Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre – Dritter Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Die Lüge der Geschichte.

1862

Erstes Kapitel

In einem Kloster des bayerischen Hochgebirges war vor hundert und mehr Jahren der seltenste und seltsamste Gast eingezogen, ein niederrheinischer Graf, altberühmten Stammes. Er suchte für etliche Monate den Balsam der Bergluft und tiefe ländliche Einsamkeit, und die gastfreien Mönche boten ihm gerne ein stilles Asyl; denn in jener Zeit gab es noch keine Gasthöfe in abgeschiedenen Talschluchten, auch pflegten Grafen damals noch nicht in Bauernhütten Villeggiatur zu halten.

Der vornehme junge Herr war für die Fratres ein seltener Gast, weil er ein Graf, und ein seltsamer Gast, weil er doch wieder kein rechter Graf war. Zum mindesten kein gewöhnlicher Graf; denn der Abt meinte, er sei eigentlich als Professor geboren und nur zufällig als Graf auf die Welt gekommen. Der Küchenmeister erklärte es dagegen für jammerschade, daß der Graf kein Koch geworden, denn niemand besitze eine tiefere Kenntnis der neuesten Pariser Soßen, Braten und Pasteten. Pater Placidus endlich behauptete, der Graf stehe genau mitteninne zwischen einem geborenen Professor und einem geborenen Koch; denn er sei ein geborener Schöngeist und Poet. Seinen einzigen Fehler aber teile er mit allen vornehmen Leuten, nämlich fortwährend zu fragen und niemals das Ende der Antwort abzuwarten; in diesem Stücke sei er ein geborener Graf.

Der Abt beschränkte dann wohl auch sein Urteil ein klein wenig und fügte jener Klausel des Pater Placidus den Nachsatz bei: »Wenn Kenntnisse, Forschenstrieb und schneidend scharfes Urteil den Gelehrten machen, dann gebührt dieser Titel dem Grafen. Allein er ist dazu gar so ein feiner Herr, so schön von Gesicht und Gestalt, so glänzend glatt in Form und Ton, und dies alles pflegen Professoren keineswegs zu sein. Inwendig sitzt der Gelehrte und auswendig der Kavalier.«

Fürwahr, der junge Graf war ein glückliches Menschenkind in der Fülle seiner Talente! Die Freunde daheim weissagten ihm eine große Zukunft, sei es im Kabinett oder im Felde, als wirklicher Hofmann oder als Höfling Apollos und der neun Musen. Eine große Zukunft bei den Frauen brauchte man ihm gar nicht mehr zu weissagen, denn hier hatte er im fünfundzwanzigsten Jahre schon eine große Vergangenheit. Nur ein einziger Freund – als sauertöpfischer Sittenprediger übel berufen – fügte zu all jenen prophezeiten Größen das zweifelnde Wort: »Vorausgesetzt, daß sich etwas Großes denken läßt ohne sittliche Größe. Denn diese Kleinigkeit ausgenommen, besitzt der Graf allerdings zu jeglicher Größe das Zeug.«

Wie alle geistreichen Naturen liebte er die Antithese in der Rede und im Leben. Vor vierzehn Tagen noch hatte er zu Paris bei Frau Geoffrin mit den feinsten Köpfen Frankreichs in literarischer Feinschmeckerei geschwelgt, und heute ergötzte ihn der altmodische Mutterwitz weltverlassener Mönche. Allen Sinnenreiz der üppigen Hauptstadt hatte er im Sommer so durchtrieben ausgekostet, als wäre er selber ein Franzose, und im Herbst begrub er sich zwischen Felsen und Wäldern und Klostermauern wie der empfindsamste Deutsche.

Pater Placidus galt für einen sattelfesten Philosophen; wohl bewandert in den Kirchenvätern und Scholastikern, disputierte er so mittelalterlich zunftgerecht, wie man's damals nur in der besten Jesuitenschule lernen konnte. Da er zuerst dem Grafen seine Weisheit am Schnürchen hersagte, dünkte er sich angesichts des jungen Herrn gleich einem Gerbert, als dieser zu Ravenna vor Kaiser Otto die Einteilung der Philosophie vortrug. Es fehlte ihm nur ein Otrich, mit welchem er so ritterlich wie Gerbert vor dem Kaiser hätte turnieren können. Aber der Graf selbst schlug ihm plötzlich, gefährlicher als sechs Otriche, mit ungeahnten Querhieben in die Parade und warf ihm Lockesche Kritik und Humesche Zweifel und Bayleschen Witz zwischen die scholastischen Sätze, daß Pater Placidus staunend sich besiegt gab, obgleich der Graf im Grunde so wenig von der altmodischen Philosophie des Mönches verstand wie der Mönch von der neumodischen des Grafen. Das waren für den letzteren Gegensätze zum Entzücken; wie lustig konnte er später in den Pariser Bureaux d'esprit von diesem unerhörten Turnier erzählen!

Fast noch beißenderen Hochgeschmack aber bot ihm der Verkehr mit dem Abte, der als ein trocken fleißiger Geschichtsforscher die Chronik des Klosters schrieb und auf Tritt und Schritt den Gast am Rockknopfe faßte, um ihm von Schenkungsurkunden, Klosterbränden, Gültbriefen, Abtswahlen, Kriegshändeln und Kirchenbauten zu erzählen. Der Graf hörte ihm eine Weile höchst achtsam zu, bis sich der ehrliche Chronist etwas warm geredet hatte; dann fiel er ihm ins Wort, pries seinen scharfen Forschergeist, wußte aber in seiner ironischer Wendung das Lob, welches er der Person spendete, allmählich in eine vernichtende Kritik der Sache zu verwandeln. »Je tiefer und redlicher man forscht«, so schloß er wohl, »um so reicher glaubt man die Geschichte zu machen und macht sie doch nur um so leerer. Denn fast jeder neue Fund des Forschers zeigt, daß wir wieder einmal eine Tatsache für beglaubigt hielten, die eigentlich gar nicht beglaubigt war. Was heißt überhaupt beglaubigte Tatsache? Der Augenzeuge von gestern erzählt heute schon, was er gesehen, ganz anders, als er es gestern erzählt haben würde. Was ist historische Wahrheit? Das gewaltigste Ereignis, welches wir vor einem Jahre selber erlebt, steht uns heute nur noch wie der Schatten eines Traumes vor der Seele; wollten wir auch im ehrlichsten Nachsinnen tagelang unser Gedächtnis zermartern, wir könnten es doch nicht mehr in nackter historischer Treue berichten, aufs Haar genau so, wie es geschehen. Jeder Tag hat inzwischen unvermerkt einen unmerkbar feinen Zug in der Erinnerung ausgelöscht, einen anderen eingewoben, und aus Tausenden solcher feinen Züge wird unmerkbar ein ganz neues Bild. Und man will aus dunkeln, durch Jahrhunderte unmerkbar und arglos verfälschten Zeugnissen die historische Wahrheit aufbauen! Die Geschichte ist der große Tempel der Lüge, und als erste und Hauptlüge steht über der Pforte geschrieben: Hier ist der Tempel der Wahrheit! Große Forscher wie Ihr, Herr Abt, leisten der Menschheit den größten Dienst; denn je mehr sie forschen, desto leerer wird die Geschichte an Tatsachen, das heißt an unfreiwilligen Lügen. Die Geschichte muß aus der Geschichte hinausgeforscht werden, und der weise Mann wird dann als das tiefsinnigste Märchenbuch, als den poesievollsten Roman rein und frei genießen und bewundern, was man heute noch Geschichte nennt. Es wird eine Zeit kommen, wo man Tatsachen, auf die jetzt jeder Schulknabe schwört, nur noch als Sagen forterzählen und an die sieben Könige Roms sowenig mehr als an Kaiser Karls Kreuzfahrt glauben wird.«

Hatte der Graf in solchen und ähnlichen Worten sein Lieblingslied von der Unwahrheit der historischen Wahrheit genügend abgesungen, dann empfahl er dem Abt mit der ernsthaftesten Miene von der Welt Bolingbrokes Briefe über das Studium der Geschichte und Voltaires historische Schriften. Sei Voltaire auch nicht der größte Historiker, so müsse man ihn doch den wahrhaftigsten nennen; denn er behandle die Geschichte rückhaltlos als das, was sie wirklich sei, nämlich als einen Roman.

Dem Abt waren dies alles böhmische Dörfer; er lauschte dem Grafen mit demselben Vergnügen, mit welchem man von fernen, unbekannten Ländern Wunderdinge erzählen hört, und der Widerspruch gegen seine eigenen Liebhabereien verletzte ihn keineswegs. Noch viel weniger störten die Zweifel des Grafen seine alte Arbeit; er forschte nach wie vor in Urkunden und Chroniken und meinte nur, die neue Weisheit sei doch nebenbei gar lustig und unterhaltend, ohne zu ahnen, daß diese lustige Weisheit in kurzer Frist sein ganzes Kloster über den Haufen werfen werde. Und schließlich dachte er mit Bruder Placidus, der Graf sei der angenehmste Gesellschafter von der Welt, wenn er die einzige Unart ablegte, andere Leute niemals ausreden zu lassen; doch dafür sei er eben Graf.

Dieser würde inzwischen des Zeitvertreibs mit den Mönchen doch wohl bald genug satt geworden sein, hätte ihn nicht dazu noch ein anderes anmutigeres Spiel gefesselt. Im grauen Jägerrock stieg er fleißig in die Berge, und so geschah es, daß er eines Tages auf einsamer Hochalp, hart an der Tiroler Grenze, in eine Sennhütte trat, deren Bewohnerin von ebenso seltener Art war wie er ein Graf von seltener Art; sie war nämlich jung und schön. In den Büchern sind dies freilich alle Sennerinnen; in den Bergen aber sind sie in der Regel häßliche Mannweiber. Die Hübschen läßt man klüglich unten, und die Garstigen schickt man hinauf in die gefährliche Einsamkeit. Das Miedei auf der Riedereckalp aber war wirklich einmal ein Juwel von einer anmutigen Sennerin. Sie war so zierlich, flink und frisch, daß die nächstschöne Dirne der Gegend, neben das Miedei als die zweifellos schönste gestellt, doch immer nur sich ausnahm wie ein Kalb neben einer Gemse. Stand sie im roten Sonntagskleid, auf ihren Bergstock gelehnt, an der steilsten Spitze der Felswand und schaute, im Morgenschein leuchtend, über das noch dämmerige Wellenmeer von Tälern und Bergen zu ihren Füßen, dann war es, als sei sie die Königin des Lichtes und der Schönheit, welche über allen Häuptern throne, um die Welt mit ihrem Stabe zum lichten, schönen Tag zu wecken.

So sagte wenigstens der Graf, da er ihr das feinste Schmeichelwort sagen wollte; sie verstand es freilich nicht, aber sie lächelte doch behaglich, denn die Rede schien ihr zwar ein wenig verrückt, außerdem aber wunderschön gesetzt.

Die guten Mönche spotteten insgeheim über den unverdrossenen Weidmann, der Tage und Nächte in den Bergen umherstieg und so selten eine dürftige Jagdbeute heimbrachte; sie ahnten nicht, daß er einem edleren Wilde als dem jagdgerechten nachging.

Der Graf schwelgte im geistreichen Spiel der Gegensätze: unten die engen Zellen und die scholastischen Mönche, welche so lustig abstachen gegen die kaum erst verlassenen Pariser Salons mit der Blüte der feinsten und freiesten Damen und Herren, und oben die königliche Wildnis der Alpengipfel und inmitten derselben die empfindsamste Liebschaft, fünftausend Fuß über der Meeresfläche! Das war dem Grafen in der Tat etwas Neues; selbst der ausstudierteste Pariser Vergnügling hätte ihm zugestehen müssen, daß er hier einen neuen Genuß entdeckt habe. Er liebte das Miedei, soweit es ihm nur möglich war, nämlich mit den Sinnen und mit dem Verstand, er liebte sie, wie der Schöngeist sich in die keckste Antithese verliebt, welche sein Witz zu ersinnen vermochte. Das arme Miedei dagegen liebte den fremden Jäger, in welchem es keinen Grafen ahnte, bloß schlechtweg mit dem Herzen. Es nahm alle die schönen Märchen und Fabeln, welche er ihm über sich selber vordichtete, für buchstäblich wahr, indes dieser gar nicht daran dachte, daß andere Leute lügen genannt hätten, was er dichten nannte, und betrügen, was er einen Roman spielen hieß. Miedei deuchte ihm ein Gegenstück zum Huronen Voltaires, der »Ingénu« ins Weibliche übersetzt, und wie jener Dichter an dem Phantasiegebilde seines Naturkindes psychologisch experimentiert, so der Graf an der arglosen, einfältigen Seele dieses wirklichen Kindes der Natur.

Sinnliche Leidenschaft beherrschte ihn, wann er in die Berge hinaufstieg; zog er aber vom Riedereck wieder hinab zum Kloster, dann ergötzte er sich in Gedankenspielen über die Situation und legte sich alle Fäden zu dem neuen Voltaireschen Romane zurecht, den er nach seinen jüngsten Erlebnissen im Geiste zusammenweben, aber ja nicht schreiben, sondern bloß erzählen wollte. Denn Schreiben war ihm zu langweilig; auch ärgerte ihn die impertinente Bestimmtheit des Wortes, welches ein für allemal schwarz auf weiß feststeht.

Ein feiner Geist sucht aber nicht bloß Gegensätze, sondern er verknüpft auch wieder das Fremdartigste, als sei es notwendig zusammengewachsen. So fand der Graf in seinen Besuchen auf dem Riedereck die ganz natürliche Fortsetzung seines Redegefechts mit den Mönchen. Er meinte, beides ergänze sich wie Schule und Leben. Im Kloster beweise er den gelehrten Brüdern, daß alle sogenannte historische Wahrheit der großen Weltgeschichte ein eitles Trugbild sei, und in der Sennhütte einem kindlich einfältigen Mädchen, daß all unser vergangenes Leben doch eigentlich nur der Schatten eines Traumes, daß wir heute nicht mehr aufs Haar getreu wiedererzählen könnten, was uns gestern begegnet; denn mit jedem Tage würden wir andere, und der neue Sinn des heurigen Jahres verändere uns unvermerkt auch die erlebten Tatsachen des vergangenen. Darum ergreife der kluge Mann, was ihm der Augenblick biete, genieße es bis auf den Grund, ohne zu fragen, was gewesen und was kommen werde.

Das Mädchen erbebte vor diesen Gedanken, die es halb verstand; wäre der fremde Jäger, da er sie aussprach, nicht zugleich gar so gut und freundlich gewesen, sie hätte sich vor ihm gefürchtet. Und doch lauschte sie auch wieder gerne seinen schaurig klugen Reden, wie man Gespenstergeschichten mit dem süßen Behagen des Schreckens lauscht und sich freut, daß es einem eiskalt über den Rücken läuft.

Als der Graf dem Miedei wieder einmal das Gedächtnis an Eltern und Freunde und ihre fromme Jugendzeit im Vaterhause wegzureden suchte und ihr nachwies, wie doch jede Nacht schon Gras wachse über das, was wir selber am vorigen Tage gewesen, da blickte sie bewegt nach der gegenüberliegenden Hochmulde und sprach: »über dieser Alpe wächst kein Gras.«

Der Graf lächelte und meinte, vom Weidegras habe er freilich nicht geredet.

Miedei aber erwiderte: »Du denkst wohl, daß mein Wort auf deines passe wie die Faust aufs Auge. Und dennoch paßt's. Dort drüben liegt die verbrannte Alp, wie wir's heißen. An dem kleinen schwarzen See, der so hoch in den Bergen steckt wie kein anderer, stand vordem eine arme Sennhütte; jetzt wächst da kein Gras mehr, oder was im Frühjahr dürftig aufkommt, das verbrennt die Sonne rasch. Es ist aber auch kein Gras gewachsen über der Geschichte, die sich dort begab, ob es gleich schon hundert Jahre her sein mag. Des Weberbauern Wolfgang von Rohnbach besuchte fleißig die Sennerin. Gott weiß, was sie zusammen trieben und wie sich alles gewendet hat. Genug, der Wolfgang erschlug zuletzt die Sennerin, die doch sein Schatz gewesen, und zündete beim Gewitter die Hütte über der Leiche an, daß man glauben solle, der Blitz habe das Mädchen erschlagen und samt der Hütte verbrannt. Daran zweifelten zwar manche; denn sie sagten, jener Blitz hätte einen uralten Spruch Lügen gestraft: der Blitz schlägt in keine Sennhütte. Die meisten aber glaubten es, und zuletzt glaubte es der Wolfgang selber und erzählte den Leuten, sooft sie's hören wollten, daß der Blitz seinen Schatz erschlagen. Allein er glaubte sein Märlein doch nur bei Tag und in der Nacht; am Abend glaubte er's nicht. Er konnte nämlich das Ave-Maria nicht mehr läuten hören und schlich sich allemal aus dem Wirtshause, sobald die Stunde kam. Denn als er das Mädchen erschlagen und die Stille hier oben noch einmal so still geworden war, da trug der Wind plötzlich das Abendläuten ganz leise vom Tal herauf, über dem Wetterkreuz, sagt man, gibt's keine Sünde, weil wir hier oben so ganz allein sind und keiner sieht, was wir tun; aber das Ave-Maria-Läuten war heraufgekommen, wohl tausend Fuß über das oberste Wetterkreuz, und Wolfgang meinte, die Glocke sei sein einziger Zeuge gewesen, die Glocke werde ihn verraten. Und als die Glocke schwieg, da war das Gewitter hereingebrochen, und Wolfgang hatte die Hütte angezündet, daß ihn die Glocke nicht verriete. Aber als die Hütte eben lichterloh brannte, da ward es im Westen schon wieder hell, und die Sonne ging feurig unter hinter den schwarzen Wolken und warf ihr Feuer auf die Schneespitze des Gamskars, und der Schnee warf sein Feuer in den Spiegel des schwarzen Bergsees, und Wolfgang glaubte, das Feuer der Hütte brenne in den Himmel hinauf und in die Hölle hinunter, in dem Wasser, in der Luft, auf der Erde, daß alle die drei Elemente durcheinander im Feuer glühten wie am Jüngsten Tag. Wenn nun Wolfgang auch zu jeder Stunde sich einredete, daß der Blitz das Mädchen erschlagen, so glaubte er's doch nicht beim Abendläuten, und wenn er zu jeder Stunde schwur, der Blitz habe die Hütte angezündet, so glaubte er's doch nicht, wenn er das Alpenglühen in Luft und Wasser gespiegelt sah. Dann verschwand die gelogene Wahrheit, und die wahre Wahrheit kam über ihn, und zuletzt zeigte er sich selbst dem Richter an, weil er das Ave-Maria-Glöcklein nicht mehr hören und kein Alpenglühen mehr sehen konnte. Ach, es gibt Dinge, die so wahr und klar in unserem Herzen stehen, daß wir sie mit der Wurzel nicht herausreißen können, wenn wir auch tausendmal heute nicht wissen, was wir gestern getan, ja, die uns heute, wo sie geschehen, nicht ganz wahr und klar waren, aber in Jahr und Tag werden sie uns so wahr, daß wir vergehen möchten, so leibhaftig schrecken und quälen sie uns!«

Dem Grafen war es ernsthaft zumute. Erst schwieg er weichgestimmt; dann fand er diesen Ernst unbequem, und er deuchte sich fast kindisch, daß ihn das Mädchen so weich habe stimmen können; – sie war ja im Grunde doch nur eine hübsche Kuhhirtin.

Er nahm Abschied und versprach baldige Wiederkehr. Heute zum erstenmal sagte er nicht wann.

Miedei wartete Tag für Tag. Der Jäger blieb aus.

Auf Ägidi fuhr sie mit ihrer Herde zu Tal und forschte unten im Dorfe versteckt nach dem Jäger aus Franken – denn für einen solchen hatte sich der Graf auf der Sennhütte ausgegeben –: niemand wußte von ihm. Das Kloster lag in einem anderen Talgebiet, das hieß für jene Hochgebirgsbauern in einer anderen Welt.

Das Mädchen harrte monatelang in Geduld, hatte sie doch längst auf den einsamen Bergen das Warten gelernt. Mit Schrecken erlebte sie die Wahrheit ihres eigenen Wortes, daß es Dinge gibt, die so wahr in unserem Herzen stehen, daß wir sie niemals wieder mit der Wurzel herausreißen können, ja die uns immer wahrer und klarer werden, je weiter sie hinter uns liegen.

Der Jäger hatte ihr die Ehe versprochen; so wenigstens verstand sie damals seine dunkeln, schönen Worte in ihrem einfältigen Sinn und glaubte daran wie ans Evangelium. Es fiel ihr schwer aufs Herz, daß auch sie in des Jägers Nähe gedacht, über dem Wetterkreuz gebe es keine Sünde: hatte er vielleicht denselben Gedanken gehegt, um doppelt an ihr zu sündigen?

Doch verbiß sie ihre Qual und entdeckte sich keinem Menschen.

Als der Schnee im Tale schmolz, konnte Miedei wenigstens ihre Sünde vor den Leuten nicht mehr verbergen, ob sie ihnen auch den Mitschuldigen verschwieg. Der Bauer, bei dem sie von Kind an diente, nahm sie hart vor, aber sie verriet den Jäger nicht; sie wollte warten, bis er selber komme.

Sie dachte, auch ihm müsse jetzt ihre Liebe immer wahrer werden, je mehr die Zeit verstrich, so steigend wahr und klar wie ihr selber Qual und Kummer.

Als die Matten grün wurden und der Himmel blau, starrte Miedei oft stundenlang in den wolkenlos blauen Himmel und konnte nicht fassen, wie der Himmel so schön sein könne und die Erde so schön und doch so unendlich viel Jammer zwischen Himmel und Erde.

In den ersten Maitagen schrieb der Bader den Totenschein für das schöne Miedei und bemerkte als Todesursache: »An den Folgen einer Niederkunft gestorben.« Ein Bader braucht von Amts wegen nicht zu wissen, daß man auch am gebrochenen Herzen sterben kann. Der Bauer, bei welchem Miedei so lange und bis zum letzten Jahre tadelfrei gedient, zog das Kind der elternlos und ungefreundet Verstorbenen um Gottes willen groß.

Der Graf war in die Heimat zurückgekehrt, wo sich ihm eine glänzende Laufbahn öffnete. An den deutschen Fürstenhöfen war er ein gefeierter Gast, man warb um seine diplomatischen Dienste. Gelehrte und Schöngeister bewunderten die Kenntnisse, den philosophischen Geist und die Voltairische Sprachgewandtheit eines so hochgeborenen Mannes. Ich brauche Kennern der damaligen Flugschriftenliteratur nur die anonymen »Briefe über den Pariser Hof« von 1765 zu nennen, eine Schrift voll überraschender Enthüllungen, und sie werden zugestehen, daß jene Bewunderung mehr als bloße Schmeichelei war. Das Büchlein ist sehr selten; denn der Graf ließ es nur für Freunde drucken, weil es ihm zu bürgerlich schien, auf den Buchhändlermarkt zu treten. Er schrieb es namenlos; denn der Name auf dem Titelblatt deuchte ihm doch etwas gar zu impertinent Bestimmtes. Vielmehr findet sich statt des Namens ein fragendes Motto aus der Schrift, das Wort des Pilatus: »Was ist Wahrheit?« Joh. 18,38. Es ist dies freilich die einzige Bibelstelle im ganzen Buch.

Daß der Graf, dem Schreiben, das bestimmte Wort schwarz auf weiß, so zuwider war, doch auch einmal ein Buch geschrieben, darf uns nicht wundern; denn indem er sich selber fort und fort untreu wurde, blieb er sich selber ja gerade am treuesten.

Gewann der geschriebene Roman jener Briefe, der sich den täuschendsten Anstrich von Geschichte gab, schon reichen Beifall, so schienen doch die mündlichen Romane aus des Grafen Leben, in den erlesensten Kreisen am Kaminfeuer lässig und doch so geistreich hingeplaudert, noch viel anziehender. Zumeist aber entzückte da allezeit die Geschichte von der Miedei, dem Naturkinde im Hochgebirge welcher der Graf die französische Philosophie ins Altbayrische übersetzt hatte. Er wußte äußerst drollig zu schildern, wie er unten den Mönchen und oben der Sennerin dieselbe Weisheit, nur in verschiedenen Zungen gepredigt, und um die Antithese noch spitziger zu stellen, als sie gewesen, drehte er die Novelle so, daß der Abt in seiner Schule zuletzt verliebt geworden, das Hirtenmädchen aber eine grübelnde Denkerin. Durch diesen kühnen Zug vermied er peinliche Erinnerungen, er brauchte die Episode von der verbrannten Alp nicht einzuweben, er brauchte neugierige Fragen über den Ausgang seines eigenen Liebesabenteuers, fünftausend Fuß über der Meeresfläche, nicht zu beantworten, und wenn sich auch nicht gerade alles genau so zugetragen, wie er's erzählte, so hätte es sich doch genau so zutragen können.

Die Mär vom verliebten Abt und der philosophischen Sennerin wurde ihm von Jahr zu Jahr wahrer, wenigstens redete er sich's also ein. Doch mußte sie ihm doch nicht ganz wahr geworden sein; denn er fürchtete sich lange Zeit, von dem wirklichen Miedei unversehens Kunde zu erhalten, weil ihm dies die allmählich sich festigende subjektive Wahrheit seiner Geschichte hätte lockern können.

Zweites Kapitel

Zwanzig Jahre waren vergangen. Der Graf stand auf dem Höhepunkte des Mannesalters, und doch begann ihm das Leben schon langweilig zu werden. Er hatte allen Genuß erschöpft und, wie er meinte, auch alle Arbeit. Weil er nämlich seine Kraft auf allen Gebieten ein bißchen versucht hatte, so bot ihm kein Wirken mehr den Reiz des fremdartig Unerhörten. Irgendein Werk durchzuführen, war nicht nach seinem Geschmack. Mit einer Dame gleichen Standes und verwandten Sinnes verheiratet, lebte er in einer äußerst glücklichen, inwendig langweiligen, kinderlosen Ehe. Wie er früher ruhelos nach Anregung gejagt, so jagte er jetzt nach Zerstreuung.

Ein weichmütiges Zurücksehnen in die Lagen seiner jungen Jahre, ein Wiederaufsuchen allbekannter Orte und Menschen, die seinem Auge lange entrückt waren, ergötzte ihn noch am meisten. Der sentimentale Zug, auf welchem er sich dabei ertappte, war ihm neu, und der Zauber der Antithese, des Widerspieles von Sonst und Jetzt, bot auch hier wieder so manche seine Würze. Zudem ließen sich prächtige Studien machen über das biegsame Wachs der sogenannten historischen Wahrheit.

Getrieben von diesem Geist, kam der Graf als gestandener Fünfundvierziger dann auch wieder einmal in das bayrische Hochgebirge. Das Kloster ließ er links liegen; denn er wollte unerkannt bleiben. Dagegen stieg er in die Berge zur Riedereckalpe, nicht um das Miedei wiederzusehen – denn wie sollte sie nach zwanzig Jahren noch da droben sitzen? –, sondern bloß um der Szenerie willen, in welcher er das Geschöpf seines phantasievollen Witzes so oft und glücklich hatte spielen lassen. Er wollte sich die Hütte nur von weitem betrachten und mit flüchtigem Bleistift abzeichnen, er wollte das Herdengeläute gerade hier einmal wieder hören, den frischen Odem der Bergluft gerade hier einmal wieder schmecken, daß die lustigen alten Abenteuer aufs neue recht leibhaftig vor seiner Seele stünden. Begegnete er ja wider Erwarten dem alten Miedei wieder am alten Ort, so durfte sie ihn doch kaum wiedererkennen. Und wenn auch! Hatte er ihr doch vor zwanzig Jahren so manches schöne Geschenk gemacht, dessen klingenden Wert das einfältige Kind damals gar nicht ahnte, und jetzt konnte er ihr zwanzigmal mehr schenken, und vierzigjährige Kinder wissen dergleichen wohl besser zu schätzen als zwanzigjährige.

Beim Ansteigen nahm er sich besonders in acht; es war ihm, als könne er heute noch fallen. Aber so leicht und sicher wie nur je in alten Tagen kam er über die gefährlichen Stellen hinweg. Schon war er um eine Felsecke gebogen und sah die wohlbekannte Hütte am jenseitigen Hang der Bergkuppe.

Da hörte er plötzlich über sich ein Pfeifen, dann ein Geprassel von rollenden kleinen Steinen, die ihm über den Pfad hüpften. Er blickte hinauf. Fünf Gemsen waren es; von seinem Fußtritt aus dem Knieföhrenbusch gescheucht, erklommen sie in den kecksten Sprüngen die schräge Wand. Wie das lustig aussah! Noch nie hatte der Graf diese Tiere so nahe, noch nie auf so halsbrechender Flucht geschaut. Er verfolgte sie mit leuchtendem Auge; schon hatten sie fast die Spitze erreicht, wohl fünfhundert Fuß über ihm! Da krachte unversehens ein größerer Stein hernieder, von dem Tritt der Tiere gelöst. Erst in kürzeren, dann in weiteren Bögen sprang er wie eine Bombe die Wand abwärts, und der Graf merkte erst die Gefahr, als ihm der Stein mit furchtbarer Kraft den linken Fuß geprellt hatte und sausend fort zum Abgrunde fuhr.

Der Graf taumelte vor Schmerz; er mußte sich niedersetzen. Aber vergebens versuchte er wieder aufzustehen. Der Fuß schwoll an, daß der Verletzte eilends Schuh und Strumpf zerschnitt, damit der rasende Schmerz nicht noch schneidender brenne. Der beschauliche Erinnerungsgang war also etwas unsanft unterbrochen. Doch unser Graf war der Mann nicht, welcher gleich Kopf und Mut verlor. Er wollte noch eine Weile den ersten überwältigenden Schmerz austoben lassen, um dann zur Sennhütte hinüberzuhinken und zu kriechen, so gut es eben ging; denn schon sank die Sonne hinter den Bergen.

So saß er wie an den Felsen geschmiedet und schaute nach der Hütte. Sie deuchte ihm jetzt ganz anders denn vorher, sie blickte ihn an genau wie vor zwanzig Jahren. Hart an der Hütte weidete das Vieh; das waren ja noch dieselben Kühe wie dazumal: voran die braune und die scheckige, alle anderen überragend! Dann besann sich aber der Graf wieder und bedachte, daß jene Kühe ja längst geschlachtet und gegessen seien und daß es mehr als eine scheckige Kuh gibt. Es wirbelte Rauch aus der Hütte: der konnte doch noch immer von Miedeis Herdfeuer kommen. Jetzt hörte der Graf ganz nahe das landesübliche Jauchzen: genau so glockenhell hatte Miedeis Stimme geklungen, genau denselben Tonfall hatte sie angeschlagen. Der Graf zitterte.

Da trat eine weibliche Gestalt um die Ecke, leicht und keck wie eine Gemse. Im roten Sonntagskleid, den Bergstock in der Hand, schaute sie forschend über die dämmerigen Schluchten – bei Gott, das war Miedei selber! nur fast noch schöner, fast noch jugendfrischer wie vor zwanzig Jahren. Genau so hatte sie dagestanden und ausgesehen, als ihr der fremde Jäger die Schmeichelworte sagte, daß sie eine Königin des Lichtes und der Schönheit sei, welche über allen Häuptern throne, um die Welt mit ihrem Stabe zum lichten, schönen Tag zu wecken! Aber damals war es Morgen gewesen, und jetzt ging der Tag zu Ende, und auch des Grafen Tag neigte sich; nur Miedei stand noch morgendlicher heute im Abendglühen als damals im Frühschein.

Der Graf schrak tief in sich zusammen. War es das Wundfieber des verletzten Fußes, welches ihm dies Traumbild vorgaukelte? Er griff an den Puls und starrte seitwärts in den Abgrund. Es war zum erstenmal in seinem Leben, daß er's nicht wagte, einem schönen Mädchen in die Augen zu blicken.

Jetzt bemerkte ihn das Kind. »Hast du den heiligen Jakobus nicht gesehen?« rief sie ihm entgegen. Die Stimme schnitt dem Grafen durch Mark und Bein: das war Miedeis Stimme.

Den heiligen Jakobus? Die rätselhafte Frage rief ihn wieder zur Besinnung. »Welchen heiligen Jakobus?« stammelte er.

»Nun, den bayerischen heiligen Jakobus!« sprach das Mädchen fast verwundert. Der Graf fuhr an seine Stirn: war er verrückt, oder war es das Mädchen?

Die Sennerin wartete eine Weile. »Man merkt, daß du fremd bist hierzuland«, sagte sie dann. »Dort an der Tiroler Grenze steht die Kapelle mit den Holzbildern der zwei heiligen Jakobus. Der Pfarrer nennt den einen den Major und den anderen den Minor, wir aber heißen den einen den bayerischen und den anderen den Tiroler heiligen Jakobus. Denn weil die Grenze gerade durch den Altar geht, so glaubt man, daß der Major auf der bayerischen Seite die Bayern besonders beschütze und der Major auf der Tiroler Seite die Tiroler. Nun war am letzten Sonntag eine herzhafte Rauferei zwischen den bayerischen Burschen und den Tirolern, und wir haben die Tiroler übel heimgeschickt. Da haben uns die Heimtücker am Montag zur Rache unseren heiligen Jakobus gestohlen und hier in die Berge versteckt, damit er uns nicht helfen könne, wenn er nicht auf seinem Altare steht. Die gottlosen Kerle haben das schon öfter getan, aber der Heilige ist von den Bayern immer wieder gefunden worden; du mußt auch mit suchen, denn das ganze Tal ist auf den Beinen und spürt jede Ecke aus.«

Aber der Fremde erhob sich nicht, und das Mädchen bemerkte nun erst den nackten linken Fuß, rot und blau und geschwollen. In abgerissenen Worten erzählte der Graf seinen Unfall. »Laß du«, so schloß er, »deinen hölzernen Jakobus; – er kann dich doch nicht schützen, wenn dich kein Stärkerer schützt; – rufe Leute herbei, daß sie mich ins Tal tragen.«

»Da könnt' ich lange rufen«, erwiderte die Sennerin. »Hier oben über dem Wetterkreuz muß jeder sich selbst helfen. Ich will dich zur verbrannten Alp führen, die liegt am nächsten und gehört jetzt auch zum Riedereck; dort haben wir einen leeren Stall, in welchem du heute nacht bleiben kannst.«

»Miedei! Nicht zur verbrannten Alp«, rief der Graf abwehrend.

»Fürchtest du dich vor dem Platz?« fragte sie staunend.

»Nein! nein! Aber führe mich zum Riedereck, wenn es auch viel weiter wäre.«

»Wie?« sprach das kluge Kind, »du weißt, daß ich Miedei heiße, und fürchtest dich vor der verbrannten Alp und bist doch ein Fremder, der nicht einmal den bayerischen heiligen Jakobus kennt? Wie reimt sich das?«

»Ich habe eine Sage gehört von dem schwarzen See bei jener Alp und wie es gekommen, daß er allein so hoch oben auf den Bergen liege, und entsinne mich ihrer nicht mehr«, sagte der Graf, um das Mädchen auf eine andere Fährte zu leiten. »Kennst du die Sage nicht?«

»Bist du katholisch oder lutherisch?« fragte das Mädchen zur Antwort.

»Katholisch; versteht sich.«

»Nun, dann weißt du auch, daß einmal die Sintflut gewesen ist, die über alle Berge ging, und davon ist der See übriggeblieben. Vor der verbrannten Alp aber brauchst du dich nicht zu fürchten; denn die Geschichte von des Weberbauern Wolfgang und dem Mord, dem Brand und dem Blitz glauben nur noch ein paar alte Weiber, und der neue Schulmeister hat uns erklärt, daß sie ein Märchen ist und die Alp vom verbrannten Gras den Namen hat.«

»Ach, die Geschichte ist dennoch nur allzu wahr!« seufzte der Graf; denn es war ihm im Augenblicke schier, als sei er selber der Wolfgang und habe die Sennerin umgebracht, und um keinen Preis wäre er jetzt zur verbrannten Alp gegangen; er hätte gefürchtet, das leise Abendglöckchen dort hören zu müssen und das Alpenglühen im See gespiegelt zu sehen. So furchtbar hatte die Gestalt und Stimme des Miedei, wie sie vor zwanzig Jahren gewesen, seine Phantasie aufgewühlt.

»Du bist ein wunderlicher Christ«, entgegnete das Mädchen. »Den alten Spuk glaubst du; an der Schutzkraft des bayerischen heiligen Jakobus aber schienst du zu zweifeln.«

»Glaube du nur an deinen Heiligen!« sprach der Graf fast feierlich. »Was du selber aus ganzem Herzen für wahr hältst, das ist und bleibt die Wahrheit für dich; was ficht dich die Wahrheit aller übrigen Welt an?«

Halb getragen von des Mädchens kräftigen Armen, schleppte sich der kranke Mann zur Riedereckalpe. Hätte er je an Geister geglaubt, er würde sich vor dem schönsten Kinde als vor einem Gespenste gefürchtet haben. Und doch schauerte ihm die Haut, wie er den warmen Pulsschlag des jungen Lebens fühlte; es war ihm, als sei der Tod lebendig geworden oder als sei diesem rätselhaften Wesen die Zeit nicht Zeit und Gott habe ihm zwanzig Jahre unverwelkter Jugend verliehen zu seiner Strafe.

Endlich wagte er eine Frage, die ihm schon lange auf den Lippen schwebte; aber er brachte sie kaum heraus, denn er erwartete die Antwort wie einen Richterspruch: er fragte seine Führerin nach ihrem Namen.

»Du hast ihn ja schon selber genannt! Miedei Stainer heiße ich und diene beim Hofbauern in Rohnbach, dem das Riedereck gehört und die verbrannte Alp.«

Das war genau der Name seines Miedei, die beim Hofbauern diente. Kaum hörbar stammelte der Graf: »Und wie alt bist du?«

»Zwanzig Jahre seit dem ersten Mai.«

»Gottlob!« rief der Graf, und die Führerin sah ihn verwundert an. Hätte sie »vierzig Jahre« gesagt, er wäre zu Boden gesunken. Wie ein Blitz fuhr es ihm durch den Sinn, daß er sich auf den Arm seines eigenen Kindes stütze. Aber die Frage nach der Mutter wagte er nicht; sie schnürte ihm die Kehle zu.

So kamen sie zur Hütte, und schon war es dunkel geworden. Im Kuhstall lag Heu aufgehäuft zum Nachtlager für den Buben, der die Butter und das Schmalz allwöchentlich zum Bauern hinuntertrug. Dorthin bettete Miedei den Grafen und schlug ihm ein nasses Tuch um den verwundeten Fuß. Durch die offene Tür konnte er in das enge Gemach der Sennerin sehen, wo rechts der Herd mit dem großen Käskessel, links das hochgetürmte Bett stand. Miedei waltete emsig am lodernden Feuer. Wie sie da auf- und niederschwebte im Wechsellichte der unsteten Flamme, wogte es auch in der Seele des Grafen gleich der vom Luftzug bewegten Glut, und die alte Zeit stieg vor ihm auf, als könne er sie mit Händen greifen. Die Hütte, der Herd, die Geräte, das Beil über dem Bett, die alte Sackuhr neben dem kleinen Heiligenbildchen, alles war, wie es gewesen; es schien, als reiche die lösende Macht der Jahre nicht herauf zu dieser einsamen Höhe. Und dann mußte sich der Graf wieder besinnen, ob denn das Mädchen am Feuer auch wirklich nicht sein altes Miedei, ob er selber nicht noch der junge Graf sei.

Wie zerriß und zerflatterte ihm da gleich einem Spinngewebe der Roman, den er mit so sicherer Hand um diese Hütte gesponnen! Was er seit Jahren vergessen und aus seinem Gedächtnis hinweggedichtet, das lag wieder sonnenklar vor seinen Sinnen. Die kleinsten Züge lebten auf; furchtbar hell erkannte er die zermalmende tatsächliche Wahrheit, mit welcher Gott uns richtet in unserem Gewissen.

Nur ein derb geschnitztes Muttergottesbild, welches den Türpfosten schmückte, war dem Grafen fremd. Miedei sah, wie er sein Auge darauf heftete. »Das hat mir der Toni von Tölz geschnitzt«, sagte sie. – »Und der Toni ist wohl dein Schatz?« – »Ei freilich. Aber heiraten können wir uns nicht.« – »Und warum nicht?«

»Ich bin ein lediges (uneheliches) Kind«, erwiderte Miedei ganz unbefangen, »und arm dazu. Der Toni ist ebenso arm. Wie sollten wir uns heiraten! Meine Mutter habe ich nie gesehen, und wer mein Vater ist, das weiß kein Mensch; der Hofbauer hat mich um Gottes willen großgezogen.«

»Das weiß kein Mensch!« murmelte der Graf für sich. Dennoch verstand Miedei die unbewußt entschlüpften Worte.

»Ja«, sagte sie, »das weiß kein Mensch. Die Mutter hat es nie gesagt, ob man sie gleich peinigte bis aufs Blut, und als ich geboren war, starb sie. Ein Bauer aus dem Klosterdorf brachte zwar die Lüge auf, ein reicher fremder Mann sei mein Vater und meine Mutter habe sich über ihn zu Tod gegrämt, weil er sie sitzengelassen. Das ist aber nicht wahr, und die Klosterbauern haben die Geschichte mir nur zum Spott aufgebracht, denn sie sind uns feind und nennen mich die Prinzessin.«

»Es kann doch wahr sein!« rief der Graf und verbarg sein Gesicht. Ihm war, als senkten sich die Balken der Hütte auf seine Brust und drückten ihm den Atem aus.

»Du willst eben alles besser wissen als andere Leute«, rief Miedei fast zornig. »Die Geschichte vom heiligen Jakobus, die doch wahr ist, bezweifelst du, die Geschichte von der verbrannten Alp aber, die doch ein Märchen, hältst du für wahr, und das Spottgerede der Klosterbauern, das doch eine Lüge ist, wird dir am Ende zum Evangelium. Und doch bist du fremd in dieser Gegend. Woher weißt du Rechthaber denn, was bei uns zulande wahr ist?«

Der Graf richtete sich auf, schaute in das Feuer, und es schwamm ihm vor den Augen, daß er das Mädchen nicht sah noch die Hütte, sondern ihm war, als stünden alle die hochgebildeten, geistvollen Herren und Frauen um ihn her, denen er so oft und fein das Nichtige der historischen Wahrheit dargetan, und auch der Abt mit seinen Mönchen lauschte im Hintergrund.

Wie im Traume sprach der kranke Mann:

»So lauteten ihre Worte vor zwanzig Jahren: Es gibt Dinge, die so wahr und klar in unserem Herzen stehen, daß wir sie mit der Wurzel nicht herausreißen können, wenn wir auch tausendmal heute nicht wissen, was wir gestern getan, ja die uns heute, wo sie geschehen, nicht ganz wahr und klar waren, aber in Jahr und Tag werden sie uns so wahr, daß wir vergehen möchten, so leibhaftig schrecken und quälen sie uns. Genau so lauteten ihre Worte. Ob ich dieselben gleich oft bei mir zu verdrehen gesucht, weiß ich sie doch noch Silbe für Silbe. Dem Gedächtnis waren sie entfallen, wenn sie nicht das Gewissen zu Protokoll genommen hätte. Es gibt eine tatsächliche Wahrheit, die können wir nicht verrücken, wenn uns auch jeder Tag das Alte neu erfassen, neu erzählen lehrt: das ist der sittliche Kern unseres Handelns, den das Gewissen zu Protokoll nimmt, die Taten, welche uns vor Gott entschuldigen oder verdammen. So gibt es auch eine unvertilgbare tatsächliche Wahrheit in der Weltgeschichte. Die großen sittlichen Kämpfe der Völker leben treu im Gedächtnis der Nachkommen, wenn auch tausend Einzelzüge, die den Mitlebenden wichtig deuchten, verdunkelt, verzerrt, vergessen werden. Es gibt eine historische Wahrheit, die dem Gedächtnis nicht entfällt, weil sie das Gewissen der Nationen zu Protokoll nimmt. Wer sie leugnen will, der leugnet Gottes Walten; denn unser Herrgott läßt uns viel lügen, im großen und kleinen, aber wie und wohin er die Herzen der Menschen und der Völker lenkt, das läßt er sich nicht hinweglügen.«

Miedei dachte, der fremde Herr rede stark im Fieber, und staunte, wie seine verrückte Rede so gescheit sei, wenn man sie nur verstehen könne. Sie war recht froh, daß er allmählich vom wachen Traum zum wirklichen Traumreden eines fieberhaft unruhigen Schlafes überging.

Zwei Tage noch verbrachte der Graf in der Hütte. Sein Leiden ward so schlimm, daß man ihn früher nicht ins Tal hinuntertragen konnte. Doch kehrte er bald, leidlich geheilt, nach Hause zurück. Oft hing sein Auge in jenen zwei Tagen liebevoll an dem Mädchen, die sein Kind war, und niemand wußte es als Gott und er allein. Er forschte vorsichtig nach tausend Dingen, die ihm das Herz zerschnitten. Aber er blieb der fremde Mann und wollte es bleiben. Das kostete ihm heißen Kampf. Sollte er das Kind aus ihrem vollen, wahren und naturgemäßen Dasein in eine glänzende Stellung führen, die doch für sie wie für ihn nur aus Lüge und Halbheit konnte aufgebaut werden? Er lohnte ihr als ein Fremder den Liebesdienst, aber er lohnte reich und gab ihr die Mittel, den Holzschnitzer zu heiraten und ein behäbiges Bauernhaus zu gründen. Die Ortsnachbarn wunderten sich, daß der fremde Herr die leichte Hilfe und kurze Pflege so fürstlich vergütet habe. Sie ahnten nicht, daß er am Kinde sühnen wolle, was er an der Mutter verbrochen. Er kam nicht mehr in die Gegend, und Miedei sah ihn niemals wieder. Aber unbemerkt wachte er doch von fernher über dem friedlichen Lebensgang des jungen Paares und wußte durch dritte Hand helfend und fördernd einzugreifen. Miedei segnete oft den fremden Mann, dem ihre Mutter nicht geflucht hatte.

Die niederrheinischen Freunde waren überrascht, den Grafen hinkend heimkehren zu sehen. Sie glaubten anfangs, es sei jenes vornehm anziehende Hinken, welches zeitweilig Mode war bei Männern, die wenigstens noch durch ein kleines Gebrechen auffallen wollten, wenn sie es durch ihre Schönheit nicht mehr konnten. Allein man merkte bald, daß es diesmal Ernst sei mit dem Hinken und daß den Grafen überhaupt der Ernst rätselhaft tief gepackt habe. Er erkannte mit einem Male sein verfehltes Leben – jetzt, da es zu spät war. In der Zeit der frischen Tatkraft hatte ihm die Wahrheit gefehlt, und nun er endlich die Macht der Wahrheit ahnte, fühlte er seine Tatkraft vorzeitig bereits gebrochen. Unheilbarer Trübsinn befiel ihn. Wenn man ihn fragte, worüber er so lange schweigend sinne, so antwortete er: über die historische Wahrheit und über die Lüge der Geschichte. In den Bergen sei ihm ein Hirtenmädchen begegnet, die den bayerischen heiligen Jakobus gesucht, da habe er an ihrem Arme statt des Heiligen die erste Spur der historischen Wahrheit gefunden.

Die Freunde schüttelten den Kopf und zogen sich zurück von dem traurigen Träumer. Sie meinten, seine Orakelsprüche würden neuerdings so übergeistreich, daß sie kein Mensch mehr verstehen könne.

Hätten nicht fern in den Bergen zwei Herzen dankbar für ihn geschlagen, der Graf wäre ungefreundet gestorben und unbeklagt.


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