Wilhelm Heinrich Riehl
Meister Martin Hildebrand
Wilhelm Heinrich Riehl

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W. H. Riehl

Meister Martin Hildebrand.

(1847.)

Einen würdigeren Greis habe ich niemals gesehen als den alten Schlossermeister Martin Hildebrand, den Patriarchen meiner Vaterstadt; in kräftigeren Jahren gewaltig mit Zange und Hammer, in alten Tagen gewaltig im Rat und in der Rede und in traulicher Erzählung aus vergangener Zeit.

Der alte Hildebrand war der letzte Mann im Orte, der noch einen Zopf trug, den einzigen echten Zopf, den ich noch mit eigenen Augen geschaut. Kein böser Bube hätte ihn drum zu höhnen gewagt.

Vornehm und Gering hatten Respekt vor dem Meister, und unter den Handwerksleuten galt er dazu für ein Licht der Gelehrsamkeit. Doch war ihm dieser Ruf erst mit der Muße des Alters gekommen, denn vordem hatte er keine Zeit gehabt, gelehrt zu werden. Als ihm aber die Schlosserarbeit zu sauer ward und sein Sohn ein tüchtiger Meister im Geschäft geworden war, begann der Alte fleißig zu lesen, namentlich in alten Chroniken und in geistlichen Büchern.

Die Gottesgelahrtheit hätte er gerne ausergründet; denn er war ein heftiger lutherischer Christ und ein strenger Wächter der reinen Lehre. Darum hatte ihm die Vereinigung des lutherischen und reformierten Bekenntnisses viel Gewissensangst gemacht, und wenn am Reformationsfeste, das zugleich zu einer Feier der Union geworden, der Pfarrer ausgangs der Predigt die beiden großen Reformatoren mit Namen anrief, dann paßte der alte Hildebrand auf wie ein Hechelmacher, ob er Luther zuerst nannte oder Zwingli.

Allein soviel er auch grübelte über Gottes Wort und sich seine eigenen Gedanken darüber machte, so schwieg er doch meist von diesen Dingen vor anderen, und wo man ihn fürwitzig darüber ausfragen wollte, antwortete er höchstens durch ein Lächeln, gleich als wolle er sagen, er könne wohl wunderbare Geheimnisse verkünden, aber die Siegel seines Geistes sollten verschlossen bleiben. Oder er fuhr auch die Fragenden hart an, hieß sie arbeiten und beten und das weitere in Demut unserem Herrgott anheimgeben.

Ein ganz anderer Mann war aber der alte Hildebrand, wenn man ihn im Kreis der Freunde des Hauses auf die Erlebnisse seiner früheren Jahre brachte. Da redete er wie ein Buch, und oft auch herrlicher wie manch ein Buch, und die Zuhörer, wenn sie gleich dieselbe Erzählung schon sechsmal von ihm gehört, hingen doch an seinem Munde, als künde er ihnen die neueste Mär. Denn man spürte, der Erzähler war ein ganzer Mann, der ein reiches Leben durchgekämpft mit hellem Aug' und mutigem Herzen; darum, wenn man eine von seinen kleinen Geschichten anhörte, so war es einem, als schaute man zugleich auf ein Blatt aus der großen Menschengeschichte, denn hier wie dort hatte der Finger Gottes sichtbar sein Zeichen eingeschrieben.

Da pflegte dann wohl der alte Mann zu sagen, stolz über den Beifall seiner Zuhörer: wenn er nur einmal seine Erinnerungen, und was ihm so mit diesen durch die Seele ziehe, niederschreiben könne, das solle doch eine ergötzliche Chronik geben, wohl wert, an den langen Winterabenden darin zu lesen.

Nun geschah's, daß der alte Hildebrand, der nie ernstlich krank gewesen, im achtundsechzigsten Lebensjahre plötzlich von einem Fieber überwältigt wurde, welches ihn, eben weil er kein Gewohnheitspatient, um so furchtbarer schüttelte. Schwer und langsam genas der Alte, monatelang mußte er das Bett und Zimmer hüten.

Da lag oder saß er träumend, Gedanken spinnend so manchen lieben langen Tag und durfte kein Glied rühren, auch nicht viel sprechen. Und oftmals leuchtete sein Aug', als schaue es hinein in unaussprechliche Herrlichkeit, oft rollte es unstet und fast zornig, gleich als ergrimme der Geist darüber, daß er so hohe und heimliche Dinge schaue und sie doch nicht gestalten, nicht festhalten und keiner anderen Menschenseele mitteilen könne.

Als er sich allmählich zu erholen begann, griff er zum Schnitzmesser und machte allerlei drollige Holzfiguren zum Spielzeug für seine Enkel. Aber sein Geist war nicht bei dieser Arbeit. Er schob sie darum wieder beiseite, und wo er eine heimliche Stunde fand, da holte er sich nun Papier und Feder zu seinem Großvatersitz am Ofen und schrieb oft halbe Tage lang, ganz im stillen, und sagte und zeigte niemand, was er schrieb, und nicht einmal seiner Frau, der er sonst alles sagte und zeigte. Wann er aber geschrieben hatte, dann kam allemal eine selige Ruhe und Versöhnung über sein Gemüt, so daß seine Frau oft sprach, es scheine, ihr Martin schreibe sich gesund, das sei ihr genug, und sie wolle gar nicht weiter wissen, was er eigentlich schreibe.

So ging es den langen Winter hindurch. Als aber das Frühjahr kam, war der alte Hildebrand wieder bei vollen Kräften. Da machte er auch dem Schreiben ein Ende.

Am Abend des Ostersonntags sprach er zu seiner Frau: »Wie ich so zwischen Leben und Sterben lag, gebrochenen Leibes, da wurde es wunderbar helle vor meinen inneren Sinnen. Ich schaute zurück in die vergangenen Tage, und alle die Geschichten, die ich Euch so oft erzählt, zogen wieder an mir vorüber, aber weit deutlicher und genauer als je vorher. Ja ich entsann mich nun des kleinsten, was ich längst vergessen, ich lebte meine ganze Jugend noch einmal durch und jeder Tag der alten Zeit lag vor mir wie im lichtesten Sonnenschein. Aber auch ergötzliche Traumbilder traten hinzu und verschlangen sich mit meinen klaren Erinnerungen wie zu einem Märchen oder Gedicht. Es waren keine eitlen Träume, denn gerade in ihnen war die Führung Gottes durch meinen ganzen Lebenslauf versinnbildet. So ungefähr muß es im Himmel oder auch in der Hölle sein, daß wir klar wieder schauen jeglichen Tag, den wir auf Erden verlebt, doch aber nicht im irdischen Licht, sondern im Glanze der himmlischen Herrlichkeit oder im Widerschein des höllischen Feuers. Als ich nun genas, da wühlte es in mir, und ich hatte nicht Ruhe, bis ich diese Erinnerungen alle aufgezeichnet, wie sie in meinem Geiste neu und verklärt auferstanden waren, während mein Leib in Schmerzen gefesselt lag. Da überströmte mich das selige Gefühl der Genesung, das ich nie zuvor gekannt – gleich wie einer, der sich nie auf die Haut naßregnen läßt, gar nicht weiß, welche Wonne es ist, trockene Kleider anzulegen.«

Mit diesen Worten übergab der Meister seiner Ehefrau die Handschrift; sie führte den Titel: » Chronik des Meisters Martin Hildebrand

Mitten aus den Blättern aber nahm er vorerst einen Abschnitt heraus, von dem er der Frau sagte, sie möge ihn für sich ansehen wie eine Widmung des Buches. Und nachdem sich die beiden Alten die Sessel zurecht gerückt, begann der Meister zu lesen, was folgt.


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