Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Dritter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Trost um Trost.

1874

Erstes Kapitel

Bernhard von Grävenstein, ein junger livländischer Edelmann, hatte auf der Hasenjagd den Hals gebrochen. Es war vor achtzig Jahren im September. Das Unglück machte damals großes Aufsehen beim ganzen baltischen Adel und wurde tief beklagt.

In Deutschland jagt man die Hasen zu Fuß, was für den Jäger minder gefährlich ist, in Livland jagt man sie aber auch noch zu Pferd wie in England die Füchse.

Eine glänzende Gesellschaft junger Herren und Damen war auf den sichersten, leichtesten Rennpferden im Sturm über die Heide gesaust hinter den Hunden und Hasen drein, sie waren über Gräben und Zäune geflogen, ohne daß eines der edeln Tiere versagte; aber als sie alle Hindernisse bereits glücklich überwunden hatten, als nur noch die offenste Ebene vorlag und der Hase bereits den Atem verlor, da stolperte Grävensteins Wallach über einen kleinen Pflock, stürzte, der Reiter stürzte mit, um nicht wieder aufzustehen – und der Hase entkam.

Das »fröhliche Jagen« verwandelte sich in eine Jammerszene. Eleonore, die junge Frau des Verunglückten, war die Königin des Festes gewesen; mit ihrem wundervoll ausgreifenden Schimmel war sie allen Herren vorausgekommen; und wie leicht anmutig flog sie dahin mit dem wallenden Haar und dem wehenden Reitkleid, bald still, bald laut jubelnd in der Wonne, so frisch und frei durch Busch und Feld zu jagen über Stock und Stein, die glühenden Wangen gekühlt von der göttlich reinen Herbstluft – – da hört sie auf einmal Schreckensrufe hinter sich, die Jagd stockt! – sie wirft ihr Pferd herum, sie sprengt zurück und kommt eben noch zurecht zum letzten Atemzug ihres sterbenden Gemahls!

Die älteren Frauen, die »Jagdmütter«, rollen in offenen Wagen von der andern Seite pfeilgeschwind heran; wie treiben die Kutscher die schäumenden Gespanne! zum Halali wollen die Damen pünktlich zur Stelle sein, und nun finden sie den toten Jäger statt des toten Wildes!

Ein anderer großer Wagen stürmt hinter ihnen drein: das sind die Musikanten. Wenn der Hase erlegt ist, dann sollen sie aufspielen zur Tafel im Grünen, und nach dem fröhlichen Mahle wird auf offener Heide getanzt: so haben's die Alten gemacht, und so halten's heute noch die Jungen, und auf dem grasigen Boden, zwischen Steinen und Löchern können Tänzer und Tänzerin zeigen, ob sie taktfest sind. Aber so hurtig die Musikanten gekommen, so geschwind müssen sie heute wieder zurückfahren, daß man das schneidende Gegenbild der gehofften Lust und des ungeahnten Jammers aus den Augen verliere.

Eleonore sah und erkannte, was geschehen war; da verdunkelte sich ihr Auge, und sie wußte nicht mehr, was um sie, was mit ihr geschah. Erst zu Hause erwachte sie wie aus einem Traum, sie fand sich wieder und fand, daß sie nicht geträumt habe. Nur sechs Monate war sie verheiratet, und ihre Ehe war so reines Glück gewesen! Sie fragte, ob ihr namenloses Elend die Sündenstrafe sei, weil sie den Toten zu sehr, zu abgöttisch geliebt habe, oder auch im Gegenteil die Strafe, weil sie ihm dennoch nicht Liebe genug geboten. Sie war sich keiner schweren Schuld bewußt, warum traf sie so schweres Leid? Wie viele verkümmerte Menschen leben und müssen leben, denen plötzlicher Tod eine Erlösung wäre, wie viele Verruchte entgehen jeglicher Gefahr, und warum mußte ihr lebensfrischer, trefflicher Gatte so plötzlich sterben? Sie fand durchaus keine vernünftige Antwort auf diese Frage. Und wenn es noch ein großes Schicksal gewesen wäre, was den geliebten Mann in der Blüte seiner Tage zermalmt hätte! Aber eine Hasenjagd! – ein kleiner Pflock! – ein Fehltritt des Pferdes! Die Leute nannten das einen »unglücklichen Zufall«. Sie ergrimmte über dieses Wort. Was ist Zufall? Entweder ist alles Zufall oder gar nichts. Das Wort umschließt keinen Gedanken, sondern bloß eine Gedankenlosigkeit – wie so viele andere.

So grübelte Eleonore endlos weiter; denn es gibt auch eine Verzweiflung, welche philosophiert, und ein Übermaß der Empfindung, welches in schneidend kalte Reflexion umschlägt. Mancher läuft dabei Gefahr, den Verstand zu verlieren; aber Eleonore verlor ihn nicht.

Zweites Kapitel

Sie verbrachte die ersten Wochen nach dem Tode ihres Gatten in Riga, an der Stätte, wo sie mit dem Verstorbenen die kurzen Monate ihres Glückes verlebt hatte. Allein das Getümmel der Stadt und die aufdringliche Teilnahme tat ihr wehe. Für viele Leute wirken Beileidsbesuche schmerzlindernd, andern sind sie eine Marter. Eleonore verschloß ihre Türe: sie bedauerte sich selbst aufs innigste, aber sie wollte kein Bedauern aus fremdem Munde hören; sie rang nach Trost, aber die höflichen Tröster waren ihr unausstehlich. Sie sehnte sich nach Einsamkeit und fürchtete sich doch wieder, allein zu sein. Ein jeder trägt den Schmerz in seiner Weise, und jeder hat auch seine besondere Art, wie er den Schmerz nicht ertragen kann.

Eleonore hätte in ihr Elternhaus nach Deutschland zurückkehren können. Sie stammte aus einer der angesehensten pommerschen Familien, und man würde sie jetzt so gerne daheim gesehen haben. Aber sie schämte sich, ihr Unglück zu Hause zu zeigen. Hatte sie doch so oft und schön geträumt, wie sie in Jahr und Tag an der Seite ihres Mannes nach Hause kommen wolle, damit Eltern und Geschwister und alle Freunde und Genossen ihrer Kindheit sehen sollten, wie gut sie's habe. Sie philosophierte wiederum: »Wird uns unverdientes Glück zuteil, so sind wir stolz darauf: das ist verkehrt; – trifft uns unverschuldetes Unglück, so schämen wir uns dessen: das ist im Grunde noch verkehrter!« Und trotz dieser Weisheit schämte sie sich dennoch ihres Unglücks, weil sie so gerne stolz auf ihr Glück gewesen wäre.

Ihre Unschlüssigkeit, wo sie zunächst sein und bleiben solle, fand ein Ende durch die ebenso dringende als herzliche Einladung einer Jugendfreundin, der Gräfin Ulrike von Gatterberg, welche zwei Tagereisen von Riga entfernt auf dem Lande wohnte. Im Hause der Freundin konnte Eleonore einsam leben und war doch nicht allein; der Gedanke an Freundestreue und Freundesliebe schimmerte als erster Lichtblick durch die Nacht ihres Grames: sie beschloß, der Einladung zu folgen.

Am Ufer der livländischen Aa liegt ein Edelsitz, vom Volke »das graue Schloß« genannt wegen der Farbe seines alten Gemäuers. Dort wohnte in jenen Tagen – um 1794 – der Graf von Gatterberg mit seiner Gemahlin. Er selber befand sich zur Zeit in Petersburg, und die Gesellschaft der armen Freundin mochte der Gräfin Ulrike in ihrer Abgeschiedenheit wohl doppelt erwünscht sein. Kaum dreißig Jahre alt, widmete sich diese mit heiligem Eifer der Erziehung zweier blühender, reich begabter Kinder, eines Knaben von neun und eines Mädchens von sieben Jahren. Und da sie zugleich wie so viele treffliche Frauen des baltischen deutschen Adels ihren Gutsleuten rastlos fördernd und helfend beisprang, so führte sie in der Einsamkeit doch ein tätiges, still befriedendes Leben. Sie ward aber zumal von nah und fern aufgesucht wegen ihrer ärztlichen Kunst, und die Hausapotheke des grauen Schlosses galt für die beste der ganzen Gegend. Denn Ärzte gab es dort zu selbiger Zeit auf dem Lande noch nicht, die Edelfrauen übten allgemein nach uraltem Brauche die Heilkunst, und von einer so freundlichen, jungen und schönen Dame mochte man sich wohl gern kurieren lassen.

Neben aufrichtiger Liebe war es aber zugleich auch eine kleine Eitelkeit gewesen, welche Ulrike zur Einladung an die trauernde Freundin mitbewog: sie hatte eine so glückliche Hand als Arzt des Leibes bewährt, warum sollte sie sich nicht auch als Seelenarzt versuchen?

Sie zählte hierbei auf eine Helferin eigener Art. Im grauen Schlosse wohnte nämlich noch ein altes Fräulein, ohne Zweifel das merkwürdigste Altertum des Hauses, welches doch Trümmer und Reliquien aus den grauen Tagen der Deutschherren, ja der Schwertritter barg. Diese Dame war die Großtante der Gräfin mütterlicherseits, in der ganzen weitverzweigten Familie schlechthin »Großtante Juliane« genannt, eine halbblinde Achtzigerin. Sie hatte viel erlebt und viel erduldet und in jungen Jahren eine kurze, aber glänzende Rolle in der großen Welt gespielt. Jetzt war sie von der Welt vergessen; auch der Tod schien sie vergessen zu haben, und das jüngere Geschlecht betrachtete die Alte halb mit Furcht, halb mit Ehrfurcht wie ein Gespenst aus vergangener Zeit. Und sie war doch ein so friedliches, freundliches Gespenst!

Viele kannten die frühere Geschichte Julianens, doch freilich nur in den allgemeinsten Umrissen; Genaueres von ihren wundersamen Schicksalen wußte nur noch die Großnichte Ulrike, ihre treue Pflegerin, und auch dieser blieb gar manches ein Geheimnis.

Der Roman ihres Lebens, soweit er damals bekannt, läßt sich in kurze Worte fassen.

Mit siebzehn Jahren war Juliane in den Zarenpalast zu Petersburg gekommen als Hoffräulein der Kaiserin und Selbstherrscherin Anna Iwanowna, der Bruderstochter Peters des Großen. Als diese Fürstin am 28. Oktober 1740 gestorben war, begann eine kurze, aber höchst abenteuerliche Episode der russischen Geschichte, welche zugleich die Katastrophe von Julianens Leben in sich schließen sollte. Der neue Kaiser war gerade zwei Monate alt und lag in der Wiege, als man ihn mit dem Namen Iwan III. begrüßte, und nach kaum vollendetem ersten Lebensjahre sollte er in den Kerkern von Schlüsselburg namenlos wieder verschwinden. Während der kurzen Frist von dreizehn Monaten, solange dieses Kind vom Schimmer der Krone umstrahlt war, führte dessen Mutter, die Großfürstin Anna Karlowna, Gemahlin des Prinzen Anton Ulrich von Braunschweig, die Regentschaft. Juliane stand vor allen in der höchsten Gunst der Regentin; vom ganzen Hofe gefeiert und beschmeichelt, von ihrer Gebieterin mit einem reichen Gutsbesitze fürstlich beschenkt, besaß sie jenen Einfluß, welchen man in der Hofsprache »allmächtig« nennt.

Aber diese Herrlichkeit dauerte genau nur so lange wie jene Regentschaft. In der stürmischen Winternacht des 25. November 1741 kam die von der Großfürstin Elisabeth und ihrem Leibarzte Lestocq geplante Revolution zum Ausbruch; dreihundert Gardegrenadiere genügten, die Regentschaft zu stürzen. Anna und ihr Gemahl wurden aus den Betten, der junge Kaiser aus der Wiege in den Kerker geschleppt; ihre Günstlinge und Getreuen hatten kein besseres Schicksal, und am nächsten Morgen war Elisabeth Kaiserin. Fünfundzwanzig lange Jahre schmachtete die allmächtige Juliane in schwerem und durch jegliche Demütigung geschärftem Gefängnisse, ihre Jugendkraft verkümmerte und verzehrte sich hinter vier Mauern. Sie war fünfzig Jahre alt und ihre Todfeindin Elisabeth längst gestorben, da gelang es endlich ihrer greisen Mutter, bei der Kaiserin Katharina Gnade zu erflehen, und Juliane verbrachte nun den Rest ihrer Tage im grauen Schloß, von jüngeren Verwandten liebevoll gepflegt.

Gar manchmal sagte sie: »Ein Jahr habe ich gelebt, fünfundzwanzig Jahre gelitten, und dreißig Jahre beschaue und bedenke ich nun mein kurzes Leben und langes Leiden.«

Ob sie schuldlos gelitten hatte? Darüber gingen allerlei widersprechende Sagen. Niemand wußte Gewisses, und die vornehmsten Genossen ihrer Herrlichkeit und ihres Duldens deckte längst das Grab. Den Eindruck einer Reuigen, Büßenden machte Juliane ebensowenig als einer Verbitterten, unschuldig Gemarterten. Sie war allezeit mild und stille, verschlossen, ohne sich merken zu lassen, daß sie etwas zu verschließen habe, das marmorgleiche Bild des friedvoll beschaulichen hohen Alters. Und doch hatte man ihr eines der kostbarsten Güter geraubt, ein unersetzliches Gut – die fünfundzwanzig besten Jahre ihres Lebens!

Der klassische Römer sagte: das Alter ist eine Krankheit. Allein wer diese Greisin sah, die so ruhig mit einem von Leiden schwer bewegten Leben abschloß, dem schien das Alter vielmehr Genesung zu sein.

Drittes Kapitel

Gräfin Ulrike hatte erwartet, daß ihre unglückliche junge Freundin sich zu der Großtante besonders hingezogen fühlen würde, ja sie hatte hierauf ihren Heilplan gebaut. Verband beide doch ein ähnliches Schicksal: der plötzliche Fall von der Sonnenhöhe des Glücks. Und die stille Greisin zeigte so erhebend, wie man auch den schwersten Verlust – ein ganzes verdorbenes Leben! – standhaft ertragen könne.

Allein die Rechnung war falsch. Eleonore ging der Alten fast ängstlich aus dem Wege, und wann sie je in ihrer Gesellschaft verweilen mußte, dann fühlte sie sich beunruhigt und peinlich aufgeregt. Die Greisin verkörperte ihr den trivialen Gedanken, daß die Zeit alle Wunden heile, und Eleonore nannte diesen Gedanken empörend, einen Gemeinplatz, der bloß bei gemeinen Seelen zur Wahrheit werde. Sollte ihr die Zeit, diese brutale Macht, auch dereinst einmal ihren Schmerz rauben? Sie schwelgte in der Wollust ihres Schmerzes, er war der einzige kostbare Besitz, welcher ihr verblieben, und zugleich das einzige Weihgeschenk, welches sie fortdauernd dem teuern Verstorbenen spenden wollte; – und dieses einzige Gut sollte ihr so unterderhand zerrinnen? Sie mochte die alte Frau nicht ansehen, denn sie mußte sich da immer sagen: so ganz arm wie diese wirst du auch einmal werden!

Dagegen schien die Großtante ein besonderes Interesse an Eleonoren zu nehmen. Sie hatte die Geschichte vom plötzlichen Tode ihres Gatten mit einer Teilnahme angehört, welche sie für fremde Leute selten mehr zeigte, und erkundigte sich hinterher genau nach Eleonorens Familie. Als man ihr berichtete, daß deren Mutter, eine geborene von Weiler, aus Estland stamme, horchte sie auf und begehrte, den Namen des Vaters dieser Frau zu wissen. Man nannte ihn; er hatte Dietrich von Weiler geheißen und war infolge der früheren Revolutionen aus dem Zarenreiche nach Preußen geflohen, wo er eine neue Heimat gefunden. Bei dieser Mitteilung leuchteten die halberloschenen Augen Julianens gar seltsam, sie zitterte und verfolgte den Stammbaum Eleonorens nicht weiter aufwärts. Dann verfiel sie in tiefes Sinnen und Brüten.

Später versuchte sie die junge Witwe noch mehrmals auszufragen über ihre Mutter und deren Vater, erhielt aber nur kurzen Bescheid und beruhigte sich scheinbar dabei in ihrer gewohnten entsagenden Weise.

Unterdes war Neujahr 1795 gekommen. Eleonore wußte nicht, welche Wochen- und Monatstage man schrieb, wie es Kindern in den Ferien und großen Leuten im tiefsten Kummer oder in tiefster Arbeit zu geschehen pflegt, und die Gräfin verheimlichte ihr absichtlich den Neujahrstag. Jeder Tag bringt den Beginn eines neuen Jahres, jedes Jahr den Beginn eines neuen Jahrhunderts. Aber wir Menschen setzen uns nun einmal besondere Tage und Jahre, um zu erkennen, daß wir selbst um jene kleine Spanne Zeit älter geworden sind und die Welt und die Menschheit um diese größere. Ist es uns gut oder schlecht ergangen im alten Jahre – gleichviel! –, der erste Tag des neuen Jahres wird uns zum Gedenktag der Leiden und Freuden, an welchem wir die jüngste Vergangenheit doppelt lebendig nachempfinden.

Und dies befürchtete Ulrike. Allein es gelang ihr doch nicht, der Freundin das Neujahr zu unterschlagen. Die Großtante sprach trotz alles verstohlenen Abwinkens recht nachdrücklich davon; – schien es doch, als habe sie gerade diesem Tage gespannt entgegengesehen und erwarte da ganz Besonderes. »Heute werden's fünfzig Jahre!« murmelte sie für sich, – »heute kommt der Termin!« Niemand wußte, was diese Worte bedeuten sollten.

Gegen Abend saßen die beiden Freundinnen in der Fensternische des großen Wohnzimmers; draußen peitschte der Sturm die Schneeflocken wider das Fenster, aber in der Nische träumten reich blühende Treibhauspflanzen vom Frühling. Die Großtante hatte ihren gewohnten Sitz am Kamin, dessen Feuer die halbdunkle Stube flackernd durchleuchtete; die beiden Kinder spielten mit ihr und sprangen mutwillig aus und ein.

Eleonore machte ihrer Freundin unter Tränen das überraschende Geständnis, daß sie's nicht länger mehr hier aushalten könne und darum ganz heimlich bereits ihren Koffer gepackt habe, um morgen abzureisen. Sie klagte sich selbst des Neides, der Eigensucht und jeglicher Unausstehlichkeit an. Der tägliche Anblick des häuslichen Glückes, welches in diesem stillen Schlosse walte, breche ihr das Herz, und stündlich frage sie sich: warum konnte ich's nicht auch so haben? Die Gelassenheit der Großtante schneide ihr qualvoll in die Seele, – die frische Jugendlust der Kinder dränge sie immer wieder zu dem garstigen, neidischen Ausruf: warum durfte mir solches Glück nicht auch zuteil werden! Und dann möchte sie vergehen vor Zorn und Ärger über ihre eigene Schwäche. Darum müsse sie hinweg von hier. Wohin? Das wußte sie noch nicht. Zunächst nach Riga, dann weiter in die Welt; – die Welt sei ja so groß.

Vergebens suchte die Gräfin zu beschwichtigen und ihren Sinn zu wenden. Es war Eleonoren bitterer Ernst, und sie fand zur Antwort nur Selbstanklagen und Bitten um Nachsicht und Verzeihung.

Endlich verstummte das ziellose Gespräch, und beide versanken in trübes Schweigen. Ulrike hatte Bankerott gemacht mit ihrer seelenärztlichen Kunst.

Großtante Juliane erzählte derweil am Kamin den Kindern ein Märchen von der Königstochter, die durch eine böse Hexe über Nacht in eine Stallmagd verwandelt worden war und heute den Besen führen mußte, während sie gestern noch neben des Königs Thron gesessen hatte. Da die Großtante aber ihre Märchen selbst erfand, indem sie die Erinnerungen ihres eigenen Lebens in Märchenbilder kleidete, so wiederholten sich ihre Geschichten, die Kinder wußten schon, was kommen sollte und schlichen sich davon, um im Nebenzimmer nach freier Laune zu spielen. Die halbblinde Alte bemerkte dies nicht, und es war rührend anzusehen, wie sie immer noch forterzählte, da doch ihre kleinen Zuhörer längst verschwunden waren.

Als aber Ulrike dies gewahrte, ergriff sie ihre Freundin bei der Hand und führte sie leise zum Kamin; und nun setzten sich die beiden auf die Schemel der Kinder zu Füßen der Alten, die ihnen die harte Arbeit der verzauberten Stallmagd recht beweglich schilderte, ohne den Wechsel ihrer Zuhörerschaft entdeckt zu haben.

Mit einem Male warf jedoch Gräfin Ulrike die Frage ein: »Und hatte denn die arme verwandelte Prinzessin gar keinen Trost, der sie aufrechthielt in ihrer Erniedrigung?«

Juliane fuhr empor, wie aus einem Traume erwachend.

»Wo sind die Kinder?« rief sie.

»Die kleinen Kinder sind fort, aber wir sitzen hier, die großen Kinder; ich bin es, deine Ulrike, mit meiner Freundin Eleonore. Wir hören gerne zu, nur entzaubere das Märchen, daß es wieder Geschichte wird, was es ja ursprünglich war; wir sind alt genug, die Wahrheit zu hören.«

Die Großtante lächelte, als sie der Täuschung inneward, und schien nicht ungern das Märchen Geschichte werden zu lassen.

»Ob die verzauberte Magd keinen Trost hatte?« wiederholte sie. »Ach, du weißt ja längst alles, Ulrike; doch ich will deiner Freundin die Antwort erzählen. In der schrecklichen Nacht des 25. November war es, wo sie mich festnahmen, mich, meine Fürstin und alle! Gestern war ich noch die erste Dame des Hofes gewesen und heute schlimmer dran als die ärmste Magd. Wie ich nun am Morgen abgeführt wurde nach dem Kerker von Oranienburg, da trat unterwegs – es war in einer engen Straße, wo der Schlitten wegen des Gedränges halten mußte, – ein Handwerker im Schurzfell gegen mich heran und warf mir eine kleine Bibel in den Schlitten. Du fragtest, Ulrike, nach dem Trost? – dieses Buch ist mein Trost gewesen. Ich hatte seit der Kinderzeit wenig mehr in die Bibel gesehen. Wir hielten die Bücher der französischen und englischen Freigeister für das Evangelium der vornehmen Leute und dachten, die Bibel sei gerade noch gut genug für das dumme Volk. Allein ich hatte nun doch eine große Freude an meiner Bibel; zunächst weil sie das Liebeszeichen eines Unbekannten war. Ach, ihr wißt nicht, wie wohl es mir tat, da ich mich von allen Freunden verlassen sah, plötzlich die ungesuchte Teilnahme eines wildfremden Menschen zu finden! Längere Zeit betrachtete ich das Buch nur von außen und hielt es in der Hand wie ein liebes Geschenk, bei welchem man des Gebers gedenkt, ohne sonst etwas Rechtes damit anfangen zu können. Denn ich hatte wenig Lust hineinzublicken; ein Buch von Locke, Shaftesbury oder Voltaire wäre mir lieber gewesen. Unsere Verfolgerin, die Großfürstin Elisabeth, hatte so gläubig, so fromm und bibelfest in ihren Worten getan und ist doch so gar nicht fromm in ihrem Wandel gewesen, daß mir jedes fromme Wort zuwider geworden war. Auch gestattete man mir kein ander Buch zu lesen als die Bibel, und Unerlaubtes hätte größeren Reiz gehabt als das einzig Erlaubte. Aber dann besann ich mich und dachte: aus diesem Buch haben so viele Millionen Erquickung und Trost geschöpft, so viele Millionen haben im Glauben an dieses Buch die Schrecken des Todes überwunden; es muß doch ein merkwürdiges Buch sein. Und ich beschloß, die Bibel genau wieder einmal so zu lesen, wie ich sie als Kind gelesen hatte, und mich hineinzudenken in die Seelen jener Millionen, denen das Buch unantastbare Wahrheit war und ist. Das gelang mir nun freilich nicht so rasch, der Geist des Widerspruches regte sich fort und fort; dennoch las ich die ganze Bibel aus und begann darauf wieder von vorn und habe sie während der fünfundzwanzig Jahre mehr als hundertmal gelesen, daß ich jetzt das Beste auswendig weiß, jetzt wo ich blind bin und den kleinen Druck nicht mehr sehe; und ich mag keinen gröberen Druck: für mich gibt es nur eine Bibel, das kleine zermürbte Buch aus meinem Kerker.«

»Und fanden Sie wirklich Trost in dem Buche?« fragte Eleonore.

»Ich fand ihn anfangs, obgleich ich ihn nicht suchte, und später, weil ich ihn suchte. Denn ich gewann den festen Glauben wieder an Gottes Weisheit, Güte und Gerechtigkeit. Ein Vierteljahrhundert eingesperrt – und man lernt die Bibel lesen. Aber es mußte doch noch eines hinzukommen, daß ich ganz zufrieden, ja sogar fröhlich wurde in meiner Haft: – die harte Arbeit!«

»Fröhlich?« fragte Eleonore erstaunt, und das Wort schnitt ihr wie der grellste Mißton durchs Ohr.

»Allerdings fröhlich! mein Kind«, wiederholte die Alte, »und die Geschichte meiner stillen Kerkerfreuden muß ich euch genauer erzählen.«

Eleonore begann achtsam zu werden. Die Gräfin, welche diese Geschichte schon gar oft gehört, schlüpfte sacht hinaus; sie sah, wie die Worte der Großtante ihre Freundin zu fesseln begannen, und hielt es fürs beste, die beiden Frauen nunmehr allein zu lassen.

So saßen sie selbzwei im Dämmerschein vor dem flackernden Feuer, welches erwärmte, aber kaum erleuchtete, und die Alte hub an.

Viertes Kapitel

»In meinem Kerker hatte ich die große Welt mit einer sehr kleinen vertauscht, aber auch die kleinste birgt ihre Reize. Ich konnte nicht mehr herrschen wie im Zarenpalast, und dennoch gewann ich auch in der engen Zelle bald wieder ein Stückchen Herrschaft und freute mich, daß mir gerade die Bosheit meiner Feinde zu diesem stillen Genuß des Herrschens verholfen hatte. Um nämlich meine Haft recht unerträglich zu machen, sperrte man einen kindischen alten Mann mit mir zusammen, einen ehemaligen braunschweigischen Obersten, der dem Prinzen Anton Ulrich nach Rußland gefolgt war und nun auch dessen Unglück teilen mußte. Welch ein Schreck war mir's anfangs, mit einem blödsinnigen Greis die Zelle teilen zu müssen! Aber der Blödsinnige war gutartig und lenkbar, ich studierte seine Launen, sein Restchen Verstand, und welch Geheimnis offenbarte mir dieses kleine Lichtfünkchen Geist in dem vertrockneten Gehirne! Ich studierte den armen Mann, um ihn gefügig, menschlich, zu allerlei nützlichen Dingen brauchbar zu machen. Und er ward mir treu und folgsam wie ein Hund seinem Herrn. Welcher Triumph, den meine Feinde nicht ahnten! Die ganze lange Kerkerzeit hielt der arme Mann mit mir aus; er war über neunzig Jahre alt, als wir beide die Zelle frei verließen. Wie weh tat mir die Trennung – er empfand sie nicht! Ich habe ihn niemals wiedergesehen. Der Tod hatte ihn im Gefängnis nicht finden können; in der Freiheit fand er ihn sogleich – da starb er nach wenigen Monaten.

So herrschte ich; – und ich übte auch Einflüsse im Kerker. Ach, es war mir bei Hofe so süß gewesen, Einflüsse zu üben! Freilich konnte ich's jetzt nur noch bei einem einbeinigen alten Invaliden und seiner Frau, die uns bedienten; aber es waren gute Leute, und mein Invalid war mir so ergeben, daß er sich öfters mir zulieb von seinem Leutnant prügeln ließ. So weit hatte ich's bei Hofe nie gebracht mit meinem Einfluß! Doch nachher ein mehreres von dem guten armen Teufel; ich muß Ihnen ja zunächst, liebes Kind, unser Gefängnis beschreiben. Sollten Sie's glauben: ich sehne mich manchmal aus diesen behaglich schönen Räumen auf Augenblicke in jenes kalte Loch zurück!«

Eleonore geriet in einen komischen Unwillen. Schien es doch, man könne, um das Leben zu genießen, nichts Gescheiteres tun, als sich fünfundzwanzig Jahre einsperren lassen! Allein sie murmelte das nur lächelnd so vor sich hin, und die Alte fuhr fort.

»Wir bewohnten ein kleines gewölbtes Zimmer, welches zwei winzige vergitterte Fenster hatte, und zwar so hoch oben, daß wir nur den Himmel sehen konnten. Und aus dem kleinen Stückchen Wolkenspiel, das da oben vorbeizog, malte ich mir oft die schönsten Landschaften. Ins Freie durften wir niemals gehen, wohl aber zur täglichen Erholung über zwei Treppen auf den Speicher – natürlich unter Wache. Dort oben sahen wir dann aus den Dachluken ins freie Land hinein. Wir sahen nicht weit; – doch wieviel tausend Menschen sehen jemals weiter im ganzen Leben? Auf dem Speicher nisteten viele Dohlen, die waren unser besonderes Vergnügen. Tausendmal habe ich sie beobachtet und belauscht; ich könnte eine Naturgeschichte der Dohlen schreiben. Zum Dank für die Unterhaltung, die sie uns gewährten, stahlen wir ihnen ab und zu die Eier aus den Nestern und schlürften sie mit großem Behagen. Wir legten ihnen zum Ersatz auch mehrmals Hühnereier ins Nest. Sie bebrüteten sie; kaum waren jedoch die Hühnchen ausgeschlüpft, so wurden sie von ihrer Rabenmutter aufgefressen. Da hatten wir also den Lauf der Welt so nett im Kleinen, daß wir ihn im Großen gar nicht weiter zu sehen brauchten. Die Quelle allen Glückes ist Genügsamkeit, und der Fürst bedarf deren gerade soviel wie der Bettler; nur jeglicher nach seiner Art.

In unserer Zelle fror es uns erbärmlich; denn das ganze Gebäude war in Verfall geraten, bevor es noch vollendet war; man reparierte nichts, und das Wasser rann so stark von den Wänden, daß im Winter oft große Eiszapfen an der Decke hingen. Es machte uns dann einen Hauptspaß, höher und immer höher zu hüpfen, bis wir die Spitzen mit den Händen abschlagen konnten, wobei wir uns aufs angenehmste erwärmten. Übrigens stand auch ein mächtiger Ofen in der Zelle, allein ich weiß nicht, ob es ihm am Luftzug fehlte oder an Holz: – weit entfernt, die Stube zu erwärmen, vermochte er nicht einmal für sich warm zu werden. Damit wir nun aber doch sein bißchen Wärme auskosteten, setzten wir beide uns auf denselben, und der Sitz wurde niemals zu heiß. Ach, es waren gar gemütliche Stunden, wenn ich da oben thronte mit meinem blödsinnigen Obersten, der übrigens nur sprach, solange man ihm die Worte aus dem Munde zog.«

Eleonore konnte sich der Zwischenfrage nicht enthalten, ob der Erzählerin denn alle diese Dinge gleich von Anbeginn so schön und gemütlich vorgekommen seien.

»Nicht im mindesten!« bekannte die Alte lächelnd. »Anfangs war ich ganz toll vor Wut und Trotz, ganz wild vor Gram und Unbehagen; ich glaubte, die Schmach und Not keine acht Tage ertragen zu können. Allein mit den Jahren lernte ich das kleine Gut schätzen, was mir dennoch übriggeblieben, ich fand meinen Zustand immer behaglicher – in langsamem Fortschritt; denn mit Freuden entbehren lernt sich fast ebenso schwer wie mit Freuden genießen. Zu beidem muß man Zeit haben und Verstand und gesund bleiben. Und gottlob! ich blieb immer gesund; nur ein einzigmal hatte ich so rasendes Zahnweh, daß mir der Kommandant aus Mitleid einen russischen Barbier schickte. Der zog mir mit einer Hufzange irrtümlich zwei gesunde Zähne aus, und seitdem bin ich von allem Zahnweh verschont geblieben.

Übrigens besaß ich nicht nur einen Untertanen und meine zwei Freunde, sondern auch meinen Feind, wie's zum Ganzen gehört. Es war der Kommandant. Er sollte auf Rechnung der Krone uns beiden täglich zwei Rubel auszahlen zu unserer Selbstverpflegung, behielt dieselben aber öfters für sich. Beschwerte ich mich und drohte mit Klage, dann sagte er: der Himmel ist hoch und die Kaiserin weit; als wir aber begnadigt wurden, da flehte er auf den Knien, daß ich seine Spitzbübereien nicht anzeigen möge. Ich habe es auch nicht getan. Der Mann wäre sonst gewiß nach Sibirien geschickt worden, und da befanden sich zu selbiger Zeit ja unsere besten Leute, eine viel zu gute Gesellschaft für den Schuft.«

Eleonore entdeckte, daß die Alte gleich ihr philosophiere, doch in ganz anderer Weise, und die Entsagung hat ihren Humor so gut wie die Verzweiflung.

»Es war uns zudem ganz heilsam«, fuhr Juliane fort, »daß uns der Kommandant einen großen Teil unseres Almosens stahl: wir mußten desto strenger arbeiten, um nicht zu verhungern. Die Kraft der Arbeit – welche Geheimnisse birgt dieses Wort! Freilich, es ist so schwer Geld zu verdienen, wenn man nichts besitzt, womit man den Anfang macht; die reichen Leute wissen das kaum, ich erfuhr es im Kerker. Doch ich wußte mir zu helfen. Ich hatte ein Staatskleid mitgebracht, wie ich's eben in jener Schreckensnacht aufgerafft hatte, vierundzwanzig Ellen des schwersten großblumigen Seidenstoffes einschließlich der langen Schleppe; und ich bedurfte jetzt des Kleides doch kaum, wenn ich den Dohlen meine Aufwartung machte. Darum zerschnitt ich das kostbare Zeug in kleine Stücke und verfertigte artige bunte Mützchen daraus, wie sie die Bauernfrauen gerne tragen, und unser Invalid verkaufte die Mützen und kaufte uns Flachs und Wolle dafür. Und nun spann ich und webte und strickte und lehrte meinen Oberst hecheln und Wolle kämmen. Also war der Anfang gefunden. Wir konnten Gespinst und Gewebe verkaufen und für den Überschuß des Ertrags neues Material einhandeln lassen, und so spannen, strickten und woben wir weiter, jahraus, jahrein, und nach zwanzig Jahren hatten wir ganze hundert Rubel erspart und durften uns dafür Sonntags und Mittwochs eine Tasse Kaffee und ein Glas Wein gönnen, und der Invalid und seine Frau tranken mit. Denn der wachhabende Leutnant, welchen der Handel verdroß, hatte den Invaliden öfters durch Stockprügel davon abzuschrecken gesucht; allein der getreue Mann handelte heimlich um so eifriger für uns. So konnte ich nicht nur uns selbst, ich konnte auch andere belohnen, – und das war erst ein Vergnügen!«

»Ist es aber nicht zumeist das rosige Licht der Erinnerung, welches Ihnen jene Zeit verklärt? Und würden Sie in gleich guter Laune von alle dem Elend sprechen, wenn sie noch mitten darin säßen?« so fragte Eleonore.

Juliane erwiderte: »Die Erinnerung verklärt, – wenn vorher schon Klarheit vorhanden war. Wir freuen uns am reinsten in der Vorfreude und versöhnen uns am freiesten im Rückblick. Freud' und Leid in der Gegenwart ist niemals voll und rein und zerrinnt uns unter den Händen; aber die versöhnte Erinnerung, liebes Kind, ist ein sehr dauerhafter Besitz; ich halte ihn jetzt schon dreißig Jahre fest.«

»Und wird denn diese Ihre Erinnerung gar nie getrübt durch ein Gefühl der Bitterkeit gegen Elisabeth, welche Sie in den Kerker schickte? oder durch das Bewußtsein, doch nicht ganz schuldlos in so großes Elend gekommen zu sein?«

Die Alte fuhr auf bei der Frage. Sie sprach rascher, fast heftig: »Elisabeth hat ihren Richter gefunden vor Gottes Stuhl und in der Geschichte. Meine Prinzessin und ich, wir hatten ihren Zorn gereizt: dürfen wir klagen, daß er uns traf? Ich habe sie hundertfach kleinlich geärgert; sie war mir so zuwider, daß ich die Uhren vorrücken ließ, wenn sie im Palaste erschien, damit sie desto früher wieder fortgehen sollte; – sie hat mich zermalmt! Allein ich diente meiner Herrin, und beide waren natürliche Feinde, denn sie standen einander im Wege. Hier bereue ich keine Schuld, und wenn auch, so hätte ich sie gebüßt. Aber eine andere Schuld ist's, die mich drückt« –

Bei diesen Worten hielt Juliane ein und fragte, wie Eleonorens Mutter geheißen habe und wie deren Vaters Vorname, obgleich sie beides doch schon wußte.

Als Eleonore die Namen wiederholt genannt, rückte die Alte näher zu ihr heran und flüsterte geheimnisvoll: »Ich will Ihnen beichten, was ich noch keinem Menschen, selbst Ulriken nicht, bekannt habe, Ihnen, weil Sie Ihres Großvaters Enkelin sind.« Und sie begann nach kurzer Pause.

Fünftes Kapitel

»Die Regentin Anna, meine Gebieterin, hatte sich den sächsisch-polnischen Gesandten Graf Lynar zum besonderen Günstling erkoren. Er war der schönste Mann des Hofes, und Anna liebte ihn leidenschaftlich; ich förderte ein Verhältnis, welches meine Herrin beglückte. Den Prinzen, ihren Gemahl, beglückte es freilich weniger.«

Hier hielt sie inne und fragte, ob noch ein Diener im Zimmer sei oder die Kinder. Auf die verneinende Antwort fuhr sie fort:

»Es war wohl arge Sünde, daß ich den Frieden der Ehegatten stören half; allein ich tat noch mehr: ich sündigte gegen mich selbst. Damit Anna desto verdachtloser mit ihrem Günstling verkehren könne, wurde Lynar zum Schein mit mir verlobt. Alle beglückwünschten und beneideten mich wegen des schönen Bräutigams, der mir so gleichgültig war wie ich ihm. Für diesen Frevel an der Liebe sollte ich gestraft werden.

An unserm Hofe befand sich ein Herr von Weiler« – sie hielt inne und blickte Eleonore starr an –, »Dietrich von Weiler, der mir äußerst wohlgefiel. Er merkte nichts davon. Mein Wohlgefallen ward Liebe, immer heißere Liebe: er ahnte nichts! Und eben weil ich ihn wahrhaft liebte, vermochte ich ihm nicht mit dem kleinsten Zeichen entgegenzukommen. Es war mir, wie man von den Scheintoten erzählt, die mit aller Gewalt reden wollen und können nicht. Heute noch wüßte ich Zug für Zug zu erzählen, wie ich mich immer tiefer in diese ungestandene Liebe träumte. Wir Frauen sind so schlimm daran; mag uns die leidenschaftlichste Neigung verzehren – wir müssen schweigen und abwarten. Doch wenn ich mich auch dem geliebten Manne entdeckt hätte! Er hielt mich ja für die Braut eines andern, und wollte ich ihm dies widerlegen, so würde ich ihm die schändlichste Lüge enthüllt, und er würde mich verachtet haben! Meine Zunge blieb gefesselt. O wie qualvoll war dieses Leben im hellsten Sonnenscheine der Hofgunst, wie zufrieden war ich nachher im Zwielichte des Kerkers! Doch nein! auch dorthin verfolgte mich das Bewußtsein meiner Schuld, das Bewußtsein, an der Liebe gesündigt zu haben und durch die Liebe gestraft zu sein, durch einen Traum zielloser Liebe, den ich mit offenen Augen träumte! Und ich hatte keine Seele, mein Herz ihr auszuschütten, – ich schwieg – bis auf diesen Tag.«

Sie machte eine lange Pause. Auch Eleonore fand kein Wort, hier hörten alle Trostgründe auf.

Dann begann die Alte wieder: »Warum spreche ich denn aber heute? Warum beichte ich dir, mein Kind? – Jener Dietrich von Weiler wurde in unsern Sturz verwickelt und mit der Herrschaft nach Kolmogori am Weißen Meere geführt. Dort in der Verbannung söhnten sich die Prinzessin Anna und ihr Gemahl, die ich entzweien geholfen, wieder aus und wußten sich das Jammerleben in der schauerlichen Einöde durch zarte Gattenliebe so schön und reich zu machen, daß die unversöhnliche Elisabeth ihre Trennung befahl und den Prinzen nach Sibirien schickte, um beiden den letzten Trost zu nehmen. Wie wunderbar sind Gottes Wege. Auch Dietrich von Weiler mußte nach Sibirien. Dort versuchte er zu entfliehen; er entrann seinen Wächtern, aber man hörte nichts weiter von ihm. Diese Nachricht erhielt ich zu Oranienburg von meinem Invaliden. Lange träumte ich, daß ich Dietrich doch noch einmal wiedersehen könne; – er war und blieb verschollen. Ich forschte vergebens. Eine Sage ging, er sei auf der Flucht verunglückt, in den Wüsten und Steppen Asiens elend zugrunde gegangen; eine andere Sage, er sei nach Preußen entkommen und halte sich dort verborgen. Als ich meine Freiheit wiedererlangt hatte, erkundigte ich mich überall, doch mit Vorsicht, daß meine bebenden Lippen mein Geheimnis nicht verrieten: – Dietrich von Weiler galt für spurlos verloren. Oft sagte ich mir, für mich wäre er ja doch unter allen Umständen verloren gewesen, und wo er sich jetzt auch befinde, tot oder lebend, da sei er gut aufgehoben; denn er sei in Gottes Hand. Der Trost verfing nicht. Ich sagte mir auch, für eine fünfzigjährige alte Jungfer sei es Zeit, die Traumgestalten der Jugend ganz zu vergessen; – ich vermochte es nicht. Oh, du weißt nicht, Kind, was für ein Geschlecht zu meiner Zeit lebte, wie wir glühten in unbeugsamem Stolz, in unvertilgbarem Hasse, in unauslöschlicher Liebe! Wie seid ihr zahm und lau geworden!

Ich begehrte zuletzt nur noch Gewißheit über Dietrichs Schicksal, und wäre es gleich das schrecklichste gewesen. Diese Gewißheit mußte ich haben; ich wollte sie von unserm Herrgott mit Gewalt erzwingen. Ich kann und werde nicht sterben, so sprach ich oft, bis ich nur wenigstens diese Gewißheit habe. Ich setzte mir ein letztes Ziel, Tag und Datum, bis zu welchem äußerstenfalls meine Ungewißheit dauern werde; – das war kindisch! aber ist unser ganzes Dichten und Trachten etwas anderes als eine große Kinderei? Am Neujahrstage 1745 hatte mir der Invalide die Nachricht von Dietrichs Flucht und ihrem unbekannten weiteren Verlaufe hinterbracht. Ich sagte mir damals: nur Geduld, in fünf Jahren werde ich ihn wiedersehen; – ich sah ihn nicht. Dann sprach ich: in zehn Jahren werde ich wissen, was aus ihm geworden ist; – ich erfuhr nichts. Und so rechnete ich weiter und setzte mir endlich fest in den Kopf: fünfzig Jahre nach Neujahr 1745 – das ist der letzte Termin: bis dahin muß und werde ich Nachricht haben.

Der Tag nahte heran. Da kamst du hierher, teures Kind. Ich erfuhr den Namen deiner Mutter, deines Großvaters, eben als ich zitternd die Tage bis zu Neujahr zählte. Du miedest, mir nähere Auskunft zu geben, und ich bezwang mich; wer fünfzig Jahre gewartet hat, kann auch noch vierzehn Tage warten. Aber nein! diese vierzehn Tage waren eine Ewigkeit. Die ganze vergangene Zeit im Palaste der Regentin stand stündlich wieder vor meinen Augen, die längst verstorbenen Menschen wandelten wieder um mich her; ich sah und hörte sie so lebensfrisch, als sei ein halbes Jahrhundert wie ein Tag. Jahrelang waren die Erinnerungen oft verblaßt; jetzt loderten sie wieder auf in brennenden, blendenden Farben. Heute ist Neujahr 1795, und heute weiß ich, daß Dietrich nicht elend zugrunde gegangen ist, daß er im Auslande eine neue Heimat gefunden hat und vielleicht eine bessere Frau als mich, doch keine, die ihn glühender lieben konnte, – und den Frieden des Grabes! Aber du bist sein liebes Enkelkind, und der Himmel hat dich mir geschickt zum Trost für meine letzten Stunden! Laß dich an mein Herz drücken, den Sprößling des Geliebten, Vielbeklagten, der nie von meiner Liebe noch von meiner Klage gewußt hat.«

Tief erschüttert lag Eleonore an Julianens Brust und kämpfte lange und furchtbar mit sich selbst. Die Alte täuschte sich, und ihr Termin war dennoch Trug gewesen! Was sollte Eleonore tun? Sollte sie mit einer liebreichen Lüge die Ärmste in ihrem armen Glücke befestigen? Bei ruhigerem Blute hätte sie das vielleicht gekonnt, aber in dieser Stunde vermochte sie's nicht, wo sie eben so erschütternd vernommen, wie Lug und Trug sich rächen. Und doppelt Sünde schien es ihr, jemand fromm zu täuschen, der mit einem Fuß im Grabe stand und Wahrheit gerade jetzt so brennend begehrte.

Mit aller Schonung setzte sie daher auseinander, daß hier eine Verwechslung walte. Ihr Großvater sei wohl Dietrich von Weiler gewesen, allein von der Linie Weiler-Dachstetten; er sei infolge einer Palastrevolution aus Rußland nach Preußen entflohen, aber erst zur Zeit der Kaiserin Katharina. Es gebe noch eine zweite Linie Weiler-Zimmern –, welcher ein anderer Dietrich von Weiler angehört habe, der, wie sie wohl öfters vernommen, mit dem Prinzen Anton Ulrich nach Sibirien verbannt worden und dort spurlos verschwunden sei. Der Gleichlaut der Namen möchte dann auch wohl zu der erwähnten widersprechenden Doppelsage über den Ausgang jenes älteren Dietrich, ihres Dietrich, Anlaß gegeben haben.

Bei dieser Nachricht stieß die Alte einen lauten Schrei aus; dann verstummte sie und sank bewußtlos in den Sessel zurück.

Eleonore glaubte, sie sei tot; – aber sie lebte. Sie erhob sich wieder und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.

Eleonore suchte die Unglückliche in aller Weise zu beruhigen. Vergebens. Sie entwickelte, ohne es zu merken, fast dieselben Trostgründe der Religion und der entsagenden Lebensweisheit, welche Juliane vor einer Stunde ihr selbst so treffend vorgetragen hatte. Die Gründe verfingen nicht. Juliane hatte sich so lange und gewaltsam aufrechterhalten; jetzt war sie um so gewaltsamer zusammengebrochen. Ihre junge Trösterin führte ihr zu Gemüt, daß ja auch der selbstlos reine Liebestraum von jenem Manne, der sicher längst nicht mehr unter den Lebenden wandle, ein unverlierbarer Besitz in der Erinnerung sei.

Doch Juliane erwiderte bitter: »Die Erinnerung, daß ich etwas zu besitzen träumte, was ich nie besessen, ist ein sehr traumhafter Besitz. Du besaßest deinen verstorbenen Mann, darum bleibst du reich im Besitze dieser Erinnerung, und deine kurze Ehe war dein Glück und deine Ehre; das ersehnte Gut blieb mir dagegen vorenthalten zur Strafe meiner Sünden. Und so bleiben auch diese allein mein ganz gewisser Besitz!«

Gräfin Ulrike trat wieder herein. Als die Großtante ihre Stimme vernahm, wankte sie davon.

Eleonore war im höchsten Grade ratlos, ja in Verzweiflung. Sie rief: »Zu dem Jammer, der mich selbst bedrückt, mußte ich jetzt auch noch unstillbares fremdes Leid hinzufügen. O Ulrike, an welchen verhängnisvollen Ort hat mich deine Freundschaft geführt!«

Die Freundin begriff nicht, was das heißen solle. Nur eines erkannte sie, daß alle Aussicht verloren sei, Eleonore hier in ihrem Hause wieder zu Ergebenheit und Gelassenheit in der Trauer zurückzuführen. Sie hatte so sichere Hoffnung darauf gesetzt, die Großtante werde mit ihrem friedvollen, heiteren Wesen, mit dem feinen Humor der Entsagung, in welchem sie von ihren Schicksalen zu erzählen pflegte, günstig auf Eleonore wirken. Und nun war der Erfolg so ganz entgegengesetzt!

»Ich muß fort von hier!« rief Eleonore. »Doch nein! Gestatte mir noch einen Tag zu bleiben. Ich reise morgen nicht. Ich muß die Großtante trösten, und wenn ich es nicht vermag, dann kann es niemand. Laß mich morgen wieder gutmachen, was ich heute verdorben habe!«

Ulrike staunte und bat um Aufklärung, welche die Freundin augenblicklich nur sehr dunkel zu geben imstande war. Aber erfreulich war doch wenigstens, daß dieselbe noch einen Tag zugab.

Am folgenden Tage tröstete sie dann auch die Alte unter vier Augen, kam jedoch nicht zum Ziel und mußte noch einige Tage weiter trösten.

Je mehr sie dies aber tat, je enger sie mit Großtante Juliane verkehrte, um so rätselhafter fand sie deren Wesen. Aber Rätsel locken und fesseln, und Eleonore fühlte sich darum immer unwiderstehlicher angezogen, das Geheimnis dieser Menschenseele zu ergründen, bei der man stets im Ungewissen blieb, wo der Humor der Entsagung aufhörte und der Humor der Verzweiflung anfing. Und mit welch erschütternder Gewalt brachen die leidenschaftlichen Jugendeindrücke wieder hervor im höchsten Alter! Gewöhnliche alte Leute entsinnen sich der kleinen äußeren Erlebnisse ihrer Jugend oft so hell und warm, als ob dieselben von gestern wären, doch was darauf folgte, ist ihnen verblaßt und verdämmert; – hier lebte ein ungewöhnlicher Mensch die großen innersten Erlebnisse seiner Jugend erschütternd noch einmal nach, und während ihm sein ganzes späteres Schicksal zur beruhigten Novelle geworden, war ihm diese eine Episode wieder unmittelbar packendes Drama.

Eleonore studierte die leidvolle, leidenschaftsvolle Seele der Alten, wie diese weiland das Verstandesfünkchen ihres Obersten studiert hatte, – um die Unglückliche mit milder Hand zu führen.

Und dazu brauchte sie Wochen und Monate.

Sie rief die munteren Kinder Ulrikens herbei, daß sie die Großtante nach gewohnter Weise zerstreuten, fragte sich jetzt aber nicht mehr neidisch: warum durfte mir das Glück solcher Kinder nicht auch zuteil werden? Sie pries der Alten den Segen der Häuslichkeit, welcher nun doch ihren späten Lebensabend umschimmere, und fragte nicht mehr bitter: warum konnte ich diesen Segen nicht gleichfalls haben?

Indem sie die Alte zu trösten unternahm, tröstete Eleonore unvermerkt sich selber. Sie erkannte den Besitz, der ihr verblieben, derweil sie die Großtante vergebens zu überzeugen suchte, daß Erinnerungen, an welchen man fünfzig Jahre zehren konnte, doch auch ein Besitz sein müßten.

Juliane fand ihre Ruhe nicht wieder, indes schien sie doch wenigstens beruhigter, wenn sie sich an Eleonore klammern konnte. Wie hätte dieselbe also das Schloß verlassen dürfen! sie war ja so nötig.

Und als der Tod, der letzte und beste Tröster, im Frühling die Großtante Juliane erlöste, da blickte auch Eleonore wieder versöhnt in die Zukunft. Sie erkannte, daß sie unter Schmerzen mit einer Epoche ihres Lebens abgeschlossen habe, aber mit dem Leben noch lange nicht.

Am Abend nach der Bestattung der Großtante saß sie mit ihrer Freundin im beschaulichen Gespräche zusammen. Da sprach sie: »Ich merkte diesen Winter wohl deine Absicht, beste Ulrike, ich merkte, daß du mit liebender Hand mich heilen wolltest, und zürnte dir fast darüber. Du schlugst den falschen Weg ein und triebst mich dadurch dennoch wider Willen auf den rechten. Es geht auch den wirklichen Ärzten öfters ebenso. Sie kurieren verkehrt, und der Kranke wird trotzdem gesund und dankt ihnen von Herzen, weil sie ihn ja so eifrig hatten kurieren wollen. Nicht der Anblick fremden Friedens beschwichtigt den Friedlosen, nicht das Bild fremder Entsagung löst unsern Schmerz. Im Schauen und Mitfühlen eines unendlich größeren fremden Schmerzes dagegen erkennen wir das gnädig zugeteilte kleinere Maß des eigenen Kummers, und indem wir fremden Jammer zu lindern suchen, vergessen wir das eigene Leid. So fand ich selber Trost und Hoffnung wieder, – indem ich einer Hoffnungslosen Trost spendete.«


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