeit, da eine große Ungerechtigkeit, gegen welche alle machtlos sind und die sogar der Kaiser nicht hindern kann, ihn erweckt, aufruft, anschreit, ins Leben wirft. Wie Arnolds Mutter stirbt und dieser Tod an ihm, dem tief Beschäftigten, fern vorübergeht und wie er dann in das neue Leben geht, willens, ein Apostel des Rechtes zu werden und eine Stimme für die Ohren der Tauben, das glaubt man dem Buche. Später verliert man Arnold Ansorge oft. Die Menschen, die er findet, verdecken ihn, und er selbst wird träge und uninteressant. Er lebt sein Leben zu Ende, betäubt vom Leben, übertönt von den Tagen, denen er gebieten wollte. Man begreift nicht mehr, wozu er wach geworden ist. Fast ist es, als hätte Wassermann hier die Gelegenheit, mehr zu geben, aus Gewissenhaftigkeit versäumt. Es ist seine Technik, die ihm die Hände bindet. Aus Arnold Ansorge hätte einer jener reinen erstaunten Menschen werden können, die immer gegenüber vom Leben stehn, still, einsam und stark. Statt dessen sehen wir ihn zu einem jungen Menschen werden, der sich verliert im Augenblick, wo er sich zu finden schien. Er, der zu einer Aufgabe geweckt wurde, geht an dem Mangel einer Mission zugrunde. Ist es dieses Schicksal, dem Wassermann ein Buch widmen wollte? Man weiß es nicht. Man hält sich an die vielen kleinen Stellen, an die prachtvolle Arbeit, an die fleißige und eifrige Kunst, und man vergißt, zurückzutreten und zusammenzufassen. Die hundert Züge einer Zeit, einer Generation, einer Stadt bilden kein Gesicht, sondern nur ein Wirrnis von Wegen, Rückwegen und Unwegsamkeiten. Es ist viel Können in diesem Buche und viel Beobachtung: doch die Beobachtung ist nicht frei von Haß und von Ironie, sie ist nicht reines gerechtes Schauen, und das Können ist oft zu bewußt, zu gewollt, zu sehr ausgeübt, um Kunst zu sein.


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