Rainer Maria Rilke
Von Kunst-Dingen
Rainer Maria Rilke

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Der Wanderer

Gedankengang und Bedeutung des Goethe'schen Gedichtes

7. Dezember 1893; ersch. in: WA von E. Zinn, 1965, 5. Bd.

Das ist des Dichters wahre, erhabene Kunst, dem Leser die Begebnisse, die er erzählt, so lebhaft vor Augen zu führen, – daß ihm die Gegenwart und seine ganze Umgebung zu entfliehen scheint und daß er nicht nur ein Kunstwerk empfindet, sondern über dessen klarer Natürlichkeit die Kunst vergißt und die Begebenheit – miterlebt. Es muß dem Leser gehen, wie jenem Manne, dem in einem Guckkasten eine prachtvolle Landschaft gezeigt wurde, in die er sich dermaßen vertiefte, daß er den Duft der Blumen zu spüren und das leise Säuseln der Blätter wahrzunehmen vermeinte. Er muß sich dessen nicht schämen, der Mann, wenn auch tausend andere hineinblickend immer nur – ein Bild sehen. Es muß ein jedes Kunstwerk vor den richtigen Beobachter kommen – und es muß bei jedem der richtige Maßstab angelegt werden. Das heißt, dieser Maßstab fügt sich von selbst. Es tritt so mancher an ein Werk heran, mit der Absicht, sich ein Urteil darüber zu bilden. Dies ist ein töricht Unterfangen, denn eben dadurch, daß er sich bemüht, sich über alles, was er empfindet, sofort Rechenschaft zu geben, reißt er sich stets vom Zauber los, der ihn umfangen will, – und sein Urteil wird kalt. – Es giebt indessen nur zweierlei Werke: solche, die gefangennehmen und mitreißen, und solche, die trotz schöner, lobender Kritik im Herzen kein Echo wecken. Die ersteren nur verdienen wirklich so zu heißen, die letzteren führen den Namen nur zum Schein. Ein Werk der ersten Gattung nun ist es, bei dem wir einen Augenblick verweilen wollen: Goethes Wanderer. Ich konnte mich dem Zauber dieses Gedichtes nie entziehn, – und es giebt kaum bald eine Örtlichkeit, die ich so lebhaft vor meinem geistigen Auge schaue wie jene. Ich sehe den Hang, über dessen reich bewachsene Gefilde der rötliche Schimmer des westlichen Rots sich ergießt, – während die Mutter, den Knaben an ihrer Brust, und der Fremdling die engen Steinstufen zwischen verwachsenem Gestrüpp emporsteigen. Ich sehe die italienische Bäuerin, im leicht wallenden Kleide, die roten Korallen am gebräunten Halse, der einen wohlgeformten Kopf trägt. Die schmale, etwas streng gebogene Nase verleiht dem Gesichte etwas von jener Kühnheit, die Italienern eigen ist, und das warme Feuer der dunklen Augen glimmt in gedämpften Gluten. Die ein wenig geöffneten dunkelroten Lippen zeigen die schimmernden Zähne, und das tiefschwarze Haar ist durch ein rotes Tuch fest zusammengehalten. Der Knabe ruht schlafend an ihrer Brust, – und wenn sie, ein paar Stufen höher angelangt, leicht aufatmend den Blick zu ihm niedersenkt, dann sind ihre Züge von einem freudigen Lächeln verklärt, und stille Zufriedenheit spricht sich aus im mäßigen Heben und Senken ihres vollen Busens. Der Fremdling geht langsam. Bald hier, bald da haftet sein Blick liebevoll an den vermoderten Steinen, mit den Inschriften – und Figuren, den Zeugen des Altertums; aber immer wieder wendet sich sein Auge zu seiner stattlichen Führerin, die, seine Zerstreutheit anfangs nicht merkend, – plaudernd ihm voranschreitet. – Endlich wird sie's gewahr. »Ach, die Steine beschäftigen Euch so sehr, – droben bei meiner Hütte, da giebt es ihrer viele.« Und wahrlich, die ganze Hütte ist aus solchen Steinen erbaut. Tempeltrümmer! Nicht mehr zum Tempel gefügt, – aber doch nicht entweiht. Nein, mehr noch geheiligt – denn je, durch den heiligen Gottesodem: den Frieden. – Und der Wanderer sinnt. Auf der Stätte, wo man alte Götter verehrte, auf den Trümmern ihrer Größe – keimt – wie eine kleine unschuldige Blume – menschliches Glück. Und der Wanderer sinnt. Und ein Wunsch tagt in seiner lichtesfreudigen Seele, – ein frommer, ein seliger Wunsch: Es möge dies menschliche Glück nicht gleich der Größe der Götter zertrümmert werden vom unbarmherzigen Schicksal. »Bleibt Ihr bei uns, – eßt mit uns zur Nacht!« vernahm er die Stimme der Bäuerin. »Wenigstens Brot bring ich Euch einstweilen aus der Hütte –«, rief sie und legte den schlafenden Knaben behutsam auf seinen Arm. Da schlug der Kleine die Augen auf und lächelte freundlich dem Fremdling entgegen. Und dem Fremden pochte das Herz – ihm ward so wohl bei den herzlichen freundlichen Menschen. – Doch bleiben konnte er nicht – vielleicht weil sein Inneres zuwenig mit dem Frieden seiner Umgebung übereinstimmte . . . Mit Segenswünschen schied er. Die Sonne war schon hinter den Bergen gesunken. Ein dunkelblauer ätherleichter Himmel dehnte sich in unendlicher Ferne über der Welt. Leichte Nebel stiegen aus den Tälern, – und eine kalte Luft strich von den sumpfigen Wiesen. Fester hüllte sich der Fremdling in seinen Mantel . . .

Drei Meilen hatte er noch bis nach Cumae. Goethe hatte den Ort so gut beschrieben, daß ihn Felix Mendelssohn später gefunden zu haben glaubte. – So ist es der Geist des wahren Dichters, der die Welt sich so erschafft, wie sie ein anderer schaut. Und wenn man einen Dichter gefangenhielte, – und ihn nie Feld und Halde, Baum und Blume sehen ließe, seine Phantasie würde rastlos dies alles aus sich selbst schaffen, – und leicht noch schöner, als es ist. Der Dichter trägt Welten in sich – und darum ist der Dichter immer reich – und wenn er Hungers stürbe.

Es tut sich in diesem Gedichte Goethes Sehnsucht nach der Antike kund, der er ja in so manchem seiner Werke schon vor der italienischen Reise Ausdruck verlieh. Aber ich möchte mich verleitet fühlen, diesem Gedichte noch eine andere symbolische Bedeutung zuzusprechen. Es treten uns hier zwei Gegensätze so scharf entgegen, daß wir sie unmöglich übersehen können. Das zufriedene, glückliche Weib und der strebende Jüngling. Er heißt nicht umsonst »der Wanderer«. Es soll dies unzweifelhaft auch die Unruhe seines Inneren kennzeichnen, die ihn stets weitertreibt, die ihn auch das Anerbieten zu bleiben ausschlagen läßt, – jene Unruhe, die durch das Streben nach Wissen in die Seele gepflanzt wird und die sie gewöhnlich zeitlebens nie mehr verläßt. – Nur, wen nie das glänzende Irrlicht ununterbrochenen Wissensdranges in die Sümpfe der Ohnmacht verlockt, nur dem kann jener sich in sich selbst beglückende Friede je zuteil werden, wie jener glücklichen Mutter in der Nähe von Cumae.

Glückliches Weib! – Erhalte den seligen Frieden, dann bleibt deine Hütte ewig ein Tempel des Glücks! Und ich will, komm ich gen Cumae, die Schwelle, die heilige, küssen, – und weiter dann ziehen – ein armer, – rastloser Wanderer. –


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