Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Dritter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Die glücklichen Freunde.

1874

Erstes Kapitel

Vormittags von 8–9 Uhr las Professor Baldrian über »Griechische Staatsaltertümer«, ein ganz neues Kolleg zu jener Zeit; denn man schrieb 1796. Er fuhr heute fort, im Paragraphen 234 die Staatsidee des Aristoteles zu entwickeln.

Unter den Zuhörern saß ganz hinten der Student der Rechte Wolfgang Erlach, ein schlanker, blonder Jüngling mit feinem Gesicht, der seine zerstreuten Blicke an der Zimmerdecke spazierengehen ließ, als suche er dort höhere Eingebungen, bis ihm plötzlich ein Wort des Professors überraschend ans Ohr schlug und ihn aus seinen Träumen weckte. Es war das Wort »Freundschaft«.

Der Student horchte auf, haschte krampfhaft nach dem verlorenen Faden und begann dann eifrig folgende Schlagsätze ins Heft zu schreiben:

»Acht Belegstellen bei Aristoteles – gleichsam als granitner Grundbau – Eth. I, 5. VIII, I, 11. IX, 6. Polit. I, 2. II, 4« (hier wurde ihm der Grundbau zu langweilig, und er machte statt der übrigen drei Stellen ein zierlich geschnörkeltes et cetera). »Aristoteles erklärt die Freundschaft für das höchste politische Gut. Dies dünkt uns Neueren kaum verständlich: in unserem Staatsrecht – nichts von Freundschaft! in unserer Politik – nichts von Liebe! Dagegen die Alten: Durch Freundschaft zur Gerechtigkeit, durch Gerechtigkeit zur Eintracht, durch Eintracht zum festen Staatsverband und so weiter. Item: warum überhaupt die Freundschaft eine so große Rolle spiele im klassischen Altertum, eine so kleine bei uns? Viele Gründe. I. Weil der freie athenische Bürger mehr Zeit dazu hatte; er überläßt den Sklaven die Arbeit fürs tägliche Leben und widmet sich ganz den Musen, der Staatskunst und der Freundschaft. II. Die modernen Frauen – NB. Liebe, Ehe, Familie usw. bei uns viel höher geachtet als im Altertum – absorbieren jenen Rest von Freundschaft, für welchen wir etwa noch Zeit hätten. III. –«

Bei dieser Ziffer machte der Studiosus einen Tintenklecks, welcher ihn für heute am weiteren Nachschreiben hinderte.

Allein er hatte auch reichlich genug.

Es waltet eine Art Teilung der Arbeit beim Kollegienbesuch der Studenten: Einige kommen alle Tage, andere dann und wann, die übrigen gar nicht. Unter den Anwesenden pflegen dann wiederum einige immer achtzugeben, andere da und dort, die übrigen gar nicht. Und so ist zuletzt doch täglich jemand da, und gibt auch jeden Augenblick irgend jemand acht.

Unser blonder Jüngling hatte heute, wie wir sahen, in der Mitte des Vortrags achtgegeben; aber er hörte nun weiterhin kein Wort mehr, nicht aus Unachtsamkeit, sondern gegenteils, weil er vorher viel zu achtsam gewesen war. Denn jene Sätze, die er in so anmutiger Kürze notiert, brannten ihm dergestalt auf der Seele, daß er vom Nachdenken über dieselben gar nicht wieder loskommen konnte. Er litt an unglücklicher Freundschaft, und die erste Freundschaftsqual der Jugend ist oft kaum minder herb wie die Liebesqual späterer Tage. Das Glück hatte ihm einen echten Freund gegeben, und dieser Freund war obendrein sein Vetter, Karl Erlach, der Sohn seines Oheims von väterlicher Seite. Wolfgangs Vater war Amtmann, Karls Vater Arzt in dem Städtchen Finkenborn. Ihre Häuser standen Giebel an Giebel. Die beiden Söhne hatten von Kindesbeinen miteinander gespielt, miteinander gelernt, sie waren derart zusammen aufgewachsen, daß sie gar nicht merkten, wie enge sie sich angehörten. Dann kam aber auch eine Zeit der Trennung, so kurz, daß die Vettern sich nicht fremd wurden, und lange genug, daß sie im Schmerz der Abwesenheit und im Glücke der Wiedervereinigung sich erst recht als Freunde fanden und erkannten. Karl nämlich, um drei Jahre älter, bezog die Hochschule drei Jahre früher als Wolfgang. Jetzt aber waren sie in der Universitätsstadt wieder zusammengekommen. Karl studierte Medizin, um später einmal die Praxis seines Vaters zu übernehmen, Wolfgang die Rechte mit der Aussicht, dereinst im Amthause dem Vater nachzufolgen; denn seit drei Generationen war bereits ein Erlach Amtmann in Finkenborn gewesen, und die Stelle galt selbiger Zeit als erblich. Also nicht bloß für die Gegenwart, auch für die Zukunft sollten sie beisammenbleiben und dereinst in alten Tagen wieder Giebel an Giebel wohnen wie ihre Eltern.

Die äußeren Umstände begünstigten demnach eine wahre Musterfreundschaft, und die beiden Jünglinge hatten sich aufrichtig lieb; sie ergänzten sich nach Anlage und Charakter, einer bedurfte des andern, einer suchte den andern, und dennoch haderten und schmollten sie neuerdings fortwährend, flohen sich, um sich wiederzufinden, und waren nur dann minutenlang glücklich im Vollgenuß ihrer Zuneigung, wenn sie sich vorher tagelang recht fürchterlich böse gewesen waren.

Unter diesem steten Suchen und Verlieren litt Wolfgang ganz besonders hart. Die gefühligere, liebebedürftigere Natur, war er stürmischer und dennoch nachhaltiger in der Leidenschaft, während Karl weit verständiger, männlicher erschien und doch ganz unberechenbar im springenden Wechsel der Launen und Stimmungen.

Aber diese Launen hatten Methode, freilich in der rätselhaftesten Weise. Oft ließ Karl die ganze Woche den Kopf hängen, traurig bis zum Tiefsinn – aus ganz unerfindbaren Gründen; kam er dann mit Wolfgang zusammen, so wurde er zusehends milder und versöhnter und zuletzt oft überaus zärtlich. Zu andern Zeiten dagegen war er ausgelassen vergnügt – man wußte wiederum nicht weshalb; lief ihm dann Wolfgang in den Weg, so beachtete er ihn kaum und erbitterte den Freund, über welchen er hoch hinausfuhr. Da dieser aber das unerklärliche Leid mitgetragen, so hätte er doch auch gern ein bißchen von der unerklärlichen Freude mitgenossen.

Wir wollen den Schlüssel dieses Rätsels verraten.

Wolfgang hatte eine Zwillingsschwester Lisette. Als Kinder sahen sich beide so ähnlich, daß man öfters scherzweis ihre Anzüge vertauschte, und niemand wußte dann, daß das Mädchen der Knabe und der Knabe das Mädchen sei. Auch im entwickelteren Alter war noch immer eine seltene Ähnlichkeit in Gesicht und Haltung, Mienen und Gebärden geblieben. Nun hatten sich Karl und Lisette insgeheim Liebe geschworen und wechselten allwöchentlich Briefe. In diesen Briefen aber wechselte wiederum Regen und Sonnenschein fast genau wie in Karls und Wolfgangs Freundschaft, denn auch die Liebenden flohen sich, um sich wiederzufinden, und waren die eine Woche recht fürchterlich böse aufeinander, um die andere Woche im Vollgenuß ihrer Zuneigung zu schwelgen. Hatte nun Karl einen verstimmenden Brief erhalten und sah den zärtlichen Freund, das leibhafte Ebenbild der Geliebten, dann schmolz sein Zorn und Gram im Anblick der geliebten Züge, und er ward selber überaus zärtlich. Fühlte er sich dagegen beglückt durch einen guten Brief und Wolfgang kam ihm in den Weg, so störte der anspruchsvolle Freund seine schönsten Träume, und die Vision der idealen Erscheinung Lisettens verblaßte vor ihrem vergröberten Ebenbild.

Der arme Wolfgang aber hatte keine Ahnung von Karls Liebe und seinem Briefwechsel und geriet in Verzweiflung, daß sich ihm das Geheimnis jener Widersprüche nicht entschleierte, welches ihre ganze Freundschaft zu einem ewigen Widerspruch zu machen drohte.

Da waren ihm die Worte des Professors heute morgen wie ein erleuchtender Blitz durch den Kopf gefahren, und er sprach zu sich selbst:

»Dieser alte Schulmeister hat recht: zur vollendeten Freundschaft fehlt uns der athenische Sklave, welcher die Last der täglichen Arbeit auf sich nähme, daß einer lediglich dem andern, daß ich ganz den Geheimnissen des Freundes leben könnte. Der zweite Punkt im heutigen Vortrag tut weniger zur Sache, Frauenliebe stört uns beide nicht. Aber die Last der täglichen Arbeit, da liegt's! Zu Perikles' Zeiten hätten Karl und ich gemeinsam das gleiche getrieben, die schönen Künste daheim und etwas Politik draußen. Könnte ein Sklave für mich die Pandekten hören und ein anderer für Karl die Geburtshilfe, so fänden wir Muße genug für die Freundschaft, und mit der Muße käme die Stimmung, mit der Stimmung die Poesie, mit der Poesie die Harmonie. Wir ergründeten unsere Launen, überwänden und versöhnten sie und würden Virtuosen in der antiken Kunst der sich ergänzenden schönen Menschlichkeit.«

Zweites Kapitel

Diese Gedanken erfüllten Wolfgang, als er von 9-11 Uhr die Pandekten – nicht hörte, um im »Philosophenhain« spazierenzugehen, sie verfolgten ihn um 12 Uhr durch die sämtlichen drei Gänge des Mittagessens, sie dämmerten in ihm fort, als er von 1-3 Uhr Siesta hielt, um sich von den Mühen des Vormittags zu erholen, sie begleiteten ihn, als er endlich gegen 5 Uhr abends den Vetter aufsuchte.

Ach, es ist etwas Prächtiges um einen dauerhaften Gedanken, an welchem man so recht den ganzen Tag zehren kann!

Wolfgang traf Karl in der denkbar glücklichsten Laune, nämlich so verstimmt, wie er ihn noch gar nie gesehen, und das wollte viel sagen. Ein Grund des Unmuts war wieder nicht herauszukriegen, nur bemerkte er, daß der Freund bei seinem Eintritt einen Brief zerknittert und rasch in die Tasche gesteckt hatte, vielleicht den Mahnbrief eines Gläubigers. Erst allmählich fand Karl einige Worte; er freute sich aufrichtig, seinen Freund in dieser elenden Zeit bei sich zu sehen, er nannte ihn seinen Tröster und drückte ihm recht warm die Hand, obgleich er ein Gesicht dazu machte, als ob er ihn beißen wolle. Dann aber wurde er weicher, und wie nun der Moment kam, wo die Sonne aus den Wolken brach, wo sich der unergründliche Schmerz in unergründliche Rührung löste, da berichtete ihm Wolfgang leuchtenden Auges, daß er heute die wahre Ursache entdeckt habe, warum es mit ihrer Freundschaft auf die Dauer niemals recht zusammengehe, und gab dann in breitem Redestrom seinen Kommentar zum Kommentar des Professors Baldrian zu den acht Stellen des Aristoteles.

»Nehmen wir uns ein Stück antiker Freiheit!« so schloß er begeistert; »auf vierzehn Tage wenigstens könnten wir doch leben wie der athenische Bürger, ganz uns selbst gehörend und der freien, schönen Natur! Der Sommer wird täglich heißer und die Kollegien stündlich langweiliger. Mich dürstet nach Waldeskühle. Wir wollen wandern. Wohin? Das ist gleichgültig; quer durchs Land, durch die tiefste Einsamkeit. Wir wollen durch die Welt streifen, um die Welt zu vergessen und uns selber wiederzufinden. Gehen wir gen Osten! Von Osten kommt der Erde das Licht, von Osten kam es der Menschheit.«

Karl schlug ein: »Es ist zwar ein unverantwortlicher Leichtsinn, so mitten im Semester nach Osten davonzulaufen, allein ich gehe mit. Ich bin so wütend, daß ich aus der Haut fahren möchte, also will ich wenigstens aus diesem traurigen Neste fahren, und es tut mir so wohl, mit dir allein zu sein. Wann brechen wir auf?«

»Gleich heute abend! Wir wandern während der kühlen Nächte und schlafen am Tag im Waldesschatten, das gibt die ungestörte Wanderpoesie, und wir ersparen obendrein das Schlafgeld in den teuern Wirtshäusern.«

Gesagt, getan. Sie rüsteten sich stracks zum Aufbruch.

Ein Student nimmt sich selbst den Reiseurlaub; er geht, wenn er will, er braucht vorher nur seinen Mittagstisch abzubestellen. Das taten die Freunde. Sie legten dann ihr Geld zusammen, teilten es in zwei gleiche Hälften und steckten diese in zwei Geldbeutel. Karl als der erfahrenere übernahm die Kassenführung; er schob den einen Beutel in die rechte, den andern in die linke Hosentasche. Zuerst sollte bloß der Beutel rechter Hand angegriffen werden, und solange noch ein Pfennig darin war, wollten sie ostwärts gehen; war er aber leer, dann wurde westwärts umgekehrt und aus der linken Hosentasche der Rückmarsch bestritten. Dies ist die einfachste Ermittlung eines vernünftigen Reiseziels.

Leicht Gepäck ist bald gepackt; Karl warf sein Täschchen über die Schulter, Wolfgang eine Botanisierbüchse, und um 9 Uhr wanderten die beiden Freunde seelenvergnügt zum Tore hinaus.

Professor Baldrian hatte am Morgen schwerlich geahnt, daß sein Paragraph 234 der griechischen Staatsaltertümer schon am Abend so energisch und praktisch verwertet werden sollte.

Drittes Kapitel

Ganz einmütig gingen die Freunde – bis zum Stadttor. Hier teilten sich die Wege: die Landstraße rechts, ein Feldweg linker Hand. Wolfgang wollte den Feldweg einschlagen, Karl die Landstraße.

Vergebens belehrte jener den Freund, daß die Landstraße gar nicht gen Osten ziehe, sondern südwärts. Karl behauptete, über Süden könne man südöstlich auch nach Osten kommen.

»Aber bedenke doch«, rief Wolfgang, »daß uns die Landstraße bis zum Morgen nach Finkenborn führt, wo wir uns nicht blicken lassen dürfen. Der Vater würde uns seltsam begrüßen, wenn er uns so mitten im Semester durchs Land streichen sähe!«

»Eben darum, lieber Wolfgang, wandern wir ja bei Nacht und schlafen am Tage. Und das wird ein ganz besonderes Vergnügen sein, in der dämmernden Morgenfrühe, während ganz Finkenborn noch schläft, verstohlen durch die Straßen zu streichen, wie Fremde, wie Verbannte dort herumzuschleichen, wo wir zu Hause sind. Und wer weiß, was wir da alles belauschen mögen! Auf die Amtsstadt Finkenborn morgens zwischen vier und fünf Uhr freue ich mich ganz kindisch. Die Entfernung beträgt zehn Stunden Wegs; Achilles und Patroklus würden dieselbe in sechs Stunden zurückgelegt haben, wir zwingen's in acht und stehen vor dem Amthaus, noch ehe der Bäckerjunge das Kaffeebrot austrägt.«

Wolfgang mußte nachgeben. Er war verstimmt. Statt daß sie, gemütlich nach Osten pilgernd, bloß ihrer Freundschaft lebten, rannten sie im Sturm nach Süden, um zu sehen, wie die Finkenborner nicht auf der Straße gehen, wenn sie in den Betten liegen.

Karl dagegen schwelgte in der Hoffnung, bei Tageserwachen andachtsvoll unter Lisettens Fenster zu lauschen. Vielleicht streckt sie dann gerade den Kopf heraus, sie will die Sonne aufgehen sehen; da trifft ihr Auge ihn als den wahren Lichtboten, den Luzifer, den Phosphoros, welcher dem Helios vorauseilt: das war doch auch ein griechisches Bild und einen Nachtmarsch wert!

Trotz des kleinen Zwiespaltes und der staubigen Landstraße begann übrigens die Wanderung wunderschön. Seliger Abendfriede lag über den Gebreiten des Landes, das in immer tiefere Schatten sank. Die letzte Glocke verklang fernher, die Sterne stiegen auf, zahlreicher, zahllos, bis der ganze Himmel besäet war; kein Wanderer kreuzte den Weg, nur emsiges Grillengezirp unterbrach das Schweigen der entschlummerten Natur.

Auch die beiden Freunde schritten lange schweigend in die Nacht hinein. Sie hätten sich so viel zu sagen gehabt, nur leider ein jeglicher etwas ganz anderes, als der andere hören wollte, und so fand keiner das Wort.

Endlich begann Wolfgang einen Monolog, da es mit dem Dialoge nicht glückte: »Selige Jugendzeit, wo wir nach dem Lächeln des einen und einzigen Freundes haschen wie nach einem Liebesblick! Die Freundschaft ist der Morgenstern der Liebe, sie verkündet die kommende Sonne, und oftmals ist der diamantene Lichtfunke dieses Sternes, wie er aus der Dämmerung blitzt, poesiegeweihter als der blendende Glanz des Tagesgestirns. Die Freundschaft ist aber auch der Abendstern der Liebe; denn wenn sich unser Tag im Alter neigt, dann wird die Liebe selber wieder zur Freundschaft!«

»Wie kommst du zu dem Morgenstern, dem Luzifer?« rief Karl ärgerlich, weil er den Freund auf seinen eigenen Gedanken ertappte, nur daß dieselben eine ganz entgegengesetzte Richtung nahmen. »Zitiertest du den Streckvers aus Jean Pauls neuestem Roman?«

»Ein Zitat?« fragte Wolfgang betroffen. »Und fühlst du nicht, daß jene Worte der augenblickliche Erguß meiner tiefsten Seele gewesen sind?«

»Du sprachst wie ein Buch und könntest den Erguß sogleich in einem Musenalmanach drucken lassen.«

Wolfgang war wie mit kaltem Wasser begossen und schwieg.

Sie liefen bergauf, talab, als ob sie's bezahlt bekämen. Karl trieb an mit Zuruf und Beispiel; er zählte die Achtelmeilen und freute sich nur darum über den vollen Mond, weil sein Licht die Uhr erkennen ließ, denn auf jede Stunde Wegs mußte eine Viertelstunde Zeit gewonnen werden.

Vergebens mahnte Wolfgang zu ruhigerem Gange. »Was läßt sich empfinden, was bekennen, wenn wir die Meilensteine ablaufen wie Postpferde!«

Alles umsonst!

Nun verstummte Wolfgang völlig und lief, so rasch er konnte, und Karl verstummte gleichfalls und lief noch etwas rascher, immer anderthalb Schritt voraus.

Dieses Doppelschweigen im Sturmschritt war psychologisch merkwürdig. Denn obgleich der eine genau schwieg wie der andere, so ruhte der Akkord ihres Schweigens doch auf zwei verschiedenen Grundtönen. Wolfgang schwieg, weil er mit dem nahen Freund im stillen haderte, Karl, weil er sich mit der fernen Geliebten in Gedanken selig verbunden fühlte. Darum machte das Schweigen den einen immer ärgerlicher, den andern immer glücklicher.

Wolfgang mochte den herzlosen Freund gar nicht ansehen, Karl dagegen blickte dem armen Jungen ab und zu recht zärtlich ins Gesicht. Der traumhafte Mondschein zeigte ihm die Züge der Zwillingsschwester in den Zügen des Bruders, vorausgesetzt daß derselbe den Mund nicht auftat. Und Wolfgang spannte immer ungeduldiger darauf, ob denn der Freund nicht endlich einmal reden wolle! War dies die ganze Frucht der hellenischen Freiheit einsamster Wanderung? Wollten sie nichts weiter, als sich selbander anschweigen und ausschweigen, dann hätten sie's zu Hause bequemer haben können.

Endlich graute der Morgen. Die frische Frühluft strich, die Sonne verkündend, von den Bergen herüber, das fahle Licht des nahenden Tages erhellte allmählich die Landschaft in seinen, kalten Tönen. Mit scharfer Wendung traten die Wanderer auf einer Hügelkuppe aus dem Waldesdunkel, da blitzten ihnen die ersten Sonnenstrahlen grell ins Auge. Laut jubelnd begrüßten sie den Aufgang.

Karl blickte seinem begeisterten Freunde ins Gesicht – und prallte entsetzt zurück. »Mensch! wie aschgrau siehst du aus! Könnt' ich dir nur einen Spiegel vorhalten! Wie übernächtig! Die Nase blau, die Wangen blaß, die Augen braun umrahmt, die Züge schlaff!«

Wolfgang fuhr unwillig auf und meinte, Karl möge sich doch auch nur selber betrachten. »Wenn meine Nase blau, dann ist die deinige nahezu grün. So zwischen Nacht und Morgen und vollends nach durchwachter Nacht ist niemand lustig anzuschauen. Da wird selbst das schönste Mädchenantlitz leichenblaß erscheinen und katzenjammergrau.«

Diese Worte vollendeten Karls Unmut. Der Mondschein hatte ihm das Bild Lisettens so anmutig im Gesichte ihres Bruders vorgezaubert, und die Sonne gab ihm Lisettens Zerrbild. In der Tat, nach durchwachter Nacht mußte Lisette wohl ziemlich ebenso aussehen wie jetzt ihr Zwillingsbruder. Es ist sehr gefährlich, wenn man sich ein geliebtes Wesen in jeder Situation vorstellt, die täglich vorkommen kann, noch gefährlicher, wenn uns ein dritter an die minder ideale Situation erinnert, aber am gefährlichsten, wenn er uns dieselbe gleich in wohlgelungenem Porträt wiedergibt.

»Dieser nüchterne Bursche reißt einen doch aus allen Himmeln der Phantasie!« so dachte Karl gegen Wolfgang. Ganz ebenso dachte aber auch Wolfgang gegen Karl. Und so waren sie plötzlich einig in demselben ungesagten Worte. »Mit einem so launischen, überkritischen Menschen wäre selbst im alten Griechenland nicht auszukommen gewesen«, dachte Wolfgang weiter. Und Karl dachte abermals ungefähr das nämliche.

Keiner aber sprach diese harmonischen Gedanken aus, also verfielen sie auch wieder in das gleiche Schweigen. Und zwar ruhte ihr Doppelschweigen jetzt auch nicht mehr auf verschiedenem Grundton wie vorher, sondern auf ein und demselben. Denn jeder schwieg jetzt, weil er sich über den andern ärgerte.

Diese Eintracht im Zwiespalt aber beschleunigte ihre Schritte derart, daß sie die Amtsstadt Finkenborn wirklich mit dem Glockenschlag halb fünf Uhr erreichten.

Viertes Kapitel

Vergebens bat Wolfgang, das Städtchen zu umgehen. Karl schritt unaufhaltsam hinein und steuerte geradenwegs zu Wolfgangs väterlichem Hause, zum Amthause. »Bist du toll?« rief Wolfgang und hielt ihn am Rockzipfel zurück. – »Toll? Lieber Freund, was wäre die Poesie des Lebens ohne Tollheit?« entgegnete jener, machte seinen Rock von Wolfgangs Händen frei und schlüpfte in den Garten, welcher das Amthaus umgab.

Dort setzte er sich eine Weile stillvergnügt in die Geißblattlaube; er konnte aus diesem Versteck ganz nahe zum Fenster von Lisettens Schlafzimmer hinaufspähen. Der arme Wolfgang saß neben ihm auf Kohlen, und er merkte noch immer nichts!

Ein Fensterflügel war geöffnet, um die milde Frühluft einzulassen; Karl war innerlich entzückt von diesem Umstand. Er reckte den Kopf aus der Laube und begann mit gedämpftem Gesang die Höltyschen Strophen:

»Beglückt, beglückt, wer die Geliebte findet,
Die seinen Jugendtraum begrüßt –«

Nach den nächtlichen Strapazen sang er zwar etwas heiser und falsch, aber sehr gefühlvoll. Wolfgang versuchte ihm die Hand vor den Mund zu halten. Dies hatte leider die Wirkung, daß Karl plötzlich in ein Forte ausbrach:

»Die Liebe macht zum Goldpalast die Hütte,
Streut auf die Wildnis Tanz und Spiel –«

Da öffnet sich der andere Fensterflügel, der Sänger prallt zurück und verstummt. Eine Nachthaube erscheint im Fenster. Es ist Lisettens Mutter. Karl und Wolfgang huschen eiligst durch die Beete und zertreten Lisettens prachtvollen Nelkenflor. Sie sind alsbald auf der Straße in Sicherheit und laufen geschwinder wieder zum Städtchen hinaus, als sie hereingekommen waren.

»Dacht' ich's doch, daß du die Mutter wecken würdest«, zürnte Wolfgang. »Die alte Frau hat schon seit Jahren keinen Morgenschlaf mehr, aber zum Glück sieht sie nichts ohne Brille. Wäre Lisette erwacht, die hätte uns erkannt mit ihren Luchsaugen, allein zum Glück schläft sie wie ein Murmeltier tief in den Tag hinein.«

Wie kann man so roh sich ausdrücken! War Wolfgang die ganze Nacht ärgerlich gewesen, daß Karl mit nüchternen Worten in seine Freundschaftsträume platzte, so ärgerte sich Karl jetzt am Morgen, daß jener mit so nüchternem Worte seine Liebesträume zerriß. Und er hatte gar nicht erraten, welche Tollheit eigentlich die Poesie des Lebens sei! Man sagt, die Liebe ist blind; die Freundschaft schien noch viel blinder zu sein.

Die beiden Wanderer ließen Finkenborn rechts liegen und zogen mit nordöstlicher Schwenkung weiter ins Land, bedeutend langsameren Schrittes, beide nunmehr wieder ärgerlich, aber jeder wiederum aus anderem Grunde und in anderer Weise.

Endlich forderte die Natur ihr Recht. Auf offenem Kartoffelfelde lagerten sie sich in den Schatten eines Birnbaums. Der Rastort war weder klassisch noch romantisch, allein die übermüdeten Jünglinge versanken beide rasch in tiefen Schlummer.

Karl erwachte zuerst, denn die hochgestiegene Sonne stach ihm ins Gesicht. Mit innigem Wohlgefallen betrachtete er den noch schlafenden Gefährten. Wie ähnlich waren seine von der Ruhe wieder verjüngten und veredelten Züge dem Bilde der Schwester, wie anmutig lächelte er im Schlafe! Jetzt, wo Finkenborn hinter ihm lag, empfand Karl wieder tiefe Zärtlichkeit für den Freund. Ihn rührte die göttliche Unschuld des armen Jungen, der noch immer nicht merkte, daß seine Liebe zunächst der Schwester galt und daß er in dem Freunde viel weniger den Freund als den Bruder der Schwester liebte. Er war Wolfgang eine Genugtuung schuldig und beschloß, ihm alles zu beichten, und zwar auf der Stelle.

Mit leisem Zuruf weckte er den Schläfer. Etwas unwirsch fuhr dieser empor, rieb sich die Augen, gähnte und seufzte nach Waschwasser, welches in dem Kartoffelfelde nicht aufzutreiben war. Er hatte offenbar nur halb ausgeschlafen. Aber Karl brachte ihn bald zur Besinnung und lud ihn ein, sich ein Viertelstündchen neben ihn zu setzen, er wolle ihm etwas erzählen. Er begann:

»Es war vor vier Jahren am Tage der Finkenborner Kirchweih. Im Garten des Bärenwirts tanzte die Staatsdienerschaft und beim Schimmelwirt die Bürgerschaft. Du wirst dich gewiß noch erinnern, wie lustig wir damals in dem Garten tanzten, einen Menuett um den andern. Die schönste Tänzerin war deine Schwester Lisette. Doch als wir eben zur Ecossaise antraten, war sie verschwunden; niemand wußte wohin. Sie blieb fast eine Stunde fort, es erregte Aufsehen. Sie behauptete nachher, von deinem Vater befragt, zu Hause Vorbereitungen fürs Abendessen getroffen zu haben. Allein das war eine Notlüge. Sie ging ganz woanders hin, und ich weiß, wo sie gewesen ist, denn ich bin ihr nachgeschlichen –«

»Lieber Freund«, unterbrach ihn Wolfgang, »wollen wir nicht aufbrechen? Du könntest deine Geschichte dann ebensogut im Gehen erzählen wie hier im Sitzen. Wir kämen rascher zum Frühstück, und ich habe grausamen Hunger. Eine Schüssel saure Milch dort unten in der Mühle, das wäre ein wahrer Balsam für meinen nüchternen Magen! Es ist meine und Lisettens Liebhaberei – auch hierin sind wir Zwillinge –, nüchtern saure Milch zu frühstücken.«

»Entsetzlicher Geschmack!« rief Karl. »Wenn du etwa einen Hering begehrtest, so würde ich's begreifen.«

»Gemeines Gelüsten!« entgegnete Wolfgang.

»Der beste Held der Odyssee könnte Salzfische frühstücken; was findest du Gemeines daran?«

»Die zarteste Schäferin Theokrits könnte zum Morgenimbiß geronnene Milch essen. Was ist an diesem Geschmacke entsetzlich?«

Sie brachen auf, beide zürnend und schweigend. Nach einer solchen Episode konnte Karl seine Geschichte nicht weitererzählen. Doch bezwang er den Unmut; er beschloß, mit der Fortsetzung bis zum Abend zu warten.

Der Tag war schwül, die Wege staubig, die Wirtshäuser schlecht, die Wanderer schläfrig und müde. Kein Wunder, daß sie nur fünf Stunden Wegs zurücklegten. Sie beschlossen, von ihrer Reiseregel heute eine Ausnahme zu machen und die kommende Nacht unter Dach zuzubringen. Volpertshausen, ein weitgedehnter Marktflecken, winkte zur abendlichen Einkehr.

Schon lag der Ort ganz nahe, da brach ein furchtbares Gewitter los. Die Freunde liefen Trab, aber Hagel und Platzregen stürzten stromweis vom Himmel, daß sie in wenigen Minuten keinen trockenen Faden mehr auf dem Leibe trugen. Die heimkehrenden Bauern jubelten über den nach langer Dürre ersehnten Regenguß. »Es regnet Kronentaler!« rief einer den gebadeten Studenten entgegen. »Das haben wir lange gewünscht!« sagte eine Dirne lachend den bestürzten Flüchtlingen ins Gesicht. Wolfgang ergötzte sich an diesen Ausrufen, Karl fand sie impertinent. Überhaupt ging Wolfgang förmlich wieder auf im Regen wie eine welke Blume, Karl zog sich in sich zusammen wie ein begossener Pudel.

Triefend traten sie in die erste beste Herberge des Ortes; eine breite Wasserstraße bezeichnete hinter ihnen den Weg, welchen sie über den Hausflur genommen. An der Türe des Schenkzimmers stand folgende Aufschrift: »Jeder Reisende, der hier übernachten will, muß vorher einen Albus Schlafgeld und einen Batzen für Zehrung nachweisen. Auch werden nur Gäste aufgenommen, welche haut- und kopfrein sind.«

Wolfgang nannte dieses Plakat entzückend, echt bukolisch, ein wahres »Lied im Volkston«. Karl räsonierte darüber und wollte wieder umkehren, allein Wolfgang zog ihn in die Stube. Der Wirt musterte sie von Kopf zu Fuß und begehrte keinen Nachweis.

Die Freunde setzten sich in die Küche und trockneten dort ihre ausgezogenen Röcke am Herdfeuer und die Hemden auf dem Leibe. Weil sie aber zugleich mit ansahen, wie das Essen bereitet wurde, so verging ihnen aller Appetit.

Sie kehrten in die dunstige, von Bauern vollgepfropfte Schenkstube zurück, zahlten ihre zwei Batzen Zehrgeld und rührten keinen Bissen an. Wolfgang war ausgelassen lustig, obgleich ihn bitterer Hunger nagte. Karl hätte gern die unterbrochene Geschichte seiner Liebe weitererzählt, allein in dieser Atmosphäre und bei dieser tollen Laune des Freundes vermochte er es nicht. Zudem sah er, daß sie von den Bauern beobachtet und belauscht, von dem Wirte fortwährend umkreist und verdächtig ausgespäht wurden. Was sollte das bedeuten?

Endlich wurde es stiller. Ein Gast nach dem andern ging hinweg, die Stube leerte sich. Der Wirt bereitete den beiden Wanderern die Lagerstatt mitten im Schenkzimmer. Er legte zwei Stühle um, daß die Lehne schräg an den Boden kam, als Kopfkissen, breitete »frisches« Lagerstroh davor, auf welchem schon sechs Handwerksburschen geschlafen hatten, gab jeglichem eine alte Pferdedecke, löschte die Öllampe, empfahl sich und wünschte den Jünglingen angenehme Ruhe.

Anfangs fand Wolfgang diese Sorte von Nachtquartier höchst originell und ergötzlich; allein nach einer Viertelstunde wurde er doch andern Sinnes. Der Branntweinduft und der kalte Tabaksdampf, den die Bauern hinterlassen, war auf die Dauer nicht auszuhalten, und schon der bloße Gedanke an den Schmutz des Bodens und des Strohes, worauf sie lagen, verscheuchte allen Schlaf.

Sie öffneten das Fenster. Der Regen hatte aufgehört, eine balsamische Luft drang herein. Da bemerkte Wolfgang: »Im Helldunkel der volkstümlichen Poesie ist unsere Lagerstatt zwar wunderschön, aber man kann auf derselben durchaus nicht einschlafen. Wie wäre es, wenn wir uns ganz sachte davonschlichen und ein trockenes Plätzchen im Freien oder in einer Scheune aufsuchten?«

Karl stimmte bei. Sie legten die zwei Albus Schlafgeld auf den Tisch, und da sie die Tür verschlossen fanden, sprangen sie zum Fenster hinaus und befanden sich bald in den Wiesen vor dem Dorfe, wo sie die erquickende Nachtluft in vollen Zügen tranken. Dort stand eine Heuscheune, halb angefüllt mit frischem Heu. In der eiligen Flucht vor dem Gewitter hatten die Bauern das Tor offengelassen. Also ergriffen die Freunde sofort Besitz von diesem Quartier.

Höchst behaglich streckten sie sich der Länge nach in das duftende Heu, und Wolfgang legte sich sofort zum Schlafen zurecht. Aber Karl wehrte ihm und rüttelte ihn auf. »Als Mediziner muß ich dir das Schlafen verbieten. Weißt du nicht, daß frisches Heu dem Schlummernden gefährlich ist, ja daß es ihn töten kann? Unterhalten wir uns lieber, damit wir wach bleiben; denn nur wachend dürfen wir hier die Ruhe genießen.«

Wolfgang seufzte, er hätte gar so gern geschlafen. Aber folgsam setzte er sich auf, und Karl sprach: »Ich will dir die Geschichte auserzählen, die ich heute morgen begonnen habe.«

Fünftes Kapitel

Karl hub an:

»Es war, wie gesagt, vor vier Jahren auf der Finkenborner Kirchweih, wo deine Schwester Lisette plötzlich vom Tanzplatz verschwand und eine ganze Stunde ausblieb. Ich bin ihr nachgeschlichen; sie war nicht zu Hause, wie sie später angab, sondern sie eilte vor die Stadt und verschwand dort in dem Hirtenhäuschen, wo der Schäfer Balzer wohnt, der sich eines sehr getrübten Leumundes erfreut und für einen Hundedieb gilt, weil er mit Hundefett handelt. Wie konnte eine Amtmannstochter, und obendrein im Ballkleide, den Balzer besuchen? Das dünkte mir sehr verdächtig. Also wartete ich eine Weile, bis Lisette wieder herauskäme, um sie zur Rede zu stellen. Aber sie kam nicht. Voll Ungeduld umging ich das Häuschen. Die Fenster sind ganz niedrig und derart von zwei Holunderbüschen umschattet, daß man bequem hineinschauen kann, ohne von innen bemerkt zu werden. Ich lugte hinein. Und denke dir, was ich da erspähte –!«

»Heraus mit euch Schuften! Ergebt euch gutwillig!« donnerte eine Stimme zum offenen Scheunentor herein.

Karl und Wolfgang fuhren erschrocken empor. Der Lichtstrahl einer Blendlaterne fiel ihnen ins Gesicht; ein großer Mann in hohen Reitstiefeln, den Hirschfänger in der Hand, trat in die Scheuer, von zwei schwerbewaffneten Amtsknechten begleitet und von einem Dutzend Bauern mit Prügeln gefolgt.

Die beiden Freunde krochen sprachlos aus dem Heu, die Knechte packten sie. Aber wie prallten beide Parteien zurück, als der eine Knecht rief: »Das ist ja des Herrn Amtmanns Wolfgang und des Herrn Doktors Karl!«

Der große Mann mit dem Hirschfänger betrachtete sich die Jungen etwas näher bei Licht: es war Wolfgangs Vater, der Amtmann von Finkenborn. »Bursche! Wie kommt ihr hierher?« rief er in Zorn und Staunen. »Was treibt ihr hier?«

Zur Antwort stammelte Wolfgang die Frage, was denn der Vater hier suche.

In abgebrochenen Fragen und Ausrufen kam es zu beiderseitiger Erklärung, wobei der Amtmann genau wußte, was er sagen sollte, aber die armen Jungen wußten es um so weniger.

Amtmann Erlach führte nach damaliger Art eine nächtliche Streife gegen die »Gebrüder Serf«, zwei elegante junge Gauner, welche stehlend, betrügend und beschwindelnd unter allerlei Masken das Land durchzogen. Der Wirt in Volpertshausen hatte Verdacht geschöpft, daß die rätselhaften Wanderer jene Diebe seien, denn die Gebrüder Serf reisten öfters als Studenten. Darum hatte er die geheimnisvoll miteinander Plaudernden so verdächtig ausgespäht. Kaum waren Karl und Wolfgang durchs Fenster entflohen, so kam der Amtmann mit seinen Häschern in die Herberge. Nun schien es außer Zweifel, daß sie die Gauner gewesen seien. Man verfolgte ihre Spur und fand sie in der Scheune. Das war der klare und einfache Tatbestand, welchen der Amtmann bündig erzählte.

Dagegen konnte er aus den Jünglingen nicht herausbringen, warum sie denn fünfzehn Stunden Wegs von der Universitätsstadt nächtlicherweile in Herbergen und Heuscheunen herumlungerten. Sollte Wolfgang seinen Freundschaftsroman bekennen, seine hellenischen Wanderzwecke eingestehen? Er schämte sich dessen, und der Vater würde ihn auch kaum verstanden haben. Sollte Karl beichten, daß er aus Liebesverdruß über einen bösen Brief Lisettens das Abenteuer mitgemacht? Der Oheim durfte vorderhand noch gar nichts wissen von diesem heimlichen Liebeshandel mit seiner Tochter.

Also sagte er endlich sehr verlegen, er sei auf ein paar Tage botanisieren gegangen und Wolfgang habe ihn begleitet. Zum Unglück wollte er seine Sache gar zu glaubwürdig machen und deutete auf die Botanisierbüchse. Der Alte ergriff sie sofort, öffnete sie und zog statt seltener Pflanzen ein paar Strümpfe heraus und Ciceros » Lälius de amicitia«. (Wolfgang hatte das Buch hineingeschoben, um im Notfall den Grundtext des Evangeliums antiker Freundschaft zur Hand zu haben.)

Der Amtmann wollte angesichts der Häscher und Bauern nicht weiter examinieren und begnügte sich, seinem väterlichen Zorn in etlichen Flüchen über Leichtsinn und Studentenübermut Luft zu machen.

Wolfgang war froh, für den Augenblick so wohlfeilen Kaufs davonzukommen, Karl dagegen wütete inwendig. In einem halben Jahre hatte er seine Studien vollendet, dann wollte er als Doktor vor den künftigen Schwiegervater treten und ihm seine Neigung bekennen – und jetzt stand er dem Manne gegenüber wie ein dummer Junge! Und dies einzig und allein durch Wolfgangs Schuld, durch dessen Phantasterei und Freundschaftsquälerei. Er warf seinen ganzen grimmigen Zorn auf den armen Burschen.

Der Alte befahl ihnen barsch, mitzugehen nach Finkenborn; von dort wolle er sie dann geradeaus wieder in ihre Hörsäle befördern. Nun war Karl vollends vernichtet. In welcher Gestalt erschien er dann vor Lisette, und wie mußte die ganze Amtsstadt spotten, wenn sie morgen früh als die falschen »Gebrüder Serf« eingeführt wurden! Und das hatte immer wieder der unselige Wolfgang verschuldet mit seiner hellenischen Freundschaft! Wenn Bräute nur niemals Brüder hätten und keine Väter, und wenn es in der Welt nur überhaupt keine Freunde gäbe und keine alten Griechen und keine Professoren, die über griechische Staatsaltertümer lesen!

Aber zum Glück gibt es noch echte Spitzbuben neben den falschen, und als man sich eben zum Rückmarsch nach Finkenborn anschickte, brachte ein Reiter die sichere Nachricht, daß die wirklichen Gebrüder Serf auf einem Gehöfte anderthalb Stunden vorwärts heute nacht ihren Unterschlupf hätten, wo man sie bequem abfangen könne. Der Trupp brach sofort in dieser Richtung auf.

Der Amtmann wollte die zwei Studenten gleichfalls dorthin mitnehmen, um ihrer ganz versichert zu bleiben. Allein sie erklärten, vor Müdigkeit keine Stunde weitergehen zu können, und baten, nach Volpertshausen zurückkehren zu dürfen. Sie verpfändeten ihr Ehrenwort, daß sie dann mit Tagesanbruch den nächsten Heimweg zur Universitätsstadt einschlagen wollten.

Dieser Vorschlag war so vernünftig, daß ihm der Amtmann Folge gab. Also trennte er sich von Sohn und Neffen, die kopfhängend wieder zum Dorfe schlichen.

Wolfgang redete dem Freunde guten Mut zu – vergebens, er erhielt keine Antwort. Er bat ihn, doch seine unterbrochene Aufklärung zu vollenden und seine Geschichte auszuerzählen. Diese Zumutung setzte Karl erst recht in hellen Zorn. Wolfgang wußte nicht, wie ihm geschah; das war ja die verkehrte Welt. Denn wenn Karl sonst ärgerlich gewesen, dann glühte er alsbald in Freundschaft; jetzt war er ärgerlich und unfreundlich obendrein. Dieser Umschlag ging gleichsam gegen die Naturgesetze.

Doch das Herbste stand ihm noch bevor, als sie zu den ersten Häusern von Volpertshausen gelangt waren. Karl erklärte trotzig, er werde die Nacht durch weitergehen, geradeaus zur Universitätsstadt. Todmüde konnte Wolfgang nicht folgen, er bedurfte der Nachtruhe. Bis zur Türe eines besseren Wirtshauses begleitete ihn der herzlose Freund, dann aber nahm er trockenen Abschied und eilte raschen Schrittes von dannen. Wolfgang wartete noch eine Weile in der festen Hoffnung, daß Karl wieder umkehren werde. Allein es geschah nicht, und so blieb ihm keine andere Wahl, als den Wirt herauszupochen und zu Bett zu gehen.

Sechstes Kapitel

Trotz alledem schlief er vortrefflich. Doch ein neuer Schreck befiel ihn beim Erwachen: Karl hatte ja die beiden Geldbeutel in der rechten und linken Hosentasche für die Hin- und Herreise und er selber keinen Pfennig. Statt des Schlafgeldes versetzte er dem Wirt sein Messer, das einzig verfügbare Wertstück, denn seine Uhr war schon längst in der Musenstadt einem Juden verpfändet.

Schwermütig brach er auf, mit dem Gefühl eines geschlagenen Feldherrn auf dem Rückzuge die endlose Landstraße dahinziehend. Er sprach zu sich selbst: »Ob Karl jetzt wohl Reue empfindet? Müßte er nicht tief beschämt und zerknirscht sein, wenn er mich so einsam im Sonnenbrand keuchen sähe, die ganze Welt tot und öde für mich, der schöne Traum dieser Wandertage zerrissen, alle Hoffnungen vernichtet, die ich so sicher auf dieselben gebaut?«

So kostete er die bittersüße Wonne, sich unschuldig gekränkt zu fühlen, und hätte um tausend Gulden nicht auf die Langeweile des Wegs verzichten mögen, ja er ging absichtlich immer da, wo die Straße am schlechtesten war.

Gegen zwölf Uhr meldete sich ein furchtbarer Hunger. Sollte er seine Botanisierbüchse mit den Reservestrümpfen und dem Lälius versetzen, um zu Mittag essen zu können? Mit dieser Frage trat er vor den Goldenen Löwen in Gaisach, ein wegen seiner trefflichen Küche bekanntes Wirtshaus.

Zögernden Schrittes drang er bis vor die Türe des Gastzimmers. Sie stand halb offen. Die Wirtin trug eben den duftenden Braten hinein, und das Klirren der Teller, Messer und Gabeln schallte lockend heraus.

Da vernahm Wolfgang plötzlich Karls Stimme; sehr laut und lustig, von Gelächter unterbrochen, übertönte sie das Gesumme des Tischgesprächs. Reuelos, gefühllos ließ sich's also der Verräter jetzt wohl sein auf Kosten des gemeinsamen Beutels, während der Freund verschmachtete!

Wolfgang kehrte auf dem Absätze um und stürmte davon. Er wollte gar nichts essen, gar nichts mehr versetzen. Den ganzen Tag zu hungern, schien ihm edel und sogar erquickend. Man kann sich auch an dem Trotz und Stolz eines gekränkten Herzens laben, ja sogar satt essen – wenigstens auf etliche Stunden.

Allein am Nachmittag versagten ihm die Kräfte. Noch war er zwei Meilen von der Universitätsstadt entfernt; er konnte nicht weiter und legte sich in den Straßengraben. Da kam der Postwagen herangerollt. Sein Geräusch erweckte bei Wolfgang den Naturtrieb der Selbsterhaltung. Einen Augenblick noch kämpfte er mit dem Gedanken, ob es nicht das würdigste sei und geradezu zermalmend für den Ungetreuen, wenn er im Graben liegenbliebe, bis man ihn – tot oder lebend – auffinde. Jetzt war der Wagen schon vorüber.

Und ohne Gedanken – rein aus Instinkt – raffte sich Wolfgang auf, lief mit letzter Kraft dem schwerfälligen Fuhrwerk nach, erreichte es und schwang sich auf das Rückbrett. Erst als er glücklich oben saß, wußte er klar, was er getan. Der Platz war abscheulich unbequem, und die nachwirbelnden Staubwolken – bei Gaisach hatte es gestern abend nicht einmal geregnet – hüllten den blinden Passagier in einen dichten Mantel und puderten ihn von Kopf bis zu Fuß. Trotzdem wurde er im nächsten Dorfe von einer Rotte Gassenbuben entdeckt, welche dem Wagen nachsprangen und dem Postillon zuriefen: »Hintendran! Draufgeschlahn!« Und sofort sauste die lange Peitsche übers Verdeck des Wagens herüber um Wolfgangs Ohren. Er duckte sich, erhielt aber doch ein paar richtige Hiebe auf Arm und Schulter. Der Postillon glaubte ihn wohl heruntergehauen zu haben, denn er fuhr dann ruhig weiter, und Wolfgang behauptete seinen Platz.

Auch die Streiche taten ihm innerlich wohl, während er sich äußerlich die Schultern rieb. Wenn der Freund diese Schmach sähe! Orest und Pylades waren schwerlich in solcher Weise gemeinsam durch die Fluren Griechenlands gezogen, wie sie es gestern und heute getan. Allein es ist süß, ein Märtyrer zu sein, denn der Marter folgt die Palme.

Beim Einfahren in die Musenstadt blieb Wolfgang auf dem Rückbrett des Wagens sitzen, obgleich es noch heller Tag war und belebt in den Straßen und der feine Jüngling sonst sehr viel auf Anstand und gepflegtes Äußere hielt. Die ganze Welt war ihm gleichgültig, er hatte nur einen Gedanken: Wenn mich jetzt Karl zu seiner tiefsten Beschämung in dieser Lage sähe!

Aber dies war ganz unmöglich, denn Karl – saß innen im Wagen, und als derselbe endlich im Posthofe anhielt und Wolfgang von seinem Martersitze heruntersprang, stieg jener ganz gemächlich aus dem Kutschenschlage. Beide prallten aufeinander, und jeder fuhr zugleich zurück vor Erstaunen.

»Freund! Wie siehst du aus, wie bist du hierhergekommen?« rief Karl. »Wie es scheint, haben wir, ohne es zu wissen, die Rückfahrt gemeinsam gemacht!«

Wolfgang erwiderte keine Silbe. Er wollte gehen. Allein Karl hielt ihn fest und nahm den Freund Arm in Arm, der trotzdem das Gesicht abwandte. »Du mußt mir deine Abenteuer erzählen; die meinigen waren ganz einfach. Nach frischem Nachtmarsche hielt ich einen guten Morgenschlaf im Walde, speiste dann vortrefflich im Goldenen Löwen zu Gaisach, erwartete dort den Postwagen und fuhr sehr bequem hierher. Warum bist du nicht auch eingestiegen, wenn du doch fahren wolltest? Wir hatten noch drei freie Plätze.«

Trocken entgegnete Wolfgang, aber das Wort gereute ihn, indem es ihm entfuhr: »Und wie hätte ich denn den Platz bezahlen sollen?«

Karl schlug sich vor den Kopf und griff in beide Hosentaschen. Jetzt erst entsann er sich, daß er ja die beiden Geldbeutel bei sich trug; er hatte es unterwegs nicht bemerkt, weil er immer aus der rechten Tasche zahlte.

»Das war schändlich von mir! Verzeih, lieber Wolfgang! Wie konnte ich so vergeßlich sein! Aber du mußt mich anhören. Ich muß dir meine zweimal unterbrochene Geschichte zu Ende erzählen. Sie entschuldigt alles, meine Quälereien, meine Launen, den vergessenen Geldbeutel, sie gibt den Schlüssel zu meinem innersten Menschen, sie wird dich beruhigen, versöhnen, beglücken! Doch was stehen wir hier im Posthofe? Komm mit mir auf mein Zimmer; ich habe noch eine Flasche von meines Vaters Niersteiner und lasse Bratwürste holen, und du siehst gar so hungrig aus.«

Wolfgang mochte widerstreben, soviel er wollte, Karl schleppte ihn mit.

Nachdem sie sich in dem kühlen Zimmer mit einem Trunke erquickt hatten – Wolfgang konnte der Verlockung des würzigen Duftes denn doch nicht widerstehen –, begann Karl seine Geschichte zum drittenmal. Der andere hörte zu wie der steinerne Gast.

Zuerst kurze Wiederholung des bereits bekannten Eingangs der Geschichte bis zum Lauschen am Fenster, dann wurde der Faden folgendermaßen wiederaufgenommen: »Ich spähte durchs Fenster im Hirtenhäuschen, und denke dir, was ich da sah! Auf einem Strohsack lag die zwölfjährige Tochter des Schäfers, und neben dem hilflosen Wesen saß Lisette im weißen Kleide mit den roten Bändern, mit den Blumen im Haar wie ein Engel und pflegte und beruhigte das arme Kind. Es hatte tags vorher den Arm gebrochen und sich den Kopf arg zerfallen, indem es von der Leiter stürzte. Die rohen Eltern waren trotzdem heute zur Musik gegangen, unbekümmert um die Leiden der verlassenen Kleinen. Lisette aber hatte den Schäfer und sein Weib auf dem Tanzplatz gaffend gesehen und beide lange beobachtet; sie wußte von dem Unfall des Kindes, sie stellte sich vor, wie es ungepflegt daheim liege, sie konnte nicht weiter tanzen und eilte hinaus, zu helfen und zu trösten. Und so sah ich sie durchs Fenster und konnte mich nicht satt sehen an dem Bilde. Von Kindesbeinen hatten wir zusammen gelebt, und doch war es mir, als hätte ich heute Lisette zum erstenmal erblickt. Soll ich das Wort sprechen? Wir hatten uns bisher so nahegestanden, daß ich sie nur gern haben, nicht lieben konnte; jetzt stand sie mir so hoch, so fern, daß ich sie liebte – seit dieser Stunde! Man lebt sich nicht langsam ein in die Liebe; die Liebe zündet wie der Blitz, oder sie zündet überhaupt nicht. Ich erzähle jetzt nicht weiter; ich habe nicht Atem dazu. Wolfgang! Ich liebe Lisette, und Lisette liebt mich: nun weißt du alles – du allein! Fallen dir die Schuppen von den Augen? Nicht der Freund quälte dich, sondern der Liebende; nicht der Freund vergaß den Geldbeutel in der linken Hosentasche, den hat der Liebende vergessen! Aber ich liebe ja deine Schwester; durch die Liebe entzweit, sind wir doch durch die Liebe inniger verbunden, als es bloße Freunde jemals sein können!«

Wolfgang fiel ihm um den Hals. Er schwamm in Glückseligkeit. »Aber warum hast du mir das alles nicht längst gesagt?«

»Eben weil ich liebte.«

Bei dieser Antwort sann Wolfgang eine Weile nach, dann fuhr er wie toll in der Stube umher. Er dachte an Professor Baldrian; der hatte auch die Frauenliebe als Störungsgrund der modernen Freundschaft bezeichnet, aber da war der Tintenklecks aufs Heft gefallen. »Also fehlt uns doch nicht bloß der athenische Sklave, und wir sind ganz umsonst gewandert und wären gescheiter daheim geblieben, denn jetzt, wo wir wieder hier auf dem alten Flecke stehen, enthüllt sich mir alles, was sich draußen immer dunkler verwirrte!«

»Keineswegs«, entgegnete Karl, »denn ohne dein seltenes Reiseunglück hättest du noch lange auf mein Geheimnis warten können. Aber der Professor hat doppelt recht: dir fehlt die Muße, und mir fehlt Lisette. In zwei Monaten beginnen die Ferien. Da werden wir beide Muße finden in Finkenborn, ich finde Lisette, und du sollst die Liebenden beschützen und wie ein hilfreicher Genius umschweben. Laß mir nun erst ganz meine Liebe, dann werde ich in der Liebe auch dein ganzer Freund sein. Vetter, künftiger Schwager, Zwillingsbruder der Geliebten! Was willst du mehr?«

Ein göttlicher Augenblick! Sie waren die glücklichsten Freunde.

Siebentes Kapitel

Wolfgang schwebte die zwei nächsten Monate nur noch in goldenen Zukunftsträumen. Endlich begannen die Ferien, die Pforten des Paradieses waren neu geöffnet, und die beiden Freunde zogen nach der heimatlichen Amtsstadt.

Sie konnten dort in der Tat ganz ungestört der Freundschaft und Liebe leben; denn erstlich hatten sie nichts anderes zu tun wegen der Ferien, und zweitens kümmerte sich kein Mensch um ihr Treiben wegen der drohenden Kriegsgefahr.

Die Franzosen unter Jourdan nämlich waren schon im Juni beinahe bis zur Finkenborner Amtsgrenze vorgedrungen, allein der Sieg des Erzherzogs Karl bei Kloster Altenberg bewahrte damals noch Amt und Stadt vor ihrem Besuche. Im Herbste rückten sie jedoch wieder näher und näher. Die Bewohner der bedrohten Nachbargaue flüchteten in Scharen durch Finkenborn. Auf elenden Karren, für welche man oft 40 Gulden Fuhrlohn des Tages zahlen mußte, kamen Frauen, Kinder und Greise mit ihrer kostbarsten Habe, die Männer zu Fuß, Bauern, welche ein paar ermattete Kühe trieben, alte Mütterchen mit einer Ziege am Strick und einem Bündel unterm Arm. Der Schrecken ging wie eine ansteckende Krankheit vor ihnen her, und Angst und Not war ihr Gefolge.

Viele Finkenborner ließen sich von dem Strudel fortreißen; der Amtmann und der Arzt aber beschlossen, mit ihren Familien mannhaft auf dem Posten auszuharren, wo sie nötiger waren als je zuvor, zumal sich dem ostwärts flutenden Strom der Flüchtlinge ein anderer Strom westwärts entgegenwälzte: kaiserliche Truppennachschübe, welche zum Kriegsfelde eilten. So wechselte bürgerliche und militärische Einquartierung in Finkenborn fast Tag für Tag, und obgleich Lisette ihrer Mutter helfend zur Hand ging und auch die beiden Studenten gelegentlich mithalfen, gab in den freien Stunden doch niemand acht auf die jungen Leute, und sie konnten zusammen treiben, was sie wollten, wie sie's in friedlichen Ferien niemals vermocht hätten.

Dies dünkte ihnen anfangs höchst behaglich, und von dem Getümmel umwogt, empfanden sie – unbewacht sich selbst überlassen – so ganz jenes wonnige Gefühl, sicher im trockenen zu sitzen, während draußen der Platzregen an die Scheiben schlägt.

Freilich entdeckte Wolfgang bald mit leisem Verdruß, daß er gegenwärtig den Liebenden weit überflüssiger sei als in Friedenszeiten. Er sollte nach Karls Verheißung das liebende Paar »beschützen und wie ein hilfreicher Genius umschweben«; allein dasselbe bedurfte zur Zeit seines Schutzes und seines Umschwebens gar nicht. Darum wünschte er Waffenstillstand zwischen dem Erzherzog und Jourdan, Karl war für fortdauernden Krieg.

Indes, wenn Wolfgang auch weniger den Vertrauten Karls spielte, als er gehofft hatte, so appellierte Lisette dafür desto mehr an sein brüderliches Vertrauen. Neugierig von Natur (und Liebe schärft die Neugierde), fragte sie ihren Bruder fleißig aus über Karls Studentenleben.

Wolfgang, stets bereit, des Freundes Lob zu singen, erzählte dann leuchtenden Auges, wie tapfer Karl seine Genossen beim Becher besiege und seine Gegner auf der Mensur, wie wenig er studiere und wieviel er dennoch lerne, wie hoch er's in der akademischen Finanzkunst gebracht, für das Notwendigste niemals Geld zu haben, aber allezeit für das Überflüssigste.

Lisette war außer sich über diese Erfolge und ließ Karl ihr Entsetzen deutlich merken. »Da hat Wolfgang wieder geplaudert!« rief dieser. »Nicht was ich getan, ist entsetzlich, aber entsetzlich ist es, solch eine Plaudertasche zum Freunde zu haben!«

Und der Freund hatte es doch so gut gemeint.

Von der nächtlichen Begegnung mit Sohn und Neffe in der Scheune bei Volpertshausen hatte der Amtmann daheim geschwiegen und auch den Amtsknechten strenges Dienstgeheimnis eingeschärft. Er wollte die Standeswürde selbst in seinen Kindern gewahrt wissen und hielt es nicht für klug, ihre Torheiten dem Gespötte preiszugeben. Auch die beiden Freunde redeten nur unter vier Augen von ihrer Wanderung nach Osten.

Trotzdem war ein verworrenes Gerücht des Abenteuers zu Lisettens Ohren gedrungen. Sie nahm den Bruder ins Gebet, und dieser beichtete denn auch ganz offenherzig; ja es war ihm eine rechte Wonne, die bittersüßen Erinnerungen erzählend noch einmal zu durchleben und jedes Ereignis, jede Empfindung mit wahrhaft künstlerischer Kleinmalerei zu schildern. Warum sollte er das auch nicht? War doch Lisette bei der empfindsamen Reise unsichtbar die dritte gewesen. Mußte es die Schwester nicht rühren, daß ihn die Verzweiflung über den Freund wie diesen die Verzweiflung über sie selbst ins Land hineingetrieben habe? Und dann vollends die Schlußszene nach der Heimkehr, die Lösung aller Rätsel durch Karls Liebesgeständnis – was konnte man Lisetten Erhebenderes sagen?

Sie war in der Tat hochbeglückt von dem Bericht und hatte ganz andere Heimlichkeiten zu hören befürchtet. Und Wolfgang war entzückt, daß er Lisetten solches Glück bereitete, wofür ihm der Dank des Freundes nicht fehlen konnte. So hatte er's doch endlich einmal gut gemacht.

Lisette wollte aber den Genuß des Reiseberichts noch tiefer zum zweitenmal kosten; auch dem Munde des Geliebten wollte sie die Geständnisse entlocken, welche ihr schon aus dem Munde des Bruders so schmeichelhaft geklungen hatten; den selbstgeschaffenen Reiz der Spannung wollte sie wiederholt empfinden, aber ohne die Qual der Spannung. Das ist die rechte Feinschmeckerei der Neugierde!

Also stellte sie sich gegen Karl wieder ganz unwissend, sprach von den umlaufenden dunklen Gerüchten über die Heuscheuer bei Volpertshausen und bat den Geliebten, ihr doch den wahren Hergang zu erzählen.

Obgleich nun Karl auf der Reise weit besser davongekommen war wie sein Freund, so schämte er sich doch hinterdrein des studentischen Streiches und erdichtete flugs eine ganz artige Reisenovelle, die kein wahres Wort enthielt.

Lisette ließ ihn anfangs ruhig fabeln, trieb ihn aber dann durch neckische Querfragen immer ärger in die Enge. Karl besaß die jugendliche Gabe, Phantasiebilder als Erlebtes darzustellen; im reiferen Alter nennt man dies Lügen. Wenn die Jugend lügt, dann lügt sie auch gehörig, lügt aber gerne mit schwachem Gedächtnis und vergißt den Anfang über dem Ende. So erging es Karl, und ehe er sich's versah, war er von der schlauen Lisette gefangen, die ihm nun Punkt für Punkt sein Gewebe auflöste und ihn statt der Reisebekenntnisse zu dem einzigen wahren Bekenntnis zwang, daß er alles – erdichtet habe. Und wie haarklein wußte sie bereits jeden Vorfall!

Karl rief errötend, doch mit Selbstgefühl: »Das ist nun einmal der schöpferische poetische Trieb meines Geistes, die weibliche Seite meiner Natur, daß ich mir die Dinge lieber einbilde, wie sie könnten gewesen sein, als wie sie waren!«

»Ein bedenklicher Trieb für einen Arzt!« bemerkte Lisette spitzig.

»Nicht so bedenklich wie Neugierde für die Frau eines Arztes!« entgegnete Karl, der nun erst wieder so weit zur Besinnung kam, daß er sich über sich selbst und über Lisette ärgern konnte.

»Die Neugierde«, parodierte diese, »ist nun einmal das Wahrzeichen des Wissenstriebes meines Geistes, die männliche Seite meiner Natur. Denn ich möchte immer flugs wissen, wie die Dinge waren, nicht wie sie könnten gewesen sein.«

Sie schossen noch eine Zeitlang scharfe Redepfeile gegeneinander. Dann trennten sie sich arg verstimmt.

Karl aber sagte: »Das hat wieder Wolfgang angerichtet, der Unglücksmensch, mit seinem Plaudern.« Und er zankte ihn tüchtig aus, und sie waren sich die ganze Woche bitterböse.

Schmerzerfüllt gedachte Wolfgang der Worte Karls an jenem denkwürdigen Schlußabend ihrer Reise: »Durch meine Liebe zu deiner Schwester sind wir inniger verbunden, als es bloße Freunde jemals sein könnten«, und nachher: »Laß mir nur erst ganz meine Liebe, dann werde ich in der Liebe auch dein ganzer Freund sein!« Wie schön klang dies damals beim Niersteiner! Allein wie es schien, blieb nun dennoch alle Zärtlichkeit des Freundes an der Geliebten hängen, und er selbst war bloß der Sündenbock für jeden Zwist der Liebenden.

»Wenn ich's doch einmal eine Stunde lang so gut hätte wie Lisette«, so dachte er, »und wenn Lisette doch nur eine Stunde an sich empfände, wie schlimm es mir ergeht! Wir sollten uns eins in das andere verwandeln, vielleicht verwandelte sich hinterher dann auch der Freund.«

Bei diesem Gedanken blitzte ihm die Erinnerung der Kindheit auf, wo die Zwillinge ja manchmal zum Scherz die Kleider vertauscht hatten und selbst die Eltern dann kaum zu unterscheiden vermochten, wer das Mädchen sei und wer der Junge. Sollten sie das alte Spiel jetzt nicht etwas ernsthafter wiederholen?

Und dabei entsann er sich einer Szene, die er vergangenen Winter von wandernden Komödianten hatte darstellen sehen. Auf verdunkelter Bühne wechseln Maskarill und Lucinde Hut und Mantel und täuschten so den Pandolfo, den polternden Alten, ja sie täuschten sogar das Publikum, obgleich doch Maskarill einen guten Fuß mehr maß als Lucinde. Karl war viel kurzsichtiger, als die polternden Pandolfos zu sein pflegen, und die Zwillinge sahen sich viel ähnlicher als jene Komödianten; warum sollten sie nicht auch den polternden Freund täuschen können?

Wolfgang klagte Lisetten sein Leid und trug ihr seinen Plan vor, allein sie wies denselben strenge zurück. Vergebens malte er aus, wie leicht sich die Sache machen lasse. Wenn Karl zu einem Dämmerstündchen herüberkomme, dann brauchten sie ihn ja nur in dem dunklen Hainbuchengange des Gartens abzuwarten und bloß ihre Herbstmäntel und Hüte zu tauschen wie Maskarill und Lucinde; alle weitere Umkleidung sei überflüssig. Lisette dagegen erklärte, für solche Kindereien seien sie beide zu groß und der Vorschlag schicke sich überhaupt nicht.

Noch etwas verstimmt über diese Abweisung, begleitete Wolfgang nachmittags die Liebenden als Ehrenwächter. Sie spazierten auf einem nahen Hügel, welchen man den Finkenborner Rigi nannte wegen der schönen Aussicht.

Da Karl und Lisette aber allezeit fünf Schritte voraus waren, um mit ihrer Liebe allein zu sein, so hatte Wolfgang, wie ein Bedienter hinterdreinschleichend, Muße genug, um über die Freundschaft nachzudenken. Es mußten ihn sehr schwarze Freundschaftsbilder erfüllen, denn er blickte ganz grimmig in die lachende Herbstlandschaft.

Als sie, auf dem Hügel angelangt, sich zur Rast wieder zusammengesellten, schalt Karl den armen Wolfgang über sein saures Gesicht; er träume, grüble zuviel, lungere zuviel mit andern umher, ihm fehle die Tätigkeit auf eigene Faust, die allein gesund und froh mache.

Wolfgang antwortete mit Vorwürfen, Lisette nahm ihres Bruders Partei und tadelte die Härte des Geliebten gegen seinen Freund. Nun sah dieser zwei verstimmte Gesichter statt eines. Und wie ähnlich waren sich beide! Nein, diese ewige Zwillingsdublette war doch unausstehlich, dieser Schatten von jedem Schatten seines Mädchens! Sie schien ihm auch gar nicht mehr so schön, seit er sie immer doppelt sehen mußte; alle ihre Schwächen erblickte er zweifach aufgetragen, ihre Vorzüge nur halb.

Zuletzt schwiegen alle drei, machten drei saure Gesichter und genossen solchergestalt die herrliche Aussicht des Finkenborner Rigi.

Da siegte endlich Wolfgangs Stolz über seinen tantalischen Freundschaftsdurst. Er sagte guten Abend und eilte mit Riesenschritten durch den Wald nach Hause.

Nun hatte Karl Lisette doch wenigstens einmal allein und suchte nach versöhnenden Worten. Aber für diese war es noch viel zu früh: Lisette mußte erst ihrem gekränkten Herzen Luft machen. Punkt für Punkt hielt sie Karl seine Kälte und Unart gegen den Bruder vor; es war ein langes Sündenregister.

Und also waren sie doch wieder nicht allein: Wolfgang stand im Geiste immer noch zwischen ihnen! Und woher kannte denn Lisette alle die kleinen Kränkungen, die er dem unersättlichen Freunde zugefügt hatte? Dieser anspruchsvolle Bursche störte nicht bloß durch seine ewige Allgegenwart, er plauderte nicht bloß und strafte ihn Lügen, nein, er führte nun gar auch Beschwerde bei Lisette und verhetzte ihm die Geliebte.

Dies und vieles andere gab Karl zur Gegenrede.

In heftigem Streite erreichten sie das Amthaus fast ebenso geschwind wie Wolfgang und gingen kalt und trotzend auseinander. Am selben Abend noch las übrigens Lisette dem Bruder unter Tränen den Text über seine zwar begründete, doch allzu heftige Empfindlichkeit, und am andern Morgen kanzelte ihn Karl im Vorbeigehen tüchtig ab, daß er seine Schwester gegen ihn aufgewiegelt habe.

Achtes Kapitel

Lisette fühlte sich grenzenlos unglücklich; sie begann so stark an Karls Liebe zu zweifeln wie Wolfgang an dessen Freundschaft. Wenn Zanken und Streiten Liebe heißt, dann waren sie die glücklichsten Liebenden wie jene die glücklichsten Freunde.

Sie mußte Gewißheit erlangen, ob der Vetter bloß launisch oder ob er treulos sei. Aber wie? »Wäre Wolfgang nur klüger, er könnte Karl ausforschen; oder – wenn ich selber Wolfgang wäre?«

Da fiel ihr sein Vorschlag des Manteltausches ein.

Nach langem Schwanken beschloß sie, diesen Tausch wenigstens für sich allein, also zur Hälfte auszuführen. Wolfgang brauchte nichts davon zu wissen.

Es war ein nebliger, frühdunkler Septemberabend. Karl hatte auf acht Uhr einen Besuch im Amthause versprochen und pflegte den Weg durch die Hainbuchenallee des Gartens zu nehmen. Dort erwartete ihn Lisette, in des Bruders leichten Herbstmantel gehüllt, sein kleines Hütchen auf dem Kopfe.

Sie besann sich eben noch, was sie eigentlich sagen, wie sie als zürnender Freund dem Ungetreuen die tiefsten Liebesgedanken entlocken wollte, da kam Karl etwas zu früh.

Mit verstellter Stimme begrüßte sie ihn. Weil sie aber fürchtete, bei längerem Sprechen sich durch ihre Stimme zu verraten, so nahm sie Karls versöhnende Worte schweigend hin, die er an den gestern so schwergekränkten Freund zu richten vermeinte. Karl tadelte dieses Schweigen. Lisette tat wiederum den Mund nicht auf. »Das ist nun wieder dein alter Trotz!« rief er ärgerlich. »Schweigend trotzen, das verstehst du ausgezeichnet!«

»Und machtest du's denn gestern nicht ebenso?« stammelte endlich Lisette. Durch das Bestreben, den Ton recht tief zu stimmen, klang dieser Satz aber vielmehr geheult als gesprochen.

»Welch weinerlicher Ton!« zürnte Karl, »welch weibisches Wesen! Sprich wie ein Mann, Wolfgang! Du weißt nicht, wie arg mir gerade bei dir die Frauenzimmermanieren zuwider sind.«

Und er ging raschen Schrittes auf und ab, so daß Lisette kaum Schritt halten konnte.

»Ich will dir ehrlich die Wahrheit sagen, Wolfgang. Du bist mir ja so lieb und wert, wenn du nur nicht der Schatten, die verzeichnete Kopie deiner Schwester wärest. Und leider ist auch das Original etwas verzeichnet. Genug, du verleidest mir Lisette, und das zerstört unsere Freundschaft. Es ist überhaupt nicht gut, so nahe verwandt zu sein, weder für Freunde noch für Liebende, nicht gut, so nahe zu wohnen, sich haben zu können, wann und wie man nur will. Der Reiz des Neuen, Fremden fehlt. Ich quäle mich alle Tage, Lisetten neu zu finden, aber da ich sie alle Tage und vollends in zwei Exemplaren vor mir sehe, glückt es nicht. Ich erzählte dir, wie meine Vetternliebe wirkliche verliebte Liebe ward, weil mir Lisette im Hirtenhäuschen so fremd, so fern, so unerreichbar vorkam. Ach, sie wird mir täglich erreichbarer, besonders durch dich. Am gescheitesten wär's, ich schlüge mir auf ein Jahr alle Liebe und Freundschaft aus dem Sinn und ginge in die weite Welt. Die Trennung brächte uns dann wohl wieder näher –«

»Die Trennung kannst du haben, auch hier in Finkenborn!« – »Schäme dich, so mit meiner Schwester zu sprechen!« riefen plötzlich zwei Stimmen durcheinander von der rechten und linken Seite.

Staunend schaute Karl sich um: Wolfgang stand in doppelter Gestalt hüben und drüben, rechts mit Mantel und Hut und links ohne Mantel und bloßköpfig. Im Eifer der Rede und im stürmischen Auf- und Niedergehen hatte Karl gar nicht bemerkt, daß sich der echte Wolfgang trotz aller Gegenwinke des falschen zu ihnen gesellt hatte.

Jetzt erkannte er die Maske. »Man hat Komödie mit mir gespielt«, rief er wütend, »aber ich habe im Ernst gesprochen! Alles ist aus und vorbei. Wolfgang, Wolfgang! Das war wieder einer von deinen Streichen, du hast Lisette zu der unwürdigen Rolle verleitet!«

»Er ist unschuldig«, beteuerte diese stolz und fest. »Ich tat es aus eigenem Entschlusse.«

Aber in demselben Augenblicke beteuerte auch Wolfgang: »Ich nehme jeden Vorwurf auf mich; ich habe Lisetten den Plan eingegeben.«

Spöttisch fiel Karl dazwischen: »Also strafst du deine Schwester Lügen; sie tut sich so viel zugut auf ihre Wahrheitsliebe und phantasiert zuletzt doch auch wie andere Leute.«

Nun stritten sich Wolfgang und Lisette, welche beide die Wahrheit gesagt haben wollten und dies auch getan hatten, obgleich ihre Worte sich widersprachen. Verwirrt und aufgeregt wußten sie aber Karl die Sache nicht klarzumachen, und noch weniger konnte dieser sich mit den beiden verständigen.

So war das traurige Ende vom Lied, daß man sich gegenseitig Liebe und Freundschaft kündigte, und zwar gab Karl Wolfgang und Lisetten die Schuld; Lisette Wolfgang und Karl; Wolfgang Karl und Lisetten.

Am andern Morgen schickte die Base dem Vetter Briefe und Liebeszeichen zurück, und dieser tat das gleiche. Einsam durch die Felder irrend, sprach Wolfgang zu sich selbst: »Die Liebe soll die Freunde erst recht verbinden, nun hat sie die ganze Freundschaft zersprengt. O Aristoteles, o Baldrian! Die Freundschaft gehörte dem klassischen Altertum, die Liebe dem romantischen Mittelalter; was ist uns modernen Menschen übriggeblieben!«

Alles war aus und vorbei, alle drei ließen die Köpfe hängen und mieden sich.

Neuntes Kapitel

Vierzehn Tage vergingen; Lisette, Karl und Wolfgang sahen sich so gleichgültig an, wie wenn sie ihre Lebtage nichts anderes gewesen seien als Geschwister und Verwandte.

Inzwischen verfinsterte sich der Horizont von Finkenborn, die Weltlage wurde sehr ernst; es brach eine Woche an, welche die guten Bürger noch nach vielen Jahren die »Schreckenswoche« nannten.

Die lange gefürchteten Franzosen kamen wirklich. Widersprechende Gerüchte hatten einige Tage die Stadt erfüllt, gute und böse Nachrichten sich gekreuzt; zuletzt aber blieb es außer Zweifel, daß die französische Hauptmacht geschlagen worden sei und daß starke Massen sich gegen Finkenborn wälzten. Nach dem Siege konnten selbst die Sansculotten liebenswürdig sein: auf dem Rückzuge ist jedes Heer zu fürchten.

Es war am 20. September morgens; die Straßen der Amtsstadt völlig menschenleer – die Hälfte der Einwohner geflüchtet – tiefe Stille ringsum – niemand wagte sich aus dem Hause. Von den nächsten Hügeln vernahm man fernen Kanonendonner.

Plötzlich sprengten etwa zwanzig Franzosen zum Tore herein, ihre Pferde troffen von Schweiß, die übermüdeten Reiter sanken beim Absteigen fast aus dem Sattel. Sie ließen die Pferde füttern, forderten Wein und Brot und erfrischten sich hastig und angstvoll. Da jagten ein paar andere französische Reiter mit wildem Geschrei die Straße herab und hinter ihnen drein eine Patrouille kaiserlicher Dragoner. Im Nu waren die Abgesessenen wieder in den Sätteln, die Säbel blitzten, fechtend wogten die beiden Trupps, an Zahl ziemlich gleich, vorwärts und zurück – vor dem Amthause kam das Gefecht zum Stehen.

Hoch erregt beobachtete Karl von seinem Fenster den Kampf. Mit einem Male sah er Lisette aus dem Amthause auf die Straße springen, mittenhinein zwischen die fechtenden Reiter. Entsetzlich! Die naseweise Base wird einen Hufschlag oder Säbelhieb davontragen!

Allein kaum hatte er dies gedacht, so flog sie schon wieder ins Haus zurück, an jeder Hand einen kleinen Buben, zwei Nachbarskinder, welche draußen gespielt hatten und unversehens unter die Pferde gekommen waren. Die Tiere waren über sie hinweggesetzt, ohne ihnen ein Haar zu krümmen. »Herein, ihr Rangen!« rief Lisette und schob sie in den Flur. »Spielt im Hofe; seht ihr nicht, daß auf der Gasse jetzt Krieg gespielt wird?«

Karl atmete auf hinter seinem Fenster. Die naseweise Base hatte doch immer Hand, Herz und Mund auf dem rechten Flecke!

Die Franzosen jagten davon, zum Städtchen hinaus, die Verfolger hintendrein; in wenigen Minuten war alles vorbei, nur zwei Verwundete und ein gestürztes Pferd blieben zurück.

Am Abend – es war ein Samstag – kamen Feinde von allerlei Waffengattungen in immer wachsenden Massen, aufgelöste Trupps, dann aber auch lange Züge von besserer Haltung. Viele zogen fort, andere wurden zum Bleiben befehligt, die umliegenden Höhen besetzt; man sah dort Geschütze auffahren und Schanzen aufwerfen. Augenscheinlich sammelten sich die Franzosen hier zu erneutem Widerstand und schienen sich auf Finkenborn stützen zu wollen, auf welches sich doch in der ganzen Kriegsgeschichte noch niemand gestützt hatte.

Amtmann Erlach, die höchste obrigkeitliche Person der Stadt, wurde von zwei Offizieren in einer Kutsche abgeführt, man sagte, nach dem Hauptquartier Bernadottes. Einige behaupteten, er solle dort als Geisel bleiben, andere, er solle den Franzosen die Landkarte des Amtsbezirks lesen helfen. Seine Freunde zitterten, seine arme Frau war vor Schrecken wie gelähmt, rat- und tatlos; mutig übernahm die Tochter die Rolle der Hausmutter.

Viele Kranke und Verwundete trafen ein. Die schwersten wurden in ein verlassenes Schloß anderthalb Stunden jenseit der Stadt gelegt; der alte Doktor Erlach mußte hinaus, die Räume eilig in ein Lazarett zu verwandeln. Karl blieb in der Stadt, gleichfalls ärztlich helfend. Wolfgang hatte von seinem Vater beim Abschied noch die Sorge für das Amt übertragen bekommen, denn die Schreiber waren davongelaufen.

So sahen sich die drei jungen Leute plötzlich an die Stelle ihrer Eltern versetzt.

Noch in derselben Nacht bildete sich ein Ausschuß der zurückgebliebenen Häupter der Stadt, um die Ordnung zu handhaben und die tausend Begehren der Feinde zu befriedigen. Der Bürgermeister und der Pfarrer standen an der Spitze, aber auch Karl und Wolfgang wurden beigezogen. Sie waren stolz, sich als vollgültige Bürger behandelt zu sehen, und sie rechtfertigten dieses Vertrauen: mit einem Schlage waren sie erwachsen, mündig geworden. Geschäftlich verkehrten sie viel miteinander, denn Wolfgang half bei der Einquartierung, Karl bei den Verwundeten, und nicht selten kreuzte sich ihre Aufgabe; aber sie wechselten kein Wort, welches hierüber hinausging.

Nach einer bangen Nacht – nur wenige Finkenborner hatten geschlafen – brach der Sonntag an. Keine Glocke tönte, kein Gottesdienst wurde gehalten. Die große Stadtkirche lag voll Leichtverwundeter; in der kleinen Johanniskirche hatte sich allerlei Troß, Marodeure und Marketender eingenistet. Als sie hörten, daß Sonntag sei, stellten sie eine Schüssel voll Schnaps auf den Altar, zündeten ihn an, tanzten vor der auflodernden Flamme, welche sie das höchste Wesen nannten, und sangen die hymne à l'être suprême.

Den ganzen Tag waren die drei jungen Leute geschäftig; sie hatten Zeit für alles, nur nicht für sich. Lisette tröstete die Mutter und sorgte für die fünfzig ungebetenen Gäste, welche im Amthause lagen. Die republikanischen Soldaten, sonst schönen Mädchen sehr gefährlich, wagten kein unziemliches Wort; Lisettens schneidiges Wesen war ihnen allzu deutsch. Aber auch außer dem Hause half die Unermüdliche; sie brachte den Verwundeten in der Stadtkirche Speise und Verbandzeug. Karl nahm die Dinge artig in Empfang, ohne weiter ein Wort zu sprechen. Wolfgang spielte den Amtmann vortrefflich. Die Franzosen erstaunten über diese drei jungen Leute. »Wenn diese Generation fünfzehn Jahre älter sein wird, was für Männer werden uns da gegenüberstehen!« rief prophetisch ein grauköpfiger Offizier.

Eine freie Viertelstunde führte am Abend die zwei Vettern mit der Base zusammen. Sie werden sich nun doch was Besonderes zu sagen haben? Ganz und gar nicht!

Karl meinte, die Franzosen würden sich dauernd festsetzen, sie seien noch nicht auf dem vollen Rückzüge.

Lisette widersprach: »Die Soldaten machen fortwährend Witze, das ist maskierte Unruhe; in ruhmvolleren Tagen würden sie zwischendurch pathetisch sein. Nous avons eu une affaire très chaude, sagte mir einer. Das ist französisch; zu deutsch heißt es: wir sind aufs Haupt geschlagen.«

»Aber fürchtest du dich denn nicht, Lisette, vor diesen wilden Republikanern?«

»Wild? Hast du nicht bemerkt, daß sie die Hüte abnehmen, wenn sie ins Zimmer treten? Das sind nicht mehr die alten Sansculotten, wie wir sie Anno zweiundneunzig sahen. Und Republikaner? Die Soldaten respektieren ja bereits wieder ihre Offiziere und nennen sie nicht mehr citoyen. Sie tragen auch keine Schnurrbärte mehr und stehlen Zopfbänder und Pomade. Und ich sollte mich vor ihnen fürchten?«

»Was die neugierige Base doch alles beobachtet«, rief Karl, »und wie scharf sie urteilt und schließt!«

»Ja, aber die Franzosen sind doch noch sehr furchtbar. Denke dir, Vetter, der Kapitän Boudy zündete sich eine Pfeife mit den Assignaten an, die er als Sold erhalten hatte. Weißt du, was das heißt?«

»Daß die Republik Bankerott macht.«

»Für uns heißt es etwas anderes: daß wir ihnen diese Fidibusse nach ihrem vollen Nennwerte werden bezahlen müssen.«

Und so geschah es auch.

In aller Güte forderte der Kommissär Jobert eine kleine Beisteuer von 25 000 Franken, aber nur so beiläufig, pour la bonne bouche, wie er sagte, und Lebensmittel und Kleidungsstücke im gleichen Werte.

Inzwischen war General Lefèvre im Amthause abgestiegen, freilich nur für einen halben Tag; er besichtigte bloß die Stellung. Er ließ einen Adjutanten zurück, der besonders Gefallen an Wolfgang fand, und dieser wußte sich bei dem Franzosen so rasch und tief einzuschmeicheln, wie es bei einem spröderen deutschen Offizier undenkbar gewesen wäre. »Der freundschaftsbedürftige Junge hat doch jeden gleich zum Freunde«, bemerkte Karl; »es ist fast spaßhaft, wie alle Leute an dem Wolfgang hängenbleiben.«

Nun hatte der alte Doktor Erlach ein großes Faß köstlichen Weines im Keller, eben jenen Niersteiner, von welchem Karl seinem ehemaligen Freunde bei der Schlußszene ihrer Reise eine Probe vorgesetzt hatte. Karl war so unbesonnen, den im väterlichen Hause einquartierten Soldaten wegen besonderen Wohlverhaltens etliche Flaschen dieses Weines zu spenden. Allein der Wein war zu gut, er schmeckte nach mehr und immer mehr, die Kunde von dem edeln Getränke drang in die Nachbarhäuser und durch die ganze Straße, die Franzosen kamen scharenweis, leichte und schwere Reiterei, Scharfschützen und Grenadiere, zuletzt auch die Artillerie und das Fuhrwesen; sie baten, fluchten, drohten und tranken und tranken, bis das ganze Haus voll Betrunkener und das große Faß schon über die Hälfte leer war.

Karl lief in der Verzweiflung zu einem Husarenleutnant und bat ihn, sein Haus zu befreien. Dieser kam auch mit einer Sauvegarde und jagte den trunkenen Haufen fort, fand aber den Niersteiner so ausgezeichnet, daß er noch sechs Freunde einlud; die leisteten Folge und brachten noch einige weitere Sauvegarden mit, welche auch die übrigen Weine des Kellers probierten; andere Offiziere sahen nach, was es da gebe, und blieben gleichfalls sitzen; die Sauvegarden verzehnfachten sich, und zuletzt tranken die Offiziere mit den Schutzwächtern mehr als vorher die Gemeinen, denn sie tranken ruhiger.

Der unglückliche junge Arzt floh aus dem Hause, welches er im Geiste schon ganz verwüstet sah. Auf der Straße begegnete er Wolfgang und klagte ihm sein Leid. Dieser versprach sofortige Hilfe. Er holte den Adjutanten Lefèvres, seinen neuen Freund. Der Adjutant ist fast verliebt in den blonden Jüngling, er kann ihm seine Fürsprache nicht versagen und überredet wirklich die trunkenen Kameraden, daß sie des Doktors Haus und Keller räumten. Ja, er pflanzte dort sogar eine Sauvegarde auf, welche gar nichts trank.

»Wolfgang ist allgegenwärtig mit seiner Freundschaft und seinen Freunden, aber man sieht ihn zuzeiten nicht ungern.« So dachte Karl und dankte ihm.

Doch drohte ein neues Unglück, und zwar der ganzen Stadt. Kommissär Jobert verlangte neue größere Geldsummen im Namen des kommandierenden Generals, und die alten waren noch nicht zur Hälfte aufgebracht. Er drohte mit Gewalt und stellte eine Frist von nur zwei Stunden.

Der Ausschuß der Bürger beriet darüber, sofern ratlose Menschen beraten können; auch Karl und Wolfgang, sonst so erfindungsreich, fanden keine Ausflucht. Schon hatte man beschlossen, den klug versteckten Notpfennig des Gemeindeschatzes anzugreifen und den Patriotismus der Einwohner zu beschwören, daß sie ihre vergrabenen Geldtöpfe auf dem Altar des Vaterlandes opferten, da erschien zu aller Staunen Lisette im Rate; – das Gerücht von der Erpressung des Kommissärs und der drohenden Nachgiebigkeit des Ausschusses war ihr zu Ohren gekommen.

»Zahlt keinen Heller!« rief sie; »haltet nur noch vier Stunden aus. Bei Hohenkirchen steht General Haddick und der Prinz von Oranien mit einer frischen, dem Feinde weit überlegenen Macht. Die Franzosen denken nicht mehr daran, Finkenborn ernstlich zu verteidigen; sie fahren das Geschütz aus ihren Schanzen. In spätestens vier Stunden sind die Kaiserlichen hier, und der Feind drängt uns nur darum auf so kurzen Termin, weil er weiß, daß er später nichts mehr kriegt.«

»Aber woher hast du diese Neuigkeit?« fragte Karl.

»Ich schlich mich vor die Stadt ins Hirtenhaus; kein Mann wäre hinausgelassen worden. Dort fand ich den Schäfer Balzer, der von den Bergen kam; er brachte die sichere Kunde, wagte sich aber nicht ins Städtchen.«

Was die neugierige Base nicht alles erfuhr! Man konnte ihre Neugierde am Ende Forschergeist, Wißbegierde nennen!

Die Bürger faßten wieder Mut und hielten den fluchenden Kommissär mit hundert Umständen und einer kleinen Abschlagszahlung hin.

Vielleicht hätten sie aber doch mit diesem Spiele nicht vier Stunden aushalten können, wenn nicht ein weit schwererer Sturm jenen leichteren unterbrochen hätte.

Französische Nachzüglerbanden kamen in die Stadt; sie brachten ein paar Verwundete mit, tobten, mißhandelten einzelne Bürger und drohten Finkenborn dem Boden gleichzumachen. Als sie nämlich durch den Stadtwald zogen, waren sie von Bauern aus einem Hinterhalt mit Schüssen begrüßt worden. Dieser Angriff verbreitete um so größeren Zorn und Schrecken unter den Franzosen, weil sie bereits wußten, daß auch im Spessart und Odenwald das Landvolk gegen ihre flüchtenden Kameraden aufgestanden sei.

In wirrem Getümmel wogten Soldaten und Bürger durcheinander auf dem Marktplatze. Die Franzosen wollten die Bürger haftbar machen für den Frevel der Bauern, sie behaupteten, die wahren Aufwiegler seien hier in der Stadt zu suchen, sie verlangten Auslieferung und drohten mit Mord und Brand.

Da sprengte General Bernadotte mit seinem Stabe die Straße herauf, er trug eine Binde um den Kopf und schien es etwas eilig zu haben. Er hielt beim Amthause und verlangte den Vorstand der Stadt zu sehen. Einige Mitglieder des Bürgerausschusses traten auf, die sich gerade auf dem Platze befanden, darunter auch Karl und Wolfgang. In Zornesworten hielt ihnen der General ihr angebliches Komplott mit den Bauern vor, begehrte Auslieferung der Rädelsführer, die in Finkenborn verborgen seien, und drohte mit zehnfacher Einquartierung für jedes Haus, mit Feuer und Vertilgung, wenn nicht in kürzester Frist seinem Befehle entsprochen sei.

Alles verstummte; weil aber kein anderer das Wort ergriff, so trat Karl vor und sprach: »Was die zehnfache Einquartierung betrifft, Herr General, so haben wir für sie Quartiere bereit. Aber die Rädelsführer werdet Ihr trotzdem nicht bei uns finden; sie stehen drüben im Westen bei Hohenkirchen, dort haben sich alle wehrhaften Bauern des Gebirges versammelt in hellen Haufen. Auch besorgen wir, die zahlreichen Gäste, welche Ihr uns verheißt, werden nicht lange unter unserem Dache bleiben, denn nordostwärts von Volpertshausen her marschiert General Haddick mit 10 000 Mann.«

Lisette hörte unter der Haustüre Karls mannhafte Worte. Sie dachte für sich: »Wie der Vetter phantasieren kann, man möchte es fast nicht lügen nennen, sondern poetische Schöpferkraft! Bei Hohenkirchen stehen ja die Österreicher, die Bauern werden wohl überall in ihren Häusern stecken, und wenn sich der General durch die engen Hohlwege wendet, um Volpertshausen zu umgehen, dann packt ihn Haddick in der Flanke.«

Bernadotte stutzte. Der Ton des jungen Mannes war ihm ganz neu. Zugleich flüsterte ihm eine Ordonnanz ins Ohr, daß man soeben einen ansehnlichen Trupp (wohl jene Bauern) in der Richtung von Hohenkirchen gemeldet habe. Unter erneuten Drohungen gab er seinem Pferde die Sporen, die ganze Mannschaft wurde alarmiert, und nach einer halben Stunde sah man die französischen Kolonnen wirklich durch die Engpässe gegen Volpertshausen abziehen, wo sie derart in die Klemme gerieten, daß sie sich nur mit schwerem Verlust zu weiterem Rückzuge durchschlagen konnten.

Am Abend rückten die Befreier in die Amtsstadt ein; mit ihnen kehrte auch Amtmann Erlach wieder heim. Karls kecke Phantasie, durch Lisettens Forschergeist erweckt, hatte die Stadt vor argem Schaden behütet und die Franzosen in schwere Not gestürzt.

Aber mit der neuen Besatzung kam auch wieder neue Arbeit, neue Unruhe. Wolfgang, Karl und Lisette sahen sich selten, und wenn sie einander sprachen, so fielen nur ein paar kurze Worte, die sie im Drange der Ereignisse wechselten.

Zehntes Kapitel

So war ein Monat verstrichen, seitdem sie sich entzweit, Freundschaft und Liebe gekündet hatten, seitdem alles aus und vorbei war.

Ein wundervoll klarer, warmer Oktobernachmittag leuchtete über Finkenborn, die Natur ruhte in seligem Herbstfrieden, auch bei den geplagten Bewohnern war wenigstens für längere Zeit der Friede wieder eingekehrt. Da begegneten sich die drei jungen Leute im Hainbuchengang und wußten gar nicht, wie sie hier zusammengekommen waren.

Ihre Gesichter sprachen allzumal stille Heiterkeit.

Karl blickte Lisette lange an und lächelte. »Liebst du mich noch?« sagte er endlich zu ihr und zu Wolfgang: »Bist du mir wieder gut?«

»Warum denn nicht?« erwiderten beide.

»Aber wir haben unsern Streit vom 6. September abends acht Uhr ja noch nicht geschlichtet, wir haben uns noch gar nicht ausgesprochen!« bemerkte Lisette.

»Eben darum haben wir ihn geschlichtet, weil wir uns nicht ausgesprochen haben«, erwiderte Karl. »Stille davon, ich beschwöre euch!«

»Aber wir haben ja fünf Wochen lang gar nicht von Freundschaft geredet und sollen doch jetzt wieder die alten Freunde sein?« fragte Wolfgang.

»Eben darum, weil wir nichts davon geredet haben. Und jetzt beileibe kein Wort darüber.«

»Haben wir aber in all dem Getümmel nicht an Freundschaft und Liebe gedacht?« fragte das Mädchen weiter.

»Die Antwort müssen wir schuldig bleiben«, antworteten die beiden Freunde.

»Und ich bleibe sie auch schuldig«, ergänzte die Fragerin.

»Und jetzt gehen wir stracks ins Amthaus, Lisette«, fügte Karl hinzu, »und sagen deinen Eltern, daß wir uns in zwei Jahren heiraten wollen.«

»Um Gottes willen, Karl, wo denkst du hin? Du hast ja noch gar nicht ausstudiert!«

»Ausstudiert? Wir sind in den letzten fünf Wochen um fünf Jahre älter geworden; wir sind keine Kinder mehr, ich wag's!«

»Allgütiger Himmel!« rief Wolfgang und schlug die Hände zusammen, »was für ein Querkopf ist doch dieser Baldrian mit seinen griechischen Staatsaltertümern, was für verkehrte Leute sind doch diese Professoren! Sagt der Mann, gestützt auf acht Belegstellen aus Aristoteles: wenn man nichts Besseres zu tun habe, dann komme die wahre Freundschaft! Sie kommt ja nur, wenn einem vor Arbeit derart der Kopf brennt, daß man an gar keinen Freund mehr denken kann.«

»Und die Liebe soll uns Kinder der Neuzeit unfähig machen zur Freundschaft?« ergänzte Karl. »Ich sage umgekehrt: durch die Liebe werden wir in Freundschaft inniger verbunden, als es bloße Freunde jemals sein können.«

»Halt ein!« unterbrach Wolfgang. »Mit der modernen Liebe mag der Professor doch recht haben, wenigstens für Ferien und Friedenszeiten, aber für Kriegszeiten hat er auch hier durchaus unrecht. Und das bedeutet der Klecks in meinem Kollegienhefte.«

Die drei jungen Leute sannen später zwar noch manchmal im stillen nach, wie und woher denn der plötzliche Umschlag im Herbste 1796 gekommen sei, aber sie sprachen keine Silbe davon.

Karl und Lisette wurden vortreffliche Ehegatten, und Karl und Wolfgang blieben fortan die treuesten Vettern, die musterhaftesten Schwäger und – die glücklichsten Freunde.


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