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Die Russen am Amur.

Der narbenbedeckte Leib des ehemaligen Obersten des 13. Regiments war der Erde übergeben worden, seine Genossen in der Verbannung, die Warnaks, hatten mühsam mit den Hacken das Grab in den gefrorenen Boden gehauen und ein Kreuz von Birkenholz darauf gesetzt.

Es war eine stille, traurige Zeremonie, als sie ihn da hineinsenkten in die fremde, feindliche Erde, so weit von der geliebten heimischen, der er alles gegeben – bis auf den zerknuteten Leib! Der alte Holowa sprach ein Gebet am Grabe, und die Schneedecke schloß sich über der tapferen Brust!

Was war es weiter – der Gobernador hatte ja nur eine Nummer in seiner Liste auszustreichen! wer fragte danach, daß diese Nummer vor dreißig Jahren an der Spitze von tausend kühnen Herzen gestanden und Taten des höchsten Heldenmutes vollbracht hatte!

Vergebens hatte der Holowa von seiner Enkelin die Papiere verlangt, die der Verstorbene ihr anvertraut. Mit tändelnden Liebkosungen lachte sie ihm ins Gesicht und empfahl ihm, sie zu suchen.

Ebenso verstand sie seinen dringenden Fragen auszuweichen, was sie mit ihrem überraschenden Anerbieten an den Sterbenden gemeint habe. Ihre Antwort, man möge die Zeit abwarten, über kurz oder lang müsse sie ja doch die Kolonie verlassen, und dergleichen allgemeine Reden waren um so weniger geeignet, die Besorgnisse des Alten zu zerstreuen, als es ihm nicht entgehen konnte, daß Wera sich auffallend viel mit dem deutschen Professor zu tun machte, mit ihm geheime Unterredungen hielt und zugleich ihren kleinen Kleidervorrat wiederholt musterte und ausbesserte.

Dem Posielenice ging das Mädchen seit der Ankunft der Fremden offenbar aus dem Wege, und so vertraut sie sonst mit ihm gewesen war, so launisch und abstoßend, ja oft sarkastisch behandelte sie ihn jetzt. Der Verbannte schien ärgerlich und überrascht von der Entdeckung, daß das Danaergeschenk seines schrecklichen Unterrichts jetzt sich gegen den Lehrmeister selbst kehrte, und häufig wechselten beide bittere Reden. An den jungen Lord hatte sich der Russe sehr angeschlossen und machte mit ihm häufige Jagdausflüge, an denen Wera jedoch keinen Teil mehr nahm.

Der Burany hatte volle vierundzwanzig Stunden angehalten. Am Morgen nach seinem Aufhören hatten sich unter Führung Ajuns und des Kosaken Mutin die Jakuten und mehrere der Katorznys aufgemacht, die Schlitten der Reisegesellschaft und den verloren gegangenen Dolmetscher aufzusuchen. Man fand die Schlitten mit ihrem zum Teil zerstreueten Inhalt, dessen Wiederherbeischaffung der kleine Professor den Männern auf die Seele gebunden hatte, von dem Dolmetscher aber keine Spur. Es unterlag keinem Zweifel mehr, daß er bei dem treulosen Versuch, den Eigentümern der Hunde zu folgen und sich selbst zu retten, umgekommen war und unter der tiefen Schneedecke sein Grab gefunden hatte.

Es war die Zeit, wo alljährlich vor Eintritt der vollen Strenge des Winters der letzte Kurier die Kolonie zu berühren pflegte, der von Irkutzk nach Ochotzk und Udskoi ging, und in dessen Begleitung die Reisenden ihren Weg fortzusetzen beabsichtigten. Aber vergeblich hatte man schon seit einer Woche auf seine Ankunft geharrt, und der Holowa selbst mußte jetzt seinen europäischen Gästen dringend raten, die mildere Witterung, welche gewöhnlich in diesen Gegenden zwischen den ersten Boten des Winters und seiner vollen Heftigkeit eintritt, zu benutzen, um noch die Seeküste zu erreichen, wenn sie nicht bis zum Frühjahr hier sich zurückgehalten sehen wollten.

Auch jetzt war die Reise immerhin schon ein sehr gefahrvolles Unternehmen, da die Zeit der Schneestürme begonnen, und nur das Erbieten Ajuns, der den langen und mühseligen Weg kannte, die Stelle des erfrorenen Führers der kleinen Karawane einzunehmen, gab einige Aussicht auf glückliche Vollendung.

An Hunden und Renntieren zur Beförderung der Schlitten war übrigens jetzt kein Mangel mehr; denn in den letzten Tagen hatten sich mehrere der während der mildern Jahreszeit in den nördlichern Distrikten bis zum Eismeer nomadisierenden Stämme in die Nähe der kleinen Kolonie gezogen, um in ihrem Schutz den Winter zuzubringen, den der greise Tojon bei seinem Schwiegersohn und seiner Urenkelin zu verleben pflegte, während der Sommer ihn unwiderstehlich hinauszog auf die südlichen Weiden zu den Nachkommen seiner tungusischen Familie.

Man hatte die Abreise auf den nächsten Tag festgesetzt. Unter des Professors eigenster Aufsicht war der Mammutschädel auf einen besondern Schlitten verpackt worden und der kleine Mann konnte nicht müde werden, immer und immer wieder Meister Ajun die größte Sorgfalt dafür zu empfehlen. Offenbar war ihm der antediluvianische Schatz wichtiger, als die eigene Sicherheit und die seines Begleiters.

An demselben Tage hatte Wera Tungilbi eine lange geheime Unterredung mit Ajun gehabt, und als der Kosak Mutin diesen nach dem Inhalt befragte, war der schlaue Jakute der Antwort mit allerlei so offenbaren Lügen ausgewichen, daß sie ihm einige tüchtige Kantschuhiebe eintrugen.

Am Abend – wenn man in diesen Gegenden von Abend sprechen kann, wo zu dieser Zeit bereits drei Vierteil der vierundzwanzig Stunden Nacht ist! – hatte sich die ganze Gesellschaft, welche am Tage der Ankunft der Expedition die Geschichte des alten Tungusen angehört hatte, im Blockhaus des Holowa wieder um den dampfenden Samowar versammelt, und diesmal war es der junge Lord, welcher ihren Wirt an das Versprechen erinnerte, ihnen noch seine eigene Lebensgeschichte und die Abenteuer mitzuteilen, die ihn zum Schwiegersohn des Tojon gemacht hatten. Um die schweigsame Stimmung zu unterbrechen, die der bevorstehende Abschied über alle verbreitete, und der namentlich auch das junge Mädchen zu unterliegen schien, das zwischen ihren beiden Vätern saß und ihre Hände hielt, erklärte der Holowa sich bereit, dem Wunsch zu entsprechen und begann alsbald seine Erzählung.


»Ich war zwanzig Jahr, als die Konskription für den Zug des Kaisers nach Rußland und eigne Lust mich unter die Fahne reihte. Ich hatte eine gute Erziehung genossen, denn man wollte mich zum Bautechniker ausbilden und obschon mein Vater nur ein kleiner Kaufmann war, so stammte ich doch durch meine Mutter, – die in der Revolution von 1793 ihre beiden Eltern und fast alle ihre nähern Verwandten unter der Guillotine verloren hatte, – von einer alten und sehr guten Familie Frankreichs ab. So kam es denn, daß ich schon in Moskau als Unterleutnant einzog, nachdem ich die blutigen Schlachten von Smolensk und an der Moskwa mitgeschlagen. Wir dachten an jenem Tage sicher nicht an das Elend, das uns der Eigensinn des Kaisers bereitete, und ich am allerwenigsten, in welchem Zustande ich das ganze Rußland bis zu seinen östlichen Grenzen durchziehen sollte.

Ich war ein junges leichtherziges Blut, nicht übel vielleicht von Manieren und Aussehen, wenigstens hatten mir das häufig die Weiber in den Quartieren in Deutschland zu erkennen gegeben, und so richtete ich mich denn ganz behaglich in dem Quartier ein, das ich mit meinem Zug in den Räumen eines prächtigen, aber anscheinend von seinen Besitzern ganz verlassenen Palastes in der Belaigorod oder weißen Stadt angewiesen erhalten hatte, da ich, glücklicher als meine Kameraden, wenigstens in der Person einer mit zwei andern Dienern zurückgebliebenen Leibeigenen ein hübsches Mädchen fand. Der Herr des alten Palastes war einer der vornehmsten russischen Würdenträger, und trug einen Namen, den ich schon häufig gehört hatte. Wie ich von einem der Diener vernahm, einen alten grauköpfigen Mann, dem Vater jenes Mädchens, das wie er ein wenig französisch radebrechte, hatte sich der Fürst mit seiner Familie, zwei Söhnen und einer Tochter, vor der Annäherung der Franzosen zurückgezogen und die Bewachung seines Palastes den beiden Dienern anvertraut.

Bekanntlich brachen schon am Tage nach unserm Einzuge in die alte Zarenstadt, also am 15. September, in den entlegenen Stadtteilen einzelne Feuersbrünste aus, die von uns anfangs wenig beachtet immer mehr an Ausdehnung gewannen. Von den Kameraden hörte ich wohl, daß man das Entstehen derselben – obwohl an vielen Stellen sicher unsere eigne Fahrlässigkeit die Ursache war – den Russen selbst schuld gab, daß sich eine Menge Gesindel aus den geöffneten Kerkern umhertrieb, und daß nicht allein täglich Exekutionen an den betroffenen oder verdächtigen Brandstiftern vollzogen wurden, sondern auch bei Tag und Nacht zahlreiche Mordtaten an unsern eigenen Leuten vorkamen und jeder Morgen auf den Straßen beraubte und verstümmelte Leichen französischer Soldaten finden ließ.

Die schärfsten Orders wurden endlich gegeben, Patrouillen durchstreiften Tag und Nacht die Straßen und durchsuchten die Häuser, und strenger Befehl war an die Einquartierten ergangen, die wenigen Bewohner zu bewachen und jeden sich zeigenden Fremden sofort zu verhaften, denn es ging das Gerücht, es solle ein Attentat auf den Kaiser versucht werden. Aber alles nutzte nichts. Allnächtlich zeigte der gerötete Himmel neue Feuersbrünste und der Rapport am Vormittag das Verschwinden von Offizieren und Soldaten. Immer näher und näher zog sich der furchtbare Flammengürtel. Mich selbst kümmerte alles dies wenig. Die hübschen braunen Augen der schönen Olga hatten mich zum Narren gemacht, und ich verbrachte alle vom Dienst freie Zeit damit, ihr nachzulaufen, mit ihr zu tändeln und bei ihr Russisch zu lernen, während ich selbst ihr Französisch, das sie der Prinzessin abgelauscht haben wollte, verbesserte, eine Mühe, die merkwürdig guten Erfolg hatte.

So war der September und bereits die zweite Woche des Oktober vergangen, ohne daß sich in unsern Verhältnissen etwas geändert und der Kaiser einen Entschluß gefaßt hätte, außer, daß ein weiterer Teil der Truppen aus der Stadt verlegt wurde.

Es war gegen Abend des achtzehnten Oktobers – desselben Tages, an dem, wie ich gehört habe, nach drei Jahren die Macht unsers großen Kaisers auf dem Felde von Leipzig von den vereinigten Heeren Rußlands, Preußens und Österreichs gebrochen werden sollte, – als ich von einem Kameraden ziemlich aufgeregt nach Hause kam, denn unsere Sappeurs hatten in dem Hause, das er bewohnte, einen vermauerten Keller entdeckt, der außer einer Menge von Kostbarkeiten auch ein stattliches Flaschenlager enthielt, das natürlich mit allem sonstigen Inhalt als gute Beute erklärt wurde. Auch ein Teil meiner Leute war bei dem Gelage zugegen gewesen und hatte seinen Kameraden gefüllte Flaschen mitgebracht, so daß, als ich im Erdgeschoß an dem Flügel vorüberging, wo sie sich einquartiert, ich sie lachen und jubeln hörte.

Es fiel mir erst später ein, daß ich im Hofe nicht die Schildwach auf ihrem Posten fand, die dort Tag und Nacht patrouillieren mußte, seit die Gefahr immer dringender geworden. Auf dem Wege nach meinem Quartier hatte ich auf drei Seiten wieder den verhängnisvollen Flammenschein gesehen. Nur der Kreml und die Gegend, in der die Quartiere unseres und eines Regiments von der Garde lagen, war bisher von jeder Brandstiftung verschont geblieben.

Ich ließ mir in der Wohnung des Hauswarts, wo ich die beiden Diener fand, Licht geben, und fragte nach Olga, ohne die finstern Blicke zu beachten, welche die Antwort, sie sei bereits in ihre Stube gegangen, begleiteten, und stieg die breite Marmortreppe hinauf, denn ich hatte – sehr gegen alle Vorschrift – mein Quartier in einem prächtigen Boudoir des ersten Stockwerks auf der andern Seite des Palastes aufgeschlagen, wo ich jedoch von einem anstoßenden Kabinett aus den Hof und selbst die mit festen vergoldeten Eisengittern verschlossenen Fenster der Halle, in der meine Leute wohnten und jetzt ein Gelage hielten, übersehen und die Schildwache auf dem Hofe anrufen konnte. Da es noch keine Zeit zum Schlafengehen war, trieb es mich, aufgeregt wie ich war, das Mädchen aufzusuchen, das in einem hintern Flügel mit ihrem angeblichen Vater ihre Wohnung inne hatte; da ich diesen noch soeben in dem Zimmer des Torschließers getroffen, mußte sie allein sein, und da es nicht das erstemal war, daß ich ihre Wohnung betrat, ging ich die Korridore entlang dahin.

Das Zimmer war leer – ich suchte vergeblich.

Ärgerlich, denn ich hatte mir es so hübsch gedacht, noch eine Stunde mit Olga zu verplaudern und mit ihr den Tee zu trinken, richtete ich zufällig die Augen durch das Fenster nach dem entgegengesetzten Flügel des Palastes, in dem meine schon erwähnte Wohnung lag, und sah mit Verwunderung durch die geschlossenen Gardinen, daß Licht in meinem Kabinett war.

Der Gedanke schoß mir durch den Kopf, daß es die Gesuchte sein müsse, die vielleicht in meinem Zimmer aufräumte oder gar mich selbst gesucht hatte, und ich eilte so rasch ich konnte, durch den Korridor nach jener Seite. Die breiten Teppiche, womit der Estrich belegt war, mußten den Schall meiner Tritte gedämpft haben und als ich jetzt atemlos an meiner Tür anlangte und eben öffnen wollte, hörte ich zu meiner Verwunderung Stimmen im Innern.

Es war die rauhe Sprache eines Mannes und die mir wohlbekannte Stimme des schönen Mädchens.

Ich glaubte im ersten Augenblick, es sei einer der alten Diener, der während ich Olga nachlief, heraufgekommen, und wollte öffnen – die Tür war von innen verschlossen. Jetzt fuhr es mir wie Verdacht durch den Sinn, ich schlug an die Tür, rief das Mädchen, fragte, wen sie bei sich hätte und befahl, sofort zu öffnen. Ich hörte einiges Geräusch im Zimmer, den Ruf Olgas: »Gleich, gleich, Monsieur!« und dann öffnete sie die Tür. Ich trat ein – das Zimmer war leer; – ich öffnete das Kabinett, aus dem kein zweiter Ausgang führte – auch dieses war leer. »Was zum Teufel machst du hier, Kind, und mit wem hast du gesprochen?« – »Ich, gesprochen?« – » Par Dieu, ich habe es deutlich gehört!« – Sie lachte mir ins Gesicht. »Ich glaube wirklich, daß Monsieur le lieutenant jaloux ist! Mit wem anders sollte ich gesprochen haben, als mit mir selbst! Die Umgebung der Herren Offiziere macht selbst uns Frauenzimmer so kriegerisch, daß wir uns wohl auch einmal im Kommando versuchen können.« Und mit komischem Pathos trat sie vor den großen Spiegel, drehte sich den eingebildeten Schnurrbart und kommandierte mit tiefer Stimme: » Halte-là! – Qui vive? – En avant mes braves! en avant!«

Ich mußte lachen, sie sah so allerliebst aus, daß mein Zorn und mein Verdacht entwaffnet war. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lag eine Karte von Rußland. Der Adjutant des Bataillons war am Morgen bei mir gewesen, er hatte mir erzählt, daß schon in wenig Tagen Marschorder zu erwarten sei, und wir hatten mit einigen Nadeln die Route bezeichnet, die unser Regiment nach Süden nehmen sollte. Indem ich die kleine Hexe erfassen und umarmen wollte und sie, mich narrend, um den Tisch herum lief, bemerkte ich – später erinnerte ich mich dessen deutlich, – daß ich die Karte darauf in anderer Lage sah, als ich sie hinterlassen, aber aufgeregt vom Wein und den Reizen des Mädchens achtete ich nicht weiter darauf.

Gleich einem Kobold wußte sie mir aber stets zu entwischen, wenn ich sie zu erfassen glaubte: endlich blieb ich atemlos stehen.

»Aber warum, Kind, bist du heute so spröde? Du bist von selbst in mein Zimmer gekommen, ich habe dich nicht gerufen, und nun sollst du es nicht verlassen, ohne daß du meine Liebe erhört hast!«

Eine tiefe Röte übergoß ihr hübsches Gesicht und sie warf einen ängstlichen Blick umher. »Monsieur,« sagte sie leise, »Sie haben mich stets so ritterlich von den Zudringlichkeiten Ihrer Leute und neulich noch vor der Gewalttat des betrunkenen Kürassiers beschützt, daß Sie die gute Meinung, die ich von Ihnen habe, nicht selbst vernichten werden!«

»Aber – par Dieu!« – wir fluchten damals gern etwas, um den alten Schnurrbärten der Garde ähnlicher zu sein! – »warum find' ich dich denn alsdann hier, wenn du die Hartherzige spielen willst?«

Sie wurde verlegen. »Ich – ich bedurfte einer Feder, um etwas zu schreiben, und Petrowitch besitzt keine. Ich bitte Sie, lassen Sie mich fort!«

Ich stand vor der Tür – sie sah so reizend aus bei der Bitte, daß ich unwillkürlich zur Seite trat.

»Willst du mich wirklich verlassen, Olga? weißt du auch, daß wir übermorgen marschieren?«

Sie sah ernst vor sich nieder.

»Daß ich dich vielleicht nie wiedersehe in diesem Leben?« fuhr ich, mich in eine elegische Stimmung selbst hineinredend, fort, »daß vielleicht schon die nächste Schlacht mich niederwerfen kann? Und ich liebe dich so sehr!«

Sie hob plötzlich die Augen und sah mich fest, aber mit einem gewissen traurigen Ausdruck an. »Sie lieben mich wirklich, Iwan?« sagte sie so leise, daß ich es kaum zu hören vermochte.

»Auf mein Wort, Mädchen – du hast mir das Herz gestohlen!«

Sie lehnte sich unwillkürlich, wie von einem Schmerz getroffen, an den Tisch, schloß die Augen und rang die Hände, deren Kleinheit und Zartheit bei ihrem Stande mir stets aufgefallen war.

Diesen Augenblick der Vergessenheit benutzte ich, vorwärts zu springen und sie zu erfassen. Ich riß sie, während sie einen lauten Angstschrei ausstieß, an meine Brust und bedeckte ihren kleinen Mund und ihre Augen mit Küssen, indem ich sie aufhob und fortzutragen suchte.

»Zu Hilfe, Vater! zu Hilfe!«

Ich achtete nicht auf ihr Geschrei und ihr Sträuben, denn ich wußte mich sicher genug, aber im nächsten Augenblick fühlte ich sie mit unwiderstehlicher Gewalt meinen Armen entrissen und mich selbst gegen die Wand geschleudert, daß mir fast die Sinne vergingen.

»Hund von einem Franzosen! wagst du eine Wolchonski mit deinem unreinen Mund zu besudeln?«

Es war die barsche Stimme, die ich vorhin im Zimmer gehört hatte. Als ich aufblickte, stand ein großer stattlicher Mann von einigen vierzig Jahren mit wildem energischem Gesichtsausdruck im kurzen russischen Pelzrock, die Mütze auf dem Kopf, zwischen mir und dem Mädchen, das bebend in die Knie gesunken war, und streckte drohend die Faust mir entgegen.

Im Nu war aller Rausch verflogen – ich wußte, daß ich betrogen, daß jener ein Feind sein mußte, der sich im Palast verborgen gehalten, daß Olga nicht war, für was sie sich ausgegeben. Zugleich fuhr mir die Erinnerung durch den Kopf, daß auf derselben Stelle, an die ich getaumelt, meine stets geladenen Pistolen hingen.

Im Nu hatte ich die eine rückwärts greifend von der Wand gerissen, gespannt und schlug sie auf den Fremden an, aber ehe ich losdrücken konnte, warf sich Olga, die jede meiner Bewegungen beobachtet haben mußte, vor ihn. »Um der heiligen Mutter von Kasan willen – schießen Sie nicht! es ist der Fürst, mein Vater!«

Jetzt wußte ich alles – der eine Moment hatte mir so viel enthüllt, als hätte man mir stundenlang den ganzen Betrug auseinandergesetzt. Ich ließ das Pistol sinken, aber zugleich überkam mich auch die ganze Schuld der Gefahr und der Verantwortlichkeit, die ich mir durch meine Fahrlässigkeit und meinen Leichtsinn aufgeladen, und ich sprang nach dem offenen Eingang des Kabinetts, um aus dem Fenster, das von dort in den Hof ging, die Schildwach zum Alarm zu rufen.

Ich hatte vergessen, daß sie nicht einmal auf ihrem Posten war!

Aber mein Gegner hatte meine Absicht erkannt. Er stürzte sich, noch ehe ich die Tür des Kabinetts erreicht, auf mich und umfaßte mich. Ein wildes Ringen begann, bei dem sich mein Pistol entlud. Aber der Knall zwischen den dicken Mauern und wohlverwahrten Fenstern war zu schwach, um mir selbst Beistand herbeizurufen, vielmehr sah ich durch den Pulverdampf in der Tür des Kabinetts eine zweite Gestalt erscheinen, ein schwerer Schlag traf im nächsten Augenblick meinen Kopf und machte mir die Sinne schwinden, ich fühlte mich zu Boden geworfen und Arme und Füße zusammengeschnürt und einen Knebel in den Mund gepreßt.

»Gut gemacht, Mutin! laß den Hund liegen und umkommen, wie er es für seine Frechheit verdient! – Komm, Tochter – es wird Zeit!«

Die Worte hörte ich noch, dann verlor ich vollends das Bewußtsein.

Ich mochte wohl an zwei Stunden so gelegen haben, als ich wieder zu mir kam. Wie im Schlaf glaubte ich schon lange vorher ein seltsames Geknister um mich her vernommen, einen eigentümlichen Geruch verspürt zu haben.

Diese Erscheinungen blieben auch, als ich die Augen, die mit geronnenem Blut fast zugeklebt waren, mühsam und schwer geöffnet hatte. Aber eine andere Wahrnehmung trat sofort noch hinzu. Durch die Fenster glühte eine seltsame Helle, es war, obschon es Nacht sein mußte, so licht in dem Kabinett, daß ich hätte die kleinste Schrift lesen können.

Ich raffte mich mit Gewalt empor, erst auf die Knie, dann auf die Füße, – ich taumelte zum Fenster! – Allmächtiger Gott, der ganze Palast stand in Flammen und weit darüber hinaus mußte, nach der mächtigen über die Dächer schlagenden Lohe zu schließen, die ganze Umgebung in Feuer stehen!

Ich wollte schreien – der Knebel erstickte meine Stimme! ich wollte das Fenster aufreißen – meine Hände waren auf den Rücken geschnürt! – ich wollte zur Tür stürzen und fiel lang hin auf den Boden, denn ich hatte vergessen, daß man mir die Füße zusammengebunden. Angstvoll wälzte ich mich zu der Tür und richtete mich an ihr empor, ich versuchte, indem ich mich umwendete, mit den gebundenen Händen sie zu öffnen, aber ich mußte mich bald überzeugen, daß sie von außen verschlossen war.

Eine entsetzliche Angst, – die Furcht, hier vergessen zu werden und lebendig verbrennen zu müssen, erfaßte mich. Ich trat oder hüpfte vielmehr zurück und warf mich dann mit aller Kraft gegen die Tür, sie zu sprengen aber sie spottete aller meiner Anstrengungen und wich nicht einen Zoll breit aus ihren Fugen.

Wieder rutschte ich an Wänden und Boden hin nach dem Fenster und es schien mir dabei, als wären Wände und Boden bereits heiß von der Glut! Wie in der Ferne glaubte ich Trommelwirbel – Hornsignale – einzelne Schüsse zu hören – – es mußten meine braven Kameraden sein, die in Alarm waren.

Aber furchtbare, nähere Laute schlugen an mein Ohr und machten mein Haar sträuben. Barmherziger Gott – noch jetzt, nach achtundvierzig langen Jahren erschaudert mein altes Gebein, wenn ich an den Anblick denke, der sich mir bot, als ich jetzt genauer durch die Fensterscheiben hinab blickte, die von der Hitze bereits klirrend in Scherben sprangen.

Ich habe bereits erwähnt, daß ich von hier aus in den inneren Hofraum und auf den Teil des Gebäudes sehen konnte, in dessen gewölbten Parterreräumen meine Leute einquartiert lagen.

Dieser Teil des Palastes stand in vollen Flammen, doch schienen diese die Seite, wo ich mich befand, noch nicht völlig ergriffen zu haben.

Die Fenster des Erdgeschosses waren mit starken vergoldeten Eisenstäben vergittert.

Dieses goldene Eisen blitzte und leuchtete im Flammenschein und daran rüttelten vergeblich mit der Kraft der Verzweiflung zwanzig, dreißig kräftige Fäuste!

Jetzt erst begriff ich ganz, daß dieser Brand ein teuflisch berechnetes Werk, der vorbereitete Racheakt eines fanatisierten Volkes war, wo jeder, Fürst wie Bettler, seine Habe opferte, sein Leben aufs Spiel setzte, um den gehaßten Feind zu vernichten! Meine Leute waren eingesperrt, wie ich, waren dem sicheren Flammentode preisgegeben, wie ich, – nur daß ihnen dieser noch schwerer, noch grausamer werden mußte, als mir, da sie Herr ihrer Glieder, Herr ihrer Stimme waren, mit der sie vergeblich um Beistand brüllten. Aber wo sollte ihnen dieser werden? Nach der Ausdehnung des gewiß an allen Stellen des Stadtquartiers zu gleicher Zeit entflammten Brandes hätte es sicher mehr als Menschenkräfte bedurft, diesen Feuerwall zu durchbrechen, selbst wenn nicht jeder vollkommen mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre.

Der Glutstrom, der feurige Funken tragend, durch die zersprungenen Scheiben in das Gemach drang, trieb mich vom Fenster zurück, aber immer und immer zog es mich wieder dahin, – mein Haar versengte an der wachsenden Glut, der Qualm betäubte meine Sinne, – und dennoch konnte ich meine Augen von dem schrecklichen Vorgang nicht abwenden. Ich sah, wie die Verzweifelnden ihre Kraft aufboten, wie sie mich jetzt durch Flammen und Dampf am Fenster erblickten, wie sie die Hände durch die goldenen glühenden Gitter nach mir streckten und um Hilfe schrien! ich hörte ihre Gebete, ihre Flüche, ihre Verwünschungen selbst auf mich, von dem sie sich treulos verlassen glauben mußten, und versuchte, mich durch das Fenster hinab auf das Pflaster des Hofes zu stürzen – aber die Höhe desselben und meine gefesselten Glieder hinderten alle Versuche.

Und jetzt begann es um mich her lauter und lauter zu knistern – ich sah von den Unglücklichen fort, zwischen deren dunklen Gestalten bereits rote Feuerzungen aus dem Innern der Halle von den in Brand geratenen Möbeln, Betten und Strohlagern weit hinaus durch die Gitter leckten – und schaute, wie die Tapeten an meinen Wänden zusammenschrumpften und sich lösten, wie der Rauch aus den Ecken, aus den Spalten züngelte, wie es glimmte und endlich einzelne Flämmchen an den Mauern emporliefen!

Aller Kampf war vergebens – ich war rettungslos verloren und sank von dem Qualm betäubt auf den Fußboden. In diesem letzten Augenblick dachte ich an Olga, die schöne Verräterin und wollte ihr fluchen – aber ich vermochte es nicht selbst in der Todesangst!

Und sonderbar – kaum war dies Bild vor meine sich verwirrenden Gedanken getreten, als ich plötzlich auch durch den Rauch und Qualm selbst ihr wirkliches Gesicht zu sehen glaubte, und ein frischer Luftzug über meine glühende Stirn strich.

»Vielleicht lebt er noch,« hörte ich eine mir wohlbekannte frische Stimme sagen. »Es war die höchste Zeit, aber ich konnte nicht eher! Nimm ihn auf, Mutin, und folge mir!«

Ich sah ein junges aber bärtiges Gesicht sich über mich neigen, ich hatte es vorhin schon gesehen – es gehörte demselben Mann, der mich zu Boden schlug, als ich mit dem Fürsten rang, einem jenisseiskischen Kosaken, wie ich später erfuhr, deinem Vater, Mutin!«

Der alte Holowa winkte dem Unteroffizier vertraulich zu und fuhr dann in seiner Erzählung fort:

»Obgleich der Kosak kaum drei Jahre älter war als ich, warf er mich doch wie einen Sack über seine breiten Schultern und stürzte mit dieser Last seiner Gebieterin nach, die hastig durch eine am Fußende meines Bettes befindliche von mir unentdeckt gebliebene Tapetentür entfloh, dieselbe, durch welche früher der Fürst im geheimen und jetzt sie selbst den Eintritt in mein Zimmer bewirkt hatten; denn durch den Luftzug brach in dem Kabinett jetzt die Flamme mit voller Macht aus.

Es war wirklich Olga, die junge Fürstin, die mich gerettet hatte.

Wer ermißt das ewig wechselnde und launenhafte Frauenherz, das unter allen Zonen, unter allen Ständen in seiner Unberechenbarkeit sich gleicht!

Ich habe mir nie eingebildet, daß ich wirklich die Neigung der jungen Fürstin Wolchonski erworben hätte und sie mich aus Liebe auf Gefahr des Zorns ihres Vaters von dem schrecklichen Feuertode gerettet hätte, denn sie war, wie ich später hörte, schon damals mit ihrer Einwilligung verlobt und heiratete nach der Rückkehr der russischen Armee aus Frankreich 1815 ihren Verlobten. Sie war eine fanatische Russin und hatte darauf bestanden, die Gefahr ihres Vaters zu teilen, indem sie unter der Maske einer leibeigenen Dienerin in dem Palast bei unserem Einmarsch zurückblieb, während ihr Vater in den Räumen desselben verborgen das furchtbare Vernichtungswerk leitete, das Rostopschin der großen Armee des Kaisers bereitete. Aber der Glaube, geliebt zu werden, ist so süß für das Frauenherz, daß selbst der Feind dadurch unter den Schutz dieses Herzens gestellt wird.

Genug, – sie hatte beschlossen, mir gegen den Willen ihres Vaters wenigstens das Leben zu retten, vielleicht – um sich später den Vorwurf zu ersparen, daß sie mich zu der verderblichen Sicherheit betört, und sie benutzte die erste Gelegenheit, als der Fürst anderweitig beschäftigt war und sie nicht beachtete, um zurückzukehren und durch den ihr ergebenen Kosaken, der zum Korps ihres Verlobten gehörte und von diesem bei ihr zurückgelassen war, mich fortbringen zu lassen.

Unser Weg ging zunächst durch einen engen, von heißer Luft erfüllten Korridor, der auf eine Treppe in das Hinterhaus auslief. Hier setzte mich mein bisheriger Träger nieder, schnitt die Bande von meinen Füßen und blickte dann zu seiner Gebieterin empor.

»Was nun, Mütterchen?«

Die Fürstin sann einen Augenblick nach. »Kannst du ihn so weit bringen, daß er zu den Seinen entfliehen mag?«

»Ich fürchte nein, Mütterchen. Die Warnaks mit ihrem eigenen Lumpenpack sind überall am Plündern und Schüsse werden gewechselt. Es wäre für uns alle nicht viel Sicherheit.«

»Dann muß er zu den Gefangenen und sein Schicksal tragen. Vielleicht schirmt ihn sein Schutzpatron! Aber reiß ihm zuvor die Uniform ab, er kommt sonst nicht lebendig weiter!«

Mit raschem Griff riß und schnitt mir der Kosak die Uniform vom Leib, daß nur Fetzen darauf noch hängen blieben, ohne mir jedoch die gebundenen Hände zu lösen. Zugleich zog er mir auf das Geheiß der Fürstin den Knebel aus dem Mund, da ich sichtlich in dem auch hierher dringenden Qualm zu ersticken drohte.

Ich versuchte einige Worte zu stammeln, vermochte es aber nur zu den Silben: »Dank, Fürstin!« zu bringen.

»Still!« sagte sie mit einer gebietenden Handbewegung, – »Sie schulden mir keinen Dank dafür, daß ich meinem Vaterlande ein Opfer entziehe! – Fort mit ihm, Mutin! Das Feuer dringt schon bis hierher!«

Ein entferntes Krachen wie von einstürzenden Mauern oder Gewölben verkündeten mir das Ende der Leiden meiner Genossen; als ich wieder aufblickte, war die junge Fürstin verschwunden, – ich habe sie nie wieder gesehen, obschon Gott und die Heiligen gewollt haben, daß ich noch oft von ihr sprechen hören und selbst vernehmen sollte, wie sie später meiner Rettung gedacht. Möge ihr die Tat das Sterbebett leicht gemacht haben!

Mutin, der Kosak, zog mich weiter die Treppe hinunter über einen zweiten Hof, in dem die Flamme gleichfalls bereits zu wüten begann, durch ein Pförtchen in ein enges Gäßchen, das, wie ich wußte, hinter dem Palast hinlief, und dort durch ein Gewirr von engen Straßen, die jetzt alle von der hoch in das Firmament wirbelnden Lohe erhellt waren. Bei einer Biegung des Weges sah ich in der Ferne den Kreml. Seine grünen und goldenen Kuppeln leuchteten im Feuer, das bereits an seine Ringmauern schlug. Ich sah über den Platz Offiziere in rasender Eile sprengen, flüchtende und sich sammelnde Soldaten, und hörte Gewehrsalven und einzelne Flintenschüsse; denn das Gesindel der Marodeurs und der entlassenen Sträflinge, das mit jedem Tage dreister geworden, war an vielen Stellen bereits mit den Truppen handgemein. Mehrere Leichen ermordeter französischer Soldaten lagen auf dem Wege; trotzdem überlegte ich, ob ich nicht auf alle Gefahr hin einen Fluchtversuch wagen sollte, als zwei wild aussehende Kerle uns begegneten, die mich in der Helle trotz der Entfernung der Uniform sogleich als einen Franzosen zu erkennen schienen. Der eine stürzte auf uns zu und schwang sein kurzes Beil. Mordlust und Trunkenheit blickten aus seinem tierischen Gesicht. »Was schleppst du dich mit dem Hundesohn von Franzosen, Bruderherz!« schrie er. »Ich will ihm das Gehirn einschlagen, dann bist du ihn los!«

Der Kosak hatte ein gespanntes Reiterpistol in der Hand. »Zurück, Kerl, der Gefangene ist mir anvertraut!«

»Was kümmert's mich! Heute sind wir die Herren! So wahr der Teufel meine Mutter geritten hat, er muß sterben und du dazu, wenn du mich aufhältst!« die beiden Strolche drangen auf uns ein – ein Schuß knallte, Mutins Kugel hatte dem Wildesten das Hirn durchbohrt, der andere entfloh heulend und fluchend.

Der Kosak stieß gleichgültig den Körper des Erschossenen zur Seite, beugte sich nieder, und zog ihm den groben Zottelpelz aus, den er mir um die Schultern warf. »So, armer Bursch! wirst ohnehin genug frieren, denn der Weg nach Tobolsk ist weit!« – Diesem Zug von Mitleid verdanke ich bei den nachher folgenden Leiden wahrscheinlich mein Leben.

Nachdem wir noch durch mehrere entlegene Gassen und Gäßchen gekommen, in denen es an verschiedenen Stellen brannte, gelangten wir an einen Platz, auf dem bereits wenigstens fünfzig bis sechzig Gefangene, mit Stricken gebunden, darunter selbst zwei Frauen, zusammengetrieben waren. Alle mußten wohl wie ich irgendeinem Zufall oder einer mitleidigeren Stimmung ihre Rettung verdanken, die kaum eine Wohltat zu nennen war, – viele waren verwundet und der meisten Kleidungsstücke beraubt. Wildaussehende trunkene Männer umgaben sie und verübten die rohesten Mißhandlungen an den Unglücklichen. Ein Mann zu Pferde schien das Kommando zu führen; zu ihm brachte mich der Kosak und sagte ihm einige Worte, die ich nicht verstand. Wie ich später erfahren, bezeichnete er mich als einen Gefangenen des Fürsten Wolchonski. Dieser Empfehlung hatte ich es wohl auch zu danken, daß man mir, als man mich in den Haufen stieß, nicht meinen Pelz abriß.

Mutin trat noch einmal zu mir; er band meine Hände vom Rücken los, zog mir den Schafpelz über und schnürte sie dann leicht vorn zusammen, so daß ich sie wenigstens bewegen konnte. Dann hielt er mir seine Branntweinflasche an die Lippen und hieß mich trinken. Ich nahm einen tüchtigen Zug, denn ich war ganz erschöpft. »Gott und die Heiligen seien mit dir, armer Kamerad!« sagte der Kosak, »und fürcht dich nicht so sehr vor Sibirien, es ist gar nicht so schlimm dort und ich bin selbst von daher!« Noch ein Nicken mit dem Kopf, dann war er verschwunden und ich mir selbst überlassen, oder vielmehr aller Roheit und Feindseligkeit unserer Wächter.

Mir schien es, als ob die Schüsse, die wir fortwährend hörten, näher und näher knallten, und bald kamen Leute gelaufen, die wahrscheinlich unserem Führer die Nachricht brachten, daß eine Kolonne Franzosen im Anrücken sei, denn auf seinen Wink trieb man uns jetzt wie das Vieh mit Knüttel- und Beilhieben vorwärts und zwar wieder in eine Straße hinein, die rechts und links brannte. Gesindel der verworfensten Art umschwärmte uns dabei unter Mißhandlungen und Verwünschungen des gräßlichsten Inhalts, ohne daß unsern Wächtern es einfiel, ihnen zu wehren. Ja, sie begleiteten die Schandtat selbst mit Hohngelächter, als die Rasenden zwei der Gefangenen, die sich gegen die Mißhandlungen zu wehren gewagt hatten, ergriffen und trotz des Jammergeschreis der Unglücklichen in die Glut der nächsten Brandstätte warfen.

Ferner und ferner klangen die Schüsse, denn wir waren bereits in die öden, meist schon in Trümmern liegenden Vorstädte gelangt, und eine Stunde darauf waren wir auf der weiten, unermeßlichen Fläche in der Richtung gen Osten.

Bald trafen wir auf eine russische Streifwache von Kosaken, der wir zum Weitertransport übergeben wurden, während unsere bisherigen Wächter und Peiniger nach dem brennenden Moskau zurückkehrten, um neue Gefangene zu machen.

Die ganze Nacht wurden wir unbarmherzig vorwärts getrieben, bis wir bei Anbruch des Tages in die Nähe des russischen Hauptquartiers kamen. Hier trafen wir schon auf einen großen Trupp Kriegsgefangener, die trotz der bereits sehr rauhen Witterung im Freien lagern mußten, selbst ohne den Schutz nur halbwegs genügender Kleidung. Am Mittag inspizierten uns einige höhere Stabsbeamte, die Offiziere unter den Gefangenen wurden aufgefordert, sich zu melden und aufgeschrieben, und dann hieß die einfache Entscheidung:

Transport nach Sibirien!

Wer da weiß, was es heißt: Transport nach Sibirien! noch dazu in allen Schrecken eines russischen Winters, der wird die Leiden begreifen, die uns bevorstanden. Aber der Transport der gewöhnlichen – auch der gefährlichsten – Verbrecher, wie sie noch jetzt aus dem Innern Rußlands zu gewissen Zeiten des Jahres und von bestimmten Sammelplätzen nach Sibirien geschickt werden, ist nach den Erzählungen der Warnaks noch gering an Leiden gegen die Weise, in welcher damals unter dem fanatischen Haß der ganzen Bevölkerung die französischen Kriegsgefangenen nach Sibirien getrieben wurden. Wir waren in Abteilungen von 250 Personen gesondert und mußten den ganzen Marsch, wenigstens bis Tobolsk, zu Fuß zurücklegen, nur selten wurden einige der Halbtoten auf einen von den begleitenden Kosaken ohne weiteres aufgegriffenen Bauernschlitten gelegt, die meisten, die nicht mehr trotz aller Peitschenhiebe und Lanzenstöße fort konnten, ließ man am Wege liegen, der Kälte und den zahllosen Wölfen zur Beute, die der Hunger zuweilen trieb, selbst unsere Marschkolonne anzufallen. Von Moskau bis Tobolsk brauchten wir ein volles Jahr, denn erst Ende September 1813 kamen wir in Tobolsk an – von 250 Gefangenen nur noch 67 ausgehungerte, kraftlose Skelette. Die anderen, teils der Kälte, dem Hunger, den Strapazen und den Mißhandlungen der Eskorte unterlegen, welche die fünf Frauen, die unser Elend teilten – zarte Pariser Geschöpfe, die gewohnt gewesen, in Samt und Seide zu rauschen, – zu Tode schändete, deckte der Schnee, oder ihre Reste ruhten zerstreut auf der öden Steppe und in den Schluchten des Ural.

Die Transporte der zur Katorga – das ist zur schweren Strafarbeit Verurteilten – nahmen meist eine Strecke von zwei bis drei Werst ein. An der Spitze ritt ein Kosak, langsam im Schritt, die Lanze immer zum Angriff gesenkt. Diesem folgten, an Ketten oder Stangen gefesselt, paarweise die Gefangenen, von bewaffneten Soldaten und Kosaken umgeben, die den geringsten Ungehorsam mit Mißhandlungen, den Fluchtversuch mit dem Tode bestraften. Unmittelbar hinter den Gefangenen fuhr auf der ersten Kibitke der Offizier, der den ganzen Transport kommandierte, dann kamen einige Schlitten mit Bagage und schlechten Nahrungsmitteln, denn oft war in den von Strecke zu Strecke für den schauervollen Marsch erbauten Stationshäufern – meist nur offene Schuppen, – nicht das geringste anzutreffen. Eine Wache mit einem Unteroffizier schloß den Zug.

Ich gehörte zu den wenigen, die jene Leiden überstanden, sei es, daß die Stahlkraft der Jugend das ihre tat und Gott mich noch zu anderen Dingen aufgespart hatte, sei es, daß das blutige Geschenk Mutins das Seine dazu beitrug.

In Tobolsk entscheidet der Generalgouverneur über die Verteilung der Gefangenen. Ich hatte anfangs Aussicht, in den Kolonien am Ural zu bleiben, aber die Zahl der Gefangenen vermehrte sich bald infolge des unglücklichen Rückzuges der französischen Armee so gewaltig, daß sie in Menge nach dem Osten transportiert werden mußten. Irgendein unvorsichtiges Wort, das mir einen Feind unter den Beamten gemacht haben mußte, zog auch mir dies Schicksal zu, und im Frühling des Jahres 1815 traf ich in Nertschinsk und an der Schilka ein, wohin ich in die Posielenie – das heißt zur Kolonisation bestimmt war.

Ich hatte ein glückliches Talent für Sprachen, und was ich in Moskau zum Zeitvertreib angefangen, hatte ich auf dem Weg durch das ganze weite Rußland eifrig fortgesetzt, so daß ich bereits bei meiner Ankunft in Nertschinsk geläufig russisch sprach, ein Umstand, der mir das Leben sehr erleichterte, da ich häufig bei meinen unglücklichen Landsleuten den Dolmetscher machen konnte.

Allmählich gewöhnte ich mich an mein Schicksal, um so mehr, da ich schon in meinen Knabenjahren ein Freund der Jagd und der freien Natur gewesen war, was mir auch hier weit besser behagte, als die Arbeit in einem der russischen Bureaus, denn durch Zufall war es zur Sprache gekommen, daß ich ein ziemlich guter Riß- und Planzeichner war, und ich wurde daher häufig dazu benutzt, sowohl für die Anlagen in Nertschinsk Entwürfe zu fertigen, als auch bei den topographischen Aufnahmen des Landes, welche die russische Regierung nach dem Kriege vornahm, Dienste zu leisten. Bei dieser Gelegenheit lernte ich nicht nur die Tiefen der Bergwerke von Nertschinsk und die furchtbare Lage der in ihnen arbeitenden Verurteilten, die oft auf Nimmerwiedersehen von dem Licht geschieden waren, sondern auch das Land selbst kennen und überzeugte mich, wie wenig man von ihm in Europa bis dahin wußte, und welche unendlichen Hilfsquellen es einst Rußland bieten mußte.

Ich muß Sie daran erinnern, Gospodins, daß zu der Zeit, von der ich spreche, das russische Gebiet noch keineswegs die Ausdehnung nach Süden und Südosten hatte wie jetzt, daß Kiachta und Nertschinsk die Grenzen gegen das weite chinesische Reich bildeten und der ganze Lauf des Amur bis zum japanischen Meer in das Gebiet der nördlichen chinesischen Provinzen, die Mandschurei, fiel. Allerdings herrschten seit 200 Jahren schon fortwährende Grenzstreitigkeiten, und die Lust nach dem Besitz der reichen Ufer des Amur, der für Sibirien als Wasserstraße zum ochotzkischen und japanischen Meer und nach China eine Lebensnotwendigkeit war, hatte seit dem abenteuerlichen Zuge des Kosakenhäuptlings Pajarkow im Jahre 1640 zahlreiche kleinere und größere Expeditionen, teils seitens der Regierung, teils seitens der herumschweifenden Grenzer und Verbrecher veranlaßt, die aber alle mehr oder weniger verunglückt waren und schließlich zu den schlimmsten gegenseitigen Grausamkeiten geführt hatten.

Zu den verwegensten Grenzstreitern jener Zeit gehörte der Tojon eines Stammes der Pferdetungusen, der niemand anders war, als der Urgroßvater jenes Kindes, Scheminga, derselbe, der jetzt an Ihrer Seite sitzt, Messieurs. Sie haben seine Geschichte bereits gehört und wissen, warum er die Tergezin Chinesen. glühend haßte. Mit einigen kecken Gefährten wagte er mehr als einmal zwischen den chinesischen Wachen hindurch weite Streif- und Jagdzüge hinein in das Gebiet der Mandschu und schlug sich mit den Reitern herum, und wehe dem Langzopf, den er über die Linie, welche damals als die Grenze galt, auf dem Gebiet der russischen Stämme traf, der Strick am nächsten Baum war nach dem alten Grenzrecht sicher sein Lohn. Zweimal machte ich, nachdem ich mit ihm bekannt geworden und sein Vertrauen erworben, diese Jagdzüge mit und gewann durch den Grenzverkehr auch einige Kenntnis der chinesischen und Tungusen-Sprache, die dem Mandschu-Dialekt gleicht.

Wahrscheinlich infolge dieser zusammentreffenden Umstände ließ mich der Gouverneur von Nertschinsk, damals General Soubaloff, eines Tages rufen und machte mir den Antrag, mit einer kleinen Expedition in zwei Barken den Amur von seinem Entstehen aus, das heißt von dem Zusammenfluß der Schilka, des Argun und der Ingoda ab stromabwärts zu verfolgen, um über die an beiden Ufern errichteten chinesischen Forts Bericht zu erstatten und sonstige Beobachtungen zu machen. Wir sollten so weit als möglich, wenn es ginge, bis an die Küste des Meeres vordringen und dann über Udskoi zurückkehren, doch vermeiden, in Konflikte mit den Eingeborenen zu kommen. Ein Jahr war zur Ausführung der Expedition bestimmt, und es wurde mir versprochen, daß ich nach deren Beendigung die Erlaubnis zur Rückkehr nach Europa erhalten sollte.

Es war im Frühjahr, d. h. im Mai 1817, als wir in dem ersten Boot, einer gut verproviantierten Barke, unsere Fahrt die Schilka hinauf antraten. Eine zweite Barke von größerer Dimension sollte einige Tage später folgen. Die unsere trug einen russischen Offizier, zwei sibirische Kosaken, zwei Warnaks zum Rudern und mich, also im ganzen sechs Personen. Ich hatte Abschied von Scheminga und allen meinen Bekannten genommen, denn ich war im geheimen entschlossen, wenn es uns gelingen sollte, die Küste zu erreichen, auf ein amerikanisches oder anderes Schiff zu desertieren und zur See nach Frankreich zurückzukehren. Ich hatte mir durch die Jagd und meine Arbeiten bereits eine Summe von nahe an dreihundert Rubeln erspart, diese vorsichtig im Handel in Goldstücke umgesetzt und trug dieselben eingenäht in den Schäften meiner Stiefel bei mir. Unsere Ausrüstung war genügend an Waffen, Pulver und Blei und wir führten eine Anzahl von allerlei Geschenken für die Uferbewohner mit uns – der Offizier, Leutnant Beiton, ein Nachkomme des tapferen deutschen Obersten, der im Jahre 1686 die kleine Erdfeste Albasin so heldenmütig mit fünf schlechten Kanonen und 300 Musketen gegen ein ganzes chinesisches Heer verteidigte, führte außerdem eine ansehnliche Geldsumme zu Bestechungen bei sich, die bekanntlich in ganz Asien weiter helfen als die Gewalt der Waffen.

Was man uns von den Ufern des gewaltigen Stroms erzählt, der schon an seinem Beginn eine Breite von fast drei Werst – an seinem Ausfluß aber, wie ich später hörte, von mehr als 30 Werst hat – fand sich durch die Wirklichkeit weit übertroffen und ich kann es den Russen nicht verdenken, daß sie alle Kräfte, List und Gewalt, Gold und Treubruch aufgeboten haben, in seinen Besitz zu kommen, über den – wie der letzte Bote aus Irkutzk uns gemeldet – gegenwärtig von General Ignatieff in Peking unterhandelt wird. Der Vertrag wurde im Jahre 1861 ratifiziert.

Zwischen Klippen, Engen und Strudeln windet sich die gewaltige Wassermasse durch die herrlichen Jagdreviere des gebirgigen Gobilandes, zwischen den Jabloni-, Chrebet- und Kingan-Gebirgen, von beiden Seiten eine Menge größerer und kleinerer Nebenflüsse aufnehmend.

Zwischen den oft mächtig ans Ufer heranstrebenden Bergen und Felswänden breiten sich üppige Weiden, die fleißigen Hände der Langzöpfe bauen an den Ufern der Zuflüsse Weizen, Tabak und Ölpflanzen, der rasch herauf ziehende Sommer läßt überall Rosen und Lilien, Maiblumen und Veilchen mächtig aus dem grünen Rasenteppich der zahllosen Inseln und Inselchen sprießen, Nadelhölzer mischen sich mit dem Laube der Eichen, der Blüte der wilden Aprikosen- und Äpfelbäume, und an den Abhängen glühen im dunkeln Laub die purpurnen Blüten des Oleanders und die mit Früchten beladenen Mispeln.

Die Schiffahrt ist durch die Inseln, Felsen und Stromschnellen freilich eine sehr gefährliche und wir mußten alle Aufmerksamkeit aufbieten, um nicht zu verunglücken. Vierzehn Tage waren wir bereits unterwegs, aber erst 80 Meilen weit bis zum Einfluß der Seja oder des Tschikiri vorgedrungen, des stärksten Nebenstroms auf der linken Seite des Amur, und etwa eine Tagereise darüber hinaus, als wir auf dem rechten Ufer, dem wir uns wieder genähert, ein kleines chinesisches Fort bemerkten. Bereits zweimal waren wir bei der Annäherung an solche von ungeschickt gerichteten Folkonetschüssen begrüßt worden, und einmal hatte sich eine ganze Flotte chinesischer Barken aufgemacht, uns zu verfolgen, freilich ohne einen andern Erfolg, als daß zwei oder drei von ihnen an den Klippen im Fluß scheiterten und mit ihrer ganzen Mannschaft zugrunde gingen. Hier aber schien man eine weit friedlichere Gesinnung zu hegen; denn da man ohne Zweifel schon an der Bauart und der Takelung unserer Barke uns als Russen erkannt hatte, wurde zu unserm großen Erstaunen bei unserer Annäherung unter der Flagge mit dem Drachen, dem chinesischen Wappen, alsbald eine zweite mit den russischen Farben aufgehißt.

Die Gelegenheit war zu günstig, um nicht von einer solchen freundlichen Gesinnung Gebrauch zu machen, um so mehr, da es uns schon seit mehreren Tagen nicht gelungen war, frische Lebensmittel an den Ufern einzutauschen. Ich muß bemerken, daß es auch nichts Seltenes war, daß von Albasin oder andern russischen Stationen am obern Amur her oder von den Jägern und Nomadenstämmen, die über das Gebirge bis an das nördliche Ufer des Amur kamen, Barken und große Kähne nach dem südlichen überfuhren, um Tauschhandel mit den Chinesen zu treiben. Im ganzen aber blieb es selbst in vollen Friedenszeiten immer eine sehr gewagte Sache, da zwischen den Grenzbewohnern großer Haß und fast stets ein kleiner Krieg auf eigene Hand herrschte. Im besten Falle wurde den sibirischen Barken immer nur an bestimmten Punkten zu landen erlaubt, wenn sie eben nicht vorzogen, im geheimen ihre lebendige Last zu einem Jagd- oder Raubzug an das Land zu schmuggeln.

Wir glaubten jedoch, eine jener von der chinesischen Habsucht improvisierten Stationen zum Tauschhandel vor uns zu haben und nahmen wie gesagt keinen Anstand, uns zu nähern. Unser Zutrauen wuchs noch, als wir auf Schußweite herangekommen waren, ohne daß ein Schuß fiel. Vielmehr stieß aus der kleinen Buchtung des Forts ein Kahn ab, von zwei Chinesen gerudert, in dem ein dicker Mann mit bis zum Gürtel herabhängendem glänzend gewichstem Schnurrbart saß, eine Pfauenfeder auf seinem Hut, – das Zeichen, daß er ein höherer Offizier oder gar der Kommandant des Forts sei.

Letzteres erwies sich auch als richtig. Das Boot hielt in einiger Entfernung von der Barke an und der Mandarin erhob seine Stimme, indem er uns aufforderte, das Fort zu besuchen, wenn wir Gegenstände zum Tauschhandel hätten. Demzufolge richteten wir die Spitze unserer Barke nach dem Lande und legten zwischen mehreren chinesischen Dschonken an, wobei uns der vorangegangene Kommandant ganz gegen die sonstige hochmütige Weise der Chinesen mit übergroßer Freundlichkeit empfing.

Es lag etwas in dem Gesicht des dicken Burschen, ein Zug von Arglist und Grausamkeit, das mir von vornherein nicht sehr gefiel, und auf meinen Rat weigerte sich unser Offizier, die angebotene Wohnung in dem Fort selbst zu nehmen, sondern zog es vor, die Nacht unter einem kleinen Zelt zuzubringen, das wir in der Nähe des Landungsplatzes aufschlugen. Das Fort war ausnahmsweise ziemlich geräumig und fest, und lag am Ausfluß eines kleinen aber schiffbaren Flusses in den Amur, so daß zwei Seiten der Mauern vom Wasser bespült waren. Das Fort schien übrigens nur von sehr geringer Mannschaft besetzt, denn es zeigten sich auf den Mauern und in der Begleitung des Mandarins höchstens zehn Personen, freilich Kerle, die wie die personifizierten Gurgelabschneider aussahen.

Da wir sechs gut bewaffnete mutige Männer waren, hatten wir keine Furcht, und beschlossen, die Nacht über am Lande zu bleiben und erst am nächsten Tage die Fahrt fortzusetzen.

Herr Tschang Tsin, wie sich der Mandarin nannte, ließ eine Menge seltsamer Lebensmittel herausschaffen, wie sie die chinesische Kochkunst kennt. Wir begnügten uns aber mit Reis und Hühnern und tranken dazu unseren russischen Branntwein, nach dem die chinesischen Gaudiebe sehr lüstern zu sein schienen. Sie machten sich sehr eifrig mit langen Hälsen in der Nähe unseres Bootes zu tun und ich sah sie mit dem Warnak, der zur Bewachung desselben zurückgeblieben war, eifrig um eine zweite Flasche unterhandeln, denn eine hatte ihnen unser Offizier geschenkt. Als ich zufällig an dem Boot vorüberging, hörte ich übrigens mit Erstaunen, daß der eine der chinesischen Soldaten mit unserem Mann russisch sprach. Der Mann war übrigens der einzige von unserer kleinen Gesellschaft, dem wir nicht ganz trauten, da er schon mehrmals während der Fahrt sich widerspenstig benommen hatte.

Ich achtete jedoch nicht weiter auf den Umstand, wenigstens sprach ich nicht mehr davon. Mehr interessierte es mich, daß ich, als ich um das Fort strich, um es von allen Seiten zu betrachten, an einer der Fensteröffnungen zwei Frauen zu sehen glaubte, die sich jedoch schnell zurückzogen, als sie sich bemerkt sahen.

Die Chinesen sperren ihre Weiber keineswegs so streng ab, wie die meisten anderen orientalischen Nationen, wenigstens die Mohammedaner. Die Frauen der Vornehmen leben zwar meist abgesondert, zeigen sich aber doch bei vielen Gelegenheiten. Bis dahin hatte ich allerdings in Kiachta und an der Grenze nur Frauen des niederen Standes gesehen, die meist zu schwerer Arbeit und Lasttragen benutzt werden, aber ich hatte viel gehört von der eigentümlichen Schönheit der vornehmen Chinesinnen, und war daher begierig, solche zu sehen.

Hier bot sich vielleicht Gelegenheit, denn der Mandarin schien wirklich beeifert, alle unsere Wünsche zu erfüllen; aber wir wollten schon am andern Morgen aufbrechen und der Abend zog bereits herauf.

Leutnant Beiton hatte mit Herrn Tschang Tsin und seinen Leuten um verschiedene gegenseitige Artikel gehandelt, der schlaue Chinese wußte aber den Handel in die Länge zu ziehen, so daß es zu keinem Abschluß kam und wir am Abend noch keineswegs die frischen Vorräte erworben hatten, wegen deren wir hauptsächlich gelandet waren.

Da wir unserm Gastherrn noch keineswegs recht trauten, beschlossen wir, während der Nacht streng auf unserer Hut zu sein und außerdem, daß ein Mann im Boote schlief, stets unserer zwei wach zu bleiben und uns regelmäßig abzulösen. Indes die Nacht verging, ohne daß sich das geringste Verdächtige merken ließ. Der Mandarin und sein unterer Offizier hielten die Leute streng in den Mauern des Forts eingeschlossen und nichts störte uns in unserer Ruhe und Wache.

Ich hatte mit dem zweiten Warnak die erste Nachtwache übernommen, die bis Mitternacht dauern sollte. Die Nacht war prachtvoll. Über mir funkelten Millionen Sterne an dem klaren Firmament, kaum hundert Schritt von mir rauschten die Wassermassen des gewaltigen Stroms, die dichten Rosenbüsche, die unter der Landseite des Forts wuchsen, sandten ihre Düfte durch die Nacht, und der liebliche Gesang ihres Vogels, dem die Asiaten den süßen Namen Burubul gegeben, schlug an mein Ohr.

Ich dachte der Heimat, der schönen Ufer der Loire, an der ich geboren, und fragte mich, ob ich sie wohl je wiedersehen würde?

Wie wenig ahnte ich, daß schon die nächsten Stunden diese Sehnsucht für immer, für immer unerfüllbar machen würden.

In den süßen Gesang der Nachtigall mischte sich plötzlich ein anderer Ton, der nicht minder meine Gefühle erregte.

Es war der Klang einer Balaleika, der eigentümlichen dreiseitigen Zither, welche die Kosaken schlagen vom Don bis zum Baikal. Zu diesen scharfen schwirrenden Tönen erhob sich der Gesang einer Frauenstimme in den drei bis vier Noten, welche die Musik der Nomadenvölker allein zu kennen scheint. Merkwürdigerweise war es ein Lied, das mir wohl bekannt war, denn oft genug hatte ich es vor der Jurte Schemingas von den Mädchen seines Stammes singen hören, wenn wir ermüdet von einem Jagdzuge auf den Filzdecken ruhten und den Rauch aus unsern Pfeifen in die Luft bliesen. Der Tojon hatte in der Tat herzlich wenig von einem Schwärmer an sich, aber er liebte dies Lied, das ich auch oft von den Kosaken schon bei unserm Transport hatte singen hören, und er wurde stets still und in sich gekehrt, wenn er es vernahm. Die einfache Melodie mußte demnach selbst über die Grenzen der geringen russischen, Kultur hinaus Freunde gefunden haben.

Ich war etwas musikalisch und hatte dies Talent schon in Frankreich auf der kleinen flötenartigen Pfeife ausgebildet, welche neben der Balaleika, dem Kur, oder der Brettgeige der Tungusen, und der Schellentrommel der Schamanen so ziemlich das einzige Instrument ist, was man in Sibirien kennt. Ich hatte mir in Irkutzk von einem Holzkünstler dies Instrument nach meiner Angabe etwas vollendeter herstellen lassen, so daß es in der Tat einer Flöte ähnlich klang, und mir darauf eine ziemliche Fertigkeit erworben.

Als daher die Sängerin, die eine wohltönende und zu dem schwermütigen Gesänge passende Stimme hatte, die erste Strophe des Liedes gesungen, was in einer Sprache geschah, die ich in dieser Entfernung nicht verstand, wiederholte ich auf meiner Flöte die Melodie.

Einige Minuten war alles still – dann erhob sich der Gesang aufs neue und zwar diesmal kräftiger und lauter. Es schien mir, als könnte ich die Worte verstehen, wenigstens als ob ich einzelne schon gehört – aber es war nicht Russisch. Ich wollte, um die nächtliche Sängerin nicht etwa zu stören, nicht näher zu den Mauern des Forts gehen, von deren Höhe, anscheinend aus einem der kleinen chinesischen Pavillons, der Gesang kam, und so mußte ich es aufgeben, die Worte deutlicher zu hören. Die Rücksicht, die ich beobachtete, schien aber nicht von anderer Seite geübt zu werden, denn plötzlich brach der Gesang und das Zitherspiel mitten in der Melodie ab und schwieg.

Vergeblich wiederholte ich dieselbe auf meiner Flöte noch mehrere Male und blies sogar, einmal in der Stimmung der Erinnerung, verschiedene liebliche Lieder meiner Heimat – die unbekannte Sängerin blieb stumm, und bald erloschen auch die bunten Laternen, die bis dahin auf den Mauern und im Innern der kleinen Feste geleuchtet hatten.

Eine Stunde darauf weckte ich die beiden Kosaken, deren gesunder Schlaf unser kleines Konzert nicht im mindesten unterbrochen hatte, und legte mich nieder, um selbst von der Ermüdung des Tages auszuruhen.

Alexis Beiton, unser Offizier, hatte die Abhaltung der Morgenwache allein übernommen, und weckte uns erst, als die Sonne bereits seit zwei Stunden über dem Horizont stand. Etwas sehr Unangenehmes hatte sich zugetragen. Dimitri, der Warnak, von dem ich vorhin gesprochen, war nach seiner Angabe in der Nacht erkrankt, und als er trotz seiner Schmerzen einen schweren Stein in unsere Barke hob, den wir als Ballast in den weiter hinabkommenden Stromschnellen benutzen wollten, von denen uns die Chinesen berichtet, hatte er denselben fallen lassen und damit ein Loch in den Boden unseres Fahrzeuges geschlagen. Das Wasser drang durch das Leck so heftig ein, daß wir sämtlich uns beeilen mußten, unsere Barke zu entladen und die Vorräte auf festen Boden zu schaffen, damit das Fahrzeug ganz aufs Land gezogen und ausgebessert werden konnte.

Tschang Tsin und seine Leute halfen uns dabei auf das Bereitwilligste, wobei wir freilich nicht aufhörten, den letzteren scharf auf die Finger zu passen. Die Krankheit Dimitris vermehrte sich jedoch in dem Grade, daß er nicht arbeiten konnte und daß wir endlich gern das Anerbieten annahmen, ihn in das Fort schaffen und ihm dort eines der Schwitzbäder geben zu lassen, welche die Asiaten und auch die Russen Europas als Universalmittel gegen alle Krankheiten betrachten. So wurde der Warnak denn von zwei kräftigen Chinesen aufgehoben und unter meiner Begleitung in das Fort getragen, indem ich unserm Auftrage gemäß dabei die Gelegenheit benutzen wollte, mir das Innere der Forts und seine Verteidigungsmittel anzusehen.

Ob ich dabei auch nicht den Hintergedanken hatte, vielleicht der schönen Sängerin vom vorigen Abend zu begegnen, will ich nicht erörtern.

Daß ich den Gang nur wohlbewaffnet tat, versteht sich von selbst. Indes nichts war zu sehen, was meinen Argwohn hätte erregen können, im Gegenteil war Tschang Tsin ganz gegen die Gewohnheit seiner Landsleute überaus zutraulich und so wenig prahlend, daß er mir selbst erzählte, daß die beiden kleinen Kanonen, welche die Armierung des Forts bildeten, seit Jahren unbrauchbar und das halbe Dutzend Musketen, die sich im Fort befanden, leider nicht in viel besserem Zustand wären, und daß sie sich im Notfall und selbst auf der Jagd mehr auf ihre Spieße und Bogen verlassen müßten.

Er lud mich zu einem Frühstück ein, das aus Reis und Lammfleisch und einigen jener chinesischen Leckereien, wie Spinnen, Eidechsen und Gewürm bestand, gegen die sich trotz meines jetzt dreijährigen Aufenthalts im Osten mein europäischer Magen noch immer empörte.

Zu meiner Überraschung, denn ich hatte bisher, um ihn nicht zu beleidigen, nicht gewagt, ihn nach den weiblichen Mitgliedern seines Haushalts zu fragen, öffnete sich jetzt die Tür des Gemachs, in dem wir aßen und eine junge Chinesin, in den Lieblingsfarben der Damen: Rosa und Grün gekleidet, trat mit gesenktem Haupt schüchtern ein, in der Hand einen Teller von Silberfiligran, auf dem die gefüllten kleinen Teetassen und einige vergoldete Flakons mit Likören standen.

»Das Licht des Weltalls,« sagte der Mandarin, ehrerbietig den blauen Knopf seines Hutes berührend, »hat Tschang Tsin viel Ehre vor den Männern seiner Nation und den Fremden gegeben, indem es ihn zum Gouverneur dieses wichtigen Platzes gemacht. Aber die Götter sorgten auch für sein Glück, indem sie ihm dieses Kind, seine Tochter schenkten, die ihm so lieb ist, wie der Apfel seines Auges. Gotami wünschte den Moskow zu sehen, der diese Nacht ihre Ohren mit seiner Rohrpfeife erfreut hat.«

Jetzt zum erstenmal hob das chinesische Mädchen die Augen und richtete, gleichsam unter dem Schutz ihres Vaters, ihren Blick auf mich. Was soll ich sie lange beschreiben? ich fühlte bei ihrem Anblick, daß ich künftig nicht mehr an die schöne Fürstin Wolchonski, sondern nur noch an sie denken würde, wie sie mit schüchterner Anmut das Silberbrett mit dem Tee mir entgegenhielt.

Indem ich die Tasse nahm, berührten meine Finger die langen rosenrot gefärbten Nägel der ihren und ich sah, daß eine tiefe Röte ihr auffallend liebliches Gesicht überzog, in dem die Eigentümlichkeiten der asiatischen Formen sich zu einer wirklichen Schönheit gestalteten, die selbst in Europa Bewunderung erregt hätte.

Schon bei ihrem Eintritt war es mir übrigens aufgefallen, daß das junge, trotz der frühreifen Entwicklung gewiß kaum sechzehnjährige Mädchen nicht den gewöhnlichen unsichern Gang der Chinesinnen hatte und aus ihren bauschigen Beinkleidern von rosafarbener Seide zwar ein überaus kleiner, aber keineswegs verkrüppelter Fuß in goldgestickten Pantoffeln hervorsah. Ich wußte, daß es nach der Sitte des Landes unschicklich gewesen wäre, die Schöne selbst anzureden und so wendete ich mich denn mit Ausbietung aller meiner Kenntnis ihrer Sprache an den Vater mit einigen Komplimenten, die ihn glücklich priesen, eine solche Perle zu besitzen und ihm sagten, daß ich nur bedauert hätte, ihren Gesang, der die Nachtigall beschämt, in der vergangenen Nacht nicht länger gehört zu haben.

Gotami hatte sich, nachdem sie die Pflichten der Wirtin erfüllt, auf ein Polster an der Seite ihres Vaters niedergelassen und flüsterte diesem etwas zu, worauf der Mandarin mich fragte, ob ich die Flöte bei mir habe und ihnen darauf etwas vorspielen möchte. Ich erklärte mich sehr gern bereit dazu, wenn er gestatten wolle, daß die junge Schöne gleichfalls unsere Ohren mit ihrem Gesange erfreuen möchte, worauf er geschmeichelt in die Hände klatschte und da auf dies Zeichen nicht gleich ein Diener erschien, selbst nach der Tür des Gemachs wackelte, um einem solchen den Befehl zur Herbeischaffung der Balaleika zu geben.

Diesen Augenblick benutzte zu meinem Erstaunen das junge Mädchen, um mir ein Zeichen zu geben, und als sie meine Aufmerksamkeit erregt hatte, mir ein kleines Seidenknäuel zuzuwerfen.

Ich hatte gerade noch Zeit, das eigentümliche Geschenk fortzustecken, als der Mandarin zurückkehrte und seiner Tochter die einfache Zither reichte, die er – wie er mir erzählte, – bei einem früheren Tauschverkehr eingehandelt. Ich holte meine Flöte hervor und indem ich der hübschen Chinesin einen feurigen Blick zuwarf, blies ich die Melodie des Liedes, das sie am vergangenen Abend gesungen.

Sie schien meinen Wunsch zu verstehen, denn als ich schwieg, strich sie mit den zierlichen Fingern über die Saiten des Instruments und erhob dann ihre Stimme zu dem klagenden Gegengesang.

Zu meinem Erstaunen erkannte ich jetzt an einzelnen Worten die Sprache, in der sie anspruchslos das einfache schwermütige Lied vortrug – es war dieselbe, in welcher ich das Lied mehr als einmal zwischen den Jurten meines Jagdgenossen, des Tungusenhäuptlings, gehört hatte.

Ein ernster Blick des Mädchens schnitt, als sie geendet, jede Bemerkung ab; ich ließ einen lustigen französischen Tanz erklingen, der ihre kindliche Freude erregte und selbst dem dicken Langzopf Zeichen des Beifalls entlockte, und dann erhob ich mich, um mich zu verabschieden und meinen Gefährten nicht Ursach zur Unruhe zu geben, – zumeist aber aus Neugier, was das zugeworfene Seidenknäuel zu bedeuten habe.

Nachdem ich mich durch eine europäische Verbeugung bei der jungen Schönen verabschiedet hatte, entfernte ich mich, begleitet von dem Mandarin, der mich nicht aus den Augen ließ und den Wunsch aussprach, wir möchten bis zum andern Morgen unsere Reise aufschieben, da dann unser Begleiter gewiß ganz wieder hergestellt sei.

Als ich das Fort verlassen und zu meinen Gefährten zurückgekehrt war, die in der Tat bereits besorgt geworden, fand ich, daß die Ungeschicklichkeit des chinesischen Zimmermanns das Unheil an unseren Boot eher verschlimmert als verbessert hatte und daß es mehrere Stunden Arbeit kosten würde, den Schaden wieder zu reparieren. Leutnant Beiton war sehr ärgerlich darüber, ich selbst aber teilte diesen Verdruß keineswegs, weil ich hoffte, dadurch Gelegenheit zu erhalten, das schöne Chinesenmädchen noch einmal wieder zu sehen.

Da ich sofort mit Hand anlegen mußte, fand ich keine Zeit, das Seidenknäuel aufzuwickeln, um zu sehen, was es enthielt, und später hinderte mich die Ankunft des alten Gouverneurs mit einigen seiner Leute, die wieder allerlei gastfreundliche Beiträge zu unserer Mahlzeit brachten und sie unter dem Zelt ausbreiteten. Zugleich erklärte Herr Tschang Tsin, daß er Befehl gegeben, uns nach der Mahlzeit die gewünschten Artikel zum Boot zu schaffen, und daß Dimitri sich bereits so wohl befände, daß er, wenn wir auf der Abfahrt noch am Abend beständen, uns würde begleiten können.

Diese Mitteilungen stellten die gute Laune unsers Offiziers wieder her, und da wir in der Tat jetzt nichts weiter zu tun hatten, als unser Boot aufs neue zu beladen, setzten wir uns alle im Zelt zu unserer Mahlzeit nieder. Alle Besorgnis vor einem Angriff der Chinesen war nach den zahlreichen Beweisen ihrer freundlichen Gesinnung geschwunden und überdies befanden sich in diesem Augenblick nur vier oder fünf Mann der Besatzung und zwar unbewaffnet auf unserm Lagerplatz. Tschang Tsin setzte sich vor den Eingang des Zeltes und sah unserm Speisen zu.

Wir waren lustig und guter Dinge, und Leutnant Beiton hatte von unseren Vorräten eine neue Flasche Branntwein zum besten gegeben, als Tschang Tsin sich erhob und durch meine Vermittlung erklärte, in dem Fort befänden sich noch einige Krüge chinesischen Weins, deren einen er herbeischaffen lassen wolle. Er gab seinen Leuten ein Zeichen, sich zu nähern, und trat einige Schritte von dem Zelte zurück.

In diesem Augenblick sah ich ihm zufällig ins Gesicht und bemerkte, daß sich dasselbe zu einem satanischen Triumph verzog, während er zugleich die Hand erhob und dem wilden Burschen, der sich uns genähert, einige Worte anrief. Der Gedanke, daß uns eine Schlinge gelegt worden und ein Unheil bevorstand, zuckte wie ein Blitz durch meine Seele, und ich wollte nach meinen Waffen greifen, die wir alle abgelegt, als plötzlich der Zeltstock, welcher das Leinwandhaus in die Höhe hielt, von unsichtbarer Hand fortgerissen wurde und das ganze Zelt über uns herstürzte. Im ersten Augenblick glaubten meine Kameraden sicher, es sei ein Zufall, denn ich hörte Leutnant Baiton noch lachen; aber schon im nächsten belehrte sie das wilde Geschrei, das an unsere Ohren gellte, eines besseren. Die schlaue Berechnung der Chinesen, sich unserer und unseres Bootes zu bemächtigen, ohne sich selbst einer Gefahr auszusetzen, war vollkommen gelungen. Nachdem sie erst unser Mißtrauen vollständig eingeschläfert, hatten sie absichtlich die Tageszeit zu ihrem wohlberechneten Überfall gewählt, der fast ganz gefahrlos wurde, da die schwere Leinwand des Zeltes uns zu Boden drückte und anfangs an jeder Bewegung verhinderte, während unsere Gegner uns von oben herab durch die Stöße ihrer Spieße und Messer leicht den Garaus machen konnten. Das schien aber keineswegs ihre Absicht, denn in gutem Russisch erscholl der Befehl, uns nicht zu rühren, wenn wir nicht sofort des Todes sein wollten. In der Tat erhielt auch einer der Kosaken, der trotzdem seine Waffen zu ergreifen versuchte, einen Speerstoß in den Schenkel.

Nach dem Geschrei zu urteilen, mußten übrigens weit mehr unserer Feinde versammelt sein, als uns bisher zu Gesicht gekommen, und diese Vermutung erwies sich auch alsbald als Wahrheit, als man uns nun einzeln unter dem Zelt hervorholte und uns sofort Füße und Hände band. Mehr als die doppelte Zahl der Schurken, die wir früher für die alleinige Besatzung des Forts gehalten, war um uns versammelt, mit teuflischem Grinsen sich ihrer List freuend und uns verhöhnend, und zu unserem Schrecken und Abscheu befand sich unser kranker Warnak Dimitri darunter. Jetzt wurde es mir klar, daß der Kerl unter der Besatzung irgendeinen früher entlaufenen Gefährten wiedergefunden, von diesem zum Verrat bewogen worden und bei dem schurkischen Spiel mitgeholfen hatte.

Widerstand war vergeblich, und so ließ ich ruhig alles mit mir geschehen, obschon die Galgenphysiognomien der Bande des Gouverneurs mir genugsam verkündeten, welches Schicksal uns bevorstand.

Wie ich bereits erwähnt, wurden uns Hände und Füße so eng zusammengeschnürt, daß wir uns nicht zu regen vermochten und der Bast der Stricke tief in unser Fleisch schnitt. Dann wurden wir von dem Lagerplatz fort und in das Fort geschleift und in einen ziemlich engen Turm von zwei Stockwerken geschafft, der auf der Mauer des Forts nach der Landseite und zwar zwischen zwei Pavillons stand, von denen der eine, wie ich aus dem Gesange der Nacht wußte, von den Frauen des Mandarins bewohnt oder wenigstens benutzt wurde.

Der zweite Warnak und ich wurden in das obere Geschoß geworfen, einen den ganzen Turm ausfüllenden, nur durch eine Leiter und starke Falltür zugänglichen Raum, unser Offizier und die beiden Kosaken in das darunter liegende Gemach, so daß wir, selbst wenn wir im Besitz unserer Gliedmaßen gewesen wären, doch nicht hätten miteinander verkehren können.

Diese Verteilung sollte wenigstens meine Rettung werden.

Man hatte uns zwar Knebel zwischen die Zähne gepreßt, aber Basil, der mit mir gefangene Warnak, war ein zu alter Fuchs und in allen Künsten seines frühern Handwerks zu wohl erfahren, als daß ihm dies ein langes Hindernis gewesen wäre. Unsere Überwältiger hatten uns kaum wie ein paar Holzblöcke auf den Boden geworfen und sich entfernt, wobei sie, wie wir deutlich hörten, die Falltür mit schweren Riegeln verschlossen und die Leiter mit fortnahmen, als er sich dicht vor mich wälzte, mit seinen gefesselten Händen den Knebel in meinem Munde faßte und ihn herauszog, worauf ich ihm denselben Dienst leisten mußte.

» Jebi waschu mat!« brummte er mit dem gewöhnlichen russischen Fluch – »diese Hundesöhne sollen uns so billig nicht haben. Reich deine Hände her, Väterchen, meine Zähne sind so scharf wie die einer Ratte, und wenn ihr Bast von Eisen wäre, es sollte nichts helfen!«

In der Tat waren auch, ehe zehn Minuten vergingen, die Knoten meiner Stricke gelöst.

»Jetzt, Batuschka,« sagte der Warnak, »greif in meinen linken Stiefel und hole heraus was du dort finden wirst!«

Ich tat natürlich, wie er wollte und holte ein starkes und langes Einschlagmesser hervor, das er dort verborgen getragen. Mit dessen Hilfe waren leicht die Stricke, die uns noch banden, gelöst, wobei er jedoch vorsichtig dafür sorgte, daß sie so wenig als möglich zerschnitten wurden.

Nachdem wir auf diese Weise einen Teil unserer Freiheit wieder gewonnen, machten wir uns daran, zunächst unsern Kerker zu untersuchen und dann zu beratschlagen, was wir zu tun hätten.

Das erstere war leicht geschehen. Der Turm, oder vielmehr das minaretartige Türmchen hatte im Innern etwa 10 Fuß im Durchmesser, war von festen behauenen Steinen erbaut und hatte zwar nach allen Himmelsgegenden Öffnungen, die uns gestatteten, auf den Fluß und unseren früheren Lagerplatz und selbst in das Innere des Forts zu sehen, die aber viel zu eng waren, um unsere Leiber etwa hindurchzulassen.

Der Warnak lachte, als ich ihn auf dieses Hindernis eines etwaigen Fluchtversuchs aufmerksam machte.

»Der Teufel soll mich fressen,« meinte er, »wenn das mich auch nur einen halben Tag aufhalten würde! Ich bin aus den besten Kerkern von Petersburg ausgebrochen, ohne daß ich wie hier eine gute Messerklinge in der Hand hatte, und diese elende chinesische Mauer sollte mich hindern? Aber das würde uns nicht viel helfen. Es sind ihrer zu viele und sie würden uns bald überwältigen. Überdies fehlt es uns an allen Mitteln fortzukommen, zu Wasser wie zu Lande. Ja, wenn wir einen Freund unter den schuftigen Langzöpfen hätten und dieser Schurke Dimitri nicht ein Verräter wäre, dem der Teufel die Seele braten mag, wäre es etwas anderes!« Und er begann eine solche Reihe gräßlicher Verwünschungen auf seinen früheren Kameraden, daß mir trotz unserer Lage die Haut schauderte.

Durch das Verlangen nach einem Freund im Fort hatte er mich aber an das Benehmen der jungen Chinesin erinnert und daß ich das Seidenknäuel noch immer uneröffnet bei mir trug. Ich hielt es für gut, ihm die ganze Geschichte zu erzählen und die Gabe zu zeigen, die wir nun eilig aufzuwickeln begannen.

Es war ein Knäuel von Seidenfäden, wie die Frauen sie aufzuwickeln pflegen. Mit großem Vergnügen sah Basil, der überhaupt ein sehr schlauer Bursche und dazu ein eingefleischter Russe war, daß die Fäden eine ziemliche Länge einnahmen. Er legte sie sorgfältig zusammen, bis wir endlich auf den Kern der Rolle, ein zusammengekniffenes Blatt Reispapier kamen. Hastig wurde es entfaltet: es enthielt verschiedene chinesische Schriftzeichen, die wir freilich beide nicht verstanden und wie – als hätte die Spenderin diese Unkunde vorausgesehen, – zwei allerdings sehr unvollkommene Zeichnungen, die aber doch deutlich ein stehendes und ein zusammengeworfenes Zelt erkennen ließen, so wie eine Anzahl Striche mit Köpfen.

»Den Henker auch, Brüderchen,« murrte der Warnak, »was wäre es gut gewesen, wenn du dein Geschenk beizeiten nachgesehen hättest. Wir säßen dann hier nicht, wie ein Zobel in der Falle. Hier steht der Verrat so klar wie ein Nordlicht gemalt und die Striche hier bedeuten die Zahl der langzöpfigen Halunken, die dieser alte Eunuch hier versteckt hatte. – Es sind, richtig gezählt, sechsundzwanzig so arge Räuber, wie nur je an den Grenzen gestreift und einem ehrlichen Kerl den Bauch aufgeschlitzt haben! Du bist ein schmucker Bursche, Brüderchen, und hast offenbar der chinesischen Dirne in die Augen gestochen. Vielleicht hilft uns das noch durch, wenn wir nur ein Mittel hätten, mit ihr in Verkehr zu treten.«

Ich hoffte im stillen, daß sich wohl ein solches finden würde, schwieg aber einstweilen davon, da unsere Aufmerksamkeit ohnehin von den Vorgängen außerhalb des Forts in Anspruch genommen wurde.

Wir sahen, wie unsere Barke vollends geleert und unser ganzes Gepäck innerhalb des Forts geschafft und dort verteilt wurde, wobei es an Zank und Streit nicht fehlte. Tschang Tsin eignete sich offenbar den Löwenanteil zu und nahm besonders unsere Waffen für sich oder wahrscheinlich für die Rüstkammer der kleinen Feste in Anspruch. Dann wurde das Zelt fortgeschafft und unsere Barke weiter hinein in den Seitenfluß und in eine Bucht gebracht, wo sie vom Hauptstrom aus unmöglich gesehen werden konnte.

Bis jetzt hatten unsere Bewältiger noch keine Absicht gezeigt, sich vorläufig um uns zu kümmern, und wir hatten nicht die geringste Ursache, sie daran zu erinnern. Das wichtigste war, zu erfahren, ob es unseren Leidensgefährten unter uns gelungen, sich in ähnlicher Weise, wie wir, zu helfen, und mit ihnen wo möglich in Verbindung zu treten, – aber all unsere Zeichen und unser Lauschen war vergeblich, und der Boden von zu dicken Eichenbalken, um ein Durchbrechen möglich zu machen. Wir mußten also zunächst an uns denken.

Unsere Lage war schlimm genug. Wir wußten recht gut, daß wir uns vollständig in der Gewalt der Chinesen befanden und daß sie keinen Anstand nehmen würden, uns als Eindringlinge in ihr Gebiet nach dem alten Grenzrecht zu behandeln. Unsere einzige Hoffnung war, daß durch irgendeinen glücklichen Zufall vielleicht der zweite Teil unserer Expedition von unserer Gefangennahme Kenntnis erhalten und einen Versuch zu unserer Rettung machen könnte.

Aber dieses Boot hatte von Albasin uns erst nach vollen vier Tagen folgen sollen und seine Abfahrt konnte sich leicht noch verzögert haben. Überdies, wie sollten wir der Mannschaft desselben Kunde zukommen lassen!?

Jedenfalls beschlossen wir, bis dahin aus unserm Gefängnis eine Festung in der Festung zu machen und in dieser uns so lange als möglich zu halten. Zum Glück hatte sich in unserem Raum ein starker Bambusstock und ein Holzkloben gefunden, die wir beide zu unserer Verteidigung zu benutzen beabsichtigten. Basil befestigte mittels der Strickenden sein starkes Messer an dem Bambus und hatte so eine nicht zu verachtende Waffe.

Darüber war es Abend geworden und wir konnten bemerken, daß unsere Feinde sich zu einer Feier ihres Sieges durch ein Gelag anschickten, wozu der in der Barke gefundene Branntwein-Vorrat den Stoff hergeben sollte.

Bunte Laternen bildeten wieder die Beleuchtung der Mauern und Höfe und nicht lange, so hörten wir das Jauchzen der Trunkenen.

Das Schauspiel ihres Gelages hatte aber wenig Interesse für mich, da sich mir nach einer andern Seite hin ein weit angenehmeres eröffnete.

Ich habe bereits erwähnt, daß der kleine Turm, in dem wir eingeschlossen waren, auf der Mauer der Landseite und zwischen zwei Pavillons oder chinesischen Lusthäuschen stand, von denen das eine von den Frauen Tschang Tsins, das andere von ihm selbst gewöhnlich bewohnt zu werden schien. Von den Öffnungen des Turms aus konnten wir beide Pavillons recht wohl übersehen, während der Frauenpavillon, welchen eine davor gezogene Mauer haremsartig abschied, von dem Innern der kleinen Feste aus nicht gesehen werden konnte. Als ich nun nach dieser Seite hinabsah, erblickte ich durch die geöffneten Jalousien in dem Licht der bunten Laternen den Mandarinen mit Gotami und einer anderen älteren Frau, wahrscheinlich der Mutter des jungen Mädchens.

Herr Tschang Tsin saß behaglich auf seinen Polstern, schlürfte Tee und rauchte aus einer Wasserpfeife, während seine Tochter zu seinen Füßen saß, und sehr traurig schien. Die Frau dagegen, eine mittelgroße kräftige Gestalt, die etwa in Mitte der dreißiger Jahre stehen mochte und noch viele Beweise früherer Schönheit zeigte, war sehr aufgeregt und redete heftig auf den alten Chinesen ein, was aber gar keine Wirkung auf ihn zu haben schien; denn er bemühte sich nicht einmal mit einer Antwort, und als das Gezänk ihm zu arg wurde, legte er nur mit einem drohen den Blick die Hand an den Griff des kurzen Säbels, den er im Gürtel trug, worauf die Frau sich in einen Winkel flüchtete und dort grollend niederkauerte.

Tschang Tsin hielt sich noch einige Zeit bei den Frauen auf, schien aber bei der Stimmung derselben der gewöhnlichen Unterhaltung zu entbehren, erhob sich endlich und trollte sich zu seiner zechenden Bande.

Was war es denn, was das junge Mädchen plötzlich so traurig gemacht? Sollte es vielleicht in Verbindung mit dem gegen uns – gegen mich geübten Verrat stehen?

Basil war zu mir getreten und wir sahen jetzt, wie das Mädchen an das offene Fenster des Pavillons kam, wiederholt nach unserm Turm herüber deutete und mit ihrer Mutter sprach, die ihr mit wilden leidenschaftlichen Gebärden antwortete. Ich sah, wie Gotami weinte, die Hände rang und sich an den Busen der älteren Frau warf, welche die Hand drohend in der Richtung schüttelte, in der sich ihr Mann und Gebieter entfernt hatte, und das Herz flüsterte mir zu, daß diese Besorgnis meiner Person galt.

Gern hätte ich ihr ein Zeichen gegeben, daß ich wenigstens wieder Herr meiner Glieder sei und es wäre dies leicht gewesen, da ich die Pfeifenflöte noch bei mir trug, – aber Basil hielt mich verständigerweise davon ab, indem er mich darauf aufmerksam machte, daß dies sofort der Horde Nachricht von unserer teilweisen Befreiung geben würde.

Wir mußten also ein anderes Mittel ersinnen, um uns mit den Frauen, die uns offenbar wohl wollten, in nähern Verkehr zu setzen.

Zum Glück erinnerte ich mich, daß ich in meiner Tasche ein kleines Feuerzeug hatte, und da man aus dem Pavillon eben so gut unsere Maueröffnungen sehen mußte, beschlossen wir einen Versuch zu machen.

Indem wir uns noch darüber berieten, hörte ich durch das Lärmen der Zechenden die Töne der Balaleika.

Gotami, wie um mir ihre Nähe und ihre Teilnahme zu zeigen, sang das Lied der vergangenen Nacht.

Wie gern hätte ich ihr geantwortet, wenn ich es gewagt. So mußte ich die Gelegenheit abwarten, sie aufmerksam zu machen. Diese kam indes bald. Schon nach der ersten Strophe ließ die junge Chinesin das einfache Instrument in ihren Schoß sinken und schaute herauf nach dem Turm.

Im Nu hatte ich ein paar der Zündfäden in Brand gesetzt und hielt sie vor mein Gesicht, daß die kurze Flamme dasselbe beleuchtete. Die Wirkung war vollkommen die beabsichtigte. Erst sah das Mädchen, durch den in der Mauerverblendung nur ihr sichtbaren Schein aufmerksam gemacht, erstaunt herauf, dann ließ sie die Zither achtlos fallen, schlug in die Hände und sprang zu ihrer Mutter.

Als wir zum zweitenmal das Experiment machten, sahen wir deutlich, daß beide Frauen voll Aufmerksamkeit waren. Basil, der klüger war als ich, zeigte den Knäuel, den ich am Morgen von der jungen Chinesin empfangen, deutete nach dem Fuß des Turms und machte das Zeichen des Trinkens, denn wir verschmachteten fast vor Durst, und er hielt die Befriedigung dieses Bedürfnisses für das Allerdringendste.

Ein Zeichen der älteren Frau gab zu verstehen, daß sie uns verstanden und daß wir ihnen vertrauen sollten. Alsbald wurden die Jalousien des Pavillons geschlossen, um gegen jedes Späherauge geschützt zu sein, wir aber machten uns daran, den Seidenfaden am Ende mit einem Steinchen zu beschweren und dann aus der Öffnung hinunter zu lassen. Es dauerte eine ganze Weile, ehe wir von unseren freundlichen Beschützerinnen etwas zu sehen bekamen, endlich aber öffnete sich die Tür des Pavillons, zwei dunkle Gestalten schlüpften heraus und gebückt über die Mauer, bis sie unter unserm Sehwinkel verschwanden. Schon nach wenigen Augenblicken fühlten wir eine leichte Bewegung an unserer dünnen Seidenschnur und begannen sie mit aller Vorsicht aufzuwickeln, denn wenn sie riß, war natürlich jedes weitere Mittel des Verkehrs abgeschnitten.

Zu unserer Freude fanden wir am Ende des Fadens eine stärkere Schnur befestigt. Diese Vorsicht bewies uns, daß man das Mittel, uns Beistand zu leisten, sorgfältig überlegt hatte, und in der Tat fühlten wir, als wir die Schnur jetzt an uns zogen, eine schwerere Last an ihr hängen. Während die Frauen wieder in dem Pavillon verschwanden, zogen wir die Schnur vollends herauf und langten die daran in einigem Zwischenraum befestigten Gegenstände durch die Öffnung in unseren Kerker.

Auch in der Wahl und Befestigung derselben hatte man offenbar auf die Enge der Turmfenster Rücksicht genommen. Die Gegenstände bestanden in zwei Korbflaschen mit Wasser, einem Säckchen Reis, einem Stück Gerstenbrot und einem großen Messer. Nachdem wir mittels des Feuerzeuges ein Zeichen gegeben hatten, daß wir glücklich in Besitz der Sachen waren, stillten wir unsern Durst und legten uns dann über der Falltür nieder, um gegen jeden Überfall gesichert zu sein.

Lange vorher, bevor die Folgen des wüsten Gelages am nächsten Morgen den Verräter Tschang Tsin und seine Bande erwachen ließen, waren wir schon munter und an unserem Observatorium, konnten aber nur die ältere Frau erblicken, die uns durch Zeichen zur Vorsicht mahnte und anzudeuten schien, daß eine große Gefahr für uns im Anzuge sei.

Wir sollten auch nicht lange darüber in Zweifel bleiben. Der Verräter Dimitri hatte sicher seinen neuen Kameraden mitgeteilt, daß ein zweites russisches Boot dem unseren folgen sollte und man hatte alsbald den Plan gefaßt, sich desselben zu bemächtigen. Die gewöhnliche Feigheit der Chinesen bedurfte dazu einer großen Übermacht, und wir sahen daher, sobald die Rotte wieder auf den Beinen war, Tschang Tsin verschiedene Boten nach allen Seiten aussenden, teils in Kähnen, teils zu Lande. Als dies Geschäft beendet war, schien er sich endlich an uns zu erinnern; denn ein Trupp der Bande bewegte sich nach dem Eingang des Turms, während ein anderer in dem Hofe allerlei Vorbereitungen traf, deren Bedeutung ich zwar noch nicht kannte, deren Anblick aber selbst meinen rohen, keine Gefahr scheuenden Gefährten schaudern machte. Wenige Worte belehrten mich zur Genüge und wir beschlossen, auf jeden Fall unser Leben teuer zu verkaufen und den möglichsten Widerstand zu leisten.

Einige der schurkischen Banditen brachten ein großes Kohlenbecken und schürten das Feuer darunter, ein paar andere machten sich mit einigen Brettern zu schaffen und pflanzten einen dünnen spitzen Bambuspfahl in den Fußboden, während ein großer schwarzbrauner Kerl von galgenmäßigem Aussehen die Stöcke zur Bastonade bereit machte.

Wie sich später ergab, hatte der Verräter Dimitri die Chinesen zwar mit der Ankunft des zweiten Bootes bekannt gemacht, doch wußte er weder genau die Zeit noch die Zahl der Bemannung, und die Nachrichten darüber wollten die Räuber erpressen, ehe sie ihrem Blutdurst durch unsere Hinrichtung Genüge taten, denn diese war selbstverständliche Sache; nur in betreff meiner hatte Herr Tschang Tsin eine Ausnahme gemacht und mir auf die Bitte der Tochter zwar das Leben bewilligt, mich aber zu einem weit schlimmeren Schicksal bestimmt, als der Tod gewesen wäre.

Bald hörten wir denn auch die Männer in dem Raum unter uns und sahen unsern braven Offizier und unsere beiden Gefährten, noch eben so zusammengeschnürt, wie sie hinein gebracht worden, aus dem Turm schaffen und in dem Hofraum auf den Boden werfen.

Dann hörten wir, wie sie Anstalt machten, auch uns herunter zu holen.

Ich hatte das Messer, das die Frauen uns zugesteckt, im Gürtel und das Holzscheit, das wir in unserem Kerker gefunden, in der Faust – Basil seine furchtbare Waffe, und so kauerten wir neben der Falltür, oder vielmehr hinter derselben, um nicht zugleich gesehen zu werden.

Wir hörten die großen Riegel zurückschieben, und dann hob sich die schwere Tür und der nackte Kopf eines Chinesen hob sich daraus empor, während ein zweiter folgte.

Der erste Chinese, ein großer wild ausschauender Mandschu war bereits mit dein halben Oberleib aus der Luke, als er uns erblickte und erstaunt über unsere Stellung zauderte. In diesem Augenblick schrie mir Basil zu, loszuschlagen, und zugleich fuhr sein Messerstock zwischen den Armen des Vordersten hindurch mit gewaltigem Stoß dem Nachfolgenden durch die Kehle in die Brust. In demselben Moment schmetterte ich den Holzscheit mit aller Kraft und allem Haß über den Verrat auf den unbeschützten Kopf des Langzopfs nieder.

Ich hatte ihm den Schädel zerschmettert und lautlos stürzten beide unter Gepolter die Leiter hinab mitten zwischen ihre bestürzten Gefährten, die alsbald ein Zetergeschrei erhoben und nach dem Ausgang eilten. Wir hätten jetzt leicht aus unserem Kerker entwischen und den unteren Raum gewinnen können, aber wir begriffen, daß uns dies der Übermacht gegenüber und ohne alle Vorbereitungen zur Flucht wenig helfen würde, und daß wir in unserer kleinen Festung uns verhältnismäßig weit sicherer befanden, und so begnügten wir uns, die Falltür wieder zuzuschlagen.

Wie wohl wir daran getan, zeigten uns bald darauf ein paar Kugeln, die von unten her in die starken Planken schlugen, ohne jedoch durchzudringen. Endlich getrauten sie sich hinein und wir konnten hören, wie die großen Riegel wieder vorgeschoben wurden.

Wir waren also jeden Ausganges beraubt, aber der Warnak lachte, als ich ihn nochmals darauf aufmerksam machte, daß wir durch die engen Fensterscharten unmöglich entweichen könnten.

»Das laß meine Sorge sein, Brüderchen, wenn wir nur erst einen tüchtigen Strick haben, der uns trägt!«

Unterdes hatte der Tumult unten in den Höfen fortgedauert. Die Entdeckung, daß wir beide uns befreit hatten und widerstandsfähig waren, schien sie gewaltig überrascht zu haben und sie berieten, was zu tun sei. Tschang Tsin hieß den Verräter Dimitri auf einen Stein treten und auffordern, sogleich unsere Waffen hinunter zu werfen, die wir gegen alles Recht des Krieges behalten haben sollten, und uns zu ergeben, und man versprach uns dafür bloß den Kopf abzuschneiden, wogegen im Fall einer Weigerung uns die grausamsten Martern angedroht wurden; aber Basil antwortete ihm mit einem Hagel von Schimpfreden, mit welchen er ihm ankündigte, daß ihm und jedem schuftigen Langzopf, der sich unterstehen würde, uns noch einmal zu inkommodieren, vor allem dem alten Diebe Tschang Tsin, den er mit den kostbarsten Ehrentiteln belegte, der Schädel ebenso eingeschlagen werden würde, wie dies bereits mit zweien von ihnen geschehen sei. Zugleich wurde ihnen mit dem Zorn des Zaren und der ganzen russischen Nation gedroht, die alle Chinesen mit Stumpf und Stiel ausrotten würden, wenn sie es wagen sollten, unserem Offizier oder den beiden Kosaken ein Haar zu krümmen.

Diese Unterhandlung war aber nicht ohne Gefahr für uns; denn Basil war noch mitten in seinen Drohungen, als ein paar Schüsse zu uns heraufknallten und die Kugeln an den Mauern sich breit schlugen. Nur die Ungeschicklichkeit der Schützen rettete ihn. Ein wütendes Geschrei beantwortete zugleich die Verdolmetschung unserer Antwort, und die ganze Bande stürzte nach dem Eingange des Turms, nicht um uns anzugreifen, sondern um ihn mit allen möglichen Dingen derartig zu verrammeln, daß sie selbst Stunden gebraucht haben würden, um ihn wieder zu öffnen.

Unterdes hatte ich von der andern Seite des Turms aus gesehen, wie das junge Chinesenmädchen in ihrem Pavillon voller Angst war, die Hände rang und bei dem Knall der Schüsse kaum von ihrer Mutter abgehalten werden konnte, heraus zu stürzen. Erst als ich mich an der nach ihrer Seite gekehrten Öffnung zeigte, schien sie sich zu beruhigen, winkte mich aber sogleich zurück, damit mich nicht etwa eine Kugel treffen könnte. Ich zeigte den Frauen das Reispapier, das ich von Gotami am Tage vorher erhalten und deutete auf die Sonne zum Zeichen, daß ich ihnen am Abend Botschaft senden möchte. Sie winkten mir Einverständnis und dann zog ich mich zurück, um nicht etwa bemerkt zu werden und uns so den letzten Beistand abzuschneiden.

Es ist eine bekannte Sache, daß die Chinesen, wie alle Orientalen, es lieben, ihr Pulver zu verknallen. So richteten sie auch jetzt, obschon sie von der Nutzlosigkeit überzeugt sein mußten wiederholt Schüsse gegen die Öffnungen des Turms, ohne daß auch nur eine Kugel in die Fenster traf.

Wir saßen auf den Boden unsers Kerkers und berieten in voller Sicherheit, was wir tun sollten. Eine Strickleiter oder wenigstens ein starkes Seidentau, das uns tragen konnte, unsere Büchsen und ein Boot war alles, was Basil verlangte, um uns der Gefahr zu entreißen, und ich übernahm es, den Frauen unsere Wünsche mitzuteilen. Da mir die chinesischen Schriftzeichen – zu deren Erlernung man Jahre braucht, – fast gänzlich unbekannt waren, mußte ich mich damit begnügen, unsere Wünsche durch allerlei Zeichen auszudrücken, und da ich zur Niederschreibung unserer Beobachtungen auf der Fahrt ein Notizbuch und einen Bleistift bei mir führte, machte ich mich daran, meinen Brief vermittelst allerlei Zeichnungen zu schreiben. Diese bestanden in zwei Büchsen, einer chinesischen Barke mit Rudern und der Abbildung unseres Turms, aus dessen Öffnungen sich eine Person an einem Seil niederließ. Ich war töricht genug, noch ein Herz von einem Pfeil durchbohrt darunter zu malen, obschon ich wahrhaftig nicht wußte, ob man je in China von Gott Amor etwas gehört hatte.

In dieser Arbeit wurde ich durch einen gräßlichen Schrei unterbrochen. Wir sprangen auf und eilten unbekümmert um die Kugeln der Banditen an die Öffnungen. Aber die Schurken hüteten sich, jetzt auf uns zu schießen, um uns ungestört das schreckliche Schauspiel der Martern anschauen zu lassen, die sie an unseren unglücklichen Gefährten begonnen hatten.

In Nertschinsk und bei meinen Jagdzügen hatte ich häufig von den Grausamkeiten gehört, mit welchen die Chinesen ihre Gefangenen zu Tode peinigen, aber nie an die Ungeheuerlichkeiten glauben wollen. Jetzt mußte ich mich aber zu meinem Entsetzen von der Wahrheit dieser Erzählungen überzeugen. Unsere drei Gefährten waren völlig entkleidet worden und dann hatte man sie mit dem Rücken derart auf Bretter oder Bohlen geschnürt, daß ihre Füße ein wenig darüber hinausragten. Man hatte den Anfang mit den beiden Kosaken, zwei jungen, kräftigen Männern gemacht, und ein Schurke von Langzopf hielt ihnen abwechselnd mit einer Zange glühende Kohlen, die er aus dem Feuerbecken nahm, an die Fußsohlen, während die ganze Bande umherstand und an den Schmerzen der armen Soldaten ihr Vergnügen hatte. Wir hörten, wie die unglücklichen Burschen um Gnade baten und sich bereit erklärten, alles zu sagen, was sie wüßten, aber ihre Nachrichten, die sie dem Dolmetscher gaben, schienen den alten Anführer dieser Bande Teufel wenig zu befriedigen; denn auf seinen Kissen auf den Fersen hockend, eine lange Pfeife im Mund, leitete er die teuflischen Martern und gab zunächst den Befehl, fortzufahren.

Man legte jetzt beiden die glühenden Kohlen auf die Herzgrube und ließ sie dort ausbrennen. Der Schmerz mußte fürchterlich sein, denn die Unglücklichen brüllten wie wilde Tiere. In ihr Geschrei mischten sich unsere Bitten, Drohungen und Verwünschungen, erregten aber nur Hohn und Spott bei den Feinden.

Auf einen Wink des Mandarinen erschien jetzt ein herkulischer Mandschu, der in seiner Hand eine Waffe wie unsere Hackmesser geformt, trug. Er legte die Schneide auf den Fuß eines Kosaken, hob das gewichtige Messer in die Höhe, und mit einem einzigen, gewaltigen Hieb hatte er den rechten Fuß dicht über den Knöchel abgehauen.

Das Blut stürzte unter dem Schmerzensgeheul des Verstümmelten wie ein Strom aus dem zerstörten Gliede, ohne daß sich jemand darum kümmerte; ein zweiter Hieb und die linke Hand des Ärmsten flog dem Fuße nach.

Ich konnte die gräßliche Szene nicht länger ansehen, ich wandte mich ab, aber fort und fort gellte das jämmerliche Geschrei des Gemarteten in meine Ohren, das erst verstummte, als auch der andere Fuß und die zweite Hand verstümmelt waren.

Als ich die Hand einen Augenblick vom Gesicht zog, sah ich, wie mein Kerkergefährte stumm und starr mit weit hervorquellenden Augen auf die Szene unter ihm stierte, ich sah, wie sein kurzes Haar borstenartig in die Höhe stand, seine Faust krampfhaft gegen das Gemäuer schlug.

Er stieß einen jener gräßlichen russischen Flüche aus, von denen ich mir habe sagen lassen, daß nur noch die ungarische Sprache ähnliche kennt!

Es war, als zöge es mich mit Zangen, an den Haaren hin zu der Öffnung, um dem scheußlichen Schauspiel als Zuschauer beizuwohnen.

Zur Seite geworfen lag der verstümmelte Körper des unglücklichen Kosaken in den letzten Lebenszuckungen, – die Kannibalen hatten sich des zweiten bemächtigt und ein Brett auf seine Brust geschnürt. Jetzt erst schien der Unglückliche zu ahnen, was man mit ihm vor hatte; denn jetzt erst stieß er Schrei auf Schrei aus, so ohr-, so herzzerreißend, wie ich nie etwas im Leben gehört hatte, selbst damals nicht, als meine braven Kameraden an den glühenden Eisenstäben des Palastes der Wolchonski zu Moskau rüttelten.

Dieses Angstgeschrei schien die Ohren der Unmenschen nur zu kitzeln.

Ich sah, wie Tschang Tsin eine Frage an unseren Offizier tat, der stumm, mit zusammengebissenen Zähnen am Boden lag.

Ein Schütteln des Kopfes war die Antwort. Der Brave wußte nur zu gut, daß er mit allen Geständnissen über den Zweck und die Ausdehnung unserer kleinen Expedition doch das Leben nicht erkaufen würde.

Der Mandarin winkte, und ein Kerl, bis an die Hüften entblößt, mit einer großen zweihändigen Säge, trat vor.

Zwei der Banditen stellten die Bretter mit dem menschlichen Körper, den Kopf nach unten, in schiefer Lage auf den Boden und hielten sie. Der Henkersknecht sah sich um – sein blutunterlaufenes Auge fiel auf Dimitri, den Überläufer.

»Komm!«

Selbst der rohe Verbrecher schauderte, – er weigerte sich.

Tschang Tsin sagte einige Worte, – es mußte eine furchtbare Drohung sein; denn der Warnak trat leichenblaß herbei und griff zitternd nach dem einen Handgriff der Säge, die der Henker zwischen den Füßen des unglücklichen Opfers an die Bretter gesetzt hatte.

»Los!«

Das Knirschen der Säge, wie sie tiefer in das Holz drang, zerriß mir fast das Ohr – so klar und deutlich hörte ich es zwischen dem nicht mehr einer menschlichen Stimme ähnlichen Geheul des unglücklichen Opfers. – Ich sah auf Basil, der Verbrecher, der stark verdächtig war, seinen Gutsherrn und dessen Sohn erschlagen zu haben und deshalb nach überstandener Knute nach Sibirien geschickt worden zu sein – lag auf den Knien und betete!

Ein gellender und herzzerreißender Schrei – ein zweiter, – dritter – dann wurde es still, nur das Knirschen der Säge am Holz dauerte fort.

Gospodins, – es gibt Minuten, die zu Jahren, Stunden, die zu einer Ewigkeit werden!

Diese Minuten, diese Viertelstunde, welche die Marter dauerte, – vielleicht sind sie uns so schwer geworden als dem armen Burschen, dessen Leben schon lange, lange vorher entflohen, ehe der schaurige Ton der Säge am Ende der Bretter aufhörte.

Dann hörte ich ein Wort – ich hatte es in Kiachta nennen hören und im Gedächtnis behalten – ein einziges Wort aus dem Munde des Mandarinen, aber es genügte, um das Blut in meinen Adern erstarren zu machen.

»Zum Pfahl!«

Diesmal war ich es, der den Warnak, den rohen, reuelosen Verbrecher, abhielt, sich nach der Öffnung zu stürzen. Wir hüllten unsere Köpfe in die Kleider, wir verstopften unsere Ohren mit den Fingern, um nichts zu hören. Wir wanden uns auf dem Boden unseres Kerkers, als müßten wir die Schmerzen ertragen, unter denen draußen Beiton, unser Offizier brüllte.

Erst als das Geschrei beendet, erst als nur von Zeit zu Zeit noch ein leises Wimmern heraufdrang, wagten wir es wieder, uns in die todbleichen Gesichter zu sehen.

Und wäre ein Engel vom Himmel gekommen und hätte uns die Pforte unseres Kerkers geöffnet und gesprochen: »Geht! Ihr seid frei!« – keiner von uns beiden wäre gegangen, ehe er den Eid erfüllt gehabt, den jeder von uns in dieser Stunde geschworen, ohne daß einer mit dem andern eine Silbe gewechselt, – das lasen wir beide uns aus den Augen!

Der Tag verging, ohne daß wir wagten, an die Öffnungen nach den Höfen hinzutreten und hinab zu schauen. Wir wußten ja, welcher schreckliche Anblick uns dort erwartete und hatten nicht den Mut, ihn zu ertragen. Nur arbeitete Basil mit wütender Kraft in der Mauer an dem Fenster nach dem Pavillon zu und höhlte mit seinem Messer die Fugen von zweien der Quadersteine aus, deren Entfernung die Öffnung genügend vergrößern mußte, um hindurch schlüpfen zu können.

Die Jalousien des Pavillons blieben lange geschlossen – Tschang Tsin erholte sich wahrscheinlich dort von den Anstrengungen seiner Henkerarbeit. Erst gegen Mitternacht sah ich, der ich schaudernd auf meinem Posten stand, – denn von Zeit zu Zeit trug der Nachtwind vom Flusse her wie aus der Tiefe ein unheimliches leises Wimmern zu mir empor, – die Jalousie sich öffnen und auf dem lichten Grunde des Gemachs die Gestalten der beiden Frauen erscheinen.

Sofort flammte von meiner Seite das kurze Lichtzeichen auf. Es war gesehen worden, wie mir die Winke und Zeichen bewiesen.

Während drüben wieder alles dunkel wurde, schob ich die Schnur zur Öffnung hinaus, an deren Ende ich eine der leeren Flaschen und um diese unsere seltsame Depesche befestigt hatte. Bald fühlte ich an dem Zucken der Schnur, daß unsere Botschaft abgelöst wurde.

Etwa eine Stunde verging, dann wurde an der Schnur gezogen, die ich um meine Hand gewickelt hatte. Rasch hoben wir sie empor und in das Fenster hinein. An dem Gefühl konnten wir erkennen, daß wieder eine Flasche und ein Säckchen Reis am Ende hing, außerdem aber ein ziemlich starkes Paket.

Das Verlangen, zu wissen, ob unsere Bitten verstanden worden, ließ uns selbst der Gefahr trotzen, unsere kleinen Hilfsmittel entdeckt zu sehen, und mittels Steins und Schwammes versuchten wir, wenigstens für Augenblicke ein Licht herzustellen. Welches Glück! eng zusammengewickelt hielten wir einen langen Seidenstrick in der Hand, in den sorgfältig ein Papier eingeknotet war.

Mehr konnten wir bei den schwachen Funken nicht erkennen, – wir mußten die nähere Prüfung auf das Tageslicht verschieben.

Nur die Erinnerung Basils, daß wir wahrscheinlich am nächsten Tage aller unserer Kräfte bedürfen würden, konnte mich bewegen, auf die Falltür hingestreckt den Schlaf zu suchen –, den ich lange nicht fand. Der Wind hatte sich erhoben, heulte um unsern Turm und trieb lange Wolkenschatten an dem Mond vorbei, der im letzten Viertel stand, während zwischen seinen Stößen, wie er über das Wasser des gewaltigen Stromes peitschte, ich immer wieder das leise Wimmern zu hören glaubte, das während des Tages mich so oft entsetzt. Mehr als einmal war ich im Begriff, den Warnak zu wecken, der bereits neben mir schnarchte, bis mir endlich selbst die Augen zufielen.

Die Sonne schien bereits hell herein durch die Luken in unseren Raum, als mich endlich das Schütteln Basils weckte.

»Ermuntere dich, Brüderchen,« sagte er, »und höre gute Botschaft. Der Teufel soll meine Seele zwicken, die er ohnehin haben wird, wie ich fürchte, wenn ich das da nicht ebenso gut lesen kann, als wär' ich ein Gelehrter, statt eines armen Verurteilten! Da sieh selbst und sage mir, ob die Dirne dein Gemale nicht so gut verstanden, als hättest du ihr eine Stunde lang unters Kinn gefaßt und ihr auf gut Russisch auseinandergesetzt, was wir brauchen!«

Er hielt ein ziemlich großes Blatt Reispapier auseinandergefaltet in der Hand, das mit flüchtig gepinselten, allerdings ziemlich monströsen Figuren bemalt war, deren Bedeutung mir beim ersten Anschauen gar nicht so klar werden wollte, als sie ihm zu sein schien.

Ich erhob mich und wollte mit dem Blatt zu einem der Lukenfenster treten, als er mich hastig zurückzog.

»Nicht dahin,« flüsterte er, wie im Fieberfrost sich schüttelnd – »er lebt noch immer, und der Anblick könnte dir den Mut rauben, den wir doch sicher in nächster Nacht brauchen werden!«

Ich verstand seine Meinung und rückte scheu unter die entgegengesetzte Öffnung. Aber vergeblich studierte ich die verworrenen Figuren auf dem Papier und mußte es endlich gestehen.

» Jok face mat!« grinste der Warnak – »ich dachte es wohl! Ihr Gelehrten könnt besser schreiben, als euer eigen Geschreibsel verstehen. Siehst du nicht das runde schwarze Ding da, das soll der Neumond sein, und der ist diese Nacht. Hier die vier Striche mit dem Kolben sind ganz klar unsere vier guten Büchsen, die uns das Weibsvolk wieder verschaffen will. Ich will nie wieder einen Schluck Branntwein meine Kaldaunen wärmen lassen, wenn die chinesischen Weibsen nicht besser und klüger sind, als sie aussehen! – Da – das ist offenbar eine Dschonke oder ein Kahn – nur weiß ich nicht, was die vier Köpfe darin bedeuten sollen, da wir doch bloß zu zweien sind, und die anderen –« er schüttelte sich mit einem furchtsamen Seitenblick nach der Richtung des Hofes.

»Aber hier dahinter sind noch eine Menge solcher Dschonken!«

»Richtig, und es hat mir anfangs auch einiges Kopfzerbrechen gemacht. Aber dann ist mir's so klar geworden, wie die liebe Sonne, die noch immer mit den Wolken kämpft. Na, wir können es schon brauchen, wenn das Wetter etwas stürmisch bleibt und höchstens doch nur auf dem Flusse ersaufen, was immer noch besser ist, als hier zu verhungern oder gar unter die Sägen und Hackmesser dieser Teufel zu fallen. Die Kähne sollen offenbar bedeuten, daß wir verfolgt werden könnten. Nur weiß ich nicht, warum die Weibsen ihrer so viele hingemalt haben, da die Schurken von Langzöpfen hier deren doch nur noch einen besitzen, wie ich mich überzeugt habe, und den wir doch gerade nehmen müssen.«

»Du weißt, daß gestern zwei stromabwärts fuhren. Sie können zurückkehren.«

»Das wird's sein. Nun bleiben nur noch die vier Köpfe!«

Schon bei seiner ersten Erwähnung war mir ein Gedanke durch den Sinn geschossen, der auch jetzt wiederkehrte und mir trotz unserer verzweifelten Lage ein gewisses Wohlbehagen verursachte. Aber ich schwieg absichtlich von der Auslegung, die ich mir zusammenreimte.

Über die Bedeutung der Kahnzeichnungen sollten wir aber bald ins Klare kommen.

Basil zeigte mir den Seidenstrick, in den er bereits eine Anzahl Knoten, immer etwa zwei Fuß weit von einander, geschlungen hatte. Nach unserer Schätzung reichte der Strick vollkommen bis auf die Plattform der Mauer. Außer dem Papier war in ihm noch ein meißelförmiges Eisen eingewickelt gewesen, das der Warnak jetzt tüchtig benutzte, um mit aller Vorsicht die Steine weiter zu lockern. Bald konnten wir zwei derselben herausheben und hatten jetzt nur noch in gleicher Weise die beiden äußeren zu lösen, wobei wir freilich ganz besondere Vorsicht anwenden mußten, damit sie nicht etwa nach außen fielen, oder der bröckelnde Mörtel unsere Arbeit und unsere Absicht den kahlköpfigen Mördern verriet, die heute ganz besonders aufmerksam zu sein schienen und auf den Mauern und vor dem Fort umherlungerten, auch mehrere Male wieder nach unsern Lukenfenstern schossen. Wir waren aber übereingekommen, uns gar nicht an diesen zu zeigen, um sie glauben zu machen, daß Hunger und Durst, zu dem sie uns verurteilt, bereits unsere Kraft gebrochen hätten oder wenigstens die Furcht uns zurückhielt.

Erst der vermehrte Lärm machte uns auf die äußern Vorgänge aufmerksam.

Als wir mit Vorsicht an die Lukenfenster traten, sahen wir, daß zwei zahlreich bemannte fremde Barken gelandet waren, deren Bemannung von Tschang Tsin und der Besatzung des Forts lebhaft begrüßt wurde.

Die eine der Barken war den Nebenfluß herab, die andere den Amur heruntergekommen. Drei andere Segel sahen wir noch in der Ferne auf dem Amur stromaufwärts rudern.

Der Warnak preßte meine Hand. »Weißt du jetzt, was die Absendung ihrer Boten gestern zu bedeuten hatte?«

»Du meinst?«

»Ich meine, Brüderchen, daß sie unsere Kameraden in der zweiten Barke überfallen und abschlachten wollen, wie sie die da unten schändlich ermordet haben. Aber beim Satan, dem ich doch verfallen bin, es soll ihnen nicht gelingen. Auch ein Räuber und Mörder kann für seine Landsleute das Leben lassen, das einzige, was er noch hat!«

Ich drückte ihm wieder die Hand. Dann beobachteten wir die Annäherung der Dschonken.

Es war offenbar, Tschang Tsin und seine Rotte hatten von dem verräterischen Dimitri und vielleicht aus den von unsäglichen Schmerzen erzwungenen Geständnissen unserer ermordeten Kameraden verschiedenes über den zweiten Teil unserer Expedition gehört, und wollten dieser nun eine Falle legen.

Die Zahl unserer erbitterten Feinde mehrte sich nach und nach durch die Ankunft der fremden Dschonken wohl auf hundertundfünfzig. Da das Fort zu klein zu ihrer Aufnahme gewesen wäre, schlugen die meisten ihr Lager an derselben Stelle auf, an welcher früher unser Zelt gestanden, aber es geschah der Art, daß man von dem Hauptstrom aus bei einer Vorüberfahrt durchaus nicht die große Zahl der auflauernden Feinde bemerken konnte.

Die Angekommenen schienen über alles Geschehene und namentlich über unsern Widerstand genau verständigt worden zu sein, denn fortwährend wurde unsere kleine Feste von Verwünschungen, Geschrei, Flüchen und Pfeilschüssen begrüßt, die freilich wirkungslos an den Mauern abprallten.

So dauerte es den ganzen Tag fort bis zum Abend. Wir konnten bemerken, daß die Boote sämtlich segelfertig gemacht waren, um sogleich abstoßen zu können, und daß mehrere der Banditen beschäftigt waren, lange Leitern zu fertigen und aneinander zu befestigen. Das letztere konnte offenbar nur den Zweck haben, von außen auf unsere kleine Feste einen Angriff zu machen und uns durch die Fensteröffnungen zu erschießen oder mit Speerstichen zu töten. So wurde es Abend und Nacht, und als ob der Himmel selbst uns beistehen wolle, stieg aus dem Boden nach Sonnenuntergang ein dichter Nebel und legte sich über die ganze Gegend und das breite Bett des Stroms, eine beim Mondwechsel hier nicht seltene Erscheinung. Über diesen wallenden Nachtnebeln glänzte ein prächtiger klarer Sternenhimmel und wie matte, farbige Flammen schimmerten aus diesem wallenden Wolkenmeer die bunten Laternen aus den Gruppen der lagernden Feinde.

Wir wußten, daß, wenn wir den Schutz des Nebels zu unserer Flucht benutzen wollten, dies vor Mitternacht geschehen mußte, denn nach dieser Zeit hob er sich gewöhnlich und verschwand.

Allmählich wurde es stiller im Fort und wir sahen auch das Licht im Pavillon der Frauen erlöschen – nur in dem, dem gewöhnlichen Aufenthalt Tschang Tsins, brannte noch solches. Wir hatten den Nebel benutzt, um die beiden äußeren Steine der Mauer zu beseitigen und so die Öffnung genügend erweitert, daß wir hindurchdringen konnten. Mit Herzklopfen erwarteten wir irgendein Zeichen der Frauen, das uns anzeigen sollte, unser gefährliches Werk zu beginnen.

Aber es wurde später und später, und schon waren wir entschlossen, auf jede Gefahr hin den Versuch zu wagen, als wir die Klänge der Balaleika hörten. Sie spielte die kurze Melodie, ohne daß die Stimme der Sängerin sie begleitete, dann schwieg sie.

Ich fühlte, das war das Zeichen.

Basil hatte aus dem Holzblock und dem starken Bambus einen Riegel hergestellt, an den er das eine Ende des Knotenstricks befestigt hatte, und ließ jetzt das andere Ende langsam an der Mauer hinabgleiten.

Plötzlich schien ihm etwas durch den Sinn zu fahren, und er faßte meinen Arm.

» Tschort was wazni! Brüderchen! Wie – wenn es eine Falle wäre, um uns hinabzulocken und dann über uns herzufallen?«

Auch mir war der Gedanke schon früher gekommenen, aber ich hatte ihn sofort von mir gewiesen. Ich fühlte, daß es an mir war, mein Vertrauen zu betätigen und die Gefahr zuerst zu bestehen, und so schob ich Basil zur Seite, kroch, ohne ein Wort zu entgegnen, rückwärts aus der engen Öffnung, und begann, mich an dem Strick Knoten für Knoten hinabzulassen.

Der Nebel war so dicht, daß ich keine Armeslänge um mich sehen konnte.

Es waren furchtbare Minuten – jeden Augenblick glaubte ich, daß der Strick reißen oder das gellende Mordgeheul der chinesischen Banditen mir in die Ohren gellen würde.

Plötzlich fühlte ich Boden unter meinen Füßen, aber zugleich eine Berührung meiner Seite.

Ich fuhr nach dem Griff meines Messers, das ich zwischen die Zähne genommen.

Eine leise Stimme flüsterte mir einige Worte in chinesischer Sprache zu, die ich jedoch nicht verstand. Aber eine Hand zog mich nieder auf den Boden und ich begriff, daß ich nicht aufrechtstehen bleiben sollte.

Sofort gab ich Basil das schon früher verabredete Zeichen durch Schütteln des Strickes. Ich fühlte im nächsten Augenblick, daß auch er sich ihm anvertraut hatte.

Ich wagte nicht, ihn durch ein Wort zu ermutigen, bis seine Füße die Steinplatten berührten, dann tat ich, was Gotami mit mir getan, denn an der weichen kleinen Hand, die ich gefaßt, fühlte ich, daß diese es war, die uns erwartet hatte.

»Folgt mir, und tut wie ich!« flüsterte das junge Mädchen.

Diesmal verstand ich wenigstens den Sinn ihrer Worte. Die Plattform der Mauer lief um den Turm von außen herum und bildete den Verkehrsweg zwischen den beiden Pavillons. Zu unserem Erstaunen nahm das Mädchen, auf den Steinplatten hinkriechend, ihren Weg nicht zurück nach ihrem eigenen, sondern nach dem zweiten noch immer erleuchteten Pavillon, wo Tschang Tsin schlief. Ich fühlte jedoch, daß sie so viel für uns getan, daß Zögern undankbares Mißtrauen gewesen wäre, und so folgte ich ihr ohne Zaudern. Hinter mir kam der Warnak.

Glücklich erreichten wir den Pavillon. Hier erhob sich die Chinesin und klopfte leise an die Jalousien.

Sofort wurde die Tür von innen geöffnet; ein schwerer Vorhang verschloß jedoch noch den Einblick. Gotami kroch unter ihm hin und wir folgten in den hell erleuchteten Raum, während die Tür wieder sorgfältig geschlossen wurde.

Fast zugleich richteten wir uns empor, – aber das Blut erstarrte uns: auf Kissen, das Haupt zurückgelehnt, die Augen weit offen und auf uns gerichtet, saßen Tschang Tsin und zwei andere Chinesen, die mit den fremden Dschonken gekommen waren und, – wie wir bemerkt, – die Anführer der neuen Mannschaften zu sein schienen.

» Tschort w twoju duschu skotina!« Der Teufel in deine Seele, du Aas! fluchte der Warnak. »Nicht lebendig sollen sie mich fangen!« und wollte mit dem Messer auf den Mandarin losspringen, als ein spöttisches Lachen hinter uns mich ihn aufhalten machte.

»Still! – Seht Ihr nicht, daß sie Opiumesser sind?«

Die Worte waren halb in chinesischer, halb in tungusischer Sprache geflüstert. Ich verstand zwar nur das Wort Theriaki (Opiumtrinker), aber es genügte, verbunden mit dem süßlichen Geruch, der in dem Pavillon herrschte und dem Anblick einiger herumliegenden Pfeifen mich sogleich zu vergewissern, daß wir von den drei Trunkenen keine Gefahr zu besorgen hatten, und ich verständigte sogleich Basil davon.

Der Kerl, der sich selber gern in Branntwein den wildesten Rausch trank, spuckte in Verachtung mit einem Schimpfwort aus, als ich ihm das Wort nannte.

Jetzt erst wandte ich mich um.

Gotami, erschreckt von dem Zornausbruch des Warnak, kauerte zitternd am Boden, aber hinter uns stand eine Frau – dieselbe, die wir mit dem Mädchen im andern Pavillon beobachtet, offenbar ihre Mutter.

Sie war von mittelgroßer Gestalt, gerade wie das Kind hier an meiner Seite, und mochte etwa fünf- bis sechsunddreißig Jahre zählen. Tiefe Falten des Hasses und unterdrückter Leidenschaften lagen zwischen ihren Brauen und um den Mund, aber doch war ihr Gesicht immer noch schön und stattlich, wie ich schon früher erwähnt, und nur die Gestalt zeigte jene Neigung zur Fülle, welche die Weiber der Asiaten im Alter gewöhnlich entstellt.

Sie wandte sich sofort zu mir, den ihr scharfer Blick alsbald wohl als den Gebildeten erkannt und redete mich zu meinem Erstaunen in tungusischer Sprache an.

»Ihr seid sicher hier, so lange ich es will! Verstehst du mich?«

Wenn ich damals auch nur unvollständig die Sprache meines Jagdgenossen reden konnte, verstand ich sie doch gut genug, um ihr mit Ja! antworten zu können.

»Ja, Onimikan! Mütterchen; tungusisch!

»Wollt Ihr frei sein, Nikis?« Freunde.

»Gewiß. Du wirst uns helfen!«

»Unter einer Bedingung!«

»Unter jeder! Sprich!«

»Ihr müßt mich und Uta Mein Kind. hier mit euch nehmen zu den Lotas!« Russen.

»Wie – du – eine – Chinesin?«

»Ich bin keine Tergezin, ich bin eine freie Dutscheri! Der Stamm der Manshus, welcher zwischen der Schilka und dem Argun seinen Hauptwohnsitz hat. Sprich, willst du?«

»Gewiß! ich leiste den Adakatschan Eid. darauf!«

»So laß uns eilen. – Nehmt die Gewänder der Schurken dort und kleidet euch darein. – Ohne Furcht – sie haben keine Macht, sich zu bewegen!«

Mit raschen Worten hatte ich Basil verständigt. Er ergriff sofort Tschang Tsin beim Kragen, schüttelte ihn wie ein Stück Holz und zog ihm Rock und Hosen aus, die er selbst anlegte. Ich folgte seinem Beispiel mit demjenigen der Schläfer, dessen Figur der meinigen am meisten ähnelte. Die ganze Operation machte auf die Trunkenen keinen andern Eindruck, als daß sie ein paarmal stöhnten und einzelne Worte in verzücktem Tone murmelten.

Als ich fertig war, bemerkte ich, daß unterdes die beiden Frauen gleichfalls Männerkleidung übergezogen hatten. Jetzt machte mich Basil darauf aufmerksam, daß uns die Antwort der Frauen auch unsere Flinten versprochen hätte, und ich übersetzte dies.

Die ältere ließ nochmals einen prüfenden Blick über uns gleiten, diesmal schien sie sich aber für meinen Gefährten zu entscheiden, denn sie winkte diesem.

»Komm!«

Damit schob sie einen seidenen Vorhang an der Wand zurück, der eine kleine Treppe hinunter in das Innere des Gemäuers verbarg.

Eine der Papierlaternen nehmend, stieg sie vor ihm hinab, Basil folgte.

Ich versuchte unterdes einige Fragen an das junge Mädchen zu richten, aber sie schüttelte statt der Antwort den Kopf, hielt jetzt ihre Aufmerksamkeit mit sichtlicher Teilnahme dem Zustand ihres Vaters zugewendet und bemühte sich, ihn wieder auf die Kissen zu heben und ihm eine bequemere Lage für seinen Zustand zu verschaffen.

Ich muß gestehen, dieser Zug von Herzensgüte in einem Augenblick, wo sie ihn für immer verlassen wollte, rührte mich tief und hat zum Teil auch mein ganzes Schicksal bestimmt.

Jetzt kehrte Basil mit der Frau zurück. Der Warnak stieg zuerst empor, er trug unsere vier Flinten, denn die beiden Ruderer waren mit solchen nicht bewaffnet gewesen, unsere Pulverhörner und Kugelbeutel, sowie zwei Paar Pistolen und reichte mir eines derselben und eine Flinte nebst Zubehör, die ich sofort nach seinem Beispiel lud und über den Rücken hing. Ich bemerkte dabei, daß der rohe Mann auffallend bleich war.

Das Weib trat jetzt zu den Trunkenen und eine wahrhaft dämonische Freude spiegelte sich über ihrem Gesicht, als sie ihren Gatten betrachtete und eine Schere aus ihren Gewändern hervorzog.

Gotami fiel ihr in die Arme.

»Mutter – töte ihn nicht, er ist mein Vater!«

Die Frau wandte sich zornig um. »Lüge! Lüge!« sagte sie mit zischendem Ton. »Er ist so wenig dein Vater, als einer dieser andern räudigen Hunde hier! In deinen Adern fließt das Blut eines Helden, nicht eines Schweins! Glaubst du, daß ich die Leiden von mehr als dreißig Sommer- und Winterjahren vergessen, während deren ich seine Sklavin war? daß ich vergessen, wie er mich von meinem Geliebten, deinem verblutenden Vater, gerissen nach jenem schrecklichen Kampf? Glaubst du, daß Tungilbi nicht längst den Tod Schemingas an diesem schändlichen Eunuchen gerächt hätte, wenn nicht die Sorge um dich meine Hand gehalten?«

Tungilbi – Scheminga? War es wirklich – konnte es sein? – Der Kopf wirbelte mir, – wie ein Blitzstrahl schoß es mir durch das Hirn. Diese Frau, die tungusisch sprach – –

Ich faßte ihren Arm. »Weib – sprich! Bist du Tungilbi, die Tochter Tolga-Khans?«

Sie starrte mich an. »Was weißt du davon, Fremdling? Ich bin – nein, ich war Tungilbi, die Tochter Tolga-Khans, des Mandschu! – Jetzt bin ich die Sklavin eines verächtlichen Tergezin, der nicht einmal ein Mann ist!«

»Und dein Geliebter, mit dem du flohst, hieß Scheminga?«

»Scheminga war ein großer Tojon der Dulegat! Er war mein Gatte und Vater dieses Kindes. Die Krieger meines Stammes haben ihn erschlagen, nachdem seine Streitaxt ihrer zehn getötet!«

»Scheminga lebt!«

Die Augen der Mandschufrau sprühten Feuer.

»Lota – Russe. rede die Wahrheit!«

»Ich will Blut darauf trinken! – Er lebt und hat dich jahrelang vergebens gesucht!«

Wie eine Tigerin sprang sie zu dem Mandarin und riß ihn an seinem langen Haarzopf empor. »Tschilkur Verfluchter.. Mögen die Buni Teufel. dich hundertfach zerreißen für deine Lügen!« und mit einem raschen Schnitt hatte sie den Schopf dicht an seinem Scheitel abgeschnitten, der größte Schimpf und das größte Unglück, das einem rechtgläubigen Chinesen passieren kann, da er des festen Glaubens ist, daß sein Prophet ihn an diesem Zopf nach dem Tode in den Himmel ziehen wird.

Die betrogene Frau schlug ihn mit dem sorgsam gepflegten Heiligtum ins Gesicht und stieß ihn mit dem Fuß. Dann wandte sie sich zu dem zitternden Mädchen.

»Gotami – tu, wie ich dir befohlen! Führe diesen Mann bis zum Tor mitten durch die schlafenden Feinde, und dort harret auf uns! So wahr dir dein Leben lieb ist, hüte das seine!«

»Mutter!«

Tungilbi Khanum streckte die Hand gebietend aus. »Fort!«

Das junge Mädchen faßte meine Hand und machte mir ein Zeichen, mich wieder zur Erde zu bücken, während ihre Mutter vorsichtig die Tür öffnete. »Sie hat den Satan im Leibe!« flüsterte mir der Warnak zu – »Spute dich, Brüderchen, ich glaube, unsere Kameraden werden gerächt werden!«

Die Hand Gotamis zog mich unter dem Vorhang ins Freie. Wir krochen eine kleine Strecke fort bis zu den Stufen einer offenen Treppe, die unter einem steinernen Bogen hinunter in den Hof führte. Dort richtete sich das Mädchen empor und gab mir ein Zeichen, dasselbe zu tun.

»Still!« flüsterte sie. »Folge mir!«

Wir tappten die Stufen hinab, noch immer lag dichter Nebel zwischen den Mauern. Mehrfach stießen wir auf den untern Stufen auf in Decken gewickelte lagernde Körper, aber wir schoben sie beiseite oder stiegen über sie hinweg, und die gestörten Schläfer begnügten sich, eine Verwünschung zu murmeln und sich auf die andere Seite zu kehren.

Wir hatten jetzt den Hof erreicht, schritten durch eine enge Tür und gelangten in den zweiten größeren, aus dem, wie ich gesehen, eine Pforte ins Freie und zum Ufer des Flusses führte.

Willenlos mich ihrer Führung überlassend, folgte ich dem Mädchen, als plötzlich ein klagendes Wort in russischer Sprache an mein Ohr schlug.

»Wasser!«

Es war kein Ruf – der Ton war so heiser, so wimmernd, wie ich nie etwas ähnliches gehört, und dennoch glaubte ich diese Stimme zu kennen. Sie schlug so jammernd an mein Ohr, daß ich stehen geblieben wäre, selbst wenn das Wort nicht russisch gesprochen worden.

»Um Gottes Barmherzigkeit willen, – einen Tropfen Wasser!«

Ich trat einen Schritt näher trotz alles Widerstrebens meiner Führerin.

Dicht vor mir im Nebel stand eine unförmliche Gestalt, ein menschlicher Körper – regungslos und doch wimmernd. Ich streckte die Hand aus und berührte eine nackte Schulter – weiter – ein feuchtes spitzes Holz –

»Allmächtiger Gott!!«

In dem Augenblick hob sich an der andern Seite der schrecklichen Gestalt ein Mann empor, schwankend, taumelnd, die Branntweinflasche in der Hand.

»Der Teufel soll meine Mutter reiten!« sagte eine heisere trunkene Stimme auf Russisch – »wenn ich mich nicht gerächt habe, wie einer! Was sagst du nun dazu, Porutschik, da du mir den Rücken mit dem Kantschuh kitzeltest, und sitzt nun dafür mit dem Rücken auf dem Pfahl?! Hussah, Väterchen, so zahlt Dimitri seine Schulden!«

»Wasser – Barmherzigkeit! Wasser!«

»Unsinn, Väterchen! Euer Wohlgeboren gönnten mir auch den Labetrunk nicht und peitschten mich dafür! Stör' nicht die Leute im Schlaf mit deinem Gewinsel, Spitzbube von einem Offizier! Morgen wirst du Gesellschaft haben an dem schuftigen Franzosen – morgen – – –« Er konnte die Rede nicht vollenden, eine kräftige Faust saß ihm an der Kehle und preßte sie zusammen. Ich glaubte die Stahlkraft eines Riesen in meiner Hand zu haben.

»Schurke! – Verräter!«

Der Warnak wand sich unter meiner Faust – er schnappte nach Luft!

»Stirb, Hund!«

In den weit geöffneten Mund fuhr ihm mit gewaltigem Stoß mein Messer bis ans Heft! Der zweite Stoß zerschnitt unter meiner Faust seine Gurgel.

Ein Schnappen nach Luft, während der warme Blutstrom meine Hand überflutete, dann ließ ich los, und stieß den zu meinen Füßen fallenden zuckenden Körper mit dem Fuß von mir.

»Sei verflucht, Schurke, in alle Ewigkeit!«

»Um Himmelswillen, was hast du getan, Brüderchen?« flüsterte Basil, der neben mir stand mit der Mandschufrau.

»Uns gerächt, Basil!«

»Fort! fort!« flüsterte er und versuchte mich weiter zu ziehen.

Ich hielt ihn zurück. »Weißt du, wer hier neben mir wimmert?«

»Und möchte es mein Bruder sein, jeder Augenblick ist kostbar!«

»Es ist Beiton, unser Offizier! Die Unmenschen haben ihn gepfählt!«

Der leise gesprochene Name schien das Ohr des Unglücklichen getroffen zu haben. Wieder wimmerte der jammervolle, herzzerreißende Ton: »Wasser! Wasser!«

Der Warnak faßte meinen Arm. »Unsinniger, komm! Jeder Augenblick zögern droht uns den Tod! Weißt du nicht, daß ein Trunk ihn sofort töten würde?«

»Um so mehr ist es unsere Pflicht! ich weiche nicht von dieser Stelle, bis ich die letzte Bitte eines sterbenden Kameraden erfüllt habe!«

»Dann stirb mit ihm!« Er wollte fort, aber Tungilbi hielt ihn zurück. »Was willst du?« flüsterte sie.

»Wasser für den Sterbenden! ich weiche nicht eher.«

»Warte!«

Sie verschwand im Nebel. Wenige Augenblicke darauf kehrte sie zurück, den Hut, den sie trug, mit Wasser von dem nahen Brunnen gefüllt. »Nimm!«

Ich hielt das improvisierte Gefäß an das Gesicht des Sterbenden. »Trink, Unglücklicher!«

Ich konnte fühlen, wie er das Wasser, das sein ganzes Gesicht überflutete, mit vollen Zügen einsog. Dann flüsterte die Stimme ein mattes »Dank, Kamerad!« und der Kopf sank auf seine Schulter – er war tot.

Die Wahrheit dessen, was ich schon mehrfach gehört, hatte sich bestätigt, daß diejenigen, welche die furchtbare Marter des Pfählens erlitten, noch tagelang am Marterpfahl leben können, daß aber der Genuß eines Trunkes sie auf der Stelle tötet.

Tungilbi und der Warnak zogen mich fort. So erreichten wir die Pforte und traten ins Freie, wo der frische Stromwind sofort meine Wange kühlte.

»Rechts an der Mauer! folgt mir!«

Die Frau eilte voran mit seltsamer Hast, die mir damals auffiel, fast ohne jede Vorsicht. Wir folgten ihr ebenso. Endlich stand sie an der Ecke der Mauer still, dort wo die Mauer des Forts in den gewaltigen Strom sank. –

Der Wind, der von der fernen Meeresküste her über seine Fläche strich, lichtete hier die Nebel. Aus ihren schwankenden Wolken sah ich die Stange eines Mastes hervorragen.

»Es ist die Dschonke, die ich ausgesucht. Sie ist die sicherste!« flüsterte die Khanum. »Jetzt rasch hinein und ins Wasser mit den schlafenden Wächtern!«

Ich fühlte unbewußt, daß jeder Verzug hier Verderben war. Einige Worte verständigten Basil. Dann ließen wir uns von dem hohen Ufer an den Händen hinab in die dicht darunter ankernde Dschonke.

Mein Fuß traf auf einen weichen Körper, der sich bewegte und zu schimpfen begann. Ich hörte vorne einen Körper ins Wasser plumpsen, – der Warnak hatte bereits sein Werk getan. Ohne zu zögern warf ich mich auf den Mann, der sich aufzurichten begann und umklammerte ihn mit beiden Händen. Er versuchte zu schreien, aber ich hielt ihm die untere Kinnlade fest und riß sie fast aus ihren Bändern. Dennoch wär' er wahrscheinlich meiner Herr geworden, denn er war ein großer starker Mann, wenn nicht Tungilbi Khanum, die uns sofort gefolgt war, ihr Messer ihm zweimal tief in die Seite gestoßen hätte. Die Muskeln seiner Hände ließen nach und nach einigen Augenblicken schleuderte ich ihn in die Fluten des Amur.

Im nächsten Augenblick war, von mir unterstützt, auch Gotami im Kahn. Ein Messerschnitt trennte das Ankertau, und von Basil und der Frau gerudert, schoß der leichte Kahn hinaus in die wallenden Nebel und auf die dunkle Stromfläche.

Wir waren wieder auf dem Amur!

Basil, der Warnak, warf sich mit rasender Kraft auf das Ruder und rief mir zu, auf Tod und Leben zu arbeiten. Selbst die Khanum half. Aber wohin in dem Nebel? nur vorwärts! vorwärts!

Der laute Ruf in russischer Sprache hatte endlich einige der Chinesen geweckt, die in den Dschonken und am Ufer lagen, – sie hatten die Sprache ihrer Feinde erkannt, sie sahen noch die Spitze der Raae im Nebel verschwinden. Lautes Geschrei klang hinter uns Flüchtigen her – der mächtige Schall von Schlägen auf das Gongh – –

»Vorwärts! vorwärts!«

Einige Musketenschüsse aufs Geratewohl in den Nebel hinein – die Kugeln pfiffen unschädlich an uns vorüber –

Da plötzlich war es, als kochte das Wasser des Amur brausend unter uns empor, als wollte es den schwachen Nachen umstürzen und hinabziehen in seine tiefste Tiefe – die Luft erzitterte, daß der Nebel zerriß, wie von einer riesigen Klinge gespalten – ein furchtbarer gewaltiger erschütternder Knall warf im Luftdruck uns nieder auf den Boden der Dschonke, die sich im Kreise drehte, – eine dunkle Rauchsäule stieg hinter uns empor, – Steine und Balken stürzten aus der Luft neben uns nieder in die aufzischende Flut – jede Fiber in uns zitterte vor Angst und Bangen!

Nur die Khanum hatte sich rasch empor gerichtet, sie stand wie ein Dämon der Rache in dem wallenden Dampf und Nebel, während sie in die Hände klatschte und ihr Auge in satanischer Freude hinüberfunkelte nach dem Ufer, das wir verlassen.

»Bugi, empfange ihn und zerreiße seine Seele! – ich bin gerächt!«

Die Khanum und der Warnak, den sie durch Zeichen zur Hilfe verständigt, hatten im Gewölbe unter dem Pavillon, wo der Mandarin die Waffen und das Pulver bewahrte, eine Lunte gelegt – das Fort war in die Luft geflogen!« – – –


Der alte Erzähler machte hier eine Pause und trank ein Glas des starken Tees, während die Blicke aller Hörer mit Teilnahme auf ihm ruhten. Selbst Mutin, der Kosak, obschon er die französisch erzählte Geschichte nicht verstand, blinzelte ihm nicht wenig stolz zu, weil er wußte, daß sein längst verstorbener Vater darin mitgespielt.

»Als wir den ersten Schrecken überwunden,« fuhr der Holowa jetzt fort, – »machten wir uns daran, unsere Fahrt fortzusetzen und Basil mußte mir dabei das Nähere der Tat mitteilen. Im Grunde konnte ich nichts dagegen sagen, denn er hatte nur den schändlichen Mord unserer braven Kameraden gerächt, und ich selbst hatte ja wenige Augenblicke vorher nicht anders gehandelt. Dennoch begriff ich wohl, daß die Sache großes Aufsehen machen und die Feindseligkeiten des Grenzverkehrs nur noch vermehren mußte; denn die Chinesen würden die Sache gewiß als einen Akt des Angriffs der Russen ausgeben – an Lügen hatte es ihnen ja noch nie gefehlt. Für uns war die Explosion des Fort und der wahrscheinliche Tod einer großen Anzahl der versammelten Feinde die Rettung, denn ohne diesen Zwischenfall würde man uns sicher alsbald verfolgt und bei dem geringen Vorsprung eingeholt haben.

Dessen waren wir übrigens auch jetzt noch nicht sicher und sollten dies bald erfahren. Der Wind war uns zwar günstig, indem er stromaufwärts vom Meere her wehte, aber der Strom ist so stark, daß wir mit unserem Mattensegel und dem unbehilflichen Fahrzeug nur langsam vorwärts kamen und tüchtig an den Rudern arbeiten mußten. Von Zeit zu Zeit löste die Khanum einen von uns beiden ab und selbst Gotami erbot sich dazu, – ich litt es jedoch nicht, daß sie ihre zarten weißen Hände an das Ruder legte.

Durch die furchtbare Gewalt der Explosion waren die Nebel zerrissen – der Wind trieb sie vor uns her stromaufwärts, und hinter uns lichtete sich immer mehr die Fläche des Stroms.

Plötzlich drang auf den Flügeln dieses Windes ein Laut zu mir.

Es schien ein wilder gellender Ruf aus der Ferne.

Die Khanum hatte sich aufgerichtet im Boot, ihr Arm umfaßte den Mast, ihr anderer streckte sich gegen Osten: »Sie verfolgen uns! sie sind auf unserer Spur!«

Das drohende Wort, – so sehr wir von Anfang an darauf gefaßt sein mußten, machte mich doch erzittern, nicht meinetwegen, sondern wenn ich das Auge auf das junge Mädchen wandte, das sich furchtsam an ihre Mutter schmiegte.

Und diese!? wie hatte sich mein Herz gefreut bei der unerwarteten Entdeckung, als ich an meinen älteren Freund, den Tojon dachte, und wen ich ihm nach so langem Kummer zuführen konnte!!

Mit verdoppelter Kraft warf ich mich in die Ruder. Aber was halfen unsere vier Arme, wo vierzig, fünfzig hinter uns her waren.

Nach zehn Minuten konnten wir im Sternenlicht auf dem jetzt hinter uns klaren Spiegel des Flusses in der Ferne bereits die dunklen Segel von drei, vier Booten erkennen. Es war kein Zweifel, es mußten Feinde sein, die sich aufgemacht, die Zerstörung des Forts an uns zu rächen und uns zu verfolgen.

Wir hielten jetzt während des Ruderns eine kurze Beratung, ob wir versuchen sollten, das linke Ufer des Amur zu erreichen, oder versuchen wollten, in der Richtung stromauf ihnen zu entkommen. Nach dem Ufer zu flüchten, abgesehen davon, daß wir mindestens eine Stunde zu rudern haben würden, also auch dabei leicht eingeholt werden konnten, war gefährlich. Die weite Uferstrecke bis zur Höhe des Gebirges hinauf gehörte damals noch zum chinesischen Gebiet, und in die Gegend des Stroms, zu der wir bereits gelangt waren, drangen damals nur selten kühne Pelzjäger und Handelsleute aus dem Gouvernement Jakutzk und Ochotzk.

Es blieb uns also nichts übrig, als mit allen Kräften stromauf zu streben und uns zu einem neuen Kampf fertig zu machen.

Es bedurfte bei Tungilbi-Khanum keiner Anweisung, sie lud die Flinten, als hätte sie zeitlebens nur im Krieg oder auf der Jagd zugebracht, und stellte sie sorgfältig in unseren Handbereich. Dann wieder griff sie zum Ruder und arbeitete mit aller Macht. Aber die Verfolger kamen näher und näher und schon konnten wir deutlich die mit Menschen gefüllten Dschonken sehen. Man hatte auch uns längst erblickt, wie das zu uns herüberdringende Geschrei und das jetzt noch ganz nutzlose Abfeuern ihrer alten Musketen und Trabukos bewies.

Nach einer weitern halben Stunde waren sie uns so nahe, daß die erste Kugel hinter unserm Kahn ins Wasser schlug.

»Jetzt ist es Zeit, Niki,« sagte die Khanum. »Gib mir das Ruder und brauche die Flinte!«

Ich war ein ziemlich guter Schütze. Der erste Schuß, den ich auf unsere Verfolger tat, fehlte zwar bei dem Schwanken des Kahns, aber die zweite Kugel schlug in die dichtgedrängte Bemannung der ersten Dschonke und ich sah einen Mann über Bord stürzen.

Diese Lektion schüchterte sie einigermaßen ein, sie hielten sich in gehöriger Entfernung und verfolgten uns aus dieser mit Geschrei und Schüssen.

Das Morgenlicht zog bereits hell herauf, als in den immer mehr sich lichtenden und verschwindenden Nebeln etwa hundert Schritt vor uns die dunkle Masse einer anscheinend dichtbewaldeten und bebuschten Insel auftauchte, wie solche unzählige den Lauf des gewaltigen Stroms unterbrechen.

»Es geht nicht mehr,« sagte Basil mit einem Fluch, als ich ihn darauf aufmerksam machte. »Ich habe mir die Arme fast aus den Schultern gerudert, aber so entgehen wir ihnen doch nicht. Laß uns landen und uns im Gebüsch verstecken, vielleicht wagen sie dann nicht, uns anzugreifen, denn es sind feige Hunde, die nur auf ihre Übermacht zählen. Wenigstens kann ich dann auch noch einen Schlag oder einen Schuß tun, obschon ich noch in meinem Leben keine Flinte abgeschossen habe.«

Der Rat war unter den Umständen so gut, daß wir keinen Augenblick zögerten, ihn zu befolgen. Mit angestrengten Kräften vergrößerten wir unsern Vorsprung, schossen in die nächste Bucht, die sich uns bot, fast an der Spitze der Insel, sprangen ans Land und zogen unsere Dschonke so weit als möglich heran.

Die Chinesen hatten zweifellos unser Manöver gesehen und hielten jetzt außer Schußweite, um sich zu beraten, während wir uns auf dem hier nur wenig erhöhten Ufer im Gebüsch verbargen und unsere Feinde erwarteten. So kurz auch meine soldatische Laufbahn gewesen war, die Jagdzüge mit meinem wilden Gefährten hatten meinen Blick und meine Erfahrung genügend geschärft und ich erkannte bald, daß der Ort, wo wir uns befanden, sehr ungeeignet zur Verteidigung war, während, wie das helle Tageslicht uns jetzt zeigte, die Insel sich weiterhin bedeutend verbreiterte und selbst zu bewaldeten Felsenmassen erhob. So beschlossen wir denn, wenn wir unseren Verfolgern erst noch eine Lektion gegeben, sie zu täuschen und uns ein besseres Versteck zu suchen. Freilich mußten wir dabei unsern Kahn, unser einziges Rettungsmittel, preisgeben, aber die Gefahr drängte und ich vertraute auf Gott, der mich schon aus so großer Not so wunderbar gerettet hatte.

Die Chinesen schienen jetzt ihren Entschluß gefaßt zu haben. Es waren vier Dschonken, darunter eine größere, und sie mochten zusammen wohl mit vierzig Männern besetzt sein. Sie trennten sich jetzt, und während die größere Dschonke unter fortwährenden Schüssen gegen die Insel auf die Spitze derselben zuruderte, indem sich die Mannschaft möglichst auf dem Boden des Fahrzeugs hielt, steuerten die drei andern Boote nach beiden Seiten, um an geeigneten Plätzen zu landen und uns dann in den Rücken zu fallen.

Ich zielte bedächtig auf das herankommende Boot und als es etwa noch fünfzig Schritt vom Ufer entfernt war, schoß ich einen der Langzöpfe, der sich unvorsichtig zeigte, durch den Kopf. Dann reichte ich der Khanum die Flinte, ergriff zwei andere und hieß meine drei Gefährten sofort im Gebüsch fortkriechend unbekümmert um mich ihren Rückzug beginnen, indem ich ihnen eine gewaltige, uns sichtbare Eiche als den Ort bezeichnete, wo sie auf mich warten sollten. Trotz der drohenden Gefahr bemerkte ich übrigens mit Vergnügen, daß Gotami sich nur zögernd und ungern von mir zu trennen schien.

Ich wand mich jedoch eilig unter den Büschen und der einen Seite der Inselspitze fast bis ans Ufer und lauerte die Gelegenheit ab, einer der kleinen Dschonken einen Schuß zu geben, der einem der Männer das Ruder in der Hand zerschmetterte, und sie eilig sich wieder entfernen ließ. Ohne mich jedoch weiter aufzuhalten, lief ich nach der andern Seite, und kam gerade noch zurecht, um den dritten und vierten Kahn durch einen Schuß vom Landen abzuhalten. Nachdem ich auf diese Weise die Feinde glauben gemacht, daß wir uns auf drei Seiten verteidigen konnten, warf ich mich auf den Boden, kroch eine Strecke darauf hin, und erhob mich erst, als ich im Schutz des Buschwerks ungesehen meinen Lauf fortsetzen konnte.

Nach wenigen Minuten hatte ich meine Gefährten erreicht, wir luden eilig die Flinten wieder und machten uns dann auf den Weg in das Innere der Insel, um ein geeignetes Versteck aufzusuchen. Ich hoffte, daß uns dies gelungen sein würde, ehe unsere Feinde landeten.

Aber wahrscheinlich hatten die Langzöpfe mich bemerkt und ganz richtig mein Manöver durchschaut; – denn wir waren noch keine zweihundert Schritt vorgedrungen, als wir unsere Verfolger bereits auf der Insel hörten.

Aber auch ein passender Zufluchts- und Verteidigungsort war gefunden. Zwischen den Bäumen hindurch sahen wir eine Felsenwand, in deren Mitte sich ein enger, durch verschiedene Blöcke gesicherter Paß zu öffnen schien. Ich deutete auf den Ort hin, und die Flinte in der Hand, eilte ich voran darauf zu.

Plötzlich hörte ich in nächster Nähe den Knall einer Büchse, während zugleich die Kugel mir den spitzen Chinesenhut vom Kopf riß.

Ich fuhr zurück und wollte eben die Flinte an die Wange werfen, um wieder zu feuern, denn hinter einem Felsblock des Zuganges tauchte ein bärtiges Gesicht auf, – als der breite Mund sich öffnete und ein russisches Schimpfwort ausstieß.

» Sukinsyn! Hundssohn von einem Langzopf! wenn du es wagst, noch einen Schritt zu tun, soll dir meine nächste Kugel sicher durch den Schädel fahren!«

Heilige Jungfrau! Es waren Russen, die uns der Himmel in unserer Not hier entgegengeschickt.

»Freunde! Freunde!« schrie ich. »Um Himmelswillen schießt nicht, wir sind Russen und werden von chinesischen Mördern verfolgt!«

Der Fremde schien noch nicht recht überzeugt, obschon ich in russischer Sprache ihm zugerufen, aber mehrere andere Köpfe tauchten neben ihm auf und zwei oder drei erkannte ich, – es waren die sibirischen Pelzjäger, die mit der zweiten Barke uns hatten folgen sollen.

»Hurra! gerettet! kennt ihr mich nicht, Kameraden? ich bin Jeanrenaud, der Posieleniec! Die Chinesen haben den Leutnant und die andern ermordet und verfolgen uns jetzt!«

»Dann herein mit euch!« rief der erste Schütze, »und ich hoffe, wir wollen den Langzöpfen einen Denkzettel geben, den sie nicht vergessen werden. Wie viel sind ihrer, Mann?«

Ich hob zuerst, ehe ich antwortete, Gotami über die Felsblöcke hinweg, dann stiegen wir eilig nach und fanden hier in der Öffnung der Felswandung, die sich tief hineinzog, zehn wohlbewaffnete Männer, aus denen die zweite Expedition hatte bestehen sollen.

»An vierzig werden es sicher sein!«

»Aber es sind Chinesen! deren sind zehn nicht zu viel auf einen tüchtigen Sibiriaken. – Aber zum Teufel – wie ist mir denn – dies Gesicht sollte ich doch kennen?«

Ich sah ihn gleichfalls genauer an, – auch mir schien sein Gesicht bekannt. Es war ein Mann, nur wenige Jahre älter, als ich, braun von Sonne und Luft, eine große Narbe spaltete Wange und Stirn, ein schwarzer krauser Bart bedeckte Mund und Kinn. Er trug einen alten Uniformmantel und auf der Brust zwei Kriegsdenkmünzen.

Plötzlich durchzuckte mich die Erinnerung wie ein Blitz.

»Mutin!«

»Daß mich der Teufel hole – wahrhaftig, es ist der kleine Offizier, den ich in Moskau auf Geheiß der Herrin aus den Flammen holte!«

Es war in der Tat mein braver und freundlicher Lebensretter, den ich hier nach fünf Jahren auf dem Amur wiederfand. Freilich sollten wir jetzt nicht viel Zeit behalten, uns dieses Wiedersehens zu freuen und weitere Erinnerungen auszutauschen; denn die Khanum, die nach außen gelauscht, hob die Hand und gab uns ein Zeichen, daß unsere Feinde nahten. Im Augenblick war der Unteroffizier, denn diese Charge bekleidete Mutin, wie ich an den Abzeichen am Kragen sah, wieder ganz auf seinem Posten als Führer der kleinen Expedition. Mit Winken und leisem Wort verständigte er seine Leute und ließ sie alle sich hinter die Felsstücke in Anschlag legen.

Dann beugte er sich flüsternd zu mir. »Wir haben Befehl, Feindseligkeiten zu vermeiden. Aber wenn ich recht verstand, sagten Sie vorhin, daß diese schuftigen Langzöpfe unseren Offizier und seine Kameraden ermordet hätten?«

»Auf das Unmenschlichste, nachdem sie uns unter Freundschaftsversicherungen in ihre Gewalt gelockt.«

»Dann glaube ich verantworten zu können, was ich tun will. Überdies müssen wir uns der eigenen Haut wehren! Aufgepaßt, Leute!«

An zwei, drei Stellen streckten sich die Kahlköpfe unserer Verfolger aus dem Gebüsch, um zu rekognoszieren. Da sie niemand mehr sahen und wir nur durch die Felsenspalte entwischt sein konnten, kamen sie mit großem Geschrei bald von allen Seiten unter den Bäumen und zwischen den Büschen hervor, schwangen ihre Waffen, die in alten Musketen, Bogen und Spießen bestanden, und suchten sich gegenseitig durch ihren Lärm Mut zu machen, um in die Schlucht einzudringen.

Auf einige leise Worte Mutins sprang ich, die Flinte in der Hand, auf einen Stein und zeigte mich ihnen.

»Zurück, ihr Mörder! Noch einen Schritt weiter und ihr sollt mit blutigen Köpfen abziehen!«

Das wilde Geschrei: »Tötet ihn! fangt ihn!« war die einzige Antwort, und auf ihre Zahl pochend, stürzten sie alle zugleich vorwärts, während zwei oder drei Musketen auf mich abgeschossen wurden.

»Feuer!«

Zehn gute Flinten krachten ihnen entgegen und sechs der Angreifer stürzten. Sofort nach der Salve sprangen Mutin und seine wackeren Burschen aus ihren Verstecken und zeigten sich den erschrockenen Blicken des Gesindels.

Die Erscheinung so vieler wohlbewaffneter und entschlossener Feinde, wo sie unserer nur zwei vermutet hatten, nebst dem Fall ihrer Gefährten, verbreitete augenblicklich einen solchen Schrecken unter der feigen Bande, daß all ihre Erbitterung über meine früheren glücklichen Schüsse verschwunden war und die ganze Sippschaft unter Zurücklassung ihrer Toten und Verwundeten eilig kehrt machte und wie toll davonrannte ihren Dschonken zu, wobei die meisten ihre Waffen fortwarfen, um desto ungehinderter flüchten zu können.

Wir sprangen von den Felsblöcken herunter und folgten ihnen, mit einigen blinden Schüssen und unserem Hurra ihre Eile noch vermehrend. Lange, bevor wir am Ende der Insel ankamen, hatten sie sich bereits kopfüber in ihre Dschonken gestürzt und ruderten, was das Zeug hielt, um nur aus unserem Bereich zu kommen. Ihre Hast war so groß gewesen, daß sie außer der unseren selbst die kleinste ihrer eignen Dschonken, die etwas weiter herauf am Ufer lag, im Stich gelassen hatten.

Wir zweifelten keinen Augenblick, daß wir wenigstens in den nächsten zehn oder zwölf Stunden vor ihrer Wiederkehr sicher sein würden, bis es ihnen etwa gelungen sein möchte, eine bedeutendere Anzahl zusammenzubringen und dann vielleicht in Zahl von Hunderten einen Angriff zu versuchen. Aber das brauchten wir natürlich nicht abzuwarten, und so kehrten wir denn unbesorgt nach dem Platz des kleinen Gefechts zurück, wo die beiden Frauen und zwei unserer Leute zurückgeblieben waren, um uns zunächst näher zu verständigen, und einen kleinen Kriegsrat zu halten über das, was geschehen sollte.

Hier hörte ich denn, wodurch unsere Kameraden so glücklich mit uns zusammengetroffen waren.

Bald nach unserer Abfahrt hatte der Unteranführer der Expedition, der mit der zweiten Barke und den Pelzjägern hatte folgen sollen, durch einen Fall das Bein gebrochen. Es mußte daher ein Ersatzmann geschafft werden und man hatte von Nertschinsk einen Kosakenunteroffizier geschickt, der erst seit kurzem dort stationiert war und sich zu dem gefahrvollen Unternehmen erboten hatte.

Mutin hatte den ganzen Feldzug gegen Frankreich mitgemacht und war selbst in Paris gewesen. Nach der Rückkehr war er infolge einer schweren Wunde dienstuntauglich gefunden und zu dem Grenzkorps in seiner Heimat Sibirien beordert worden. Er erzählte uns von der Fürstin Olga und daß sie längst eine glückliche Gattin und Mutter sei.

Unter der Führung zweier der Pelzjäger, die bereits mit dem Flusse näher vertraut waren, hatte die Barke unseren eigenen Weg verfolgt und auch mehrfach Nachricht von unserem Vorüberkommen eingezogen, im ganzen aber eine noch feindlichere Stimmung und Abweisung an den Ufern gefunden als wir. Am vorangegangenen Abend hatte der Nebel sie auf dem Strom in der Nähe der Insel überrascht und sie hatten es vorgezogen, an deren westlichem Ende zu landen und dort die Nacht zuzubringen, statt sich durch eine Weiterfahrt zwischen den Strudeln und Klippen zu gefährden. Der dumpfe Knall der Explosion war bis zu ihnen gedrungen und eine Stunde darauf hatten sie das Wechseln der Schüsse gehört. Obschon sie keine Ahnung hatten, daß wir dabei beteiligt waren, hatte Mutin es doch für gut gefunden, in den auf ihren Lagerplatz sich öffnenden Felsen eine sichere und verborgene Stellung einzunehmen, bis sie beim Tageslicht erkunden konnten, ob Feinde in der Nähe seien.

Wie unsere Verkleidung sie erst getäuscht und mir beinahe eine Kugel zugezogen hätte, habe ich bereits erzählt.

Auch Tungilbi Khanum teilte die Hauptzüge ihrer Geschichte mit.

Tschang Tsin war selbst der Anführer jenes chinesischen Streifkorps gewesen, das Zeuge des Kampfes zwischen Scheminga und den Kriegern Tolga Khans war, und zu dem sie sich um Beistand bittend geflüchtet hatte. Unter dem Vorwand, strenge Parteilosigkeit zu üben und sie als Geißel für die Ruhe oder den Gehorsam der beiden Grenzstämme zu behalten, bis der Streit zwischen ihnen entschieden sei, hatte man sie von ihrem auf den Tod verwundeten Gatten getrennt und diesen auf das andere Ufer des kleinen Grenzflusses geschafft. Tschang Tsin hatte sie trotz aller Klagen und allen Widerstandes mit sich in das Innere geschleppt und als der Eunuch bald darauf den Befehl über das kleine Fort erhalten, dort als Sklavin in seinem Harem eingesperrt. Da er ihr die falsche Kunde gebracht, daß Scheminga seinen Wunden erlegen sei, hatte sie sich endlich in ihr Schicksal ergeben, um so mehr, als sie sich Mutter fühlte. Gotami wurde in dem Fort geboren und hielt lange Zeit den Chinesen für ihren wirklichen Vater, der seltsamer Weise eine große Zärtlichkeit für das Kind offenbarte und möglichst jeden seiner Wünsche erfüllte. Sie war das Band, das allein noch ein leidliches Verhältnis zwischen ihrer Mutter und deren Herrn herstellte. Durch die Zeit hatte Tungilbi großen Einfluß im Fort gewonnen und selbst ihr Tyrann fürchtete meist die Schärfe ihrer Nägel und die Geläufigkeit ihrer Zunge. Nach einem solchen Streit hatte die Mutter denn auch der bereits erwachsenen Tochter die Ursachen ihres Hasses gegen den Mandarinen mitgeteilt und die Absicht ihrer Flucht, da der Barbar in letzter Zeit immer tyrannischer geworden und wiederholt schon ihr Leben bedroht hatte. Mehrfach waren die Frauen schon Zeuge der nichtswürdigsten Verräterei und Grausamkeiten gewesen, welche der Mandarin und seine Rotte aus Habsucht und nationaler Grausamkeit an schutzlosen Tauschhändlern und Jägern verübt hatten. Bis zu unserer Ankunft hatte sie jedoch vergeblich auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht geharrt und diese endlich zu finden geglaubt, da sie Zeuge gewesen, wie der Plan zu unserer verrätischen Gefangennahme entworfen wurde, als man die Annäherung unsers Bootes bemerkt hatte. Die Mitteilungen Dimitris an einen unter der Mannschaft des Forts befindlichen früheren Strafgenossen hatte Tschang Tsin Kunde gegeben, daß noch eine zweite Barke folgen werde, und um diese nötigenfalls auf dem offenen Strom zu überfallen, hatte er eiligst Boote an die nächsten Wachtstationen geschickt, die zum Teil selbst unter seinem älteren Befehl standen.

Beide Frauen hatten uns schon am Nachmittag bei unserer Landung gesehen. Es war ein aus dem Russischen stammendes Lieblingslied Schemingas, das sie ihre Tochter früher gelehrt, und das zu singen sie diese in der Nacht veranlaßte, um uns von der Anwesenheit von Frauen zu unterrichten und einen oder den anderen unter die Jalousien ihres Pavillons zu locken, wo sie vielleicht mit ihm reden könne. Meine Antwort auf der Flöte hatte einen großen Eindruck auf das junge Mädchen gemacht, und als Tschang Tsin sie in ihrem Spiel störte und es verbot, hatte sie nicht nachgelassen mit Bitten, bis er versprach, den Musiker am nächsten Tage ihr zuzuführen.

Die chinesische Feigheit hütete sich vor einem offenen Angriff, die Krankheit unseres treulosen Warnaks war fingiert und der Plan zu dem Überfall im Zelt gemacht. Vergeblich hatte Gotamie mich durch das Seidenknäuel zu warnen versucht. Als dann das Unglück geschehen und wir in den Turm geworfen waren, hatte es eine neue stürmische Szene zwischen dem Mandarin und der Khanum gegeben, die auf die flehendlichen Bitten ihrer Tochter wenigstens mein Leben retten wollte. Das hatte denn schließlich auch der alte Tyrann zugestanden, freilich unter einem Vorbehalt, der mich lieber hätte den Tod als eine solche Existenz wählen lassen.

Als ich daher Gelegenheit fand, dem Mädchen mich vom Turm aus bemerklich zu machen und die Frauen erfahren hatten, daß wir in unserm eigenen Gefängnis unsern Feinden mit Erfolg Trotz boten, hatte die Khanum sofort beschlossen, uns mit allen Kräften zur Flucht behilflich zu sein, unter der Bedingung, daß wir sie daran Teil nehmen ließen.

Ihr mutiger Geist und scharfer Verstand hatte alle Chancen richtig berechnet. Mit kundigem Blick hatte sie ein passendes Boot ausgesucht und dessen Ankerplatz genau gemerkt. Unter die Speisen und Getränke für die Besatzung des Forts und alle, die darin Aufnahme gefunden, hatte sie den einschläfernden Saft des Mohns gemischt und am Abend das Opium, das der Mandarin mit den zwei vornehmsten der Anführer in seinem Gemach rauchte, derart verstärkt, daß alle drei bald in jenen Zustand der wollüstigen Träumerei gerieten, welcher sie auf viele Stunden hinaus für jeden äußeren Eindruck unempfindlich machte.

Sie haben gehört, wie der klug berechnete Plan der entschlossenen Frau ihr vollständig gelang. Die Nachricht, daß ihr erster Gatte und Geliebter noch lebte, hatte aber ihre Leidenschaft derart entfesselt, daß sie eher unser aller Leben geopfert haben, als von ihrer Rache an ihren Tyrannen abgestanden sein würde.

Wahrscheinlich hatte sich einer der von Basil und mir ins Wasser gestürzten Bootwächter gerettet und schon Lärm von unserer Flucht gemacht, als das furchtbare Rachewerk der mißhandelten Frau einen großen Teil der versammelten Feinde unter den Trümmern des Forts begrub. Die Erbitterung über diese Tat und die Hoffnung, uns zu erreichen, hatte die Verfolgung veranlaßt.

Sowohl die Explosion als unser darauf folgendes Gefecht mußten übrigens bald alle chinesischen Posten an beiden Ufern des Amur uns auf den Hals hetzen und es war daher nicht die geringste Aussicht, daß wir unsere Expedition mit einigem Erfolg noch hätten weiter fortsetzen können. Ohnehin hatte der grausame Tod des Leutnant Beiton uns des Führers beraubt. Nach kurzer Beratung wurde daher beschlossen, alsbald den Rückweg anzutreten um so wenigstens die bisher gemachten Beobachtungen zur Kenntnis der russischen Behörden zu bringen.

Von den von der Felsenwand gefallenen Chinesen waren zwei auf der Stelle von unseren Kugeln getötet, die anderen mehr oder weniger schwer verwundet.

Wir überließen ihnen unsere Dschonke und nahmen statt deren die von den Geflüchteten zurückgelassene. Zwei der an strenges Rudern gewöhnten Pelzjäger übernahmen ihre Führung, und nach etwa zwei Stunden befanden wir uns sämtlich auf dem Rückweg nach Albasin, wo wir am zehnten Tage ohne weitere Abenteuer ankamen.

Was soll ich Sie weiter langweilen, Messieurs, mit meiner Erzählung! Die Zerstörung des chinesischen Forts, die im ganzen Grenzgebiet viel von sich reden machte, wenn die Kunde auch schwerlich davon in die europäischen Zeitungen, selbst nur bis Petersburg gedrungen ist, war freilich ein schlimmer Akt, aber sie war in der Tat das Werk der gefangenen Frau, nicht das unsere, und was weiter geschehen, rechtfertigte vollkommen die schändliche Ermordung unsers Offiziers und der beiden Kosaken. Auch war die Ausbeute unserer Expedition keineswegs gering für das Gouvernement, denn sie war weiter vorgedrungen, als irgendeine andere in letzter Zeit, und ich hatte die Gelegenheit wohl benutzt, so daß ich nach meiner Rückkehr die erste vollständige Karte des Amur bis über den Einfluß des Tschikiri hinaus zeichnen konnte. Zum Dank dafür erfolgte meine Freilassung, die frellich nach dem Frieden mit Frankreich schon längst hätte geschehen müssen. Zugleich machte man mir das Anerbieten, meine kleinen Fähigkeiten hier weiter zu verwenden und in Sibirien als freier Ansiedler zu bleiben.

Freilich zog es mich gewaltig nach meiner schönen Heimat an den Ufern der sonnigen Loire, aber noch gewaltiger fesselte mich ein anderer Magnet an dies Land. Überdies hatte ich mich an das halbe Nomadenleben, an dies Herumschweifen durch die Steppe mit meinen wilden Freunden, den Jägern, gewöhnt. – Genug, ich verschob meine Heimkehr – ich blieb!

Durch einen Boten hatte ich den Tojon benachrichtigen lassen, daß er meiner in seinem Lager harren sollte, ohne ihm jedoch weitere Kunde zu senden.

Es war an einem köstlichen Abend des Irin, des Fruchtmonds, als ich mit den beiden Frauen vor seiner Jurte eintraf und ihm Weib und Kind zurückbrachte, von deren Leben er keine Ahnung gehabt. Wie wenig auch ein Tungusenjäger geeignet ist den Gefühlen zivilisierterer Völker sich hinzugeben, – die Erinnerung seiner Jugend, als sein Herz noch warm geschlagen und ihn zu kühner Tat angespornt, brach doch gewaltig hervor und er nahm mit Freuden die Wiedergefundene an seine Brust. Vor allem schien ihn aber der Besitz der Tochter zu erfreuen und er zeigte ihr mehr Zärtlichkeit als allen seinen andern Kindern.

Mir gelobte er bei dem Blut des beim Feuer geschlachteten Hundes, dem höchsten Schwur, den der Tunguse kennt, treue Freundschaft, und er hat sein Wort gehalten bis zu der Stunde, wo er hier neben mir sitzt in seinem hohen, selten von einem seiner Landsleute erreichten Alter.

Seit der Zeit trieb ich mich meistens mit den Jägern umher und war gar oft der Gast des Tagaun Geschlecht, Stamm. der Dulegat. Gotamis braune Augen strahlten bei meinem Kommen und füllten sich mit Tränen bei meinem Scheiden!

Die Tungusen sind Polygamen, das heißt, die Vielweiberei ist bei ihnen wie bei den Moslems gestattet. Scheminga Tojon hatte bereits vier Frauen, aber Tungilbi wußte sich bald die Oberherrschaft zu verschaffen und führte ihr Regiment wahrlich nicht mit leichter Hand, selbst über den Geliebten ihrer Jugend nicht. Gar manchesmal fand ich den wackern Tojon in schwerem Kummer und mühsam unterdrücktem Zorn über den gewaltsamen und herrischen Charakter seiner Khanum und ich will nicht gesagt haben, ob nicht manchmal sein Seitenblick auf mich bedeuten mochte: ich wünschte, du hättest sie bei den Chinesen gelassen! Nur die Liebe seiner Tochter und ihre wirkliche Schönheit trösteten ihn.

Übrigens hatte er dies Leid nicht lange zu tragen, denn schon im dritten Jahre starb die Khanum am Gallenfieber, das sie sich in einem heftigen Zank mit den andern Frauen zugezogen hatte. Lange vorher schon, bereits zu Ende des ersten Jahres hatte ich Gotami als Weib heimgeführt. Der erste Priester meines Glaubens, der aus dem Kloster zu Irkutzk kam, um die »Unglücklichen« zu besuchen, taufte sie zur Christin und sprach den Segen über unseren Bund in derselben Stunde.

Lassen Sie mich noch einige Worte über den Fortgang der russischen Unternehmungen am Amur sagen, die für Sibirien, ja für ganz Rußland von der höchsten Bedeutung und ein wichtigerer Kampf gegen die englische Herrschaft in Asien sind, als je der große Kaiser in Europa geführt hat.

Im Jahre 1830 machte der kühne Eismeerfahrer Hedenström aufs neue auf die Wichtigkeit der freien Schiffahrt auf dem Amur aufmerksam, die amerikanische Pelzhandel-Kompagnie unterstützte ihn darin und 1849 sendeten die kaiserliche Akademie in Petersburg und die geographische Gesellschaft Expeditionen aus zur Erforschung Ostsibiriens – aber auch diese kehrten unverrichteter Sache oder gar nicht zurück. Deshalb beschloß im Jahre 1854 der General-Gouverneur von Ost-Sibirien eine Expedition in großem Maßstab zur Erforschung des Amurlandes zu organisieren. Gleichzeitig mit einem von Petersburg über Europa verbreiteten Gerücht, daß der Kaiser Hienfong aus besonderer Hochachtung für den Zaren Nikolas diesem das Amurgebiet überlassen habe, gingen Kanonen, Munition und alles Kriegsgerät, was zur militärischen Besitznahme notwendig war, nach der Mandschurei, und Kolonisten folgten. General Murawiew nahm alle Punkte, die ihm für die Verteidigung der neuen Herrschaft wichtig schienen, in Besitz, befestigte sie, und in weniger als sechs Wochen war das ganze Land zwischen dem Jablooi und dem linken Ufer des Amur, ein Gebiet, größer als Frankreich und England zusammen, russisch und selbst das ganze chinesische Heer hätte die neuen Herren nicht mehr aus dem Besitz zu verdrängen vermocht.

Aber die acht Banner der Mandschuren standen vor fünf Jahren, als dies geschah, 300 Stunden weit von der neuen Grenze, die ganze Mandschurei und die große Insel Saghalin am Ausfluß des Amur kam in russischen Besitz und als die englischen Schiffe unter Kommandore Elliot den Chinesen zu Hilfe kamen und während des großen Krieges in der Krim die russischen Festungen an der Mündung, und das neu gegründete Alexandrowsk an der Castriesbai anzugreifen wagten, erlitten sie aus Unkenntnis der Gewässer eine harte Niederlage. Dem Gesandten aus Peking, der zu dieser Zeit in Nikolajewk am Amur erschien, zeigte General Murawiew als Antwort die russischen Kanonen, und vor einem Jahre wurde das neue General-Gouvernement des ostsibirischen Küstenbezirks durch Ukas des Kaisers gegründet. Die letzten Nachrichten, die ich in diesem abgelegenen Winkel erfuhr, wo ich jetzt seit zweiundzwanzig Jahren lebe, besagen, daß ein neuer Frieden in Peking unterhandelt wird, der sicher nicht zu Rußlands Schaden ausfallen dürfte. Und wenn ich auch von Geburt ein Franzose bin und mit Liebe an den Erinnerungen meiner Jugend hänge, muß ich doch sagen, daß diesem Lande, das mein zweites Vaterland geworden, und das die Flügel seines Doppelaars jetzt von der Ostsee bis zum chinesischen Meer, von dem Nordpol bis fast schon an die Grenzen Indiens ausdehnt, sicher noch eine große Zukunft, vielleicht die Weltherrschaft bevorsteht.«

»Wenn dem Koloß bis dahin nicht die tönernen Füße unter dem Leibe zerbrochen werden,« sagte höhnisch der Verbannte. »Wahrhaftig, es wird Zeit, daß etwas dazu getan wird, damit der Zar nicht in den Himmel wächst! Die Schlappe von Sebastobol ist allzurasch verwunden!«

Der alte Holowa sah ihn finster an. »Mann, dem nichts heilig,« sagte er streng, »schmähe wenigstens nicht die Mutter, die dich geboren. Selbst der arme Jakute dort, der nichts kennt als Schnee und Eis und von Tran und gedörrten Fischen lebt, liebt das traurige Land, in dem seine Väter begraben liegen. Denke an die Hand Gottes, die alles Böse rächt!«

Der Nihilist lachte. »Du weißt, alter Mann, ich leugne das Böse. Ich glaube an keinen Gott; zeige ihn mir, und wenn er wirklich etwas anderes, als die chinesischen Götzenbilder oder das Blechbild auf der Brust dort des Tojon ist, will ich mich vor ihm beugen.«

»Und wer führte mich aus dem Turm des Chinesenforts –?«

»Basil, der Dieb und Mörder, von dem wir beiläufig noch nicht erfahren haben, ob ihm nicht vielleicht die Regierung den Wladimir fünfter Klasse dafür verliehen, daß er so viel Langzöpfe in den Himmel der Herren Foo, Confucius und Kompagnie spedieren half.«

Der alte Mann streckte die Hand gegen ihn. »Auch deine Stunde wird kommen!« sagte er. »Möge in der Wage deiner Fehler und Sünden alsdann nicht das Unheil noch lasten, das du hier gestiftet! – Gospodins,« wandte er sich zu den andern, »möge die Erzählung des Schicksals eines alten Mannes, der bald sein Grab in diesem entlegenen Winkel der Erde finden wird, euch in glücklichen Ländern daran erinnern, daß die Hand Gottes überall ist und sein kostbarstes Geschenk, die Liebe, das Herz der Menschen beglückt in der Eiswüste, wie unter den Palmen!«

Der Professor reichte ihm die Hand. »Ich danke dir, würdiger hospes,« sagte er, »für deine Erzählung, die mich sehr unterhalten und mitunter gewaltig in Schrecken gesetzt hat. Deine Nachrichten über den Amur, den ich leider nicht selbst sehen soll, sind mir von großem Interesse gewesen, und ich werde nicht verfehlen, sie in einem Vortrage in der geographischen Gesellschaft zu Berlin oder in Professor Petermanns Monatsheften zu verwerten. Aber sage mir, wenn es dir nicht etwa unangenehm ist, welches weitere Schicksal hat dich von den Ufern der Schilka hierher in den unwirtbaren Norden auf diese einsame Station unter die Jakuten geführt!«

»Mein freier Wille, Herr. Ich brauche mich der Ursach nicht zu schämen. Gotami, mein geliebtes Weib, starb nach zehn Jahren unserer glücklichen Ehe, in deren erstem sie mir eine Tochter geboren, die zum Gedächtnis meiner verstorbenen Mutter im fernen Frankreich Jeanne Alanmur genannt wurde. Sie alle wissen, daß infolge der Verschwörung des General Pestel Sie brach am 26. Dezember 1825 aus. gegen die Thronbesteigung des jetzt verstorbenen Zaren viele vornehme und edle Russen nach Sibirien verbannt wurden. Der Zorn des Kaisers war unerbittlich, und noch heute leben, wie ich gehört, Verbannte aus jener Zeit als Posielency in Sibirien. Es war im Jahre 1836, – also zehn Jahre nach dem Urteil, – als einer dieser Verbannten, für den vergeblich seine Familie Gnade erfleht hatte, von Irkutzk nach Nertschinsk versetzt wurde und in meinem Hause Aufnahme fand. Er zählte damals erst dreißig Jahre, denn als blutjunger Offizier hatte er sich vom Fürsten Trubetzkoi zur Teilnahme an jener Verschwörung verführen lassen. Was Wunder, daß – entfernt aus den Kreisen seiner Lieben, – sein Herz ein anderes suchte und aus dem Mitleid, das mein Kind ihm anfangs gezollt, bald Liebe wurde. Mit der Bitte um ihre Hand trat der arme Verbannte vor mich, und ich mochte sie ihm nicht weigern. Es ist nichts Seltenes in diesem Lande, daß die »Unglücklichen«, sei ihr verlorener Rang in der Heimat auch noch so hoch, ihre Familie noch so stolz und vornehm gewesen, eine Tochter des Landes heiraten, um ihr Los zu erleichtern. Freilich fand die Heirat meines Kindes manche Hindernisse und erregte, als sie dennoch erfolgt war, den Zorn des Generalgouverneurs, der zur Strafe meinen Schwiegersohn auf diese rauhe Station sandte. Da ich nichts hatte, als meine Tochter, folgte ich ihr und half den Armen hier zwei Kinder begraben, bis sie beide eine ansteckende Krankheit selbst trotz ihrer Jugend ins Grab legte. Mir blieb nichts als dieses Kind, ihr letztes, Wera Tungilbi nach ihrer Eltermutter genannt und ihr Ebenbild, die Tochter Jeanrenauds und des Fürsten Peter Wolchonski, des jüngeren Bruders jener vornehmen Dame, die einst in Moskau mich aus den Flammen ihres fürstlichen Palastes retten ließ!«

»Wie, Sir,« fragte der junge Lord erstaunt – »Ihre Enkelin ist eine Fürstin Wolchonski?«

Der alte Holowa wies auf den Neffen Murawiews, den Verbannten.

»Nummer Zwölfhundertvier wird Ihnen meine Worte bestätigen, Mylord! Übrigens gibt Tungilbis Abstammung von väterlicher Seite ihr nicht größere Ehre, als die aus dem Blute Schemingas, des freien Tungusenfürsten, dessen Vätern dies Land gehörte lang vorher, ehe ein Russe seinen Fuß an die Ufer der Lena setzte.«

Das Auge des jungen Mädchens blitzte hochmütig und herausfordernd auf den Pair, der mit Erstaunen über die ihm so ungewohnten Verhältnisse auf die schöne Sibirianka niedersah, die ihm jetzt in einem ganzen neuen Licht erschien.

»Aber Sir, haben Sie denn nie versucht, der Lady zu dem Recht ihrer Geburt zu verhelfen?«

»Warum? – wer als Verbannter nach Sibirien kommt, verliert Stand und Rang, und seine Kinder sind einfach freigelassen und nicht besser als die jedes andern Kronbauern. Nur der Kaiser vermag den Rang und die Familienehren wieder herzustellen. Als Peter Wolchonski, mein Eidam, gestorben war – das geschah im Jahre vierundvierzig – habe ich allerdings der Fürstin Woronzoff – die sonst Olga Wolchonski hieß – den Tod ihres Bruders angezeigt, aber wir haben seitdem nichts von der Familie gehört. Warum sollte ich dem Kind trügerische Hoffnungen in den Kopf setzen? Nur ihre Zukunft macht mir Sorge, wenn ich sterbe, und deshalb sandte ich vor Jahresfrist noch einen Brief an die Fürstin, aber wahrscheinlich ist auch sie längst gestorben.«

Der trotzige Zug in dem schönen Gesicht der Sibirianka zwischen den Brauen und um den aufgeworfenen Mund war noch schärfer geworden. »Ich mag keine Bettlerin sein bei denen, die nicht besser sind als ich!« sagte sie heftig. »Ich will meine eigene Herrin sein und nichts von ihnen! Lieber würde ich mit meinen Vettern, den Tungusenjägern, durch die Steppe streifen, als in den Palästen Petersburgs das Gnadenbrot essen! Aber ich schwöre dir, die Zeit wird kommen, wo die Stolzesten jenes Hofes sich drängen sollen, von Wéra Tungilbi beachtet zu werden!«

»Törichtes Kind – du redest im Traum!«

»Die Zeit ist näher als du denkst! Und nun gute Nacht, Gospodins, und du, Väterchen, schlafe wohl. Wir alle werden morgen der Stärke bedürfen!«

Sie reichte dem Professor mit einem bedeutungsvollen Blick die Hand. Dann nahm sie den Arm des greisen Tojon und geleitete ihn nach der Kammer, die seine Schlafstelle enthielt.

Sinnend schaute der junge Lord ihr nach.


Am andern Morgen wiederholte sich vor dem Blockhaus des Holowa die Szene der Abreise des alten Priesters an dem verhängnisvollen Tage, welcher die fremden Reisenden nach der Station geführt hatte, nur daß diese selbst jetzt die Abreisenden waren.

Der Professor und sein Begleiter, der Jakute Ajun und der Holowa gingen eifrig ab und zu, die Zurüstungen zur Abfahrt zu prüfen, und alle Bewohner der kleinen Kolonie waren auf den Beinen, denn Lord Heresford hatte für die Verurteilten ein reiches Geldgeschenk bei den: alten Franzosen deponiert. Sechs Schlitten, jeder mit einem Renntier bespannt und außerdem mehrere Koppeln von Hunden standen bereit und Ajun bildete den Führer der kleinen Karawane, zu deren Dienst noch sieben andere Eingeborene gemietet waren. Drei der Schlitten enthielten das Gepäck und die Mundvorräte, – und der Holowa hatte schon mehr als einmal gefragt, wozu denn der sechste Schlitten bestimmt sei, da doch nur zwei Reisende vorhanden waren.

Jetzt endlich traten diese mit ihrem Gastfreund aus dem Blockhaus, begleitet von dem Verbannten und dem jungen Kosaken-Unteroffizier, der den greisen Tojon führte; nur die Tochter des Hauses ließ sich noch immer nicht blicken.

Michael Bakunin trug die Doppelflinte des Lord, die dieser ihm zum Geschenk gemacht. Eine gewisse Spannung machte sich auf seinem kräftigen finstern Gesicht bemerklich und wiederholt blickte er zurück nach dem Eingang des Hauses, als erwarte er ein Ereignis, das den andern noch unbekannt war. Auch der Professor schien von einer seltsamen Unruhe und Verlegenheit befangen, machte sich allerlei zu schaffen, um nicht mit dem Holowa zu sprechen, und schien sich keineswegs sehr sicher und behaglich zu fühlen. Nur der Lord bewährte feine ruhige unbefangene Haltung – was auch geschehen sollte, er wußte sicher von nichts.

Zwei Schritt von der Vorhalle des Hauses blieb der Tojon stehen und wandte seine blöden Augen auf die Schlitten und dann im Kreise umher.

»Wo ist Tungilbi, mein Kind?« sagte er dann laut. »Wo ist das weiße Füllen meiner Herde, daß der Tojon der Dulegat noch einmal die welke Hand über seinen stolzen Nacken gleiten läßt, bevor seine Augen auf immer scheiden von ihm?!«

Der Holowa wandte sich bestürzt zu ihm. »Was meinst du, Tojon? Was sollen deine Worte bedeuten?«

»Sie bedeuten,« sagte eine helle und feste Stimme vom Eingang des Hauses her, »daß die Kinder nicht immer bei ihren Vätern bleiben können, daß sie hinaus müssen ins Leben, um selbst zu erfahren, was keine Lehre gibt! daß auch das Weib dem Mann ihrer Wahl folgen muß, selbst über das Weltmeer!«

»Tungilbi – du?«

In der Tür unter der Vorhalle stand die schöne Sibirianka, den mit Pelz gefütterten Baschlik um das schöne Haupt, einen weiten Rock von blauem Fuchs um die Gestalt geschlagen. Ihre Miene war kalt und trotzig, gleich als hätte sie sich mit festem Entschluß gewappnet.

»Wéra Tungilbi – du willst mich verlassen?«

»So steht in deiner Bibel! ich habe es dir vorher gesagt, ich gehe nach Paris, nach deinem Paris, wo allein das Leben schön und wert des Kampfes ist, wie du selbst mir so oft erzählt. Mein anderer Vater Scheminga ist damit einverstanden, und wenn ich erst eine Fürstin bin, die ich werden will in Wahrheit, nicht durch die Gnade meiner Verwandten in Petersburg, lasse ich dich zu mir kommen!«

»Der junge Falke nimmt seinen Flug, wenn ihm das Nest zu enge und die Schwinge ihm gewachsen ist,« murmelte der greise Tojon, dessen Hand das Mädchen gefaßt hatte, gleich als finde sie Schutz bei ihm für den kecken verwegenen Entschluß. »Auch Tungilbi verließ die Jurte Tonga Khans, ihres Vaters, und floh mit dem Geliebten. Wenn die Gräser wieder keimen in der Steppe, wird der Tojon der Dulegat aus Boas Die oberste Gottheit der Tungusen. Garten herabschauen auf sein Kind!«

Der alte Franzose riß verzweifelnd das weiße Haar an seinen Schläfen. Er kannte leider zu gut den unbeugsamen Starrsinn des Mädchens.

»Unglückliches Kind, was willst du tun! Das verdank' ich den Lehren jenes Teufels dort in Menschengestalt, der kein Gefühl hat für das Herz eines Vaters. Aber ich tverde es nicht dulden, nimmermehr! ich bin dein natürlicher Vormund durch das Gesetz! Dein nächster, dein einziger Verwandter!«

Die Züge des Mädchens wurden noch härter. »Das Gesetz?« sagte sie trotzig. »Lasse mich in Liebe scheiden, wie ich es so gern möchte, es ist besser für dich und mich! Das Gesetz gibt dir kein Recht. Der Posieleniec hat kein Recht über seine frei gebornen Kinder!«

Der alte Mann verhüllte das Gesicht. »Und jenen Mann, jenen Wicht, der meine Gastfreundschaft auf das Schändlichste mißbraucht hat, will ein Mädchen wie du zu ihrem Gatten machen?«

»Er ist mein – Verlobter!« sagte sie mit leisem Hohn. »Er wird mich nach Paris bringen!«

Der würdige Professor war sehr rot und verlegen. Er hatte die Brille abgenommen und putzte eifrig die Gläser. »Würdiger hospes,« sagte er kläglich – »es würde mir sehr leid tun, wenn du eine üble Meinung von meiner Dankbarkeit gewinnen solltest! Bei den ewigen Wahrheiten der Wissenschaft schwöre ich dir, daß ich gerade dadurch dir und ihr meine Dankbarkeit zu beweisen geglaubt habe für die Rettung dieses unbedeutenden, nur für die Forschungen über die Wirbeltheorie contra Vogt und Genossen etwa wichtigen Lebens, indem ich nach hartem Kampf mit mir selbst mich entschlossen habe, aus meinem Junggesellenstande zu treten und sie als meine Frau in jenes zivilisierte Leben einzuführen, dem eine Dame von ihrer Schönheit und ihren Fähigkeiten unbedingt gehört. Bedenke überdies, daß der Vorschlag nicht von mir ausgegangen ist, und daß ich ohne meine Einwilligung niemals in Besitz jener kostbaren Reliquie der Tertiär-Periode gekommen wäre, die künftig eine Zierde des Berliner Museums sein und alle Männer der Wissenschaft höchlichst erfreuen wird. Ich werde dafür sorgen, daß dein Name als der des ursprünglichen Finders an den Fuß des Gestelles kommt!«

Der Holowa lohnte ihm dies ehrenvolle Versprechen mit einem Blick der bittersten Verachtung.

»Warum, unglückliches Kind,« sagte er die Hände faltend, »willst du nicht wenigstens warten, bis unser weißes Haupt sich zur Ruhe in die Grube legt? Es wird sicher nicht mehr lange dauern und dann bist du frei! Warum, Kind meines Herzens, willst du uns Greise jetzt verlassen?«

Die Worte der Güte und der Anblick der Tränen bewegten sie mehr, als all sein Zorn vorhin getan. Sie ließ die Hand des Tojon los, beugte sich über die seine und küßte sie. »Zürne mir nicht, Großvater,« sagte sie leise. »Was ich tue, ist längst bedacht. Eben damit ich nicht schutzlos dastehe und den Launen jener Männer oder gar dem Willen des wüsten Smotrytiel Inspektor. verfalle, muß ich gehen, jetzt, wo mich keiner noch halten darf, da du lebst.«

Er sah sie bekümmert an, obschon er die Wahrheit ihrer Worte fühlte. Wenn er plötzlich starb, ehe sie versorgt war, blieb sie schutzlos jeder Nachstellung preisgegeben.

»Aber – so bald – so plötzlich! ohne jede Vorbereitung! Liebst du denn jenen Mann, der kaum ein Mann zu nennen ist?«

Sie lächelte verächtlich.

»Er wird mein Sklave sein, so lange ich will. Fürchte nichts für mich, ich weiß jetzt, daß ich reich bin, reicher wahrscheinlich, als ich selbst ahne. Das rasche Scheiden mußte sein, oder ich wäre nie dazu gekommen, und die Gelegenheit kehrt vielleicht in Jahren nicht wieder. Und nun leb' wohl, Großvater, und mach' uns beide nicht weich. Wenn ich mein Ziel erreicht, folgst du mir nach deiner Heimat!«

Der alte Mann legte die Hand auf ihr Haupt und richtete seine Augen gen Himmel.

»So sei es denn, zieh in Frieden und sei glücklich nach deiner Wahl. Aber unser Wiedersehen ist hienieden nicht mehr. Meine Heimat ist der Boden, wo mein Weib und mein Kind, deine Mutter ruhen, und neben ihr, verlassen von allem, was ich liebte, möge ich bald in eisiger Erde die ewige Ruhe finden! Noch einen Augenblick harre, damit ich dir die letzte Gabe reiche aus dieser Welt!«

Das Haupt gesenkt, ging er zurück in die Hütte, während die Sibirinaka sich an den Hals des greisen Tojon warf.

»Leb' wohl Ömikan und gedenke deines Kindes!«

»Ich werde neue blanke Steine für dich suchen in den Bergen von Nertschinsk, da deine Augen sie lieben,« murmelte der Greis kindisch. »Und der Geist der Schamanen sagt mir, du wirst eine große Khanum sein, und Tausende werden zu deinen Füßen liegen!«

»So sei es!«

Mit stolz erhobenem Kopf, als trage sie bereits ein Diadem, winkte sie dem Professor und ging zu ihrem Schlitten.

Noch einmal wurde sie ausgehalten auf dem kurzen Wege. Mutin, der Kosaken-Unteroffizier, warf sich vor ihr nieder und faßte den Saum ihres Pelzrocks.

»O Gospodina, Miitterchen, geh' nicht fort von hier! Wenn du auch eine Dame bist und ich nur ein Kosak! Niemand kann dich lieben, wie Mutin, der sein Leben läßt für dich!«

Sie beugte sich nieder zu ihm. »Es muß sein, armer Bursche! – Aber was hindert dich, mir zu folgen? Es könnte leicht geschehen, daß ich der ergebenen Herzen bedürfte!«

Als sie sich aufrichtete, begegnete sie dem spöttischen Blick des Nihilisten, der die Arme gekreuzt, wortlos der ganzen Szene zugeschaut.

»Michael Iwanowitsch, dir sage ich nicht Lebewohl!«

»Es wäre auch unnütz, schöne Dame. Abenteurer treffen einander immer wieder! Ich weiß, du wirst meinen Lehren Ehre machen!«

»Möchtest du's an dir selbst erproben! – Nun, mein Freund!« Die letzten Worte galten dem Professor, der sie mit sehr ungelenker Galanterie in den niedern Schlitten hob.

In dem Allgenblick eilte der alte Holowa aus dem Hause, das fortan öde und einsam sein sollte für ihn. »Noch nicht, Kind! noch nicht – einen Augenblick noch, daß ich zum letztenmal dein Antlitz sehe!« Er klammerte sich mit beiden Händen an den Schlitten, als wolle er ihn mit Gewalt festhalten. »Nimm diesen Ring – es ist das einzige, was ich aus Frankreich gerettet. Meine Mutter trug ihn – ein Erbe ihrer Famllie! Und hier – hier – ich brauche nichts mehr von allem, was ich für dich gespart!«

Er warf ihr zwei schwere Beutel in den Schoß.

»Ajun!«

Der Jakute setzte sich auf das schmale Brett im Vorderteil des niedern Schlittens und nahm die Leine des Renntiers in die Hand.

Die Sibirianka zog den Baschlik über ihr tief gerötetes Gesicht!

» Paszol

Dahin trabte das Tier mit dem leichten Gefährt – der Schlitten des kleinen Gelehrten folgte eilig.

Der Holowa lag auf feinen Knien im Schnee – seine tränenvollen alten Augen sahen nicht einmal, daß die Beutel mit seinem Gold wieder vor ihm lagen.

Eine Hand legte sich freundlich auf seine Schulter. »Armer Mann!« sagte die ernste Stimme des jungen Briten – »ich begreife Ihren Schmerz! Wenn es Ihnen einigen Trost gewähren kann, so nehmen Sie das Wort Frederik Walpoles, daß er die Lady schützen wird, wie ein Bruder die Schwester!«

Ein dreifaches Hurra der Warnaks und Ansiedler – die nur zur Hälfte begriffen, was hier geschehen – folgte den dahinsausenden Schlitten!


Es war drei Tage später. Die beiden Greise hielten sich abgeschlossen in der Wohnung des Holowa – eine trübe Stimmung schien sich der ganzen Station bemächtigt zu haben, denn jedem fehlte das junge Mädchen, wie hochfahrend und eigenwillig auch ihr Wesen gewesen war.

Das kurze Tageslicht war längst verschwunden, aber dennoch der kleinste Gegenstand auf weite Entfernung zu sehen, denn am nördlichen Himmel weit hinauf bis zum Zenith flammten und glühten die geheimnisvollen Strahlen eines prächtigen Nordlichts, jenes wahren Tages der arktischen Winter.

Über die im gelbroten Licht schimmernde Schneefläche glitten raschen Laufs zwei Männer auf ihren Eisschulien.

Es waren der Verbannte und der Kosak.

Nach einigen Minuten blieb der zweite stehen, um von dem raschen Lauf, auf den langen Stock gelehnt, mit dem man ihn regelt und unterstützt, auszuruhen. Obschon ein Eingeborner Sibiriens, vermochte er doch nicht, der Riesenkraft des Verbannten es gleich zu tun.

Der große Revolutionär hielt gleichfalls inne, als er das Stehenbleiben seines Gefährten bemerkte, und unterdrückte ein Lächeln.

»Wenn du dich ausgeruht hast, Freund Mutin,« sagte er, »wollen wir weiter. Nach der Beschreibung des Jakuten können wir keine drei Werst mehr von der Stelle sein, wo der Schlitten im Eise steckt!«

»Aber ist es denn auch gewiß?«

»Davon wollen wir uns eben überzeugen. Deshalb schlug ich dir vor, niemand, selbst dem Holowa nicht, etwas davon zu sagen, und schickte den Jakutenjäger, der die Botschaft brachte, mit einem Geschenk alsbald wieder seinem Stamme nach.«

»Ich begreife dennoch dein Tun nicht, Väterchen! Unsere Pflicht wäre es gewesen, einige der Warnaks und ein Gespann Hunde mitzunehmen.«

»Pah! – das wird sich finden! Jetzt vorwärts, Mann, und zeige, daß der Liebesjammer nicht die Sehnen deiner Knie gelähmt hat!«

Und wieder begannen sie ihren raschen Lauf in westlicher Richtung, bis sie an dem Rande eines kleinen, jetzt aber unter Schnee und Eis erstarrten Flüßchens Halt machten, dessen Lauf sonst nach Nordwesten zur Lena sich richtete.

Hier blieb der Verbannte stehen, um sich zu orientieren.

»Hier in der Nähe muß es sein, wenn das Vieh nicht gelogen hat! – Dort ist der Hügel – und hier die Zwergbirke!«

Sie gingen suchend eine kurze Strecke an dem Flußbett entlang. Plötzlich tat der Verbannte einen Sprung und eilte dann rasch vorwärts.

»Mutin! hierher!«

Aus dem Schneelager im Grunde ragte der tote erfrorene Körper eines Hundes hervor – dann drei, vier andere dunkle Punkte – ein Menschenarm in Pelz gehüllt – eine Uniformmütze lag auf dem Schnee!

Rasch waren sie hinunter und schaufelten mit den Kolben ihrer Gewehre und den Händen die Schneedecke zur Seite, aus der nach und nach die Körper von noch fünf andern Hunden – ein umgestürzter Schlitten – zwei Leichen zum Vorschein kamen.

Auf die eine – die eines Mannes von etwa vierzig Jahren in Uniformrock unter dem schweren Pelz – schoß der Verurteilte wie ein Habicht auf seine Beute und riß die schwere Ledertasche, die der Tote um den Hals gehangen und um den Leib geschnallt trug, los.

»Viktoria! es ist der Kurier!«

Der Kosak sah ihn erstaunt an, noch begriff er nicht. »Der unglückliche Mann!« sagte er mitleidig. »Nun erklärt sich das Ausbleiben der Winterpost! – Sie müssen bei der letzten Purgy Schneegestöber. in die Schlucht und elend umgekommen sein. Die Heiligen mögen sich ihrer Seelen erbarmen!«

Er schlug andächtig drei Kreuze, unterbrach sich aber, um erschrocken den Arm seines Gefährten zu fassen. »Bei der heiligen Mutter von Kasan – was tust du da, Väterchen? es ist die Post des Kaisers und wir werden in schwere Strafe kommen!«

»Skotina! Dummkopf! wenn sie uns fangen, – aber dafür laß mich sorgen!« Er hatte die Tasche geöffnet und wühlte in den Papieren. »Hier ist der Paß – Kapitän Nikolai Moganoff – was Teufel, ein Flügel-Adjutant? – und hier Rufin Kouleff, Kosak der fünften Sotnie, ich sehe den Kerl nicht, denn das Aas hier gehört dem Jamszyck Postillon, Fuhrmann.. Aber gleichviel – er kann irgendwo unterwegs zurückgeblieben sein und uns paßt es in den Kram. Depeschen nach Ochotzk und Udskoi, es kann nicht besser kommen! Hussa, Mutin – in acht Monaten sind wir in London oder Paris?«

»Paris?«

» Durak! Dummkopf. begreifst du nicht? Die Stadt, wo du schon einmal warst und deine geliebte Herrin hingeht.«

»Wéra Tungilbi?«

» Tsliort was wazni! freilich Wéra Tungilbi, die mich den Teufel schert, aber dich um so mehr!« Er wühlte weiter in den Briefen. »Zum Henker – an Monsieur Jeanrenaud, Maire – ein fürstliches Siegel – das der Wolchonski!« Er brach den Brief ohne weiteres aus und begann ihn eifrig zu lesen. » Diable!« murmelte er – »wenn das die Dirne gewußt hätte! es ist ein wichtiges Dokument, sie in Händen zu behalten!«

»Aber Gospodins …«

»Narr! begreifst du denn noch nicht, daß wir die Entdeckung dieses Kadavers uns zunutze machen müssen, um Sibirien verlassen zu können – du um deiner Liebschaft nachzulaufen, ohne die du doch nicht leben kannst, denn du bist in den drei Tagen, die sie fort ist, so erbärmlich heruntergekommen, daß ein Jakutenköter, der seit einem Monat nur Schnee gefressen, ein Masttier ist gegen dich! – ich – nun, weil ich nicht länger Lust habe, hier für Seine Majestät Zobel zu fangen und es Zeit wird, daß ich wieder meinen Platz in der europäischen Bewegung einnehme – Steh' nicht da Mann und gaffe mich an, wie ein dummes Hermelin das Feuer! Sprich, willst du deine Herrin Wiedersehen oder nicht? – ich hörte ihre Worte!«

»Bei meinem Schutzpatron, ich möchte wohl – besonders …«

»Nun?«

»Besonders wenn sie unter den Franzmännern und den andern Ketzern in Gefahr sein sollte. – Aber der Zar – und da sie heiraten wird – –«

»Wéra Tungilbi denkt so wenig daran, den alten Knochensucher zu heiraten, wie ich, Kaiser von China zu werden, und was den Zar betrifft, so hat er der Kosaken zur Genüge, das Mädchen aber in dem fremden Lande keinen einzigen ergebenen Freund. – Jedenfalls, Freund Mutin, bin ich entschlossen, die günstige Gelegenheit zu benutzen, und nicht willens, einen Verräter hier zurückzulassen. Entschließe dich also kurz und gut, ob wir gemeinsame Sache machen wollen oder nicht?«

Er spielte bedeutsam mit dem Schloß seiner Flinte bei den Worten.

»Und du schwörst mit, Gospodin, daß ich nach der großen Stadt Paris konnnen und die Herrin wieder sehen soll?«

»Wir wollen eher dort sein, als sie, wenn du verständig bist. Also – einverstanden?«

»Ich schwöre es!« stöhnte der Kosak.

»Gut! – Jedenfalls, Freund Mutin, war es das Klügste, was du tun konntest, denn eine Kugel war dir sonst sicher genug. Jetzt laß uns den toten Burschen da entkleiden und, die beiden dann im Schnee so tief verscharren, daß kein streifender Jakute sie vor dem Frühjahr wieder zu Gesicht bekommt. – Hast du Gelegenheit, von einer der Horden, die in der Nachbarschaft der Station ihre Winterjurten bezogen, einen Zug tüchtiger Hunde einzuhandeln?«

»Das wird ein leichtes Ding sein.«

»Gut! so tue es noch heute, und bringe sie morgen mittag hierher. Hier ist Geld! Sorge auch für eine tüchtige Ration getrockneter Fische für die Hunde und Brot für uns, denn wir müssen mindestens fünf Deischtsas Die Entfernung der Stationen voneinander. zurücklegen und die Stationshäuser umgehen, ehe wir von diesem Paß Gebrauch machen können.«

»So folgen wir ihnen nach Ochotzk?«

»Nein – wir gehen nach Udskoi oder noch weiter südlich und der Kompaß muß zunächst unser Führer sein. An der Küste werden wir leicht ein Schiff finden zur Überfahrt nach Japan, vielleicht selbst ein englisches oder französisches Fahrzeug von den Flotten, die im Krieg liegen mit den Langzöpfen. Wenn das Glück gut ist, kannst du deine Ostern in Notre-Dame von Paris halten und deinem Hanswurst von Schutzheiligen ein Licht in der Gesandtschaftskapelle widmen dafür, daß ich dich nicht in Sibirien erfrieren ließ!«

Der Kosak schlug ein Kreuz bei der frevelnden Rede.


Im Februar 1861 erreichte der russische Flüchtling, nachdenl er mit seinem Gefährten allen Gefahren glücklich entgangen war und die russischen Behörden getäuscht hatte, an Bord eines amerikanischen Schiffes San Francisko!



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