Wilhelm Heinrich Riehl
Durch tausend Jahre - Erster Band
Wilhelm Heinrich Riehl

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Die zweite Bitte

1871

Erstes Kapitel.

Herzog Friedrich hätte fürs Leben gern einmal gepredigt. Das war sein Herzenswunsch, den er fort und fort nährte und trotzdem nicht zu erfüllen wagte.

Ein regierender Fürst des sechzehnten Jahrhunderts hatte doch sonst genug zu tun, er waltete in seinem Lande wie ein kleiner Herrgott und konnte sich erlauben, was tausend andern Menschenkindern verwehrt bleibt, – und nun grämte sich jener wunderliche Herzog, daß es ihm nicht vergönnt sei, wenigstens ein einziges Mal zu predigen, ordentlich, von der Kanzel herab! Wenn heutzutag ein Pfarrer wünschte, auf vierundzwanzig Stunden Fürst zu sein, so dünkt uns dieser Wunsch begreiflich; aber daß ein Fürst vor dreihundert Jahren auf einen Tag Pfarrer zu sein wünschte, das geht uns nicht in den Sinn.

Allein zu jener Zeit war eben die ganze Luft theologisch und an den protestantischen Höfen Deutschlands vor allem auch die Hofluft.

Der moderne Prinz beginnt seine Universitätsstudien mit Physik und Chemie, um von den Gesetzen der Naturkräfte zu den Staatsgesetzen überzugehen; der Prinz des sechzehnten Jahrhunderts begann mit der Theologie und wollte im Studium des Reiches Gottes das Geheimnis finden, wie er sein irdisches Reich regieren solle. Und war er zum Throne gelangt, so fürchtete er sich oft mehr vor dem Gerichte seines eigenen Konsistoriums als vor dem Reichskammergericht, und die geheime Widerrede seines Hofpredigers war ihm wohl bedenklicher als der offene Widerspruch seiner Landstände, welche damals überhaupt schon besser zu schweigen als zu reden verstanden.

Fürsten schrieben theologische Flugschriften, sie stritten an der Hoftafel über Flacius und Strigel, sie ließen Denkmünzen prägen auf die gelehrten Siege ihrer Hofdogmatiker: der Ruhm schulgerechter theologischer Kenntnisse war der Ruhm eines hochgebildeten Mannes.

So mochte es denn ein verkehrter Ehrgeiz sein, wenn ein deutscher Reichsfürst im Jahre 1570 durchaus einmal predigen wollte, aber ein ganz unsinniger oder gar frivoler Ehrgeiz war es, bei Herzog Friedrich wenigstens, nicht.

Er sprach: »Ich will herrschen, voll und ganz, herrschen als ein von Gott gesalbter Fürst. König David predigte in Psalmen, warum soll ich nicht bescheidenererweise in Prosa predigen? Meine Untertanen zinsen und fronden mir, sie leisten Heerfolge und gehorchen als Vasallen; Amt und Würden, Strafe und Gnade kann ich ihnen geben durch einen Federzug. Das ist wohl eine gewaltige Herrschaft, aber nicht die gewaltigste. Ich kann die Menschen zwingen zu meinem Dienste, aber wenn ich sie zwänge zu Gottes Dienste – wäre das nicht größere Macht? Ich kann den äußeren Willen meiner Untertanen beugen, und wo sie mir trotzen, da kann ich sie einsperren und ihnen den Kopf vor die Füße legen lassen; aber ihr Herz zu beugen, ihren innersten Sinn in sich selber zu wenden, das kann ich nicht, wenigstens nicht unmittelbar und kraft meines Amtes. Nur der Pfarrer kann und soll das von Amts wegen. Und also behauptet der Pfarrer eine größere Macht. Ich will wenigstens neben den Pfarrer kommen, denn dafür bin ich Herzog!«

Es war landeskundig geworden, daß der Herzog einmal predigen wolle. Die meisten Leute schüttelten den Kopf und hielten dieses Vorhaben für höchst unpassend, ja für eine sündhafte Anmaßung, obgleich sie's nicht laut zu sagen wagten. Nur wenige fanden ein entschuldigendes Wort. »Schmeichelt man nicht den Fürsten, daß sie gleichsam Götter auf Erden seien? Andere große Herren glauben nun, wenn sie genießen, was sie wollen, dann übten sie ihr göttliches Recht; Herzog Friedrich dagegen greift es höher: er begehrt, wirken zu können, was er will.« Freilich entgegnete man dann, er vergesse darüber zu wirken, was er solle. Denn über dem Streben, der gelehrteste Theologe seines Hauses zu sein, drohe er nachgerade, der trägste und lässigste Fürst seines Hauses zu werden.

Den herbsten Tadel und offensten Widerspruch fand der Herzog bei seinen nächsten Verwandten. Sie zitterten vor dem Gedanken, daß er wirklich die Kanzel besteigen möchte, sie sahen das Ansehen der Familie, die Würde der Krone gefährdet durch ein so unziemliches Beginnen und bekümmerten sich mit Recht über den Rückgang und Stillstand des ganzen Regiments; denn wenn der herzogliche Theologe in seinen geistlichen Büchern vergraben saß, dann war der Herzog nirgends zu finden.

So bildete sich eine festgeschlossene Gruppe von Gegnern in des Herzogs eigenem Hause, und sein nächster Vetter, Johann Christian, ein tatkräftiger Mann, der durch sein leutseliges, freimütiges Wesen großen Anhang unter der Bürgerschaft besaß, stand an der Spitze dieser Gegenpartei. An benachbarten Höfen flüsterte man bereits von einer drohenden Palastverschwörung und meinte, wenn der Herzog wirklich die Kanzel zu besteigen wage, dürfte ihn vielleicht schon des anderen Tages Johann Christian als geisteskrank in den großen Schloßturm sperren, um die Regentschaft für des Herzogs minderjährigen Sohn zu übernehmen.

Der Herzog selber aber ahnte solche Gefahr nicht von ferne, und fast jede Woche ängstigte er seinen Hofprediger mit einer drohenden Predigt, und der gute Mann nannte dieses stets neu aufflackernde Gelüsten sein irdisches Fegefeuer und meinte, wenn der Herzog erst einmal gepredigt hätte, dann würde er gar nicht wieder aufhören und dann käme für ihn und das ganze Land die irdische Hölle.

Vergebens stellte er dem Fürsten vor, daß weltliches und geistliches Amt zweierlei sei.

»Bin ich nicht summus episcopus, oberster Bischof meines Landes?« fragte dann der Herzog; »und was wäre das für ein erbärmlicher Bischof, der nicht einmal predigen dürfte? Hat nicht schon Kaiser Karl IV. im Dom zu Metz das Weihnachtsevangelium, das kaiserliche, gesungen: ›Exiit edictum a Caesare‹ Und vom Text zur Auslegung ist nur ein kleiner Schritt!«

Oder er sagte auch: »Ich soll Gottes erster Vasall und oberster Amtmann in meinem Lande sein (das Wort ›Statthalter‹ vermied er, weil es katholisch schmeckte), nun führt aber mein hoher Lehnsherr sein Regiment in zwiefacher Weise. Er spricht zu uns durch sein Wort, die heilige Schrift, und durch seine vortreffliche Weltordnung. Wie soll ich nun getreu nach Gottes Musterbild regieren, wenn ich nicht auch sein Wort meinem Volke verkünden und auslegen darf? Der Pfarrer ist ein halber Fürst, denn er predigt nicht bloß und spendet die Heilsmittel in der Kirche, er tritt auch in das Haus seiner Pfarrkinder und regiert sie geistlich. Darf ich, der Fürst, dann nicht wenigstens ein halber Pfarrer sein und neben meinem bißchen Regieren auch noch ein Stückchen predigen? Das allein wäre ehrlich geteilt zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Ihr Pfarrer möchtet freilich lieber alles Regiment allein in Händen haben!«

So war mit Gründen durchaus nicht aufzukommen gegen den fürstlichen Herren.

Der Text zu seiner ersten Predigt stand ihm seit Jahren fest: es war die zweite Bitte des Vaterunsers – »Dein Reich komme.«

Er nannte diesen Text einen besonders fürstlichen, fürstlicher noch als das kaiserliche Weihnachtsevangelium vom Schätzungsgebot des Kaisers Augustus, und meinte, es sei leichter, hundert Predigten über die zweite Bitte zu halten als eine einzige; denn die Fülle der Gedanken, welche durch jene drei Worte gezeugt würden, sei unermeßlich.

Zweites Kapitel.

Warum predigte er denn aber doch nicht?

Lediglich aus dem Grunde, weil er nicht bloß durch seinen theologischen Eifer so ganz ein Fürst seiner Zeit war, sondern gleicherweise auch als glänzender Kavalier und vollendeter Hofherr. Es fiel ihm nicht ein, das reiche, goldgestickte Samtwams mit dem schlichten Priesterrock oder dem Philosophenmantel zu vertauschen oder den Spitzhut, welchen wallende Straußenfedern krönten, mit dem Barett des Gelehrten. Sein derbes, volles, gerötetes Gesicht mit den tieflauernden Augen sah durchaus nicht asketisch drein; nur die etwas verfrühte breite Glatze war verdächtig: allein es gibt eine platonische Glatze des Denkers und eine faunische des Zechers. Und am Ende hatte Herzog Friedrich in diesem Doppelsinn eine Doppelglatze vor der Zelt bekommen.

Die deutschen Höfe waren damals noch nicht nach dem feinen französischen Muster zugeschnitten; noch herrschte die derb-ehrliche, aber auch rohe und wüste »altdeutsche« Sitte. Herzog Friedrich war ein fester Reiter, der das wildeste Pferd bezwang, ein noch festerer Jäger, der den stärksten Eber fällte, vor allem aber der festeste Trinker, der jahrelang jedes Weines Meister geblieben war. Allein der Kampf mit dem Wein hat das Besondere, daß wir unterliegen, indem wir siegen, und zuletzt um so gewisser geschlagen werden, je länger wir vorher das Feld behaupteten.

Wer bei Hofe als ein ganzer Mann bestehen wollte, der mußte ein schlagfertiger Theolog und ein noch schlagfertigerer Trinker sein, und Herzog Friedrich bestand so trefflich in beidem, daß er sich selbst für einen rechten Musterfürsten hielt. Der Morgen gehörte ganz der Theologie, der Abend dem Wein, Und da sich der Herzog um Mittag von den Anstrengungen des Morgens ausruhte und auf die Strapazen des Abends stärkte, so blieb zu anderweitigen Regentenaufgaben nicht viel Zeit übrig.

Die Stände des Landes klagten, daß der hohe Herr über dem Becher das Land vergesse, und bestürmten seine adeligen Räte und Zechgenossen, daß sie ihm größere Mäßigkeit zu Gemüte führten. Allein die Kavaliere, obgleich sie sonst den Herzog nach alter Art fast wie ihresgleichen behandelten, wußten zu gut, daß er in diesem Punkt keinen Spaß verstehe, und bestürmten darum ihrerseits den Hofprediger; denn er allein hatte das volle Vertrauen des Fürsten, er durfte ihm ein freimütiges und selbst ein grobes Wort sagen, vor, ja nach dem Gelage. Denn nüchtern oder trunken respektierte der Herzog doch immer noch die Kirche in der Person ihres warnenden oder strafenden Dieners.

Allein der Hofprediger, sonst ein unerschrockener Sittenrichter, der – wäre es auf ihn angekommen – Kaiser und Reich das Trinken verboten hätte, hielt fein den Mund und ließ den Herzog gewähren. Er fürchtete sich der Sünde, daß er schwieg, und hatte doch seine stille Befriedigung, wenn der hohe Herr – gleich systematisch und ausdauernd in der Zechkunst wie in der Theologie – den abendlichen Wettkampf mit seinen Gästen und Kavalieren bei der zarten Liebfrauenmilch begann, dann zum kräftigen Rüdesheimer vorschritt, beim duftigen Markobrunner eine kleine Pause machte, neu gestärkt beim geistvollen Steinberger den Gipfel erreichte und zuletzt mit einem Schlaftrunk beschwichtigenden edlen Rotweines das Tagewerk beschloß.

»Es kommt alles auf die rechte Reihenfolge an«, pflegte der Herzog zu sagen. »Der beste Wein wird schlecht, wenn man ihn an verkehrter Stelle trinkt. Das sind elende Pfuscher, die einen Steinberger dem Bacharacher vorangehen lassen oder einen Niersteiner auf den Burgunder setzen. Sie haben nichts gelernt und begehen eine wahre Sünde, denn sie verderben die köstlichste Gottesgabe.«

Und so pflegte er beim letzten Becher wie ein gelehrter Professor zu dozieren über den rechten und falschen Gebrauch des Weines und schloß gemeiniglich mit dem Satze: »Man kann niemals zu viel trinken, vorausgesetzt daß man reinen Wein und in der richtigen Ordnung trinkt!«

Das war sein Weindogma um Mitternacht.

Und der Hofprediger, welchem das zweite Glas schon zuviel dünkte, hütete sich trotzdem gar wohl, dieses Dogma anzutasten. Denn am nächsten Morgen, wenn der Herzog den Rausch ausgeschlafen hatte und sich mit den wirklichen Dogmen beschäftigte, machte er sich selbst wiederum bittere Vorwürfe, daß er ein so gar genußsüchtiger Mensch sei, ja ein recht unchristlicher Trinkbruder. Konnte er den Wein nicht mäßig kosten und doch in der rechten Reihenfolge? Er versuchte es und trank nur einen einzigen Becher von jeder Sorte; aber unwillkürlich vermehrte er nun die Sorten und verdoppelte die noch viel scharfsinniger geordnete Reihenfolge und kam schließlich doch wieder beim alten Ziele an.

Wenn ihn dann aber in der weichen, zerknirschten Morgenstimmung die Leidenschaft zu predigen erfaßte, schlug er an seine Brust und sagte sich, daß ein Zecher wie er ganz unwürdig sei, die Kanzel zu besteigen. Und indem er dem Gedanken weiter nachsann, geriet er in einen martervollen Zirkel, den er nirgends zu durchbrechen vermochte. Als Fürst mußte er mit Glanz und Kraft repräsentieren, und zu einer kraftvollen Repräsentation gehörte damals das tapfere Zechen ebensogut wie tapferes Reiten und Fechten. Es deuchte ihm fürstlich, zu predigen, aber es deuchte ihm zugleich unfürstlich, nicht zu trinken. Und doch machte ihn ein wahrhaft fürstliches Trinken unwürdig des Predigens.

Aber der alte unbefriedigte Wunsch packte ihn zuletzt mächtiger als die alte stets befriedigte Gewohnheit. So hatte er sich dann in einer vormittägigen Reustunde heilig gelobt, er wolle nicht eher predigen, bevor er sich – bei gesundem Leibe – nicht mindestens drei Tage lang jedes Tropfen Weines enthalten habe. Diese Vorbedingung zu erfüllen, wolle er von nun an eifrigst beflissen sein.

Da ihm der Vorsatz aber niemals gelang, so blieb es auch mit der Predigt immer nur beim festen, leidenschaftlichen Vorsatze.

Einmal hatte er sich schon volle anderthalb Tage jeden Schluck Wein versagt. Der Hofprediger, welcher mit wenigen andern um des Herzogs Gelübde wußte, zitterte schon, daß dieser nun wirklich übermorgen die Kanzel besteigen werde, und bat ihn, doch wieder einen Becher zu trinken. Denn wenn der Herzog trank, so tat er ja nur für sich und ohne öffentliches Ärgernis, was damals alle Fürsten taten; hätte er dagegen nicht getrunken und folglich gepredigt, so würde er ein Ärgernis durchs ganze Reich gegeben haben. Also unterdrückte der Hofprediger alle Gewissensbisse und empfahl seinem gnädigen Herrn einen mäßigen Trunk; er tat dies aber so kleinlaut und ungeschickt, daß der Herzog, welcher ihn wohl durchschaute, in die heiterste Laune geriet. Und ob er nun dem Pfarrer zum Schrecken gern erst recht nüchtern geblieben wäre, so war er doch jetzt zu ausgelassen lustig, als daß er nicht einen tiefen Zug hätte daraufsetzen müssen, und der Hofprediger mußte ihm Bescheid tun.

Ganz anders verhielt sich des Herzogs Vetter, Johann Christian, dem auch die Kunde vom Gelübde der dreitägigen Nüchternheit zu Ohren gekommen war. Er hielt den Herzog für unverbesserlich und sah kein Ende des schlechten Regiments, außer wenn jener abdankte oder abgesetzt würde. Er wünschte darum, daß der Herzog predigen möge, damit man vor allem Volk den handgreiflichsten Grund habe, ihn für regierungsunfähig zu erklären. Folglich mahnte er beständig zur Mäßigkeit.

Von den geheimen Plänen und Ränken seines Vetters wußte der Herzog nichts, aber daß dieser selber zu den gewiegtesten Zechern des Hofes zählte, war ihm genugsam bekannt.

»Ist das nicht eine verkehrte Welt!« sprach er bei sich. »Mein allezeit durstiger Vetter predigt mir Nüchternheit, und der allezeit nüchterne Hofprediger drängt mich zum vollen Becher!«

Und er dünkte sich den allein Weisen unter Toren und achtete es für notwendiger denn je zuvor, recht bald einmal als ganzer Salomo aufzutreten, der ja auch ein König und zugleich ein Prediger gewesen war.

Drittes Kapitel.

Das herzogliche Schloß thronte über der Stadt auf einem Felsen, welcher, nach vorn steil zum Flusse abfallend, auf der Rückseite allmählich zu den Straßen des Städtchens niederstieg. Hinten war das große Portal mit der breiten Auffahrt; vorn dagegen konnte man nur auf einer in den Fels gehauenen, schmalen Treppe den Schloßberg ersteigen; ein Türmchen mit einem niederen Einlaß in der Mitte des Felsens schloß diesen Aufgang.

Dort saß Kaspar Krummholz als Pförtner, ein geringer Knecht unter den Hofdienern, fast wie ein Bauer gekleidet, während vorn am Hauptportale ein stattlicher Türhüter im Tressenrock neben zwei Hellebardieren Wache hielt. Neben dem Hinterpförtchen aber waren zwei große, durch Latten vergitterte Gewölbe in den Felsen gesprengt. Sie hießen die Schneckenlöcher, weil man daselbst jene großen Weinschnecken aufbewahrte und mästete, die, mit hochgewürzten Brühen zubereitet, in ihren Gehäusen auf die Tafel gebracht wurden, wo sie den anspruchsloseren Feinschmeckern damaliger Zelt die Austern ersetzten. Da nun Kaspar, der Pförtner, zugleich mit der Pflege dieser Schnecken betraut war, so nannte man ihn gewöhnlich nur den Schneckenmeister.

Kaspar Krummholz hatte früher die weit ehrenvollere Stelle am großen Vorderportale besessen und in demselben roten Tressenrock gesteckt, welchen jetzt sein glücklicherer Nachfolger trug. Zu besseren Dingen geboren, war er, nach seiner eigenen Redeweise, immer tiefer heruntergerutscht auf der Kugel der Fortuna, und von den Schneckenlöchern bedurfte es nur noch eines Katzensprungs, um ganz aus dem Schlosse hinauszukommen. Sein Vater hatte die herzogliche Silberkammer verwaltet, und wie damals die meisten Hofdienste erblich waren, so verstand sich's fast von selbst, daß der Sohn als Gehilfe des Tafeldeckers seine Laufbahn begann, um von da zum wirklichen Tafeldecker und beim Ableben seines Vaters zur Silberkammer aufzusteigen. Allein der Junge verstand es besser, eine Tafel leer zu essen, als kunstgerecht zu decken; er tat nicht gut im innern Dienst, und so hatte man ihn rückwärts in den äußern befördert und wegen seiner stattlichen Gestalt zum Türhüter am Hauptportale gemacht. Hier taugte er aber noch viel weniger.

Von jenem Portal sah man nämlich rückwärts in den vorderen Schloßhof und weiter durch einen enggewölbten Bogengang hindurch in den Binnenhof gerade auf den großen Schloßbrunnen – eine entzückende Perspektive für jeden Architekturmaler. Ohne nun gerade Architektur zu malen, hatte Kaspar beständig rückwärts in diese Perspektive geschaut statt vorwärts zum Tore hinaus, wie es einem Türhüter ziemt. Denn die zwei Säulen des Brunnens, oben durch kraus verschnörkeltes Eisenwerk verbunden, von welchem die Eimer auf- und niederstiegen in den tiefen Brunnenschacht, sahen selber wieder einem hohen Portale gleich – für Kaspar einem Portale zum Himmelreich. Dort stand nämlich oft halbe Stunden lang Anna, die Leinwandmagd, und wand mühselig die vollen Eimer herauf, wenn eben große Hofwäsche war. Das frische, derbe Mädchen mit dem blendend weißen Kopftuch und der leuchtenden Linnenschürze bildete den Glanz- und Schlußpunkt der Perspektive, in welchem alle Linien vom Portal her zusammenliefen. Kein Wunder, daß Kaspars Blicke diesen magischen Linien folgen mußten; denn er liebte die Anna, und sie liebte ihn wieder. Und weil es von seinem Portale her selbst für das schärfste Auge zu weit war, dem Mädchen genau in die blauen Augen zu sehen, so ging er fleißig zu ihr hinüber, half ihr die schweren Eimer aufwinden, plauderte mit ihr auf der Brunnenbank, und da es am Brunnen manchmal zu lebhaft und öffentlich zuging und auch andere Schloßmägde kamen, setzte er sich zuweilen seitab mit seinem Mädchen auf die Treppe der Schloßkapelle.

So war es denn auch zuweilen geschehen, daß der Herzog ins Schloß geritten kam und keinen Türhüter am Tore fand, da derselbe viel mehr den Brunnen als das Tor bewachte. Darum ward Kaspar zur Strafe ans Hinterpförtchen versetzt, und die Schneckenlöcher wurden versuchsweise und aus Gnade gleichfalls seiner Obhut unterstellt.

Es war aber grausam langweilig da drunten bei den Schnecken; ihre Pflege befriedigte Kaspars höherstrebenden Geist keineswegs, und der Pförtnerdienst am hintern Einlaß war kaum eine Arbeit zu nennen. Nur wenige Menschen stiegen des Tages die Felsentreppe auf und ab. Von Anna sah er oft die ganze Woche keine Spur. Sein bester Zeitvertreib war noch, schräg hinauf ein großes Stück der Front des Schlosses zu übersehen und zu beobachten, was da gelegentlich an den Fenstern der herzoglichen Gemächer vorging.

Dabei sprach und rechtete er dann im stillen Sinn mit dem Herzog, der ab und zu an den Scheiben erschien. Der Herzog theologisierte da droben aus unklar gärendem Trieb des Schaffens und Herrschens, aus leidenschaftlichem Ehrgeiz des Studiums; und der Schneckenmeister philosophierte unten aus Zorn und Langeweile. Vornehme Leute philosophieren überhaupt zumeist, wenn sie sich recht freien, gehobenen Geistes fühlen, gemeine Leute, wenn sie Ärger oder Hunger haben.

So stand Kaspar auch heute mit verschränkten Armen an der kleinen Fensterscharte seines Türmchens und sprach laut zu dem gotischen Prachtfenster des Herrenhauses hinüber, wo die Gestalt des Herzogs bald sichtbar wurde, bald verschwand; denn derselbe ging meditierend im Zimmer umher und warf manchmal einen Blick in die weite Landschaft hinaus.

Kaspar sprach laut – war er doch sicher, daß seine Stimme oben in den Felsen verhallte, unten vom rauschenden Strom verschlungen ward und vom Herzog nicht gehört werden konnte:

»Es ist jammervoll, wie schwer heutzutage Würde und Ansehen der Dienerschaft geschädigt wird durch das unziemliche Benehmen der Herrschaft. Hat der gnädige Herr da droben auch bedacht, was er tat, bedacht, daß er seinen ganzen Hofstaat erniedrigte, als er mich, den Sohn des Silberbewahrers, zum Schneckenmeister machte? Ich bin durch Geburt berufen, Silberbewahrer zu werden. Zerstört der Herzog den natürlichen Lauf der Dinge, wirft er mich hier herab an die Türe und beinahe vor die Türe, lediglich aus dem eitlen Grunde, weil ich lieber auf der Kapellentreppe gesessen habe als vor dem Schloßtor gestanden, so kann ihn ein anderer auch einmal hinabwerfen, Gott weiß wohin, weil er lieber in der Kapelle stehen will als auf dem Throne sitzen. Man flüstert davon, die fürstlichen Verwandten hätten sich an den Kaiser gewendet, daß er den Herzog absetze, wenn er predige. Welch eine schreckliche Zeit! Achtet man das Recht meines kleinen Erbadels nicht, so wankt auch der große. Des Herzogs Vater war ein anderer Herr! Der ließ jeden leben, wie er wollte; er tat noch viel weniger als sein Sohn, und man spürte gar nicht, daß er überhaupt regierte; aber was einmal zu Recht besteht, das mußte stehenbleiben, und also ließ man auch ihn selber stehen. Es ist ein großes Unglück, daß er vor der Zeit gestorben ist; lebte er noch, so wäre ich jetzt Silberbewahrer statt Schneckenbewahrer, und das Land hätte Ruhe und Frieden behalten.

Sonst sagt man wohl: was die Alten sungen, das zwitschern die Jungen. Das gilt aber bloß von den gemeinen Leuten und niemals von den großen Herren. Denn kaum schließt da der Vater die Augen, so richtet der Sohn auch stracks ein ganz anderes Regiment ein; wer gestern in Gnade stand, fällt heute in Ungnade, was recht war, wird schlecht, was schwarz, weiß, das ganze Land wird auf den Kopf gestellt. Und wenn man gemeiner Leute Kindern höflicherweise sagt: wie schade, daß euer Vater so früh gestorben ist, so darf man das einem jungen Fürsten niemals sagen, denn man sagte ihm damit eine große Grobheit.

Jetzt schaut der gnädige Herr gerade auf mich herab! Ich muß einen Schritt zurücktreten. Was er nur da droben treibt und sinnt, indem er fort und fort ans Fenster und ins Gemach zurückgeht wie der Löwe im Käfig? Vermutlich brütet er wieder eine Predigt aus, die er gern halten möchte und doch nicht zu halten wagt. Das ist nun ein rechtes Kreuz fürs Herzogtum. Wir Hofleute leiden besonders darunter. Wo bleibt das Ansehen des fürstlichen Dienstes, wenn der Fürst ein Pfarrer wird? Das sollte einer dem Herzog deutlich sagen. Aber die vornehmen Herren, welche des Fürsten Ohr besitzen, wagen's nicht, und wir minder vornehmen Diener, die wir Mut und Verstand haben, das rechte Wort zu reden, wir werden nicht angehört. Könnte ich nur ein einziges Mal von der Leber weg über das Predigen mit ihm sprechen: ich bin gewiß, er würde die Torheit verschwören für sein ganzes Leben.«

Während aber der Schneckenmeister ungehört also zum Fenster des Herzogs hinaufsprach, war des Herzogs Auge wechselnd auch hinunter auf das Türmchen und den philosophierenden Mann an der Fensterscharte gerichtet.

Der Fürst redete ganz still in sich hinein: »Wie der faule Kerl da drunten stundenlang ins Blaue blickt, und hinter seinem Rücken schlüpft derweil Gesindel die verbotene Treppe herauf, und dort klettern die Schulbuben in die Schneckenlöcher und stehlen mir meine Schnecken! Es ist ein wahres Kreuz, daß diese Dienerschaft immer schlechter wird, da hilft selbst keine Strafe, denn der angeborene Pflichteifer vergangener Zeiten ist verschwunden. Ich muß dem Volk einmal eine furchtbare Straf- und Bußpredigt halten über Treue und Gehorsam. Das ist meines Amtes, aber ich kann es nicht vom Throne herab, ich kann es nur von der Kanzel, weil es nicht ausreicht, den einzelnen zu belehren und zu züchtigen: es gilt vielmehr Zucht und Lehre für das ganze Volk. Denn der Geist, der von einem zum andern weht und alle gemeinsam ergriffen hat, schuf diese Verderbnis der Sitten.«

Und er nahm sich vor, heute abend allen Wein zu verschmähen, sowohl außer als in der Ordnung.

Als aber Kaspar mit seinem Philosophieren zu Ende gekommen war, sah er, daß die Schuljungen sein Schneckengewölbe geplündert hatten, und als der Herzog seinen Predigttext bis ins kleinste durchgedacht, konnte er dem Durst nach so heißer Arbeit nicht widerstehen und ließ sich seufzend eine Kanne Burgunder bringen – seinen Frühstückswein, nach der Ordnung.

Viertes Kapitel.

Wenige Wochen nach dieser geisterweisen Zwiesprach zwischen Herr und Diener führte ein Volksfest große Menschenscharen von nah und fern in die herzogliche Residenzstadt.

Am Trinitatissonntage wurde dort seit unvordenklicher Zeit alljährlich eines jener geistlichen Schauspiele aufgeführt, wie sie während des Mittelalters in vielen deutschen Gauen herkömmlich gewesen waren. Mit der Reformation waren diese Spiele auf protestantischem Boden freilich größtenteils verschwunden; doch behaupteten sie sich ausnahmsweise und in veränderter Gestalt noch in einigen protestantischen Orten bis gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts. So geschah es auch in unserm Städtchen, vielleicht weil der Hof das altertümliche Spiel begünstigte oder auch weil die Natur hier eine Bühne gebaut hatte, so erhaben, schön und zweckmäßig, daß sie weit und breit nicht ihresgleichen fand.

Eine halbe Stunde oberhalb der Stadt führte nämlich eine enge Waldschlucht zu einem mäßig großen, fast halbkreisförmigen Gebirgsbecken, welches vorn in sanfte Matten auslief, während hinten senkrechte Felswände von vielfach zerklüftetem Buntsandstein die Szene abschlossen. Auf der Matte boten sich von selbst amphitheatralisch aufsteigende Sitz- und Lagerplätze für die Zuschauer, und die Felswand mit ihren rechts und links vorgeschobenen Blöcken und Steinsäulen und einer ansehnlichen Plattform in der Mitte war ganz wie zur Bühne gemacht. So brauchte man gar kein Theater zu bauen. Der einzige künstliche Apparat, welchen Menschenhand hinzugefügt, bestand in einem hohen, pyramidal aufsteigenden Brettergerüste an der Felswand und einer Zelttribüne für den herzoglichen Hof, dem Gerüste gerade gegenüber inmitten des Zuschauerraumes.

Während aber bei andern geistlichen Volksschauspielen des Mittelalters die Geschichte Christi dargestellt wurde, hatte man hier vielmehr schon seit alter Zeit die Geschichte des Christen gewählt: Versuchung und Kampf, Fall und Verdammnis, Buße und Erlösung des Menschen, versinnbildet durch eine zusammenhängende Reihe von Szenen aus der Bibel und Heiligenlegende und abschließend mit dem erschütternden Schlußdrama des Jüngsten Gerichts. Bei letzterem folgte man dann ganz der geläufigen Symbolik der alten Maler und hatte eben zu diesem Zwecke das pyramidale Gerüst an der Felswand aufgebaut.

Seit der Reformation waren freilich mancherlei Änderungen in dem überlieferten Plan des Spieles vorgenommen worden. Die Szenen aus der Heiligenlegende waren gestrichen, und selbst bei den biblischen Gruppen und Bildern vermied man solche, in welchen die Personen Gottes oder Christi oder der Jungfrau Maria, ja selbst der Apostel hätten erscheinen müssen. Man fürchtete die Erinnerung an den alten Bilderdienst, man scheute die Profanation, welche sich notwendig an das Vergreifen oder Mißlingen solcher Rollen knüpft, und hielt es überdies nicht für schicklich, daß ortsbekannte Leute, deren sonstiger Lebenswandel vielleicht sehr wenig Verwandtschaft mit dem Wesen jener heiligen Gestalten zeigte, nun plötzlich, zu übermenschlicher Reinheit vor allem Volk erhoben, dastehen sollten. War es doch einmal vorgekommen, daß der Gott Vater des Trinitatissonntags am Montage nach Trinitatis wegen Wilddieberei in den Turm gelegt wurde.

Trotz dieser Beschränkungen blieb ein reicher, voller Kranz unverfänglicher Szenen übrig. Da sah man den Sündenfall, den Dulder Hiob, die klugen und törichten Jungfrauen, den reichen Mann und den armen Lazarus und vieles Ähnliche. Gesprochene Verse und sinnreich eingeflochtene geistliche Lieder verknüpften die Einzelbilder zu einer Art von fortschreitender Handlung, und allegorische Figuren der Tugenden und Laster, freilich dem Renaissancegeschmacke der Zeit gemäß der antik-heidnischen Mythologie entlehnt, mußten zwischendurch statt der Engel und Evangelisten das Wort ergreifen.

Nur bei dem Schlußbilde, welches als der Glanzpunkt des ganzen Spiels erschien und demselben auch seinen volkstümlichen Namen gab, beim Jüngsten Gerichte, konnte man des Weltenrichters und der Engel und Teufel durchaus nicht entbehren. Doch sollten diese Gestalten nur im Hintergrunde auf- und niedersteigend fernhin verschweben; der Weltenrichter aber thronte mittels des gut verhüllten Gerüstes auf einer sonst unzugänglichen Felsspitze, wo er schweigend nur durch Hand und Blick sein Urteil fällte und in der Tat wie ein Herrscher aus ferner Geisterwelt dem prüfenden Auge der staunenden Menge entrückt war.

Das Schauspiel entwickelte sich diesmal durchaus schön und ergreifend, und vor allem bot das Jüngste Gericht den geheimnisvollen Zauber eines überirdischen Traumgesichtes.

Der Weltenrichter auf seinem Felsenthron, welchen ein höherer Stein, von niederhängenden Zweigen umwuchert, gleich einem Thronhimmel überragte, – die Engel mit Waage und Schwert und dem Buche des Lebens und Posaunen, zur Rechten und Linken an den absteigenden Felsspalten und auf vorspringenden Gesteinzacken aufgestellt, – die Seligen, welche rechts zu einer sonnigen Seitenhöhe hinanstiegen, die Verdammten, links in Klüfte niederfahrend, daraus dicker Rauch emporquoll und Feuer aufschlug, von gräßlich vermummten Teufeln rastlos geschürt, – dann auf der Zuschauerseite die weithin gelagerte bunte Volksmenge und in ihrer Mitte das prächtige Zelt des Herzogs, der, von seinem in Samt, Seide, Gold und Edelsteinen glänzenden Gefolge umringt, dort recht wie ein Erdengott dem auf den Felsen thronenden Herrn des Himmels gegenübersaß, – dazu die dröhnenden, vom Echo der Schluchten zurückgeworfenen Posaunenstöße, der Chorgesang und darauf die atemlose Stille der Menge in den Pausen, daß man trotz der Hunderte von Menschen plötzlich die volle Waldeinsamkeit des Ortes mit dem innern Ohre gleichsam hören konnte: – das alles packte Herz und Sinn der Versammelten in Schauer und Entzücken. Da sah man mit einemmal schwarze und immer schwärzere Rauchsäulen aus dem Höllenschlund zur Linken aufsteigen, der Wind wälzte sie hinüber zu dem mit gemalter Leinwand maskierten Gerüste. Jetzt schlug die Flamme aus dem Gerüste selbst hervor! –

Ein herzzerreißender Hilferuf dringt von dort herüber. Wie im Echo antwortet die laut aufschreiende Zuschauermenge, welche plötzlich aus der Erstarrung des ersten Momentes erwacht. Die kunstreich geordneten Gruppen des Gerichts lösen sich in ein wirres Durcheinander. Dann verhüllt wieder undurchdringlicher Rauch die ganze Bühne.

Die Teufel hatten das dürre Tannenreisig des Höllenfeuers zu stark geschürt, das ganze Podium des Jüngsten Gerichtes war in Brand geraten. Nur einen Augenblick – kaum daß man den Zusammenhang fassen konnte! –, und die erhabene Szene war grauenvoll travestiert. Die Seligen liefen durch die Hölle, um nicht oben im Himmel vor Rauch zu ersticken, und die Teufel halfen den Engeln aus dem Feuer. Der Erzengel Michael schrie erbärmlich um Hilfe. Die Zuschauer drängten sich in wogender Masse vor, jeder wollte retten, aber einer hemmte den andern.

Da brachte der Herzog, der sich jetzt ganz als der feste, mutige Kavalier zeigte, durch tatkräftiges Beispiel und ordnenden Zuruf Plan und Vernunft in das Rettungswerk; es gelang ihm, mit noch einigen Männern seitwärts über die Felsen zur Brandstätte hinüberzuklimmen und die von den Flammen umringelten Darsteller herauszureißen, bevor das Gerüst krachend in sich zusammenbrach.

Nur einen hatte man vergessen: den Weltenrichter hoch oben auf seinem Felsenthron. Da saß er, von Qualm und Lohe bedroht, dem Ersticken nahe; aufwärts konnte er nicht entrinnen wegen des überhängenden Felsenbaldachins, und der Sprung zur Tiefe würde ihn zerschmettert oder mitten in die Glut gestürzt haben.

»Er hat Frau und Kinder!« riefen einzelne Stimmen.

»Wer holt den Mann herunter?« fragte der Herzog mit gewaltiger Stimme. »Was sich der Retter auch zum Lohn erbitten mag, ich will es ihm gewähren!«

»Dort in der Hölle steht noch eine einzige Leiter«, rief ein dritter, »aber die Flamme ergreift sie bereits. Wer reißt sie aus der Glut?«

Da sprang einer von den vermummten Teufeln herbei, stürzte sich in die Flammen, als seien sie wirklich sein angeborenes Element, hob die Leiter heraus und setzte sie an den Felsen, obgleich das Feuer schon hie und da die Sprossen beleckte und um sein Gewand züngelte.

Alle Blicke hingen an dem kühnen Mann; jeder Mund hielt den Atem zurück.

Das Wagestück gelang. Der Teufel, in den angebrannten, vom Rauch geschwärzten Kleidern noch teufelmäßiger anzusehen als vorher, brachte den vor Todesschreck zusammenknickenden Weltenrichter aus den Flammen und führte ihn vor den Herzog, umringt von der beifalljauchzenden Menge.

Der Fürst, gewohnt, zügellos jedem Eindrucke des Augenblicks zu folgen, brach in ein laut schallendes Gelächter aus, da ihm im Anschauen des wunderlichen Paares einfiel, daß also der Knecht der Hölle den Herrn des Himmels aus dem höllischen Feuer gerettet habe, rief dazwischen aber laut und mit gewaltigem Ernste: »Das Jüngste Gericht darf niemals wieder gespielt werden!« und schüttelte sich abermals vor Lachen, um dann jenen Ruf noch lauter und strenger zu wiederholen.

Denn er empfand das Ärgernis und den Humor, welcher in dem Vorfalle lag, gleich stark und sprach seinen Tadel und sein Ergötzen durcheinander gleich offen und nachdrücklich aus.

Plötzlich jedoch leuchte ein ganz anderer Gedanke sichtbar aus seinen Zügen.

»Sind alle gerettet?« fragte er und schaute im Kreise umher.

Gottlob! Sie waren es alle.

Da nahm der Herzog seinen Hut ab und stand eine Weile wie im stillen Gebet versunken. Und das ganze Volk betete im stillen mit.

Es war aber, als sei dies nun erst das wahre geistliche Schauspiel, zu welchem eigentlich die vielen Menschen von fern und nah herbeigeströmt, und die schönen Bilder seien nur ein Mummenschanz gewesen.

Nach einer Pause ließ der Herzog den kühnen Retter vortreten.

Der halb angebrannte Teufel nahm die Larve vom Gesicht und verbeugte sich tief vor dem gnädigen Herrn. Es war Kaspar, der Schneckenmeister.

Der Herzog sah ihm scharf ins Auge; er erkannte und kannte gar wohl den oft bestraften Pförtner von der Felsentreppe. Aber er schüttelte ihm die Hand, spendete ihm reiches Lob und fragte dann mit huldvollem Lächeln: »Was erbittest du dir, Kaspar? Sag an! Ich will dir's gewähren.«

Kaspar besann sich lange. Endlich sprach er: »Zuerst einen neuen Rock für den Winter und Schuhe und Hosen und Kappe dazu.«

»Du sollst sie haben. Und welche zweite Bitte folgt auf die erste?«

»Zum zweiten und letzten –« erwiderte Kaspar und begann zu stottern – »zum zweiten möchte ich gar nichts für mich erbitten, sondern – –«

»Nun heraus damit! Für wen bittest du?«

»Für Euch selber, gnädiger Herr!«

»Für mich? Und was willst du, daß ich dir für mich selber gewähre?«

Dem Kaspar begann's zu schwindeln. Er bat den Herzog für den Herzog: das schien ihm im Augenblick nicht mehr ganz vernünftig, und indem er nach richtigeren Worten suchte, verlor er vollends die Richtschnur der Gedanken.

Der Herzog wurde ungeduldig, da auf wiederholtes Fragen kein zusammenhängender Satz aus dem Schneckenmeister herauszubringen war. Kaspar erschrak immer mehr und verstummte vollends.

Endlich rief der Herzog: »Ich stellte dir im Grund nur eine Bitte frei, und du selber kannst keine zweite finden. Da aber nun doch auf dein erstlich ein zweites folgen muß, so will ich's aus freier Gnade hinzufügen. Und also gebe ich dir zu dem Rock, den Hosen und Schuhen und der Kappe für den Winter zweitens auch noch Kappe, Schuhe, Hosen und Rock für den Sommer. Für mich aber bitte ich von dir, daß du mir fortan treuer und eifriger dienest, als es bisher geschehen ist.«

Kaspar entfernte sich, wie mit kaltem Wasser begossen. Er vergaß sogar zu danken.

Als er unter die Leute zurücktrat, drängte sich Anna zu ihm vor. Sie hatte für sein Leben gezittert, sie hatte über seinen Mut und sein Glück gejubelt, sie wollte ihm vor aller Augen um den Hals fallen und einen Kuß geben. Doch Kaspar stieß sie kalt zurück und rief: »Rühre mich nicht an, Anna. Ich bin ein Esel.«

Vergebens suchte Anna unter Tränen des Zornes eine nähere Erklärung dieses Wortes zu erlangen, welches so verständlich und doch so dunkel war. Kaspar ging schweigend neben ihr her.

Erst als sie selber nun auch schweigend zu trotzen begann und der Pfad, den beide seitwärts gingen, einsam wurde, brach Kaspar sein Schweigen durch das öfters ausgestoßene abgebrochene Wort: »Diese verdammte zweite Bitte!«

Anna griff den deutlichen Wink auf, der ihr hier zum Wiederanknüpfen des Gespräches gegeben war, und beschwor ihn, zu bekennen, welche zweite Bitte das denn eigentlich gewesen, die ihm in der Kehle steckengeblieben sei.

Jetzt löste sich Kaspars Zunge plötzlich und gewaltsam: »Hölle und Teufel! Ich wollte sagen: ich bitte Eure Gnaden um Gottes willen, nicht zu predigen! – – Nun ist's heraus, ganz leicht, und vorhin ging es um die Welt nicht. Meinst du, ich wäre ins Feuer gesprungen für zwei Röcke und zwei Paar Hosen? Ich sprang hinein, weil mich die zwei Herrgötter dauerten, der eine auf dem Felsen droben in Feuer und Rauch und der andere drunten unter dem Herzogszelt, welcher alleweil predigen will. Also bin ich zweitens durchs Feuer gegangen für die Würde des Hofes und das Beste des Landes, damit ich einmal das Recht gewönne, unserm Herrn die Meinung zu sagen, so frei wie sein Kanzler und Geheime Rat. Aus zwei Gründen hatte ich mein Leben gewagt, darum erlaubte ich mir auch zwei Bitten – doch keine für mich. Denn den Rock und die Hosen wollte ich dem armen Schlucker, dem Weltenrichter, für nächsten Winter schenken, und den Herzog hätte ich dem Lande wiedergeschenkt. War das nicht fein gedacht? Und jetzt befällt mich mit einemmal der Schreck und Schwindel angesichts des Herzogs, der mich auf der brennenden Leiter nicht befallen hatte, und ich habe mir beide Hände umsonst verbrannt und in meiner Dummheit das Beste doch nicht herausgebracht!«

Fünftes Kapitel.

Kaspar wurde selbigen Tages noch von vielen belobt und. beglückwünscht, und alle fragten ihn dann auch, was doch eigentlich die zweite Bitte gewesen sei, die er nicht habe über die Lippen bringen können. Allein, was er seiner Geliebten anvertraut, das sagte er weiter keinem Menschen. Anfangs hüllte er sich aus Ärger in geheimnisvolles Schweigen, und nachher fand er seine stille Freude dran, die Frager durch allerlei ausweichende Reden erst recht neugierig zu machen und ihnen dann hinterdrein doch nichts zu sagen.

Auch seiner Anna hatte er Schweigen auferlegt.

Sie hielt es getreulich mit der einzigen Ausnahme, daß sie noch desselben Abends ihrer innigsten Freundin, der Küchenmagd, die ganze Sache erzählte. Die Küchenmagd berichtete sie dann nur ihrem getreuen Verehrer, dem Kapaunenstopfer, welcher eben drei Kapaunen in die Küche ablieferte. Der Kapaunenstopfer bewahrte die Neuigkeit über Nacht. Als er aber des andern Morgens zum Hofbäcker ging, um seine tägliche Brotration zu holen, konnte er sie diesem doch nicht vorenthalten, und weil gleich nachher der herzogliche Läufer am Fenster der Hofbäckerei vorbeilief, so klopfte ihm der Bäcker und teilte ihm die verschluckte zweite Bitte des Schneckenmeisters mit, über welche sich ja die ganze Stadt den Kopf zerbrach. Da aber der Läufer solchergestalt um fünf Minuten zu spät bei seinem Vorgesetzten, dem Hoffourier, ankam, so mußte er die Geschichte, welche schuld daran war, notwendig auch diesem wiedererzählen. Der Hoffourier war vergangene Nacht von seiner Frau mit einem Bübchen beschenkt worden und wollte eben zum Hofprediger gehen, um ihn zu bitten, daß er den kleinen Heiden taufen möge. Und weil die Vaterfreude mitteilsam macht, so vertraute er dem hochwürdigen Herrn denn auch in aller Geschwindigkeit, was eigentlich die verhaltene zweite Bitte des Kaspar gewesen sei.

Der Hofprediger hielt es für seine heilige Pflicht, dem Herzog stracks von der Sache Kunde zu geben.

Er erklärte den Brand des Gerüstes für einen Wink des Himmels, der keine Freude an solchen Spielen habe; die verschwiegene zweite Bitte des Schneckenmeisters aber sei ein irdischer Wink, den man auch nicht verachten dürfe. Denn der Herzog sehe daraus, wie selbst der gemeine Mann durch das Vorhaben des gnädigen Herrn, allerhöchstselbst predigen zu wollen, in Besorgnis und Aufruhr versetzt werde. Und wenn auch die Mahnworte der Geistlichen und der getreuen Räte unerhört verhallten, so möge doch Seine fürstliche Gnaden diese Stimme aus dem Volke nicht überhören, die um so beweglicher und lauter gesprochen, als sie eigentlich gar nicht gesprochen habe, sondern in tiefster Ehrfurcht erstickt sei.

Der Herzog blickte den Prediger mit großen Augen an; er schwieg lange und durchdachte sichtbar, was er eben gehört, unter Zweifeln und Bedenken. Aber plötzlich leuchtete sein Antlitz, der Entschluß war gefaßt; schon glaubte der Hofprediger, seinen starren Sinn endlich gewendet zu haben.

Da rief der Herzog seinen Leibdiener und befahl, daß er ihm heute bei Tisch statt des Weines einen Krug frischen Brunnenwassers auftragen solle. Dies sagte er recht laut und deutlich, damit es der Prediger ja hören möge, zu ihm selbst aber sprach er kein Wort und verabschiedete ihn mit einer stummen Handbewegung. Der geschlagene Mann verstand gar wohl den Sinn jenes Befehls: der Herzog wollte nun erst recht predigen und recht bald obendrein. Es blieb nur noch die leise Hoffnung übrig, daß das Brunnenwasser keine drei Tage standhalten werde auf der herzoglichen Tafel.

Sechstes Kapitel.

Inzwischen hatte Kaspar bald genug erfahren, daß das Geheimnis seiner zweiten Bitte ausgeplaudert worden sei, obgleich er nicht ahnte, daß es gar der Herzog schon wisse.

Er suchte die schwatzhafte Anna auf, um ihr tüchtig den Text zu lesen. Die Leinwandmagd ließ den ganzen Sturm seines Zornes ruhig über sich dahinbrausen; nachdem er aber um so rascher ausgetobt, je heftiger er begonnen, fragte sie den Kaspar – die Arme in die Hüfte gestemmt –, ob er denn auch wisse, warum sie geplaudert habe. Sie plaudere nie aus Lust am Plaudern, sondern stets aus höheren Gründen.

»Ich habe geplaudert aus Ärger über dich und aus Stolz auf dich. Aus grimmigem Ärger: Denn wie konntest du so töricht sein und nach einer solchen Heldentat bloß um Rock und Hosen bitten und darauf mit einem Anliegen steckenbleiben, welches dich gar nichts anging? Seinem Ärger aber muß man in Worten Luft machen, sonst schlägt er nach innen auf die edlen Teile, und man wird krank. – Dann habe ich aber auch geplaudert aus Stolz: Denn wenn schon deine zweite Bitte noch törichter war als die erste, so wäre sie doch sehr schön gewesen, wenn du sie herausgebracht hättest. Unterfing sich doch mein Schatz, obgleich bloß Schneckenmeister, dem Herzog zu sagen, was ihm kein Hofherr öffentlich ins Gesicht zu sagen wagt. Das hätte alles so beweglich enden können, wie man es in alten Geschichten von großmütigen Kaisern und Sultanen hört, und vielleicht hätte dich der Herzog wegen deines Freimutes gar zu seinem Kanzler gemacht. Dies ist nun nicht geschehen; aber ich war doch stolz, daß es beinahe hätte geschehen können, und die Leute sollten's wissen!«

Bei diesen Worten stemmte sie die Arme nicht mehr mit spitzen Ellbogen in die Hüften, sondern streichelte dem Kaspar die Backen und das Kinn, daß er ganz weich ward und ihr die Hand gab und mit erstickter Stimme flüsterte: »Ich war ein rechter Esel, daß ich die zweite Bitte nicht herausbrachte.«

»Das hast du gestern schon gesagt«, fiel Anna ein. »Aber jetzt merke auf meinen Rat. Der Herzog ist über die Maßen neugierig; er wird von fernher läuten hören von dem Gerede, das über deine zweite Bitte umläuft, aber keiner wird ihm den wahren Inhalt zu entdecken wagen. Er wird dich rufen lassen, er wird dich schärfer und geduldiger fragen –«

»Und dann bitte ich ihn, daß er um Gottes willen nicht weiter ans Predigen denke!«

»Keineswegs! Für diese Bitte findet sich in Jahr und Tag vielleicht wieder einmal günstige Gelegenheit. Zunächst mußt du deine erste Bitte verbessern, die viel zu klein gegriffen war, und dies gibt dann für jetzt die rechte zweite Bitte.«

»Allein du warst ja so stolz auf die andere, ungesprochene. Spreche ich sie nun wirklich aus, dann wirst du noch viel stolzer werden.«

»Gewiß! Doch alles zu seiner Zeit. Zuerst muß man vernünftig bitten, wenn auch nicht schön; dann kommt immer noch ein Tag, wo man auch schön und vernünftig bitten darf. Und also bitte jetzt den Herzog, daß er dir sofort erlaubt, mich zu heiraten, und dir einen bessern Dienst gibt (denn der Schneckenmeister schickt sich nicht für einen verheirateten Mann) und uns beiden eine recht reiche Aussteuer dazu. Das hätte gestern schon deine erste Bitte sein sollen. Und, ehrlich gestanden, plauderte ich vornehmlich deswegen, daß du mit deiner Bitte noch einmal recht ins Gerede kommen und vom Herzog aufs neue befragt werden möchtest.«

Kaspar staunte über die Klugheit der alten Mutter Eva, die so klar aus seiner Anna sprach. Allein ihm blieb kaum Zeit, sich auszustaunen, denn es erschien ein Diener, welcher ihn augenblicklich zum Herzoge entbot.

Siebentes Kapitel.

Der Herzog hatte bei Tafel wirklich keinen Wein getrunken. Zwei Paar Augen lauerten gespannt, ob er nicht doch zuletzt zum Becher greife: Prinz Johann Christian und der Hofprediger. Allein der Prinz behielt gewonnen Spiel; ja es schien, als lege es der Herzog auch außerdem heute ganz besonders darauf an, den gefährlichen Plänen seines Vetters vorzuarbeiten.

Der Rheingraf Karl mit seiner Tochter war zu Gaste. Doch der Herzog wechselte kaum ein paar Worte mit ihnen und vernachlässigte sie in fast beleidigender Weise. Er brütete über der zweiten Bitte des Schneckenmeisters. Sie dünkte ihm allerdings ein Zeichen, aber von ganz anderer Bedeutung, als es der Hofprediger gemeint hatte. Denn daß Kaspar ihn vom Predigen hatte abmahnen wollen, war ja nicht das Wunderbare, sondern daß er diese Abmahnung mit aller Gewalt nicht hatte aussprechen können. Zudem fand der Herzog einen mystischen Zusammenhang zwischen dieser zweiten Bitte und der zweiten Bitte, die ihn selber Tag und Nacht bewegte als sein erstes Predigtthema, der zweiten Bitte des Vaterunsers. Auch das erschreckende Zeichen des verbrannten Jüngsten Gerichts ließ sich mit dem Thema wirksam verflechten, und so erwuchs im Geiste des Herzogs die Disposition zu einer mindestens sechs Stunden langen Riesenpredigt, wie man sie vor Zeiten in Holland gehalten hat, und er vergaß völlig, daß er bei Tafel saß und werte Gäste ehren sollte.

Kaum war der letzte Gang aufgetragen, so erhob er sich auch schon zerstreut wie im Halbtraume und machte Anstalt, sich sofort zu verabschieden. Vergebens nahm ihn die Herzogin beiseite und flüsterte ihm zu, daß es doch schicklich sei, noch ein halbes Stündchen zu verweilen, dem Rheingrafen einige Aufmerksamkeit zu widmen und nach hergebrachter Sitte mit den Gästen ein wenig im Schloßgarten umherzuspazieren.

Er erwiderte laut: »In alter Zeit erquickten sich die Tischgenossen nach dem Mahle auch geistig durch das Anhören von Sängern, Dichtern und Lautenspielern; statt dessen ziemet uns eine geistliche Erquickung, die wir beschaulich in uns selber finden. Und also suche ich jetzt die Einsamkeit meines Zimmers, und wenn ihr alle das gleiche tut, wird es euch besser bekommen als eitles Verdauungsgespräch.«

So empfahl er sich höchst gemessen und ließ die Gesellschaft erstaunt und verstimmt zurück. Die Herzogin wollte in den Boden sinken, der Vetter aber triumphierte im stillen. Doch es kam noch besser.

Die Bürgermeister sämtlicher herzoglicher Städte waren schon seit drei Tagen in der Residenz versammelt, um eine gemeinsame Beschwerde wegen der Übergriffe herrschaftlicher Vögte und Amtleute persönlich vor den Herzog zu bringen. Von einem Tag auf den andern vertröstet, waren sie endlich heute nach der Tafel zur Audienz entboten. Als sie aber nunmehr dem Herzog gemeldet wurden, geriet derselbe in großen Zorn. Es dünkte ihm viel wichtiger, den Schneckenmeister zu sprechen, als seine sämtlichen Bürgermeister. Der Kämmerer wagte es, seinen Herrn auf die politische Wichtigkeit dieser Audienz aufmerksam zu machen. Dies brachte ihn aber erst recht in Harnisch. Entrüstet rief er aus: »Soll ich über diesen kleinlichen Städteprivilegien die großen Pläne verabsäumen für das Seelenheil meines ganzen Volkes?«

Darum ließ er den Bürgermeistern sagen, daß er sie jetzt und auch demnächst nicht empfangen könne und daß sie ihr Anliegen schriftlich auf der Kanzlei abgeben möchten.

Die Bürgermeister zogen tiefgekränkt wieder ab. Johann Christian aber entbot sie vorher noch einmal zu sich, erwies sich ihnen überaus freundlich, begleitete sie bis auf den Schloßhof und beklagte, unter herzlicher Teilnahme für seinen regierenden Vetter, daß derselbe jetzt so dringend nötig mit dem Kaspar Krummholz zu verhandeln habe und folglich durchaus keine Zeit für die Vertreter seiner getreuen Städte finden könne.

Äußerst verstimmt ging inzwischen der Herzog in seinem Zimmer auf und nieder. Man ließ ihm keine Muße, seiner höchsten Aufgabe zu leben, man erkannte nicht, wie er den andern Fürsten durch ein höher gegriffenes Regentenideal voraneilte, man wollte ihn beständig herabziehen in den altgewohnten, erbärmlichen Kreislauf der Geschäfte. Er rief den Schneckenmeister vor, der schon geraume Frist im Vorzimmer gewartet hatte.

Durchbohrend blickte er ihn an, aber Kaspars Mienen waren glatt und fest wie ein eherner Schild. Der Herzog begann:

»Ich versprach, dir eine Bitte zu gewähren, und habe dir ungebeten eine zweite dazu gewährt. Du aber hattest noch eine andere zweite Bitte im Sinn, die sollst du mir jetzt frei bekennen.«

Ohne Zögern erwiderte Kaspar: »So bitte ich denn Eure Gnaden um die Erlaubnis, die Anna heiraten zu dürfen, die Leinwandmagd, und um ein besseres Amt, das uns beide ernährt, und um eine Aussteuer, die so klein oder groß sein mag, als es meinem gnädigen Herren gefällt.«

Der Herzog, welcher den unerschütterlichen Kaspar zu erschrecken vermeint hatte, war selbst ganz erschrocken über diese zweite Bitte, welche eigentlich die dritte Bitte war und selber wiederum in drei Bitten zerfiel. Zwischen Zorn und Lachen kämpfend, erhob er drohend den Finger: »Kaspar! Zum Lügen gehört ein gutes Gedächtnis! Du hast vergessen, was du gestern gesagt: Denn zum zweiten wolltest du ja gar nicht für dich bitten, sondern für mich.«

»So ist es!« fuhr Kaspar ganz gelassen fort. »Ich wollte Euch einen besseren Diener erbitten. Denn solange ich die Anna bloß liebe und nicht heiraten darf, mache ich in meinem Amte einen dummen Streich um den andern. Verheiratet Ihr mich aber, gnädiger Herr, und erlöst mich von meinem Strafamt an der Hinterpforte und stellt mich an den rechten Platz, dann werdet Ihr den besten und treuesten Diener gewinnen.«

Der Herzog wollte ihn zur Türe hinausjagen wegen dieser unverschämten Sophisterei. Doch Kaspar lachte selbst so dummpfiffig zu seinen eigenen Worten, daß der Herr nicht wußte, ob er über die Geistesgegenwart des Gesellen staunen, sich über dessen Frechheit erzürnen oder über seinen Humor mitlachen solle.

Er legte aber sein Gesicht in tiefernste, drohende Falten, winkte den Kaspar einen Schritt näher und rief mit gewaltiger Stimme: »Du wolltest mich bitten, nicht zu predigen! Kannst du's leugnen?« Kaspar schüttelte den Kopf; man wußte nicht, ob verneinend oder bloß erwägend.

»Hast du nicht selbst nachher erzählt, daß dies eigentlich deine zweite Bitte gewesen sei?«

»Und wem sollte ich's erzählt haben?«

»Du hast es meinem Hofprediger gestanden!«

»Dem Herrn Hofprediger habe ich gar nichts gesagt«, entgegnete Kaspar rasch. »Aber vielleicht ließ mich der hochwürdige Herr nur so reden wie einen Mann im Gleichnisse. Er legte mir eine Bitte in den Mund, die er gern zu Euer Gnaden Ohren bringen wollte, ohne daß er sich getraute, sie als seine eigene Bitte auszusprechen.«

Der Herzog ließ sich auf die falsche Fährte locken; ein gewaltiger Zorn gegen den Hofprediger zuckte durch sein erregbares Gemüt. Kaspar aber im stolzen Gefühl seiner Überlegenheit freute sich, daß er durchaus nicht unmittelbar gelogen und doch den Herzog hinters Licht geführt habe. Und wenn der Hofprediger in Ungnade fiel, so freute ihn das doppelt; denn er konnte den Mann ohnedies schon längst nicht ausstehen.

Plötzlich aber belebten sich die kalten, sarkastischen Züge des Schneckenmeisters wunderbar, seine Augen leuchteten, es war, als habe sein guter Geist mit einem Schlag den bösen überwunden, und er sprach mit erhobener Stimme und flehender Gebärde: »Ich habe gestern Euer Gnaden allerdings bitten wollen, nicht zu predigen, aber ganz habe ich's doch nicht gewollt, denn sonst hätte ich's ja getan. Jetzt tu' ich es! Gnädiger Herr! Schlagt Euch doch um Gottes willen den Pfarrer aus dem Kopfe. Hört auf mich einfältigen Mann und predigt nicht!«

»Und warum soll ich nicht predigen?«

»Weil es Eure Feinde freuen, Eure Freunde betrüben würde!«

»Was weißt du von meinen Freunden und Feinden? Wer sind meine Feinde?«

»Gnädiger Herr«, entgegnete Kaspar ganz leise, bewegten Tones, »als ich gestern abend einschlief, kam mir im Traume das Schauspiel des Jüngsten Gerichtes sofort wieder vor Augen. Die Hölle brannte den Himmel wieder an wie tags vorher, ich sprang wieder als Teufel herzu und riß die Engel aus dem Feuer. Doch als ich dann zum Lohne in des Herzogs Zelt gerufen wurde, sah es dort ganz anders aus wie tags vorher. Auf dem Thron saß Euer Vetter Johann Christian mit dem Herzogshut. Der gewährte meine erste Bitte, nämlich daß ich heiraten dürfe, und machte mich zum Silberbewahrer und gab mir eine prächtige Aussteuer. Und als ich darauf noch eine zweite Bitte sagen sollte, stotterte ich gar nicht, sondern mit Tränen flehte ich den neuen Herzog an, daß er Euch freigeben solle aus dem Schloßturm, wo Ihr in einem schwarzen Chorrock eingesperrt saßet und den Fledermäusen predigtet!«

»Und was erwiderte mein Vetter?«

»Leider erwiderte er gar nichts, sondern er jagte mich davon, und ich erwachte.«

Nach diesen Worten hielt der Herzog seinen Zorn über die Frechheit des Burschen nicht länger zurück und tat dasselbe, was angeblich sein Vetter im Traume getan hatte.

Indem er aber die ganze Kette doppeldeutiger, eigennütziger und unnütziger Antworten erwog, die ihm der Schneckenmeister gegeben, vertiefte und verlor er sich ganz in den Rätselgängen des menschlichen Herzens, und sein Entschluß stand fester als je, daß er predigen wolle und müsse, um seinen verderbten Untertanen die Wahrheit persönlich zu sagen.

Und er befahl dem Mundschenk, auch für die Abendtafel nur klares Brunnenwasser in seinen Becher zu füllen.

Achtes Kapitel.

In der Leinwandkammer war es heute rührig zugegangen. Man hatte Wäsche von der Bleiche gebracht, gemangt, gezählt und in Schränke und Fächer geordnet. Anna war dabei zum Staunen der Beschließerin über alle Maßen fleißig gewesen: sie wollte die Angst und Spannung ihres Gemütes durch Arbeit niederhalten. Denn noch wußte sie nicht, ob Kaspar, nachdem sie ihm heute mittag die guten Lehren gegeben, zum Guten oder zum Bösen vor den Herzog war berufen worden.

Der Abend kam. Die Arbeit ging zu Ende; die Beschließerin legte den kleinen Rest vollends in die Hände der so überaus fleißigen Magd und gab ihr den Schlüssel, die Kammer nachher sorgsam abzusperren.

Als aber die Beschließerin fort war, setzte sich Anna auf eine Kiste, legte beide Hände in den Schoß und seufzte. Wäre doch Kaspar jetzt hier gewesen, um ihrer Ungewißheit ein Ende zu machen! Die sinkende Sonne glühte purpurn durch die runden Scheiben und warf breite Lichtstreifen auf die blanklackierten, reichgeschnitzten Weißzeugschränke und das blütenweiße Linnen, welches noch auf den Tischen gebreitet lag, und Anna saß inmitten dieses Tempels der Reinlichkeit mit ihren lichtblauen Augen und schneeigen Armen und der weißen Haube und Schürze, als wäre auch sie von innen und außen frisch gebleicht.

Selbst eine Leinwandkammer kann zur paphischen Rosenlaube werden: es kommt nur darauf an, wer darinnen sitzt und wer hineinschaut.

Plötzlich streckte Kaspar seinen struppeligen Kopf herein. Er sah keine Rosen, er sah nicht einmal Leinwand; er sah nur Nebel und Dämmerung in all dem weißen und roten Licht, und selbst die leuchtende Anna erschien ihm wie die Sonnenscheibe hinterm Nebel. Der Herzog hatte ihm gesagt, daß er sich packen solle – ob bloß aus der Audienz oder überhaupt aus dem Dienste? – Eines wie das andere konnte der Sinn der doppeldeutigen und doch so überaus klaren Abschiedsformel sein, genau wie hinter seiner Antwort wegen der zweiten Bitte und wegen des Hofpredigers ein Doppelsinn bei scheinbar bestimmter Rede gelauert hatte.

Er rief die Freundin heraus auf den dunkeln Gang vor der Kammer, wo der Rückzug gedeckter war, falls ihre Zwiesprach gestört würde, und Anna schlüpfte hervor, die Kammertür gleichfalls zum Rückzug halb offen lassend.

Sie fragte, wie es ihm in der Audienz ergangen sei.

»Vortrefflich!« erwiderte Kaspar. »Der Herzog hat mich in seltsamer Huld und Gnade entlassen.« (Denn er meinte, schlimme Dinge brauche man seiner Geliebten nicht eher genau zu sagen, bis man sie selber genau wisse.) Dann berichtete er, wie er sein Heiratsgesuch vorgetragen, der hohe Herr habe aber noch keine Antwort gegeben.

Anna brachte zum Troste ein Stück frisch gebleichter feiner Leinwand hervor, zehn Ellen lang und sechs Viertel breit, das war ihr als überzähliger Rest beim Aufräumen an den Fingern hängengeblieben, und schenkte es ihm zu neuen Hemden.

Hierdurch etwas gestärkt, erzählte Kaspar mit wachsender Laune, wie er den Herzog belogen und an der Nase herumgeführt, auch dem Hofprediger unversehens ein Bein gestellt, dann aber dem armen verratenen Herrn die Ränke seines Vetters im Traume gezeigt habe. Er machte sich dabei gehörig lustig über den närrischen Herzog, der fortwährend in der Einbildung lebe und Gleichnisse deute, und doch besäße er nicht Verstand genug, dieses deutlichste Bild und Gleichnis zu durchschauen.

Bei diesen Worten wurden die beiden durch ein leises Geräusch erschreckt. Sie blickten forschend ringsum, entdeckten aber nichts. Es mochte eine Katze vorbeigesprungen sein.

Anna hatte anfangs gelacht über Kaspars Bericht, nahm aber jetzt plötzlich einen sehr ernsten Ton an und putzte ihn tüchtig aus, daß er seinen Herrn belogen und den Hofprediger verleumdet habe.

Sehr kaltblütig entgegnete Kaspar und ganz lehrhaft: »Es kommt überall darauf an, wen man belügt. Wie könnte heutzutage die Dienerschaft mit ihrer Herrschaft auskommen, wenn sie ihr immer die Wahrheit sagte? Ist mein Herr in Gefahr, dann warne ich ihn ehrlich und trotze selbst seiner Ungnade, wie ich's heute getan, ja ich gehe für ihn durchs Feuer. Wo es aber bloß unsern Vorteil gilt und der Herrschaft kein besonderer Schaden droht, da dürfen wir sie auch anlügen zum Blauwerden; denn wie wollten wir gemeinen Menschen uns sonst erhalten vor der Übermacht der Großen? Übrigens zupfe nur an deiner eigenen Leinwand, die du mir eben geschenkt hast!«

Anna, die leuchtende, reine Gestalt, geriet in heftige Aufregung. »Du schändlicher Mensch!« rief sie, »du meinst wohl gar, ich habe die Leinwand gestohlen? Nicht einen Faden würde ich anderswo nehmen, und keine Pfennigsemmel nähme ich dem Bäcker vom Laden, und wenn ich am Verhungern wäre. Aber dieses Stück Leinwand gehört zum herzoglichen Inventar, und da darf ein herzoglicher Diener zwischendurch etwas behalten, wenn's nur nicht gar zuviel ist. Der Koch behält sich von Fleisch und Gemüse, was seine Familie noch nebenbei bedarf, und der Geheimschreiber von Pergament und Siegelwachs, was er an Freunde billig verkaufen kann: warum sollte ich nicht etwas Leinwand behalten? Das geht so hinauf bis zur Herrschaft. Nur bleibe jeder mit seinen Fingern beim Inventar seines Amtes, dann ist's nicht gestohlen. Und so stiehlt unser gnädiger Herzog zuletzt dem Kaiser die Reichssteuern, ja er stiehlt unserm Herrgott die Tage, da er in Gedanken predigt, statt zu regieren; und er glaubt ein so gutes Recht auf alles das zu haben wie ich auf diese Leinwand.«

Bei diesen Worten hörten beide dicht hinter sich ein noch stärkeres Geräusch als vorher. Anna schrie laut auf, warf die Tür der Leinwandkammer ins Schloß, zog geschwind den Schlüssel ab und lief mit ihrem Kaspar den dunklen Gang hinunter ins Weite, als ob ihnen der Teufel auf den Fersen säße.

Neuntes Kapitel.

Ein Lauscher hinter der halbgeöffneten Tür hatte die ganze Unterredung angehört: – es war der Herzog selber.

Beunruhigt durch Kaspars Traumgeschichte trieb es ihn ins Freie, seine widersprechenden Empfindungen auszustürmen, seine Gedanken zu sammeln. Da hörte er, durch den dunklen Gang zur Hinterpforte eilend, seinen Namen und erkannte die Stimme des soeben ungnädig verabschiedeten Warners. Neugierig wie er war und auch wohl in der Hoffnung, noch deutlichere Winke zu erlauschen, schlich er sich unvermerkt in die offene Leinwandkammer und hatte nun hier Kaspars Selbstbekenntnis seiner Lügen wie den weiteren moralischen Dialog der beiden Liebenden Wort für Wort genau vernommen.

Er wollte hervortreten bei Annas letzter Rede. Allein das erschreckte Mädchen, wähnend, das Geräusch komme von der andern Seite, hatte schneller noch die Türe ins Schloß geworfen, und so sah sich der Herzog in seiner eigenen Leinwandkammer eingesperrt.

Er rief. Doch die eilends Fliehenden hörten ihn nicht mehr. Er versuchte mit Gewalt hinauszukommen. Allein die eisenbeschlagene Tür widerstand, und die Fenster, welche auf den Fluß gingen, waren stark vergittert. Darum gab er bald die fruchtlosen Versuche auf.

Nachdem er sich aber einmal resigniert hatte, vergaß er auch sofort das Verdrießliche und Komische der Lage. Und so völlig lebte dieser Mann in der selbstgeschaffenen Welt seiner Gedanken und Einbildungen, daß er jetzt in der Kammer auf und ab ging, als wäre sie sein gewohntes Zimmer, und rastlos mit sich selber redend, die Zweideutigkeit und Schlechtigkeit der Menschen geißelte.

In der Kammer ward es mittlerweile immer dunkler, in seinem Kopfe immer heller. Er durchschaute Plan und Mittel seines Vetters zum erstenmal, und viele kleine Tatsachen, die er bisher kaum beachtet, wurden ihm nun erst verständlich und reihten sich Glied an Glied.

Allein statt sofort zu erwägen, wie er dem Vetter begegnen, wie er ihn unschädlich machen, wie er die weiteren Fäden einer wahrscheinlichen Verschwörung entwirren und die gärenden Gemüter beschwichtigen solle, faßte er die Sache unvermerkt von ihrer psychologischen und moralischen Seite und predigte über die Verruchtheit des ungetreuen Vetters. Die großen Sünder sind aber selten die interessantesten, die kleinen Sünder fesseln meist viel mehr. Darum lockte es den Herzog auch ganz besonders, die dunklen Irrgänge zu verfolgen, welche sich ihm in der Seele Kaspars aufgetan hatten und seiner blendend weißen Anna. Und eh' er sich's versah, war ihm die Frage, wie er den Vetter entlarven solle, ganz entschwunden vor der viel wichtigeren, wie der kleinere, aber merkwürdigere Sünder, der Kaspar, am besten zu züchtigen sei.

Was sollte er tun?

Dem Kaspar bloß eine Strafpredigt halten, das war zu wenig und würde nicht viel geholfen haben. Ihn einsperren lassen, wäre ein gemeines Mittel gewesen, was jeder Amtmann anwendet; dazu brauchte man keinen theologisch geschulten Herzog. Ihn im Dienst zu behalten, würde unklug, ihn einfach fortzujagen, unedel sein. Hatte nicht Kaspar, obgleich im Kleinen schändlich untreu, im Großen seine Treue bewährt und gestern den Mann aus dem Feuer gerettet, heute dem Herzog die Netze seines Vetters enthüllt? Menschlicherweise hätte er den treuen Warner ja gar belohnen und vor dem Lügner und Verleumder ein Auge zudrücken müssen!

Er sann und sann. Plötzlich zuckte ein erleuchtender Strahl durch seinen Geist. Er will den Kaspar samt der Anna strafen, nicht wie der Amtmann die Spitzbuben, sondern wie Gott die Sünder straft. Ihre eigene schlechte Neigung soll ihnen zur Zuchtrute werden, die Erfüllung ihres Lieblingswunsches zur Buße. Er will den Kaspar durch die Anna strafen und die Anna durch den Kaspar. Sie haben ihre Herrschaft belogen, betrogen, bestohlen, ja sie haben dies in ein feines Dogma gebracht. Man schmiede sie zusammen, und sie werden sich untereinander belügen, betrügen, bestehlen. So meint der Herzog. Darum will er sie verheiraten; sie müssen sich heiraten, wie Kaspar törichterweise gewünscht und doch nicht ganz von Herzen gewünscht hat. Die Ehe ist ein Himmel für reine Seelen, eine Hölle für unreine: sie sei ihre Strafe!

Hiermit glaubte dann der Herzog gleicherweise als Mensch Gnade zu üben und Dank zu spenden, aber Strafe als priesterlicher Amtmann Gottes.

Freilich befällt ihn einen Augenblick der Zweifel, ob es auch christlich sei, zur Strafe eine Hochzeit zu diktieren. Denn Galgen, Rad, Kerker und andere Strafmittel pflegen sonst sehr unheilige Dinge zu sein, an sich schon verhaßt und verachtet; sie können nicht entweiht werden, indem man Spitzbuben damit züchtigt. Die Ehe aber ist ein heilig Ding. Allein straft nicht unser Herrgott selber dumme und schlechte Menschen oft genug durch eine Heirat?

Hiermit hatte der Herzog einen Gedanken erfaßt, welcher ihn dergestalt emporhob, daß es ihm zu schwindeln begann. Er erkannte einen fundamentalen Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Strafjustiz: die Menschen strafen durch einen Fluch, Gott aber straft auch durch einen Segen, durch die höchsten und heiligsten Güter ebensogut wie durch Hölle und Teufel. Und indem nun auch der Herzog diese beiden Menschen durch einen Segen strafte, den sie sich selbst nach ihrem sündhaften Wesen voraussichtlich zum Unsegen machen würden, – trat er nicht unmittelbar in die Fußstapfen Gottes?

Es war ihm, als walte er in diesem Augenblicke zum erstenmal wie ein irdischer Gott.

Bisher hatte er geglaubt, vor allem Volke priesterlich predigen, das sei das höchste Wirken, welches er nur erstreben könne; jetzt erschien ihm das Predigen plötzlich klein gegen ein viel größeres priesterliches Amt: als irdischer Gott unsichtbar, unmerkbar zweier Menschen Schicksale derart lenken, daß sie sich selbst ihr eigenes Gericht schafften, – war das nicht unendlich mehr?

Auf der Höhe dieses Gedankens blickte der Herzog ringsum, als liege die ganze Welt zu seinen Füßen, und schritt weit aus, als gehe er einher zwischen den Reihen ängstlich harrender Sterblicher, die von seinem Winke das Los ihrer Zukunft erwarteten.

Da stieß er wider den großen Leinwandschrank links in der Ecke – denn es war pechdunkel geworden –; er taumelte zurück und suchte sich vergebens an dem danebenstehenden Tisch zu halten, wobei er einen Haufen frisch gewaschener Bettücher herunterwarf, auf welche er dann ohne allen Schaden niedersank.

Er erwachte aus seinem wachen Traum, er entsann sich, wo er war, wie er hierher gekommen. In seinem Innern leuchteten selige Gesichte, aber außen sah er keinen Stich; seine Seele fühlte sich befreit, doch sein Körper war ohne Zweifel eingesperrt. Er tastete nach dem Fenster, stieg hinauf und stieß mit der Nase an die Wand, daß sie blutete.

Dem Herzog riß nun denn doch der Geduldfaden. Er kroch zur Türe und pochte und rief laut und immer lauter. Im Zustand höchster Begeisterung und vollsten Siegesjubels kümmert es uns blutwenig, ob wir durch ein kleinliches Mißgeschick Gefahr laufen, eine lächerliche Figur zu spielen. Er klopfte immer stärker, erst mit der Faust, dann mit dem Stiefelabsatze, daß es weithin durch die Gänge und Hallen des Schlosses dröhnte.

So mochte wohl eine lange Viertelstunde vergehen. Endlich hörte er draußen leise Tritte. Der Schlüssel knarrt in der Türe, sie öffnet sich; er will stolz und zornig heraustreten. Da packt ihn im Dunkeln eine feste Faust am Kragen: »Haben wir den Leinwanddieb endlich erwischt?« rief eine gewaltige Baßstimme.

Aber der Fürst rief noch gewaltiger: »Zurück! Rühre keiner mich an, ich bin der Herzog!«

Bei der wohlbekannten Stimme ließ der Schloßvogt, welcher schon einen Prügel erhoben, den Herzog los und warf den Prügel weg. Man hörte ein Geflüster unter den Umstehenden, die der Lärm herbeigelockt hatte. Es kam Licht.

Der erste Blick des Herzogs fiel auf seinen Vetter Johann Christian. Er maß ihn von Kopf zu Fuß, wahrend der erschrockene Schloßvogt unbemerkt zur Seite in die Knie gesunken lag.

Johann Christian war im Begriff, seinem Staunen und Unmut Worte zu geben über die abenteuerliche Lage, in welche sich der Herzog vor seinen eigenen Leuten gesetzt hatte. Dieser aber kam ihm zuvor.

»Lieber Vetter!« sprach er, »Ihr werdet Euch auf Euer Zimmer begeben und dasselbe mit keinem Schritte verlassen, bis ich's Euch erlaube. Ich habe wundersame Offenbarungen gehabt in dieser dunkeln Kammer. Noch umgeben mich treue Diener und Untertanen, auch wenn meine nächsten Verwandten untreu werden sollten.« Und dann nahm er ihn beiseite und sagte leise: »Ich werde heute abend einen vollen Becher Rheinwein trinken, kein Wasser. Inzwischen möget Ihr in der Einsamkeit nachdenken, ob es unschicklicher sei, daß ein Herzog predige oder daß ein Glied unseres Hauses auf seines eigenen Fürsten und Herren Absetzung sinne.«

Der Vetter stand vernichtet. Er wagte kein Wort zu erwidern und ging, wie ihm der Herzog befohlen.

Des andern Tages berief dieser seine Räte und ergriff klügere und schärfere Maßregeln gegen die drohende Verschwörung, als man ihm irgend zugetraut hatte. Und da er wirklich zum Wein zurückkehrte und nicht predigte, zerstob auch der Anhang seiner Gegner im Volke. Denn wegen schwachen, lässigen Regiments empörten sich damals die Untertanen nicht gegen ihren angestammten Herrn, und nur wenn der Herzog wirklich die Kanzel bestiegen hätte, wäre es möglich gewesen, den Glauben zu verbreiten, daß sein träumerischer Geist zugleich ein gestörter Geist sei und daß also der hohe Herr gleichsam sich selbst für unfähig erklärt habe, das Szepter zu führen.

Zehntes Kapitel.

Den Kaspar wollte der Herzog nicht wiedersehen; dagegen ließ er ihm durch seinen Geheimschreiber folgendes eröffnen:

»Erstlich – Kaspar und Anna seien beide ihres Dienstes entlassen;

zweitens – der Herzog befehle ihnen, sich binnen vier Wochen zu verheiraten;

drittens – damit sie jedoch nicht hilflos aufs Pflaster gesetzt würden, schenke er ihnen ein Gütlein in seiner neugegründeten Kolonie Friedrichsdorf und werde für die nötige Ausstattung mit Fahrnissen sorgen, daß sie den Besitz schuldenfrei antreten könnten.«

Es war aber dieses Friedrichsdorf eine alte Hofmark jenseit des Gebirges, wohl zehn Stunden von der Residenz entfernt, die im Bauernkriege verwüstet und von ihren Bewohnern verlassen worden war. So hatte die ganze Mark öde gelegen, bis sie der Herzog ankaufte, auf seinen Namen taufte und als nunmehriges Dorf mit neuen Ansiedlern bevölkerte, welche je ein kleines Bauerngütchen erhielten gegen mäßige Zinsen und Fronden. Ein recht fleißiger Mann konnte sich dort behaupten, trägere Wirte dagegen gingen hier wie auf andern ähnlichen Kolonien rasch zugrunde.

Als dem Kaspar jene drei fürstlichen Gnadenartikel mitgeteilt wurden, war er sehr verblüfft. Er hatte Besseres erwartet, nachdem er erfahren, daß sich der Herzog seine Warnung vor dem Vetter mit so durchschlagendem Erfolg zu Herzen genommen. Ein Platz in der Silberkammer wäre ihm lieber gewesen als das schönste Bauerngut. »Wir Hofleute werden uns schwer an die Landluft gewöhnen!« bemerkte er seufzend dem Geheimschreiber, wagte aber doch nicht, das Dargebotene zurückzuweisen.

Noch schwüler machte ihm – ganz im stillen – der zweite Punkt, daß er seine Anna binnen vier Wochen heiraten müsse. Er liebte sie so zärtlich, wie nur ein Schneckenmeister des sechzehnten Jahrhunderts eine Leinwandmagd lieben konnte; aber jetzt, wo die Hochzeit als unabwendbare Tatsache so nah vor der Türe stand, hätte er mit dem Heiraten gern noch etwas warten mögen. »Man hat viele Beispiele«, sprach er bei sich selbst, »daß junge Leute durch allzufrühe Heirat ihre ganze weitere Laufbahn verdarben: zu welchen Ehren könnte ich ledigerweise noch aufsteigen; verheiratet werde ich mein Leben lang ein Bauer bleiben müssen!« Anna freilich, die nicht viel mehr aufzusteigen hatte, war schon längst ganz anderer Meinung gewesen.

Darum sagte ihr der kluge Kaspar zunächst gar nichts von den drei Gnaden des Herzogs, sondern suchte sich ihm stracks bei dessen gewohntem Morgenspaziergange in den Weg zu werfen.

Es gelang. Der Fürst redete ihn an.

Mit gewohnter Unbefangenheit dankte Kaspar für alle die hohen Gnaden, fragte darauf aber, ob es denn wirklich gelte, daß er binnen vier Wochen heiraten müsse, und ob es ihm nicht vergönnt sei, diesen zweiten Punkt in eine zweite Bitte zu verwandeln.

Der Herzog entgegnete jedoch, daß er ihm nun bereits drei zweite Bitten gewährt habe und durchaus keine weitere zweite Bitte zugestehe. Binnen vier Wochen müsse er verheiratet sein. Der Ton dieser Worte ließ Kaspar nichts weiter übrig, als sich demütig zu verbeugen und seiner Braut den allerhöchsten Befehl mitzuteilen.

Kaspars Bedenken hatte den Herzog entzückt. Die Gnade wurde also bereits als Strafe geahnt, die gewährte Bitte war jetzt schon, bevor sie noch ganz in Erfüllung gegangen, der Beginn der Buße. Stand ihm dieser Kaspar nicht bereits genau so gegenüber wie der grobe menschliche Sünder der feinen Weisheit und rätselhaften Gerechtigkeit Gottes? So dachte der Herzog.

Der minder theologische Kaspar fügte sich dagegen ins Unvermeidliche; es sei doch auch etwas wert, daß er bei aller Spitzbüberei einen Winteranzug zum Verschenken und einen Sommeranzug zum eigenen Gebrauche gewonnen und ein Bauerngut mit aller Fahrnis dazu und daß er den Herzog vom Predigen abgehalten und ihm vielleicht die Krone gerettet habe. Die Frau, welche er ja liebe, könne er da schon als etwas verfrühte Beigabe mit in den Kauf nehmen.

Und so heiratete er denn seine Anna, und sie zogen nach Friedrichsdorf und wurden Bauern.

Elftes Kapitel.

Herzog Friedrichs nächste zwei Lebensjahre gehören der Landesgeschichte. Sie erzählt, daß ein völliger Umschwung des Regiments eingetreten sei mit jenem Tage, wo die drohende Verschwörung entdeckt und Johann Christian ins Exil geschickt worden war.

Hatte sich der Fürst vorher fast gar nicht um Land und Volk bekümmert, so arbeitete er jetzt Tag und Nacht mit ruhelosem Fleiße; er wollte plötzlich alles selber tun, von allen Dingen Einsicht nehmen. Die Bittschrift des geringsten Hintersassen war ihm nicht zu gering: er prüfte das Anliegen, als hänge das Wohl des ganzen Römischen Reiches davon ab, und entschied oft sehr wunderlich, mit unbeugsamem Eigenwillen – allein er entschied.

Er liebte es, ganz unerwartet im Volksgedränge zu erscheinen oder auch in den Häusern seiner Untertanen; er spendete Wohltaten, auf die man nicht gerechnet hatte, und verhängte Tadel und Ungnade, wo sich der Betroffene dessen nicht entfernt versah. Die Überraschung der Leute lockte dann ein gewisses selbstzufriedenes Lächeln auf sein Gesicht, welches feierlicher, finsterer geworden war als vorher. Man konnte nicht sagen, daß er überall schlecht regiere; allein er regierte gewalttätig, unberechenbar, und seine Hand lastete jetzt namentlich auf seinen nächsten Räten. Früher hatte er sie niemals gewechselt, jetzt wechselte er sie fortwährend. Denn da er täglich verschlossener ward und keinen auch nur ein klein wenig vorausblicken ließ in seine rätselhaften Pläne, so konnte es ihm auch keiner recht machen.

Trotzdem war die Unzufriedenheit im Lande weit geringer, da der Herzog solchergestalt wie ein launenhafter Despot regierte, als vorher, da er gar nicht regierte. Denn das Volk will fühlen, daß ein Fürst auf dem Throne sitzt.

Aber mit sich selbst war Herzog Friedrich insgeheim qualvoll unzufrieden. Als er noch der Regierung aus dem Wege gegangen war wie ein Knabe den lästigen Schulaufgaben und statt dessen in der Einbildung geträumter Ideale gelebt hatte, fühlte er sich glücklich, und zur vollen Glückseligkeit hatte ihm immer nur eins gefehlt: daß er nicht auf drei Tage das Trinken lassen und dann einmal predigen konnte. Jetzt dagegen, wo er nach seiner Weise sich ganz seinen wirklichen Pflichten hingab, wo er wie eine zweite Vorsehung über dem Lande zu schweben vermeinte, jetzt fand er keine befriedigte Stunde mehr. Doch ließ er dies beileibe niemand merken.

Auf standesmäßige Würde, Glanz und Zeremoniell hielt er fortan noch zehnmal mehr denn zuvor und trank bei großer Tafel zuzeiten auch so standesmäßig, als er's nur immer vermochte. Aber keiner forschte mehr ängstlich, ob der Wasserkrug oder die Weinkanne vor seinem Teller stand. Denn vom Predigen wurde gar nicht weiter geredet. Nur der Hofprediger, welcher allein noch dauernd des Herzogs Vertrauen besaß, wußte, daß er sich nach harter Tagesarbeit oft den Schlaf der Nächte abbrach, um theologische Bücher zu studieren und Streitschriften zu schreiben. Auch war der Geheimschreiber mehrmals durch frisch aufgesetzte Predigtdispositionen von des Herzogs Hand erschreckt worden, die er zwischen den Akten liegen sah. Als des Herzogs lauerndes Auge jedoch wahrnahm, daß der Geheimschreiber diese Konzepte bemerkt hatte, machte er ihn zum Amtmann in einem entfernten Bezirk und bestellte sich einen neuen Geheimschreiber.

Oft war der Fürst wochenlang völlig unnahbar, dann liebte er's wieder, sich in aller Pracht dem Volk zu zeigen; doch machte er sich niemals mehr vertraulich und neckisch gemein mit den Leuten, wie er's sonst wohl gepflegt hatte. Er war ganz Würde, Majestät, Zurückhaltung. Als er einmal beim Glatteis auf der Straße gefallen war und ein Bürger herbeisprang, ihm aufzuhelfen, rief er ihm zornig zu: »Rühre die Durchlaucht nicht an!« und fiel zum zweitenmal hin, weil er sich ganz allein auf die Beine helfen wollte. Eine breite Kluft trennte ihn, wie es schien, fortwährend von seinen Landeskindern, den gewöhnlichen Menschen, mit denen er sich dann doch wieder so redlich plagte.

Dem Hofprediger fiel es auf, daß sein Herr sich niemals mit keiner Silbe nach dem Schicksal des Kaspar Krummholz erkundigte, da er doch gerade in den ersten entscheidenden Tagen seiner Umwandlung so viele Teilnahme für denselben gezeigt hatte. Er suchte mehrmals die Rede auf Kaspar zu bringen, der Herzog wies das Thema kalt zurück. Es war, als wisse er gar nichts mehr von dem Manne.

Allein dieser Schein trog. In stillen Stunden dachte der Herzog gar oft an Kaspar und malte sich dessen gegenwärtige Lage aus. Er sah ihn tief im Verderben stecken: mit seiner doppelzüngigen, hinterlistigen Art betrog er seine Frau, die sich dann dadurch entschädigte, daß sie ihrem Eheherrn Hab und Gut hinterm Rücken veruntreute, wie sie's weiland ihrer Dienstherrschaft getan. Die Wirtschaft geht zugrunde, das Ehepaar wird nächstens auf Scheidung klagen, Kaspar hilfesuchend bei ihm erscheinen. Dann, wann die Strafe soweit vollendet, wollte er rettend dazwischentreten.

Dieses Gedankenbild tröstete ihn oft wunderbar, wenn er vor Unzufriedenheit vergehen wollte, weil ihm hundert größere Pläne nicht in jener vollkommensten Art gelangen, die er nun durchaus forderte. Vielleicht wollte er gerade darum nichts von Kaspar hören, weil er fürchtete, er möge sich dann selber den Glauben an sein Meisterstück göttlicher Strafjustiz erschüttern.

Inzwischen nahte der 3. September 1572, der einundzwanzigste Geburtstag des Prinzen Georg, des ältesten Sohnes Herzog Friedrichs; es war zugleich der Tag, wo dieser künftige Thronerbe nach altem Herkommen mündig erklärt werden sollte, und man gedachte, ihn darum besonders feierlich bei Hofe zu begehen. Die Herzogin, schon lange betrübt über die nagende Unzufriedenheit und Mißstimmung, welche ihren Gemahl verfolgte, sah mit Freuden, wie der Herzog alle Einzelheiten des Festes liebevoll eingehend anordnete, gleichsam in sich selbst befreit, wenn er von dem frohen Familientage sprach.

Aber wie erschrak sie, als er drei Tage vorher fest und begeisterungsvoll erklärte: er werde die Predigt bei dem vormittägigen Festgottesdienste selber halten!

Kein Einwand wurde gehört, und selbst die Hoffnung auf des Herzogs altes, stets hemmend dazwischengetretenes Gelübde erwies sich als eitel: er hatte schon seit Wochen keinen Becher Weines an seine Lippen gebracht! Mit Bangen harrte man bei Hof des kaum erst so freudig ersehnten Tages.

Zwölftes Kapitel.

Es war am 2. September. Da ließ Herzog Friedrich frühmorgens um vier Uhr sein Leibpferd satteln und ritt ganz allein übers Gebirg nach Friedrichsdorf. Im Schlosse meinte man, der hohe Herr sei meditieren geritten auf die morgige Predigt, wie der Pfarrer Samstags meditieren gehe. So war es auch. Aber niemand ahnte den Grund, warum er gerade Friedrichsdorf zum Ziele dieses Rittes wählte.

Dort angelangt, stieg der Herzog beim ersten Hause ab und übergab dem neugierig aus der Türe gaffenden Bauer das Pferd, daß er's eine Weile in den Stall führe und ihm etwas Hafer gebe. Der Bauer, welcher ihn nicht kannte, entgegnete mürrisch, Hafer habe er nicht und bloß einen Schweinestall; denn seit ihm die Kuh gepfändet worden sei, habe er den Kuhstall zusammenfallen lassen, und in den meisten andern Häusern der Kolonie sehe es nicht viel besser aus. Droben überm Bach beim Kaspar Krummholz, da möge der Herr sein Roß einstellen: der Mann besitze Hafer genug und auch einen Stall dazu.

Der Herzog horchte auf bei diesem Namen. Er besann sich einen Augenblick; dann bat er den Buben des Bauern, daß er das Pferd ruhig umherführe auf der mit Unkraut bedeckten Ödung, welche statt eines Gartens neben dem Hause lag, und trat in die dunkle, schmutzige Hütte und ließ sich zur Rast auf der Ofenbank nieder, während der Bauer auf einem umgestürzten Kübel Platz nahm, der mitten in der Stube lag.

Der Bauer begann sofort nach solcher Leute Art sein langes Klagelied über sein und seiner Nachbarn Elend. Der Herzog erschrak. Er hatte sich um diese Kolonie, seine eigene Schöpfung, bisher gar nicht näher bekümmert und in dem Wahne gelebt, daß hier alles ganz vortrefflich sei. Obgleich er auf der Jagd oft nahe genug rechts und links durch die Wälder gezogen, war es ihm doch niemals eingefallen, den Ort selber zu betrachten, bis ihn jetzt das Problem hierher gelockt hatte, wie ein Fürst als irdischer Gott göttliche Strafjustiz üben könne. Gestraft schienen ihm diese armen Kolonisten allerdings, aber die hatten ja gar nicht gestraft werden sollen!

Doch wie ging es dem Kaspar? Der Herzog nahm die vorigen Worte des Bauern über dessen Pferdestall für Ironie. Er wollte durchaus wissen, wie jämmerlich nun vollends der Kaspar heruntergekommen sei, wenn schon seine Nachbarn so schlecht stünden; er wollte alles mögliche Kreuz und Elend Kaspars aus dem Bauern heraus- und in den Bauern hineinfragen. Allein der Mann blieb standhaft dabei, daß Kaspar das größte Glück im ganzen Dorf habe, und wenn das der Herr nicht glauben wolle, so möge er hingehen und selber nachsehen.

Also machte sich der Herzog auf den Weg zu Kaspars Hause. Er mußte dabei fast die ganze Kolonie durchschreiten, und überall verfolgte ihn Schmutz und Unordnung, Armut und Verkommenheit. Seine Predigtgedanken begannen sich zu verwirren, und dem irdischen Herrgott fiel das Herz in die Schuhe.

Da bog er über den Bach um die Ecke. Ein neues, sauberes Häuschen lag vor ihm, von einem gut gepflegten Garten umgeben, den sogar etliche Blumen schmückten, Malven und Sonnenblumen. Vor der Türe saß die junge Frau, einen rotbackigen Säugling an der Brust, und als sie den Herzog sah, sprang sie mit einem lauten Schrei des Staunens auf und eilte ihm grüßend entgegen. Es war Anna, die ehemalige Leinwandmagd, freilich nicht mehr ganz so leuchtend weiß gekleidet wie an jenem Abend in der Weißzeugkammer, aber doch rein und nett, und das blühende Gesicht war sogar noch schöner als damals.

Sie konnte gar nicht begreifen, wie der Herzog herübergekommen sei, und ganz allein, ohne Jagdgefolge. Er habe sich wohl verirrt?

»Verirrt?« fragte der Herzog wie ein Echo, und das eigene Wort tönte ihm seltsam in den Ohren.

Anna rief ihren Kaspar herbei, der im Stalle Futter aufsteckte. Er war verlegener noch als seine Frau. Allein da dem Herzog die erhabenen Manieren, die er seit zwei Jahren angenommen hatte, unversehens ganz abhanden kamen und seine Rede gar weich und milde klang, so sammelte sich Kaspar bald und erzählte, wie gut es ihnen jetzt gehe, nachdem sie anfangs allerdings schwere Zeit gehabt, bis sie sich in all die neuen Dinge gefunden hätten. Sie würden auch gewiß noch schlimmer gefahren sein wie die andern armen Leute im Dorfe, denn er sei ja ein geborener Hofdiener und habe erst durch Schaden klug werden müssen. Aber da sei es nun ein unsagbares Glück, daß ihm der gnädige Herr gerade diese Frau zu Acker und Wiesen hinzugegeben; denn Anna sei ein Bauernkind, das nur durch Zufall zu Hof gekommen, und verstehe die Wirtschaft aus dem Grunde.

Bei diesen Worten kam der Herzog kaum weniger aus der Fassung als vorher Anna und Kaspar bei seinem Erscheinen. Vergebens stellte er schlaue Querfragen, um irgendein verborgenes Elend, einen geheimen Wurm des Unfriedens zu entdecken. Die Leute waren gewachsen mit dem würdigeren, selbständigeren Berufe, sie lebten zufrieden und waren erfreut, dem Herzog ihren Dank aussprechen zu können, daß er sie so fürstlich belohnt habe.

Er konnte sich nicht finden in dieses vollkommene Widerspiel seiner eingebildeten Welt, und wie es schien, hatte er die göttliche Strafjustiz selbst bei seinem vermeinten Meisterstücke sehr stümperhaft nachgeahmt.

So brach er denn zuletzt mit der offenen Frage heraus: ob denn Kaspar jetzt nicht mehr lüge und verleumde und doppelzüngig rede und faulenze wie bei Hof? und Kaspar meinte, das könne vielleicht auch noch einmal geschehen, aber hier sei bisher gar kein Anlaß dazu gewesen; – und ob Anna nicht mehr unterschlage und »Reste« wegnehme, wie sie's so fleißig in der Leinwandkammer getan? – aber Anna sagte mit einem reizend schalkhaften Lächeln: der gnädige Herr habe sie beide doch vielleicht für gar zu schlecht gehalten, weil er sich sein Muster zu hoch gesteckt, und übrigens hätten sie ja nicht einmal gewußt, wie sehr sie gesündigt, denn die andern im Schlosse machten's in allen Ehren geradeso.

Weil aber das Gespräch solchergestalt eine gefährliche Wendung zu nehmen drohte, fragte Kaspar den Herzog, ob er nicht einen Augenblick in die Stube treten und ein Gläschen Wein zur Stärkung trinken wolle; es sei zwar nur ein geringer Haustrunk, aber doch des Herzogs eigenes Gewächs, denn sein Vetter, der Hofküfer, schicke ihm manchmal etliche Flaschen – der Herzog erhob drohend den Finger –, allein Kaspar vollendete gelassen: »von diesem seinem rechtmäßigen Besoldungswein.«

Der Herzog dankte für diesmal, nicht weil er Kaspars Wein gering achtete, sondern aus ganz besonderen Gründen. Dann schickte er sich zum Fortgehen an.

Es war aber mittlerweile im Dorf bekannt geworden, daß der rätselhafte Reiter kein anderer sei als der Herzog selbst. Als dieser dann wieder über den Bach zurückgehen wollte, fand er die Brücke versperrt durch Männer und Frauen, die sich ihm flehend entgegendrängten, ja zum Teil auf die Knie fielen. Auf die Frage, was sie wollten, riefen sie: sie bäten den gnädigen Herrn um Himmels willen, daß er sie wieder aus dieser Kolonie hinwegnehme, wohin man sie gesetzt, um ihnen nach seinem ausdrücklichen Willen eine Wohltat zu erweisen, während sie hier doch in der Tat nicht leben und nicht sterben könnten.

Huldvoller, als man zu hoffen gewagt, versprach er, sich das Ding zu überlegen, gab Anna einen Dukaten in die Sparbüchse ihres Kindes und dem Bauern, der ihm das Pferd gehalten, einen Gulden, schwang sich in den Sattel und sprengte im Sturme davon.

Draußen im Walde verlor er den Weg und merkte es nicht; es ward später und später, die Dämmerung sank auf die Täler, das müde Roß vermochte den Reiter kaum mehr zu tragen: er ward es nicht gewahr.

Er murmelte abgebrochene Sätze vor sich hin: »Meine Wege sind nicht eure Wege, und meine Gedanken sind nicht eure Gedanken! – – die zweite Bitte! – Dein Reich komme! – ein unergründlich tiefer Text; allein er taugt noch nicht für mich. –

Im Grunde blieb auch Kaspar nicht bei seiner zweiten Bitte stehen, sondern kam unmerklich bei einer fünften Bitte an. – Die fünfte Bitte! – Führe uns nicht in Versuchung! – Ja, da liegt ein neuer mystischer Zusammenhang; – sie wäre wohl auch ein schöner Text für das Fest der Mündigerklärung eines Thronerben! – Oder noch besser die zweite und die fünfte Bitte miteinander – Ob ich wohl über beide morgen predigen werde?«


Im Schlosse herrschte selbigen Abend große Angst und Unruhe. Der Herzog war frühmorgens so geheimnisvoll verschwunden, schon nahte Mitternacht, und er kam nicht wieder. Man schickte Leute aus, ihn zu suchen. Die Herzogin irrte verzweifelnd im Schlosse umher, jeden heimkehrenden Boten befragend. Sie berichteten nur, daß der Fürst in aller Frühe gegen das Gebirg geritten sei, – keiner hatte ihn weiter gesehen. Man ahnte ein Unglück.

Endlich löste sich das bange Harren, der Herzog ritt in den Schloßhof; es war ein Uhr morgens, er sank fast vom Pferde vor Ermattung. Noch waren alle Fenster erleuchtet, das ganze Schloß in Bewegung. Die Herzogin eilte dem Gemahl entgegen, vor Angst und Freude zusammenbrechend.

Er hob sie liebevoll auf, ermannte sich rasch, daß er seine gewohnte stolze Haltung wieder behauptete, führte sie auf ihr Zimmer und sagte dort statt aller weiteren Erklärung: »Unser Fest wird eine kleine Abänderung erleiden. Ich werde nicht predigen, ich werde es überhaupt niemals tun. Heute wird Georg mündig, und ich entsage zugleich dem Thron. Möge er glücklicher regieren als ich!«

Und so geschah es.


Herzog Friedrich wählte sich das Jagdschloß Fürnberg zum Wohnsitz für den Rest seines Lebens. Es liegt nur eine kleine Stunde Wegs von Friedrichsdorf. Diese Kolonie besuchte er häufig und unterstützte und förderte die armen Bauern so nachdrücklich, daß viele bald aus Schmutz und Elend sich erretteten; andere gingen an seinen Wohltaten erst recht zugrunde. Erst in der zweiten Generation wurde der ganze Ort wirklich eine blühende Gemeinde, die nun des längst verstorbenen Herzogs Namen mit Ehren trug. In Kaspars Haus sah man ihn jedesmal einkehren. Er hielt lange theologische Gespräche mit dem ehemaligen Schneckenmeister, der als der reichste Bauer zuletzt Schultheiß des Dorfes geworden war. Der Hofprediger weilte als gern gesehener Gast nicht selten auf Schloß Fürnberg. Nach des Herzogs Tode pflegte er unter Freunden zu sagen:

»Als Herzog Friedrich ahnte, daß er ein schwacher Fürst sei, wollte er ein Pfarrer werden; als er merkte, daß er kein Pfarrer werden konnte, wollte er der liebe Gott werden, und als er einsah, daß er auch dies nicht werden konnte, wurde er ein rechter Mensch. Schade, daß er jetzt nicht wiederkommen und noch einmal von vorn anfangen kann: er wäre dann gewiß ein guter Fürst geworden!«


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