Rainer Maria Rilke
Von Kunst-Dingen
Rainer Maria Rilke

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Böhmische Schlendertage

I

Juli und Oktober 1895; ersch. in: Jung-Deutschland und Jung-Elsaß, III. Jg., Nr. 16, 17, 21, 22, 1. September und 15. November 1895

Versprach ich nicht einmal etwas aus Böhmen zu erzählen?

Erwarten Sie nichts Politisches. – Bei uns in Böhmen liegt ja sozusagen die Politik auf der Straße, und ich habe doch viel zuviel Hochachtung vor Ihnen, um Ihnen das zu bieten, was ich vom Wege auflese.

Ich will Ihnen erzählen von dem uralten Schlosse eines alten Adelshauses – von seinen Sälen und Gängen, Galerien und Kemenaten. Das klingt ja gar romantisch.

Nun Sie werden ja sehen.

Wenn einmal ein Zufall, müßige Reiselust oder der Tod Ihrer verehrten Frau Erbtante – der ich übrigens noch ein recht ausgiebiges Leben wünsche – Sie, geschätzte Leser, nach Südböhmen führt, lassen Sie sich es nicht verdrießen, einen Tag in dem malerisch gelegenen Städtchen Krummau Aufenthalt zu nehmen.

Die kleinen, hochgegiebelten Häuser, deren viele noch die Rose – das Wappen der alten ausgestorbenen Rosenberge – tragen, werden beherrscht von der zu Seiten der jungen Moldau auf steilem Felsen thronenden uralten Burg. – Diese, ein weiter massiger Bau, der sich wie alle ähnlichen oft umgemodelten Schlösser ehrwürdiger Stillosigkeit rühmen kann, macht auf den Beschauer einen schier überwältigenden Eindruck. Zumal, als ich sie sah, an einem klaren, prangenden Märztage. Da hob sich das gelbe Riesengemäuer so grell von dem lichtblauen Himmel ab, und die dreifach aufeinandergehäuften Bogengänge, welche den Haupttrakt mit der Reitschule und dem Parke verbinden, schienen an der Rückseite mit himmelfarbenem Atlas verhangen.

Auf einer Schloßstiege mit erträglichen Stufen steigen Sie hinan. – Sie treten in den ersten Burghof. Treten Sie so in Gedanken ein wie ich, so werden Sie zerstreut nach dem Vatermörder und der Riesenhalsbinde am eigenen Halse greifen, Sie werden mit Erstaunen wahrnehmen, daß Sie nicht die Kniestrümpfe und Schnallenschuhe tragen, wie sie im ersten Halb unseres Jahrhunderts gang und gäbe gewesen sind. – Was mich zu dieser sonderbaren Untersuchung verleitet hat? –

Die Leibwache von Grenadieren, die – ein Überbleibsel alter Zeit – hinter blau-weißen (Farben des Hauses Schwarzenberg) Schranken aufgezogen ist. – Sie tragen dunkle Uniform mit blauen Aufschlägen und Schnüren, weißes über der Brust gekreuztes Lederzeug und – man höre – Ladstockgewehre! Die Stärke dieser kleinen Heermacht, welche Vergünstigung, wenn ich nicht irre, in Österreich außer dem nur noch dem Hause Clam-Gallas eignet – beträgt in Krieg und Frieden genau 22 Mann. Ein verdienter österreichischer Offizier steht an ihrer Spitze. – Gehen wir an den riesigen, alten Zwölfpfündern, denen zur Seite unglaubliche Kugelhaufen kauern, kaltblütig vorüber, so müssen wir durch einen berganführenden, eingedachten, lebhaft an einen Hühnersteig erinnernden Schwellenweg aufwärts steigen in den zweiten Hof. –

Von da führt eine breite Treppe zu den Gemächern. Die Wandung des Treppenhauses ist mit den ziemlich handwerksmäßig gemalten Wappen sämtlicher bisherigen Besitzer geziert. – Die Feste Krummau war zuerst im Besitze der Rosenberge. Später ging sie (unter Rudolf II.) in die Hände der Habsburger über und kam nach mannigfachen Wechselfällen an das Haus Schwarzenberg. –

Im Halbstocke interessieren uns vor allem die niedrigen in strengstem Empire eingerichteten Zimmer, die einen süßen intimen Duft auszuströmen scheinen. Im ersten Stockwerke sind die eigentlichen Prachtgemächer. Die großen Säle mit schwerfälligen, goldstrotzenden Stühlen und behäbigen, selbstgefälligen, prächtig ausgelegten Tischen. Unendliche japanesische Vasen und wandhohe Spiegel, in die die heimliche Dämmerung der lichtgedämpften Räume schaut. Reichgeschnitzte Speisetische mit Silber- und Zinngeschirr. – Dann die Bildergalerie.

Der führende Diener hetzte mich mit dringlicher Höflichkeit hindurch. Kaum daß ich Johann den Starken, der Hand Dürers entstammend, und das Bildnis der zu Paris beim Krönungsfeste Napoleons verbrannten Fürstin von Schwarzenberg ins Auge fassen konnte. – Zwei Treppen hoch liegen die sogenannten Julius-Caesar-Zimmer. Hier wohnte der natürliche Sohn Rudolfs II. dieses Namens. – Hier sann und vollführte er seine Greueltaten, von denen heute noch die Krummauer alten Bürger beim Bier gern erzählen. – In diesen Räumen fällt auch ein Fenster auf, das vermauert wurde, weil durch dasselbe eine Baderstochter, den Händen des Wüstlings zu entfliehen, in die Tiefe sprang. –

Vor allem ist aber der Maskensaal von Bedeutung. Er ist einzig in seiner Art. Die ganzen Wände sind mit überlebensgroßen voll heiterer Ironie gemalten Figuren bedeckt. Da sieht man Ritter und Herren, edle Frauen und würdige Matronen, Zwerge und Riesen, Harlekins und Zauberer in buntem Gewimmel. Musikanten spielen auf den Galerien, Damen blicken aus den Logen, und an der Tür halten zwei riesige stramme Grenadiere strenge Wacht. – Die Fülle der Personen und die wunderbare naive Plastik derselben machen einen geradezu betäubenden Eindruck.

Gegen die altehrwürdige, staubige und durch den Hauch der Jahrhunderte geweihte Pracht wird Ihnen der frische Reichtum des neuen, nördlicher gelegenen Schlosses Frauenberg nicht angenehm auffallen. – Es herrscht da jene schimmernde und glastende Fülle, wie wir ihr in den Schlössern unserer Fabrikanten und Bankiers begegnen.

Mich deucht aber gerade, daß jene durch Ahnen geweihten Räume das einzige ist, was der wirkliche Adel im Äußeren vor dem frisch geritterten oder eben mit der Freiherrlichkeit verherrlichten Emporkömmling mit dem österreichischen unmöglichen Namen und dem mühsam dazu gezimmerten ›‑fels‹, ›‑wald‹, ›‑burg‹ oder ›‑see‹ voraus hat. Denn nur wenigen von unserem Hochadel sieht man, was adelt, an den Zügen an. – Wenngleich sich nicht leugnen läßt, daß der und jener Aristokrat auch im Bettlerkittel seine Abstammung verraten würde.

Einen solchen Mann lernte ich in Budweis kennen. Es ist Baron M . . . Er ist als Sonderling und Altertumssammler bekannt, – und alle Welt erschrak, als ich meine Absicht laut werden ließ, den weltscheuen Freiherrn in seiner schätzereichen Behausung aufzusuchen. – Ich wagte es dennoch, ließ mich melden und – wurde empfangen. Der Hausherr war eine große, hagere Gestalt mit feinen, leicht gefalteten Zügen, in denen maßloser Hochmut und feine Liebenswürdigkeit sich überraschend vereinten. Der dünne, schüttere, unterhalb des Kinns entspringende Bart fiel schneeweiß auf die schneeweiße Halskrause herab. – Er war von großer, würdevoller Zuvorkommenheit, die sich mehr in seinem Handeln als in seinen Worten äußerte. Er geleitete mich selbst durch sein ganzes Haus – ja sogar durch den Garten und erwies mir die Ehre, mich nach Zurückweisung des Bedienten bis zu dem auf die Straße führenden Tor seines Hauses zu führen – entweder aus Wohlwollen oder in der Absicht, sich zu vergewissern, dass ich wirklich – draußen sei.

Mit dem bittern Geschmack eines Hundes, der unerreichbare Leckerbissen gerochen hat, verließ ich, selbst Altertumssammler, das Haus des Mäcen. Ich hatte dort neben andern Kostbarkeiten einen David Tenier – ich weiß nicht Vater oder Sohn – gesehen.

Dieser Tenier fiel mir auf einmal unversehens wieder bei, als ich wenige Wochen später in der Jahres-Kunstausstellung des Prager ›Rudolfinum‹ stand. Und zwar – erschrecken Sie nicht, liebe Leser, – vor einem Bilde Ludwig von Hofmanns.

Bei dem frohsinnigen Niederländer diese ängstliche, wirklich naive Genauigkeit, diese peinliche Sorgfalt – hier dieser große, nachlässige, müde, naiv scheinende Zug von träumerischer Verschwommenheit. Nein, ich kann diesem Farbensalat keinen Gefallen abringen. Trotz aller Müh nicht. Gleichwohl kann ich seine Berechtigung nicht ganz in Abrede stellen.

Wenn ich die Historienmalerei dem Drama und dem Epos gleichstelle, das Genre mit der Novelle vergleiche (die Landschaft ist wegen der Verschiedenheit beider Künste im Vorhinein für eine Zusammenstellung unbrauchbar), so kann ich nicht anders, als diese Art der Malerei, die bloß durch die Farben wirken soll, die also eine Tonharmonie (beziehentlich auch Disharmonie), ein Farbencarmen darstellt, der Lyrik nahezubringen.

Da aber Gegenstand der Malerei schon nach Lessings Laokoon das Gegenständliche ist, die Lyrik aber sich gerade dieses Gegenständlichen ganz und gar enthält, glaube ich hinlänglich den Irrtum dieser Richtung angedeutet zu haben. –

Und deshalb, lieber, freundlicher Leser, möchte ich Sie ersuchen, falls Ihnen Ihre Frau Erbtante, der ich übrigens, wie gesagt, noch ein langes Leben wünsche, eine gar überreichliche Summe zugedacht hat, diese nicht für ein Gemälde Ludwig von Hofmanns mit grünen Menschen, roten Bäumen und violetten Schatten auszugeben – sondern sich – was auch billiger kommt, dafür eine Reisekarte ins äußerste Nordböhmen zu versorgen, wohin ich Sie demnächst zu führen gedenke. –

II

Draußen tanzen gelbe Blätter. Der Wind heult in meinem Ofen und pfeift den Takt dazu. Ein lustig Lied! Und ich sitze beim Schreibtisch mit heißem Kopf und kalten Füßen. Von Zeit zu Zeit werfe ich einen flüchtigen Blick hinaus in den bunten Blätterkarneval. Mich friert. Bei mir ist Aschermittwochstimmung.

Ja, Aschermittwoch nach den hellen, sonnigen Sommertagen, die, eine ununterbrochene Reihe fröhlicher Feste, an mir vorübergezogen sind. Der Sturm kam, ein eifriger Bußprediger, und riß den bunten Schmuck von den Wänden des Ballsaales ›Natur‹ und zog den Wolkenvorhang vor die Sonnenlampe. Und die Blüten alle legen die farbigen Maskengewänder ab; nur hier und da noch hat eine Georgine den roten Turban auf. Aber die Festfreude ist nun einmal fort. Der Wind haßt dich und ballt eine Staubwolke um dich, so daß es dir über die Stirn rieselt – wie Asche.

Ich gehöre zu jener Gruppe von Menschen, die Nietzsche die ›historischen‹ nennt. – So kehre ich denn, weil mich die Gegenwart frieren macht, den Blick zu einer sonnenwarmen Vergangenheit zurück. Der Schauplatz dieser Vergangenheit ist Nordböhmen. Und – richtig – jetzt fällt mir bei – dorthin versprach ich dich, lieber Leser, zu führen.

Es sei. – Hast du mich das letzte Mal in ein prächtiges Schloß begleitet, so will ich dir heute ehrwürdige Ruinen zeigen, die auf steilen Bergkuppen thronen und aus hohlen Fensterhöhlen erstaunt in die fremde Zeit niederschauen. Will dich in eine Gegend versetzen, wo mächtige Felsenriesen ihre grauen Gigantenhäupter aus dem schwarzen Tannenwald strecken und blumengeschmückte Wiesen zu seiten des raunenden Baches lehnen und träumen.

Liegt da im Tale, umrahmt von dunkeln Wäldern, das reizende Dittersbach mit seiner weißen Kirche und seinen halb aus Holz, halb aus Stein erbauten Häuschen. Ringsum locken tausend Wege in die geheimnisvolle Wildnis hinein. Wie oft stieg ich den Pfad zum Marienfelsen, einem schroffen, turmartigen Kegel, hinan, wie oft stand ich auf der Spitze des Falkensteines, wo man noch die Reste einer Stube vorfindet, in deren kühlen Schatten der bekannte Hynko von Duba nach heißen Kämpfen geruht haben mag. Denn, wahrlich, zu süßem, sorglosem Ruhen ladet dort alles ein – auch heute noch. Die weiten Matten mit moosigem Grunde, von Erika übersäet, schauen wie violette Kissen aus, die Bäume bilden einen prächtigen Baldachin, und die hohen Farren fächern wohlige Kühle. Auch eine Mahlzeit ist gedeckt: Schwarzbeeren und die andern Beeren, die der Waldboden erzeugt, sind in überreicher Fülle da. Besonders bei Regenwetter, wenn ein weiterer Spaziergang verleidet ist, pflückt man gern diese kleinen, süßen Früchte; denn die Wipfel des Hochwaldes bilden ein schier undurchdringliches Dach, so daß man trockenen Fußes stundenlang im Gesträuche herumsuchen kann.

An solch einem Regentage – es gab deren nicht allzuviele – machte ich einen Besuch im Pfarrhause. Ich fand den Seelensorger, einen noch jüngeren Mann mit markigen, freundlichen Zügen, in seinem Gärtchen beschäftigt. Es machte mir Freude, zuzusehen, mit welch inniger, verständnisvoller Sorgfalt er sich um die zarten Blütenkinder bemühte, den Schwächlichen einen Stab zu Hilfe gab und die Übermütigen mit Bindfaden und Schere in die erlaubten Grenzen zurückwies. – Später führte er mich in sein Haus; sein Arbeitszimmer, seine Schlafstube und alle anderen Räume zeugten von mäßigem Wohlstand und übermäßiger Ordnungsliebe. Ein hastiger Kanari und eine Kuckucks-Uhr schrieen in das Schweigen des Studierstübchens hinein. – Als ich durch das blank gescheuerte Vorhaus ging, öffnete sich die Küchentür, und die Wirtschafterin, ein hübsches, rotwangiges Mädchen, grüßte mich mit freundlicher Derbheit. Zugleich aber schlich ein Dunst heraus von gar guten Dingen, die da drinnen brodelten . . . Ja, es war ein Idyll, dieses Pfarrhaus. Ein wahrhaftiges Idyll – und wie mich deucht, ein besseres als des seligen Voßens ›Luise‹; denn dort hab ich nie Langweile empfunden, während . . .

Aber was sag ich denn da! Nicht den Geist des ehrlichen, alten Voß will ich heraufbeschwören, sondern die Geister, die umgehen sollen auf der Ruine – ›Tollenstein‹! – Von der Station Schönfeld aus erreicht man am besten diese längst zerfallene Raubritterburg. Ein Wartturm und die äußerste Umfassungsmauer stehen noch, während alles übrige Bauwerk teils von der Zeit, teils von den Bauern niedergerissen wurde, die aus diesen Trümmern ihre armseligen Hütten aufschlichteten. Solange bis endlich ein Mann, der ein bißchen Schwärmerei und ein klein bißchen mehr Berechnung besaß, den jetzigen Besitzer Fürsten von Lichtenstein aufmerksam machte, dieser pietätlosen Zerstörung nicht länger zuzusehen und ihm zu erlauben, in den Trümmern sein Hüttchen zu bauen und eine Restauration zu eröffnen.

So geschah's. Den Steindieben ward das Handwerk gelegt, und auf den Tollenstein hinauf wurden Säcke Kaffee getragen und Fäßchen guten Kamnitzer Bieres gerollt. Ein paar Holztische wurden vor dem Häuschen da oben festgezimmert, just vor dem Platze, von wo aus Swanhilde ihre nächtige Wanderung beginnen soll. Swanhilde ist eine der vielen Ahnfrauen, die durch Böhmens alte Burgen wallen und die bald auf den Namen Eva, bald auf Berechta (Bertha) hören – oder besser gesagt zur Beruhigung guter Christenmenschen – nicht hören . . .

Die Geschichte dieser ruhelosen Swanhilde ist, in aller Kürze, folgende:

Berechta, Ehgemahl irgendeines ›Herrn auf Tollenstein‹, trug in ihrem Herzen eine Neigung zu dem Knappen ihres Gebieters. Diese Neigung wuchs und zugleich die Begier, frei zu sein und den blondlockigen Geliebten offen minnen zu dürfen. In einem Augenblicke der Verzweiflung vergiftete Swanhilde ihrem Gatten – nicht wie die Frauen in ähnlichen Fällen heutzutage das Leben – sondern den Wein. Er trank, merkte aber die Absicht – und zwang sein Weib in seiner begreiflichen ›Verstimmung‹, auch zu trinken. So fanden beide den Tod. Swanhilde aber findet keine Ruhe im Grabe. Sie wallt in hellen Vollmondnächten durch die Ruinen hin und sucht den Knappen. – Der aber scheint sich alles überlegt zu haben und ein noch besseres Versteck zu besitzen, als in unseren Zeiten – der Freiherr von Hammerstein.

Herr Johann Josef Münzberg, jener Restaurateur der restaurierten Ruine – er hört sich gerne Ritter Münzberg nennen – ist bereit, jedem ernstdenkenden Gaste diese und andere Sagen zu erzählen; jedem Ernstdenkenden – sage ich; denn nichts verträgt er weniger als irgendeinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieser Historien.

»Sie glauben das nicht!?« schreit er dann wütend. Und sein braunes, markantes Raubrittergesicht mit der feinen Nase und dem langen, schwarzen Schnurrbart droht aus dem Leim zu gehen. Und sein Auge, ein wahrhaft edles, großes Auge, loht hell auf.

Ich glaub ihm vollauf; sogar die andere Sage von dem Ahnherrn, der seit Jahrhunderten, in einen Raben verwandelt, die Zinnen von Tollenstein umflattert, obwohl der Förster mir versicherte, den Kerl hätte er schon längst ›über den Haufen gepulvert‹.

Wie dem auch sei. Das Schicksal der armen Swanhilde konnte mich seinerzeit zu einer Ballade begeistern. In der Tat. Denn nicht immer gelingt es dem fahrenden Sänger, der Begeisterung, die der Zauber irgendeiner Gegend in ihm entfacht, Ausdruck zu leihen. –

Ein Beispiel: Ich durchwanderte von Dittersbach aus auch den ›Bielgrund‹ gegen Herrnskretschen zu. Da sah ich in dem lauschigen Tale, an einen Felsen geklebt, eine überaus malerische kleine Mühle. Das Rad dreht sich langsam, und das Wasser plätschert melodisch im grünumrandeten Bachbett. Dunkle Wipfel neigen sich eitel über den klaren Spiegel. Kurz: ein Bild, wert eines Gedichtes. Und ich ziehe das Merkbuch und den Stift aus der Tasche und setze mich auf einen weichen Moosblock und lasse meinen Blick noch einmal den Gesamteindruck erfassen – da fällt mir auf, daß über dem Mühlrad eine Inschrift prangt. Ich sehe besser hin, und wer beschreibt mein Erstaunen; ich lese: ›. . . In einem kühlen Grunde . . .‹

Wütend steckte ich, und beschämt zugleich, mein Schreibzeug ein. Ich murmelte etwas von ›Epigonenfluch‹. –

Wenn ich von Epigonen spreche, da fällt mir unwillkürlich bei, daß ich auf dem Tollenstein auch ein Paar unserer ältesten Altvorderen (nach Darwin) getroffen habe. Herr Münzberg hat sich zum Vergnügen zwei Äffchen angeschafft, die sich in der ernsten Umgebung höchst drollig ausnehmen. – Sie sprangen an den ehrwürdigen Mauern ohne alle Scheu auf und nieder und kauerten sich in den Ecken mit malerischer Pose hin, als wären sie Gabriel Max zu seiner letzten ›Nemesis‹ Modell gesessen. Übrigens ist mir der ganze Max'sche Affenkultus lieber als seine großäugigen, fremd dreinschauenden Mädchengestalten.

An diesen Traumfiguren ist alles wesenlos und unheimlich eintönig. – Da lob ich mir das Bild, das mir jüngst im Atelier eines der ersten böhmischen Maler, des Prof. Franz Zenisek, zu sehen vergönnt war.

Es ist ein Selbstporträt des Meisters, das an Frische der Farbengebung und kecker Kühnheit der Auffassung an Rubens erinnert. Das Auge loht das Siegesfeuer der Begeisterung, und das Antlitz mit den leicht aufgeworfenen Lippen sieht zum Beschauer, voll des edlen Stolzes, hin.

Der liebenswürdige Meister stand neben mir. Ich weiß nicht, ob er bemerkte, welch mächtigen Eindruck das Bild auf mich machte. Dann plauderten wir von – Nordböhmen. Auch er wußte die landschaftlichen Reize jener Gegend, von der ich heute erzählt, zu schätzen. Unsere Erinnerungen berührten sich in vielen Punkten, und wir hatten in anregendem Gespräche ganz vergessen, daß es draußen – Herbst war. Und so ging es mir auch eben jetzt, während ich diese Zeilen niederschrieb.

Ruhig sah ich hinaus in das bunte Blättergetriebe. Ich fühle, es wird wieder ein Sommer voll Licht und Lust kommen, ich werde die trauten Stätten durchträumter Stunden wieder aufsuchen, und – was mich am meisten freuen würde – vielleicht Dir dort begegnen, lieber, freundlicher Leser.


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