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Vive le Roi!

Wo die Schweiz an Frankreich stößt und die mächtigen Alpen, durchbrochen von einer Kette von Seen, in den Jura übergehen, liegt im Westen begrenzt von dem Departement des Doubs und des Jura ein kleines Ländchen, Jahrhunderte lang still und friedlich in seiner Geschichte, ohne Ansprüche, glücklich in seiner Vergessenheit und doch bekannt in der ganzen civilisierten Welt durch zwei Dinge, durch zwei nach allen Himmelsgegenden, in alle Länder Europas, nach Amerika und Indien gehenden Exporte: seine Uhren und seine Bonnen.

Es heißt Neuenburg oder Neufchâtel!

Lange Jahre hatten die Berliner Hausmädchen eine patriotische Schwärmerei für einen Nöfchandeller, gleichviel ob in der echten Neufchâteller Wolle gefärbt, oder ein diesseitiges Landeskind, das sich in das Garde-Schützenbataillon, die Neufchâteller, aufnehmen ließ.

Erst das Jahr 1848 hat auch hierin eine Änderung gebracht – die Nöfchandeller sind aus Berlin verschwunden.

Aber kehren wir zu dem Ländchen selbst zurück, das ihnen den Namen gegeben.

Mit einem Flächenraum von 14 Quadratmeilen und einer Bevölkerung von etwa 71 000 Seelen, also etwa der einer Stadt dritten Ranges in Preußen, erstreckt sich das Fürstentum Neufchâtel nebst der Grafschaft Valengin an der Westseite der Schweizer Kantone.

Milde, liberale, auf einem Selfgouvernement basierende Regierungsform herrschte von jeher in dem glücklichen Ländchen und hat den Fleiß und die Industrie seiner Bewohner unterstützt. Nach vielfachem Wechsel der Besitzer gehörte Neufchâtel der alten französischen Familie Longueville. Als diese mit dem Tode der Herzogin von Nemours, Marie von Orléans, 1707 erlosch, wurde der König von Preußen, als Erbe des Hauses Oranien, dessen alte Rechte auf das Fürstentum anerkannt waren, von den Ständen desselben zur Herrschaft berufen und die darauf erfolgte Besitzergreifung in dem Utrechter Frieden bestätigt.

Seitdem gehörte das Fürstentum der preußischen Krone.

Nach den traurigen Niederlagen von 1807 zwang Napoleon Friedrich Wilhelm III. das Fürstentum an Frankreich abzutreten und belehnte mit ihm den Marschall Berthier als souveränen Fürsten. Der Stern Napoleons erblich auf den Schlachtfeldern von Leipzig und Belle-Alliance, der improvisierte Fürst verschwand, und das Ländchen wurde, vergrößert durch einige Distrikte, im Pariser Frieden von 1814 seinem rechtmäßigen Herrn zurückgegeben, der ihm von London aus unterm 18. Juni 1814 eine der Genfer ähnliche Charte constitutionelle gab und die Rechte eines für sich bestehenden, von dem preußischen Staatsinteresse ganz getrennten Staates erneuerte. Hierauf wurde es mit Zustimmung seines Landesherrn und unbeschadet aller Rechte desselben am 12. September 1814 als der 22. Kanton in das Bündnis der Eidgenossenschaft aufgenommen, in der es der einzige monarchische Kanton war.

Bei den demokratischen Bewegungen in der Schweiz seit 1831 gab es auch in Neufchâtel Unruhen, die indes bald gedämpft wurden. Infolge davon ward im Wege einer Verordnung von 1831 die Verfassung in mehreren Punkten modifiziert, auch erteilte der Landesherr der Neuenburger Regierung auf ihren Wunsch Vollmacht, mit der Eidgenossenschaft wegen Austritts des Kantons aus dem Bunde zu unterhandeln; es wurde dieser Vorschlag von der Tagsatzung, die damals schon ihre revolutionären Gelüste bekundete, verworfen.

In seinen innern Verhältnissen waren Besteuerung und Gesetzgebung zwischen dem Fürsten und den Landständen geteilt. Von den letztern ernannte der König-Fürst zehn Mitglieder.

Das ganze Fürstentum zahlte eine unbedeutende Civilliste von 70 000 Franks und stellte ein Bataillon von 400 Mann gegen Handgeld geworbener Landeskinder zur Garde nach Berlin. Die Söhne seines alten Adels dienten als Offiziere in diesem Korps.

Noch lange erinnerten sich die meisten Familien in Neufchâtel – und fast sämtliche wohlhabendere und alte Familien waren im Gegensatz zu den zahlreichen Eingewanderten und der Arbeiterbevölkerung der Berge, den Montagnards, eifrige Royalisten! – jener guten, glücklichen und noch nicht von republikanischer Tyrannei bedrückten Zeiten!

Die gefährliche Nachbarschaft der Schweiz und Frankreichs und die starke Einwanderung hatten auch in dem stillen und friedlichen Ländchen eine zahlreiche republikanische Partei geschaffen, die mit der bestehenden Ordnung nicht zufrieden war und auf Kosten des allgemeinen Wohles ihre ehrgeizigen persönlichen oder fanatischen Zwecke verfolgte. Bald gehörten ihr, durch die revolutionären Agenten bearbeitet, die Masse der Bergbewohner und zum Teil die untern Volksklassen. Die Reibungen vermehrten sich durch die Ereignisse im Jahre 1847 und im Frühjahr 1848; eine feste Hand, sie im Zaume zu halten, fehlte, und durch eine von der Schweiz offenkundig unterstützte bewaffnete Demonstration der fast durchgängig nur aus eingewanderten Schweizern bestehenden republikanischen und eidgenössischen Partei ward am 1. März 1848 der bisherige Staatsrat zur Abdankung genötigt, worauf eine provisorische Regierung die Abschaffung der Monarchie und die Einführung der republikanischen Verfassung erklärte. Ein sogenannter Verfassungsrat entwarf hierauf eine von der Eidgenossenschaft ohne Fug und Recht gewährleistete Konstitution.

Statt jeden Schweizer, der sich in preußischen Staaten blicken ließ, dafür ohne weiteres beim Kragen zu nehmen und bis zur vollen Genugthuung einzustecken, war der König von Preußen, durch die Stürme von 48 ermüdet, friedliebend und schwach genug, sich auf einen wiederholten Protest zu beschränken, namentlich 1850 bei der republikanischen Veräußerung der fürstlichen Domanial- und Kirchengüter, und deshalb blieben auch die mehrfachen Versuche der Neuenburger Royalisten erfolglos. Bei der Besetzung Badens und der Niederschlagung der Revolution durch die preußischen Truppen kam allerdings ein Einmarsch in die Schweiz und eine Besetzung Neuenburgs oder die Haftnahme Basels dafür zur Sprache; aber damals war es Österreich, das, kaum selbst von der Revolution durch die russische Hilfe erstanden, mit Einrücken von Hilfstruppen drohte, wenn die Schweizer Grenze verletzt würde.

So geschah es, daß Preußen der einzige Staat war, der durch die freche Willkür einer kleinen, nur durch die gegenseitige Eifersucht aller anderen Staaten getragenen Republik aus den Revolutionsstürmen von 1848 einen Verlust an königlichem Gebiet erlitt.

Gleichsam zum Hohn aller legitimen Prinzipien ein Akt, der sich später vielfach gerächt hat und noch rächt! – erkannte ein am 24. Mai 1852 bei der Londoner Konferenz von sämtlichen Großmächten unterzeichnetes Protokoll auf Grund der Verträge von 1815 das Recht des Königs auf Neuenburg, so wie dessen Recht auf Wiederherstellung seiner Autorität an, so daß diese Angelegenheit ihren drohenden Charakter für die Schweiz behielt.

Darüber war der orientalische Krieg ausgebrochen, die englisch- und französisch-schweizerischen Legionen waren geworben und soeben wieder entlassen worden, Österreich fand sich beschämt durch die feste Neutralität Preußens, die seinen egoistischen schon von Fürst Schwarzenberg im voraus verkündeten Undank gegen Rußland desto schärfer hervorhob, und die Kabinette von Paris und London grollten gegen Neapel und Preußen wegen der für Rußland bewährten Freundschaft.

Man konnte Neapel züchtigen und vernichten durch das perfideste, jedes Völkerrecht mit Füßen tretende Verfahren; denn Neapel war den beiden Großmächten gegenüber ein schutzloses, seit Jahrhunderten allen diplomatischen Intriguen preisgegebenes Land, aber man konnte nicht wagen, der wohlbewaffneten und gerüsteten deutschen Großmacht einen unsinnigen Krieg zu erklären.

Man verwundete daher ihren Stolz und ihr Recht an der ungepanzerten Stelle, an Neufchâtel.

Es giebt eine Nemesis in der Politik. Der preußische Verlust Neuenburgs kostete Österreich die Lombardei!

Der Septembertag war klar und angenehm; der Beginn des Herbstes – es war Montag den 26. des Jahres 1856 – ist stets eine der angenehmsten Zeiten in den meisten Schweizer Gegenden. Über den See vom Berner Ufer her kam der »Schwan« gedampft; das Vorderdeck war gefüllt mit Passagieren, Landleuten und gewöhnlichen Reisenden; auf dem ersten Platz befand sich eine Gruppe vornehmerer Herrschaften. Ein älterer Mann von feinem aristokratischen Wesen unterhielt sich am Steuerruder des Schiffes mit einem Herrn in geistlicher Kleidung.

An der Brüstung des Verdecks lehnten zwei jüngere Männer, beide in Civil, aber von jener festen, sicheren Haltung, die bewies, daß sie wenigstens Militärs gewesen waren. Sie betrachteten das Ufer mit der freundlich sich entlang dehnenden Stadt, über der sich das alte stattliche Schloß aus dem Grün der Ulmen und Nußbäume erhob, während der Höhenzug der Weinberge den Ausblick nach dieser Seite schloß.

So weit das Auge reichte, säumten freundliche kleine Ortschaften und einzelne Villen und Häuser das Ufer des Sees und zogen sich an den Bergen hinauf.

Der eine der jungen Männer schien hier heimisch, denn er machte den andern auf einzelne Punkte aufmerksam.

»Sehen Sie, dort rechts, wo das Ufer sich wieder tiefer hinein in den See streckt, ehe er durch La Thiele seine Verbindung mit dem Bienner See bewerkstelligt, liegt Saint Blaise und Marie, weiter hierher zu an der Höhe der Straße sehen Sie Hauterive, in derselben Richtung über den Bergen liegt Chaumont und gerade über dem Schloßturme hinaus, im jenseitigen Thal Valengin mit seinem Schloß, an dessen schöne Aussicht Se. Majestät der König sich immer mit so vielem Vergnügen erinnert. In derselben Richtung über den Bergen ist La Chaux de Fonds, wo wir uns morgen schlagen werden.«

»Sprechen Sie leise, Meuron!«

»O, die meisten dieser Leute verstehen kein Deutsch, und es ist niemand in der Nähe, als jener italienische Priester, der sein Brevier liest und den unser würdiger Guillebert immer so ansieht, als sei er einer Natter zu nahe gekommen. Man ist hier sehr streng in Sachen des Glaubens, Freund Röbel; die Katholiken und Protestanten in dieser guten höchst freien und höchst vorurteilsvollen Schweiz stehen sich so ziemlich wie Hund und Katze, Sie müssen das selbst schon bemerkt haben.«

Der andere nickte. »In Freiburg und Luzern fand ich allerdings ein sehr katholisches Leben!«

»Es ist nichts gegen den puritanischen Eifer unserer alten Calvinisten. Sehen Sie dort die Häuserreihe, durch welche die Chaussee nach Colombier geht, zuweilen können Sie die Straße zwischen den Weinbergen erblicken, dort liegt Serrière, nach dem Sie mich soeben fragten. Haben Sie Bekannte dort?«

»Das nicht; ich erinnerte mich nur, daß mir zufällig in Berlin der Name genannt worden.«

»Es ist auch nur ein sehr einfacher Ort, einige Weinbauern und kleine Gewerbtreibende. Darüber hinaus ist Peseux, weiter hinunter nach Colombier zu, am Ufer noch Auvernier, die Übungen dieser Bürgertruppen haben in jener Gegend stattgefunden. Sie sind heute morgen entlassen worden, und es wird daher um so weniger auffallen, wenn unsere Freunde darunter heute abend mit den wackern Brüdern Bovet bewaffnet durch die Stadt ziehen.«

»Nochmals – sprechen Sie vorsichtig! Ich traue dem Gesicht dieses Priesters nicht.«

»Sehen Sie nicht, daß es wie Marmor unbeweglich ist? Kein Mensch denkt an das, was sich vorbereitet, und das ist das einzige, was mich besorgt macht. Pourtalès hat meiner Ansicht nach viel zu wenig Personen in das Vertrauen ziehen lassen; die ganze Stadt ist so ziemlich königlich gesinnt, aber bevor unsere Royalisten sich in Bewegung setzen und einen Entschluß fassen, brauchen sie Zeit. Ha, wenn ich dieses schurkische, übermütige, weiße Kreuz, das dort auf der Landungsbrücke flaggt, erst herunterreißen kann, und durch unsere alten Landesfarben und die preußische Fahne ersetzt sehe, wird mir wohl sein!«

»Wenn ich nicht irre, sind die Neuenburger Farben dieselben wie die italienischen, ungarischen und mexikanischen?«

»Bewahre! wir haben das Weiß in der Mitte: Grün, Weiß und Rot. Aber, um in meinem topographischen Unterricht fortzufahren, der Vorsprung des Ufers von Boudri her schließt uns zwar jetzt die weitere Aussicht, aber die ganze Strecke bis nach Yverdon hin, wo sich die eidgenössischen Truppen sammeln sollen, ist von kleinen Ortschaften besetzt.«

»Und Locle?«

»Es liegt tief in den Bergen, nahe der französischen Grenze und dem Doubs, etwas südlich von Chauxdefonds, dem nichtswürdigen republikanischen Nest. Im vorigen Jahrhundert wohnten die besten Royalisten dort, aber der Wiener Kongreß, der in seiner Weisheit uns als zweiundzwanzigsten Kanton der Schweiz angeschlossen, hat uns all das Gesindel von dort herüber geführt, so daß die Bevölkerung jetzt zu drei Vierteln aus Fremden besteht. Auf der Höhe der Berge, gerade diesseits Locle liegt unser La Sagne und dort links hinüber Chaux du Milieu und Brévine, wo alle Herzen bis zum geringsten Arbeiter gut königlich schlagen und sich wie ein Mann erheben werden, wenn es heißt: Vive le Roi!«

Die patriotische Begeisterung hatte den Redner zu so lauter Äußerung hingerissen, daß selbst der mit dem Geistlichen im Gespräch befindliche ältere Herr mißbilligend herüber sah und mit einer leichten Kopfbewegung Vorsicht winkte.

Otto von Röbel, der mit den drei Männern aus dem Berner Land kam, beobachtete scharf den Priester, auf den er vorhin schon den Freund aufmerksam gemacht hatte.

Der Geistliche, der die bekannte Ordenstracht trug, die lange schwarze, enganschließende Soutane, schwarze Strümpfe und Schuhe und den an beiden Seiten aufgeschlagenen großen Hut, war ein alter Mann mit grau meliertem Haar und scharfen italienischen Zügen, die aber etwas Ruhiges, Unbewegliches hatten. Eine große blaue Brille und der tief in die Stirn gedrückte Hut verdeckten aber fast gänzlich den obern Teil des Gesichts.

So viel der junge Mann bemerken konnte, hatte der Geistliche auch von dem Ausruf seines Freundes keinerlei Notiz genommen, und blieb unbeweglich über sein Brevier gebeugt; nicht einmal das wirklich schöne Landschaftsbild zog seine Augen von dem Buch ab.

Erst als der Dampfer bereits ziemlich nahe an der Landungsbrücke war, erhob er sich und trat an die Brüstung, so daß man ihn vom Deck des Schiffes aus nicht beobachten konnte.

Er zog ein rotes Taschentuch aus der Tasche der Soutane, hob den Hut und wischte sich dreimal über die Stirn.

Unter der Menge am Landungsplatz entstand eine leichte Bewegung, ein Mann drängte sich nach vorn.

Er war einfach in eine Tiroler Joppe mit stehendem grünen Kragen gekleidet und hatte gleichfalls einen grünen Tiroler Hut mit Gamsbart und Spielhahnfedern auf dem Kopf. Über seiner Achsel hing eine Jagdflinte, und er hatte ganz das Aussehen eines der Jäger oder Schützen aus den wohlhabenden Ständen, wie sie sehr häufig in den Berggegenden zu sehen sind.

Der Mann konnte höchstens ein oder zwei Jahre älter sein als Otto von Röbel; sein Haar war schwarz und kraus, seine Gesichtsfarbe sehr dunkel, wie von Wetter und Sonne gebräunt, das Gesicht selbst aber kühn, offen und männlich schön. Eine weiße Narbe zog sich über der linken Braue quer über die Stirn, ein dunkler Knebel- und Kinnbart umgab den Mund. Jede seiner Bewegungen hatte etwas Pantherartiges, Elastisches, ohne dadurch an Kraft und Sicherheit zu verlieren. Er hatte nicht die hohe kräftige Gestalt des jungen märkischen Edelmanns, sondern war kleiner gebaut als dieser; aber ein britischer Liebhaber von Ringkämpfen würde auf seine Gewandtheit und Energie dasselbe gewettet haben.

In dem Augenblick, als das Schiff anlegte, wechselten der fremde Jäger und der italienische Geistliche einen fragenden und zugleich verständigenden Blick.

Der Priester steckte sein Taschentuch ein.

Die kleine Scene war, wie bereits bemerkt, der Stellung des Geistlichen wegen von niemand bemerkt worden. Die Aufmerksamkeit des jungen Preußen war durch seinen Begleiter in Anspruch genommen.

»Wenn Sie darauf bestehen, lieber Röbel – und ich glaube selbst, daß es sicherer und weniger Aufmerksamkeit erregend ist – daß Sie nicht im Hause des Grafen, sondern im Gasthof logieren wollen, so nehmen Sie das Hôtel du Commerce; die Räume sind etwas beschränkt, aber es liegt in der Nähe des Schlosses, am Quai; dort können Sie es sehen, und der Wirt gehört zu uns. In zwei Stunden spätestens hole ich Sie zur letzten Beratung ab, setzen Sie unterdes Ihre Waffen in Stand.«

Die Gepäckträger drängten sich in diesem Augenblick auf das Schiff und die Passagiere gingen ans Land. Der ältere Herr mit dem aristokratisch stolzen Gesicht und der Geistliche wurden von mehreren Personen, darunter einer stattlichen Dame in mittleren Jahren erwartet. Diener in eleganter Livree bemächtigten sich des Gepäcks.

»Haben Sie acht auf die Reisetasche dort, Bernard,« sagte der Herr zu einem alten Diener, »bringen Sie sie selbst in mein Arbeitszimmer. Leben Sie wohl, mein Herr, auf Wiedersehen!« sagte er, Otto von Röbel die Hand reichend, auch der Prediger nickte ihm bedeutsam zu.

Der italienische Priester hielt sich zurück und nahm die Gelegenheit wahr, einen der Lastträger anzureden.

»Wer ist der alte Herr dort, mein Freund, der eben, am Arm der in Schwarz gekleideten Dame ans Ufer geht?« fragte er im guten Französisch.

»Ei, den kennen Sie nicht? das ist der Herr Graf!«

»Welcher Graf?«

»Nun der Oberst Graf Friedrich von Pourtalès. Teufel, ich wünschte, ich hätte den hundertsten Teil von seinem Gelde. Er ist reicher als selbst die Bourgeoisie, und das will viel sagen. Er war gewiß auf seinem Schloß Metlen bei Bern. Haben Sie Sachen zu tragen, Herr?«

»Ich danke, mein Freund, ich habe nur wenig Geschäfte hier und werde noch vor Abend wieder abreisen!«

Der Arbeiter ging weiter, und der Priester näherte sich der Landungsbrücke.

In diesem Augenblick ging der junge Preuße über diese, eine leichte Reisetasche in der Hand; sein Freund war bereits mit dem Obersten und der Dame voraus.

Plötzlich blieb er erstaunt stehen, sein Auge war auf den Jäger gefallen.

»Mein Gott! seh' ich recht? wenn mich nicht alles täuscht, Herr Leutnant Laforgne?« sagte er erstaunt.

Das Gesicht des Angeredeten färbte sich mit unwilliger Röte, hier von Fremden erkannt zu werden. Er maß den Frager mit trotzigem und finsterm Blick.

»Ich wüßte nicht, daß ich die Ehre habe, Sie zu kennen, mein Herr,« sagte er.

Der Preuße lachte. »Das glaube ich wohl, wir trafen nur einmal zusammen, und ich war damals fast noch ein Knabe, während Sie, obschon wenig älter, doch schon Offizier waren und auf den Schlachtfeldern Montevideos gekämpft hatten. Es war in Charlottenburg, dem Schloßpark des Königs. Aber Sie werden sich meines Bruders besser erinnern als meiner Person; ich bin der jüngere Bruder Friedrichs von Röbel, Offiziers in der preußischen Armee.«

»Ah, Monsieur, ich erinnere mich meiner Mission und der Bekanntschaft in Berlin. Sie müssen entschuldigen, aber sieben Jahre verändern viel. Ich hoffe, Ihr Herr Bruder und Ihre Familie befinden sich wohl?«

Trotz aller Höflichkeit war der Ton so kalt und gezwungen, daß der junge Edelmann sich brüskiert fand und sich sofort zurückzog.

»Meine letzten Nachrichten aus der Heimat lauten erfreulich, mein Herr. Ich will Sie nicht länger aufhalten und empfehle mich Ihnen.«

»Adieu, Monsieur!«

Mit einer kalten Verbeugung trennten sich die beiden so unerwartet hier zusammen getroffenen jungen Fanatiker der Revolution und des Royalismus. –

Der italienische Priester hatte in der Entfernung von einigen Schritten der Scene beigewohnt. Als der preußische Edelmann sich entfernte und einem Knaben seine Reisetasche zum Tragen nach dem Hotel übergeben hatte, trat er zu dem Jäger.

»Kapitän Laforgne, der Vertraute des Generals, wenn ich mich recht erinnere?« fragte er italienisch.

»So ist's, Signor, ich habe Sie erwartet und Ihr Zeichen erkannt.«

»Sie haben einen großen Fehler begangen, mein Herr, indem Sie jene Bekanntschaft zurückgewiesen haben. Die Person ist von Wichtigkeit. Folgen Sie ihr in der Entfernung, und sehen Sie, wo sie bleibt. In einer halben Stunde erwarte ich Sie auf dem Le Grêt!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Priester rechts nach dem Faubourg und ging mit langsamen Schritten die Straße entlang, die am Seeufer hinführt.

Le Grêt ist eine erhöhte Terrasse dicht am Ufer des Sees ziemlich am Ende der größtenteils von geschmackvollen Landhäusern gebildeten Vorstadt. Von ihrer Höhe unter dem Schatten der Bäume hat man eine überaus freundliche Aussicht auf die rechts sich hinziehende Stadt, auf die weite spiegelnde Fläche des Sees und darüber hinaus auf die Schneegipfel und Gletscher der Berner Alpen.

Der Platz, obschon die schönste Promenade der Umgebung, ist zu dieser Zeit gewöhnlich einsam und leer. Der Schweizer zeigt keine besondere Inklination für die müßige Bewunderung der Naturschönheiten.

Auf der mittleren Bank, von der er das ganze Panorama und jede Annäherung fremder Personen von rechts oder links sehen konnte, saß eine halbe Stunde später der italienische Priester in tiefes Nachsinnen verloren.

Von der Stadt her kam mit hastigem ungeduldigem Schritt der Jäger. Der junge Kapitän war unzufrieden mit sich selbst über die Rolle, die er dem Fremden gegenüber gespielt, deshalb begrüßte er diesen auch ziemlich einsilbig.

»Hier bin ich, Signor! Ihren etwas diktatorischen Auftrag habe ich erfüllt. Der Preuße ist im Hôtel du Commerce eingekehrt.«

»Und Sie logieren?«

»Hôtel Bellevue am Landungsplatz der Dampfschiffe.«

»Dann quartieren Sie auf der Stelle um, sobald wir uns getrennt haben, und beziehen Sie ein Zimmer im Commerce, um den Mann genau beobachten zu können!«

» Caramba, Signor! ich bin kein Spion und weiß in der That nicht, wie Sie dazu kommen, mir derlei Befehle zu erteilen. Ich erlaube mir, mich Ihnen vorzustellen, ich bin der Kapitän Laforgne, Adjutant des General Garibaldi, wenn Sie es noch nicht wissen sollten. Ich liebe überhaupt nicht, mich kommandieren zu lassen, am wenigsten von unbekannten Personen!«

Der Priester brach in ein herzliches Lachen aus. » Cospetto, Signor Capitano, immer noch der alte Hitzkopf,« sagte er mit veränderter Stimme. »Aber das freut mich, weil es mir beweist, daß meine Maske gut ist. Haben Sie mich wirklich nicht erkannt, François?«

Er hatte Hut und Brille abgenommen, der junge Kapitän stand ganz erstaunt vor ihm. »Signor Mazzini, Sie selbst?«

»Still, amice, selbst die Luft hat Ohren und befördert den Schall! Wer zum Teufel sollte es denn anders sein, als ich? Es sind so wichtige Dinge zu verhandeln, daß ich sie gewiß nicht andern überlassen werde. Aber setzen Sie sich hierher, wir sind hier ziemlich sicher, und wenn Sie ruhig sprechen, sogar ganz. Die guten Bürger von Neufchâtel haben in diesem Augenblick mit sich zu thun und werden bald noch mehr damit zu thun haben.«

Der Kapitän stellte seine Flinte an einen Baum im Bereich seiner Hand und setzte sich neben den berühmten Agitator.

»Zunächst,« fragte dieser, »was macht der General, und woher kommen Sie?«

»Direkt von Caprera über Turin und Genf. Der General befindet sich auf der Insel und baut seinen Kohl, bis die Zeit gekommen ist, Italien aufzubauen. Er hat am 28. Ihren Brief erhalten und brachte mich selbst in seiner Felucke nach Genua. Seit gestern bin ich hier, hier ist seine Antwort!«

Er übergab dem Leiter der italienischen Revolution einen Brief.

»Ich wurde aufgehalten und konnte Zürich nicht eher verlassen als gestern,« sagte dieser, das klein zusammen gefaltene Schreiben öffnend und lesend. »Er ist der Alte, ich wußte es wohl! Wie lange haben Sie sich in Turin aufgehalten?«

»Drei Stunden.«

»Sie haben Cavour gesprochen?«

»Der Graf war in derselben Nacht von Biarritz zurückgekommen!«

»Sie sagten ihm, daß Sie hierher gingen?«

»Ja!«

»Und hat er Ihnen nichts aufgetragen?«

»Er wußte natürlich nicht, daß ich Sie selbst sprechen würde, aber er hat mir für Ihren Boten oder Beauftragten die Worte mitgegeben: ›Es ist noch nicht Zeit, wir müssen warten!‹«

Der Agitator stampfte unwillig mit dem Fuß. »Hole der Teufel dies Zögern; wir sind längst bereit, und die Leidenschaften sind kaum mehr zu zügeln, das zeigt der Tumult in Livorno. Es ist Zeit, daß der Zünder an die Mine gelegt wird.«

»Hören Sie mich an, Signor Mazzini,« sagte der junge Mann: »Sie wissen sehr wohl, daß ich kein Mann des Rates und des Abwartens bin, sondern am liebsten jeden Augenblick den Degen in die Faust nähme. Aber ich halte es für Pflicht, Ihnen alles zu wiederholen, was mir der Graf in der halbstündigen Unterredung, die ich mit ihm hatte, für General Garibaldi gesagt hat.«

Der Agitator, der sich schon mehrere Male umgesehen, als erwarte er jemand, winkte ihm zu. »Sprechen Sie, Kapitän, und wiederholen Sie alles genau!«

»Der Graf erklärt folgendes. Die Initiative dürfe unter keinen Umständen von Italien ausgehen. Der General wisse vollkommen, unter welchen Versprechungen und in welcher Absicht die sardinische Hilfe bei dem Krimkrieg geleistet worden: der Eintritt Sardiniens in die Reihe der Großstaaten und die Isolierung Neapels. Die Vorsicht habe auf dem Pariser Kongreß verlangt, nicht auf mehr zu bestehen, man würde sonst sofort Österreich, Preußen und Rußland und wahrscheinlich selbst England gegen sich gehabt haben, da der Ärger über die Erfolge Frankreichs dort noch zu frisch war. Unsere Vorbereitungen in Sicilien und in den Herzogtümern wären überdies noch nicht so weit gediehen. Eine Erhebung jetzt und ein Eintreten Sardiniens für die Revolution in den Herzogtümern aber ist die Kriegserklärung an Österreich, das heißt in diesem Augenblick an Deutschland und Rußland. Etwas Anderes wird es sein, wenn Frankreich diese Rolle übernimmt!«

» Cospetto! das ist es ja eben! um das zu wissen, braucht man nicht Herr von Cavour zu sein!«

»Der Kaiser Napoleon muß diese Rolle übernehmen, das ist das Streben Cavours; aber jener weigert sich augenblicklich, im Norden Italiens ebenso vorzugehen, wie es augenblicklich gegen Neapel geschieht.«

Der Agitator lächelte spöttisch. »Das Rätsel ist leicht zu lösen! doch später davon.«

»Der Graf sagt, die sardinische Regierung habe nicht die Mittel in Händen, den Kaiser zur Erfüllung seiner Versprechungen zu zwingen, der römische Einfluß sei augenblicklich zu mächtig!«

»Diese Spanierin! sie ist in den Händen der Jesuiten!«

»Der Graf behauptet ferner, eine durchaus abschlägige Antwort vom Kaiser erhalten zu haben. Man müsse also abwarten, wie sich der Konflikt der Westmächte in Neapel gestalten werde, das Kabinett von Turin werde natürlich das Seine dazu thun, diesen im Gang zu erhalten.«

»Und sollte der Fuchs Cavour wirklich nicht wissen, was dahinter steckt?«

Der Kapitän sah ihn fragend an. »Die Tyrannei in Neapel wird jeden Tag unerträglicher, wie unsere Freunde berichten,« sagte er ehrlich. »England und Frankreich haben sich der Verpflichtung der Humanität und der Rechte der Völker nicht länger entziehen können, sie haben den König von Neapel zur Erteilung einer liberalen Konstitution aufgefordert; der Tyrann hat jene übermütige Antwort gegeben, welche jede fremde Einmischung in die Angelegenheiten seines Staats zurückweist, und die englische und französische Flotte sind nach den neuesten Nachrichten im Begriff, auszulaufen und vor Neapel den Forderungen ihrer Kabinette den gehörigen Nachdruck zu geben. Der General ist der Meinung, daß ein Aufstand der Patrioten in Neapel jetzt den besten Erfolg für die Sache der Freiheit haben wird, denn England würde die Erhebung unterstützen, und Frankreich müßte nachfolgen.«

»War Graf Cavour auch dieser Meinung?« fragte der Italiener mit feinem Lächeln.

Der Kapitän wurde verlegen. »Das schien allerdings nicht ganz der Fall, indes …«

»Der General ist zuweilen noch ein Kind in der Politik, gerade wie Sie! Meinen Sie denn, daß es ohne Genehmigung des Kaisers Napoleon geschieht, daß Lucian Mürat in diesem Augenblick mit den Emigranten Saliceti, Lizabe, Ruffoni und Montonelli in den Bädern von Aix unterhandelt? Eine Revolution, die jetzt ausbricht, würde die Mürats auf den Thron von Neapel zurückführen, und diese würden wir schwer genug wieder los werden, das sehen wir an den Franzosen in Rom. Es ist ein Versuch des schlauen Fuchses in Biarritz und das weiß der Graf sehr wohl, aber Palmerston ist nicht so einfältig und läßt sich diesmal nicht überlisten; – John Bull würde sofort die Hand auf Sizilien legen, das weiß man in Paris und in Turin sehr wohl. Die sechs neuen Schraubenfregatten, die Piemont jetzt ausrüsten läßt, haben Zeit!« –

»So zweifeln auch Sie an der Befreiung Italiens?«

»Junger Mann,« sagte der berühmte Verschwörer streng, »ehe Sie noch geboren waren, habe ich für die Freiheit Italiens in piemontesischen Kerkern geschmachtet und bin von der Erde meines Vaterlandes wie ein gehetztes Wild durch Italiener vertrieben worden. Seitdem habe ich keinen Augenblick aufgehört, an der Befreiung Italiens, nicht bloß von den fremden, sondern auch von den eigenen Tyrannen zu arbeiten. Kein Mißlingen, keine Not, keine Gefahr hat mich je zurückgeschreckt; die Revolutionen der andern Nationen, die Ströme von Blut, die ich seit dreißig Jahren habe vergießen sehen, die Männer, die ich sich erheben und fallen sah, die Bewohner der Throne Europas, wie die der geringsten Fischerhütte am Golf von Salerno sind mir nichts, als die Steine zum Gebäude der Freiheit Italiens. Aber ich schwöre Ihnen, junger Mann, so stark ich mich fühle, allen diesen Fürsten und Diplomaten gegenüber, so weit auch die geheime Macht, an deren Spitze ich stehe, bis in die fernsten Winkel der civilisierten Welt reicht, ich würde in diesem Augenblick mir selbst den Tod geben, wenn ich die Hoffnung auf die Erreichung meines Ziels aufgeben müßte!«

Der Kapitän schwieg, er hatte diesem Fanatismus des Herzens gegenüber keine Antwort. Er begriff, daß er, ja selbst sein General, nur der Soldat, nur der Arm des furchtbaren Kampfes war.

»Garibaldi täuscht sich über Neapel,« fuhr nach einigen Minuten des Nachdenkens der Agitator fort. »Das Volk ist dort so kindisch und veränderlich, daß es kein Verständnis für die Ideen der wahren Freiheit hat, es hat Masaniello zugejubelt, wie Mürat und den Bourbonen. Nur das Neue hat Reiz für diese Leute, und sie werden Ihren Helden auf den Armen tragen und mit Evvivas die Luft zerreißen, wie sie sich jetzt für Bomba niederschießen lassen werden. Ein solches Volk von Kindern verdient nichts anderes, als ein strenges Regiment, sei es von der Hand seines ererbten Königs, sei es von der Faust des Diktators der parthenischen Republik. Vor der Hand herrscht Bomba, die Masse des Pöbels hängt ihm an, trotz aller Fehler, die er begeht, und würde sich bei einer Revolution der Unseren für ihn erklären. Der Anstoß der Bewegung muß notwendig von Oberitalien ausgehen, wie 48. Hier ist das Material vorhanden; die Herrschaft der Österreicher und der Bourbons steht auf einer Pulvermine, die jeden Augenblick angezündet werden kann, wenn wir erst der nachhaltigen Hilfe versichert sind. Der Sieg in der Lombardei wird ganz Italien mit sich fortreißen und die Westmächte zum Einverständnis zwingen. Dem Deutschtum muß der erste Schlag beigefügt werden, das ist unser schlimmster Feind, nicht die schwächliche Bourbonenherrschaft in Neapel. Ein Aufstand dort würde nur den französischen und englischen Gelüsten in die Hände arbeiten. Von Trient bis Rom, vom Mont Cenis bis zu den Lagunen, das ist unser Kampfplatz! – Sagen Sie das Garibaldi, und erklären Sie ihm, daß er seine Pläne für Neapel deshalb aufschieben muß; er würde sonst alles verderben. Wir werden über kurz oder lang bessere Beschäftigung für ihn an der Adda haben. Er muß sich fügen; in diesem Punkt stimme ich mit Cavour überein, er muß warten!«

Er sprang plötzlich auf. »Einen Augenblick, Signor Capitano, wir wollen erst diesen Bettler wegschicken, damit er uns nicht belästigt!«

Den Weg vom Kirchhof herauf kam ein Mann gehumpelt, das Knie in einem hölzernen Bein. Er trug einen alten französischen Militärrock und eine Binde über dem linken Auge.

Der falsche Priester sah nach der Uhr, es war gerade 12 Uhr Mittags.

Er trat an die Brüstung, die den Platz nach der Seeseite zu umgiebt und schaute nach dieser hinaus.

Der Stelzfuß humpelte zunächst auf den Jäger zu und zog seine Mütze.

»Eine Gabe, Euer Gnaden, für einen alten Soldaten, der an der Alma sein Bein eingebüßt und den der Kongreß in Paris vergessen hat.«

Der junge Kapitän warf ihm ein Frankenstück in die Mütze.

Der Invalide humpelte weiter zu dem Priester, der sich so weit entfernt hatte, daß sein Gefährte nicht verstehen konnte, was gesprochen wurde.

Hier wiederholte er seinen Spruch genau mit denselben Worten.

Der Italiener sah ihn scharf an. »Wie kommt es, daß Frankreich für seine Tapfern nicht besser sorgt? Der Kaiser Napoleon hält doch sonst auf seine Soldaten!«

»Frankreich,« sagte der Bettler und erwiderte den scharfen Blick, »liebt es heutzutage, seine Versprechungen zu vergessen. Es giebt viel unechtes Blut auch unter den Bonapartes.«

Der Priester nickte, indem er die Börse zog. »Ich sehe, wir verstehen uns. Sie haben Ihren Mann gefunden.«

»Dann, mein Herr,« sagte der Invalide mit plötzlich veränderter Stimme, ohne jedoch aus seiner Haltung zu fallen, »haben Sie die Güte mir das Losungswort zu sagen. Ich muß ganz sicher gehen.«

»Das ist in der Ordnung. Es heißt: Palais Royal! und nun das Ihre?«

»San Pietro in Montorio!«

»Dies genügt. Ich bin der, den Sie treffen sollen. Haben Sie einen mündlichen oder schriftlichen Auftrag an mich?«

»Einen mündlichen!«

»Können Sie ihn mir hier sagen, oder müssen wir uns an einem andern Ort sprechen?«

»Es sind nur wenige Worte, die ich Ihnen zu sagen habe. Ich kenne selbst deren Bedeutung nicht, und es wird von Ihnen abhängen, ob ich eine Antwort zu bringen habe oder nicht.«

»Sprechen Sie!«

»Ich habe Ihnen zu sagen: Der Kanal sei in diesem Augenblick zu breit, und man müsse auf günstigeres Wetter warten!«

Der Priester biß sich in die Lippen. »Also auch dort! Sagen Sie dem, der Sie gesandt hat: wir würden warten, aber nicht lange mehr. Die Sturmvögel lieben es nicht, auf den Kreidefelsen zu sitzen!«

»Ist das alles?«

»Ja, mein Herr – Ihre Botschaft war so kurz wie die Antwort – Wie befindet sich der Prinz?«

»Ei, nicht bei besonderer Laune,« sagte lachend der Bettler. »Zwei solch glückliche Familienereignisse hinter einander, das ist hart. Das Kind von Frankreich hat ihn um die Anwartschaft auf den Thron von Frankreich gebracht und im Nu wieder einen Privatmann aus ihm gemacht, und der Prozeß der Herren Patterson und Sohn wegen der alten Jugendthorheiten des Exkönigs von Westfalen hilft ihm zu einem Bruder und Neffen, an den er niemals gedacht hat! Der Prinz bereitet sich aus lauter Vergnügen vor, eine Reise nach Island zu machen.«

»Das ist Thorheit, wo in jedem Augenblick die wichtigsten Ereignisse eintreten können!«

»O seien Sie sicher, Monsieur, er wird es selbst in Island wittern. Unter uns – die vielen plötzlichen Verhaftungen vor der Reise nach Biarritz haben ihn etwas frappiert. Man ist augenblicklich sehr vorsichtig bei Hofe. Aber eine Gabe, ehrwürdiger Herr, Sie vergessen, daß ich ein armer Invalide bin.«

Der Italiener warf lächelnd eine kleine Münze in die Mütze. »Wann kehren Sie zurück?«

»Auf der Stelle. Ich werde morgen früh in Pontarlier sein … Mein Wagen erwartet mich in den Weinbergen!«

»Dann glückliche Reise, und wiederholen Sie dem Prinzen: da er Naturgeschichte studiert, müsse er auch die Art der Geyerfalken kennen! Gingen Sie nach Biarritz, so könnte ich Ihnen eine Neuigkeit mit auf den Weg geben!«

»Darf man fragen, welche, Signor?«

»Gewiß! es ist die, daß Seine Majestät der Kaiser Napoleon nächstens der Schweiz gegen Preußen zu Hilfe marschieren kann. Die Heirat der preußischen Prinzessin mit Baden ist eine offene Straße von Berlin nach Basel. Adieu, mein Alter, mein Segen möge die kleine Gabe begleiten! Die Schilderung, die Ihr mir von Euren Leiden gemacht, hat mich tief gerührt, und ich schließe Euch in mein Gebet ein.«

Die letzten Worte waren laut gesprochen, er lehnte sich, wie um das Gespräch abzubrechen, auf die Brüstung und der Stelzfuß humpelte demütig grüßend davon.

Erst nachdem er zwischen den Bäumen verschwunden war, kehrte der Agitator zu dem Kapitän zurück. »Ein alter Invalide spricht so gern von seinen Schlachten, wie eine Frau von ihrer Köchin,« sagte er mit vollkommener Selbstbeherrschung. »Wir sind den lästigen Burschen jetzt los und können fortfahren.«

Der Jäger schwieg, sein von Jugend auf an scharfe Beobachtung gewöhntes Auge hatte den intimern Verkehr des Agitators mit dem Invaliden sehr wohl bemerkt.

»Haben Sie die Güte, Kapitän, in Ihrem Bericht über die Unterredung mit dem Minister fortzufahren. Suchen Sie sich möglichst an seine eigenen Worte zu erinnern.«

»Der Graf beauftragte mich ferner, dem General zu sagen, daß Sardinien mit seinen Rüstungen noch nicht so weit vorgeschritten sei, um selbst mit dem Beistand Frankreichs oder Englands den Kampf gegen Österreich wagen zu können, wie viel weniger ohne denselben.«

Mazzini lächelte. »Ich sollte meinen, die Hundert-Kanonen-Sammlung Manins würde Alessandria uneinnehmbar machen!«

»Die französische Polizei hat sie bereits verboten, und Sie wissen sicher, daß sie nur schwachen Anklang findet. Ihre Sammlung für 10 000 Gewehre mit der offen und kühn ausgesprochenen Bestimmung für die erste Provinz, die sich erhebt, erregt zehnfach mehr Begeisterung.«

»Manin will dem König Kanonen für eine Festung geben, um sie zu verteidigen, ich dem Volk Gewehre, um die Festungen der Fürsten zu zerstören, darin liegt der Unterschied des Erfolges. Hat Graf Cavour speziell von mir mit Ihnen gesprochen, Kapitän?«

»Der Graf sagte: Sollten Sie unsern allzu unruhigen Freund, den überall und nirgends, den ewigen Juden der Revolution sehen, so sagen sie ihm, Neapel und Florenz wären gegenwärtig sehr geeignete Schauplätze seiner Vorbereitungen!«

Der Agitator lachte spöttisch. »Der Herr Graf ist in der That ein kluger Staatsmann. Wie die Pioniere des Westens in Amerika den Fortschritt der Civilisation vorbereiten, glaubt er uns als Avantgarde für die Dynastie Savoyen benutzen zu können. Meint der Graf, es würden die Ströme des besten italienischen Bluts vergossen werden, um zuletzt ein einiges großes Italien bloß für den König Viktor Emanuel zu schaffen? Cospetto, ich denke, wir drehen den Spieß um und lassen Sardinien für unsere Zwecke arbeiten. Wenn dann die Zeit gekommen, wird man sich des roten Kreuzes von Savoyen wohl eben so leicht entledigen, wie der Lilien von Bourbon! Die Zukunft gehört der Republik. Doch nun zu etwas anderem. Haben Sie einige Tage Zeit?«

»Ich stehe zu Ihrer Disposition!«

»Sie kennen den jungen Mann, dem ich Sie bei Ihrer Ankunft zu folgen bat.«

»Wie Sie gesehen haben, Signor!«

»Wer ist er?«

»Ein preußischer Edelmann, wahrscheinlich preußischer Offizier. Ich lernte seine Familie und seinen Bruder, der damals bereits in der Armee stand, im Frühjahr 49 kennen, als ich in einem privaten Auftrag des Generals gerade wegen dieser Familie in Berlin war!«

»Also ein preußischer Offizier? das stimmt.«

»Was meinen Sie?«

»Ach, eine kleine Kontrerevolution. Einige Worte, die ich zufällig gehört, lassen mich schließen, daß man eine royalistische Erhebung und das Wiederlosreißen dieses Kantons von der Schweiz beabsichtigt. Das nähere und die Zeit ist mir freilich unbekannt, deshalb sollen Sie einige Tage hier verweilen. Die Montagnards sind sämtlich gute Republikaner, ich weiß es, und werden höchstens eines tapfern Führers bedürfen, um ihren Gegnern die Spitze zu bieten. Hören Sie mich wohl an, Kapitän! tritt das Ereignis ein, das ich vermute, so muß es unter allen Umständen zum Kampfe kommen. Wir brauchen einen Zwiespalt der Republik mit den Souveränen, einen Angriff auf die Interessen der Schweiz, um den Antrag unserer Freunde beim Bundestag auf ein Gesetz zu unterstützen, das alle Schweizer aus fremden Kriegsdiensten bei Verlust des Heimatrechts zurückberuft und den Eintritt in solche Dienste ohne Erlaubnis des Rates verbietet.«

» Parbleu, Signor Mazzini, das heißt Rom und Neapel entwaffnen!«

»Das ist unsere Absicht, der Schlag wird seiner Zeit uns die besten Dienste leisten; denn die Schweizer und Tedeschi sind die einzigen Soldaten, auf die sich die Tyrannei in Italien stützt und verlassen kann. – Ich gehe in einigen Stunden wieder nach Bern und werde den Präsidenten sofort benachrichtigen. Unterdes haben Sie hier ein wachsames Auge auf alles, aber hindern Sie nichts zu früh. Wie gesagt ein blutiger Konflikt ist das, was wir wünschen. Ich werde zwei Tage in Bern bleiben – hier haben Sie für alle Fälle meine Adresse.«

Er schrieb einige Worte auf ein Blatt seiner Brieftafel und händigte es ihm aus.

»Und nun, Kapitän, leben Sie wohl und grüßen Sie den General. Ich sehe ein, wir müssen uns fügen und warten, aber sagen Sie ihm, er solle sich jeden Augenblick bereit halten; der Plan in Paris sei diesmal mißglückt, aber unsere Freunde werden deshalb den Mut nicht verlieren und sich besser vorsehen. Leben Sie wohl; ich habe noch etwas zu erledigen.«

Er reichte dem jungen Mann die Hand und verließ dann die Terrasse.

Der Kapitän sah ihn seinen Weg durch die Faubourg nehmen und mit dem ruhigen Wesen eines wirklichen Geistlichen in der Richtung von Menruz und Hauterive weiter schreiten.

Eine Stunde darauf öffnete der angebliche Priester die Thür einer kleinen Weinschänke in Saint Blaize.

Zwei Männer saßen am Tisch bei einer Flasche des berühmten weißen Weins von St. Blaize. Sie waren beide in die blauen Blousen, die gewöhnliche Tracht der arbeitenden Klassen gekleidet, Hüte mit breiten Krämpen auf dem Kopf.

Der eine war klein, braun und mager mit häßlichem tückischem Gesicht; der andere älter, blond, kräftig und mit einer ruhigen intelligenten Physiognomie begabt. Sie waren allein in der Schänke, nur die Tochter des Hauses da, die zur Bedienung ab- und zuging.

Als der Priester eintrat, warf er einen raschen Blick in der Stube umher, sie war zufällig leer. Er ging auf die beiden zu und nahm die Brille von den Augen.

»Seid gegrüßt, Brüder des Bundes!« sagte er italienisch. Beide sprangen auf und reichten ihm die Hand. »Willkommen, Signor! Die Brüder des Dolches grüßen ihren Meister!«

Der Kleinere füllte ein Glas und hob es empor: »Auf den Sieg der Freiheit und den Tod aller Tyrannen! Ob sie unsere Brüder in Paris auch in diesem Augenblick nach Cayenne schleppen, wir bringen Dir die Rache und die Vernichtung unserer Feinde!«

Der Agitator sah sich nochmals um.

»Sind wir sicher hier?«

»Wir sind es. Die Hausleute sind in ihren Weingärten, das Mädchen kommt nur herein, wenn man sie braucht.«

»Dann reden Sie, Pierri. Weswegen verlangten Sie die Zusammenkunft?«

Der kleine Italiener, derselbe, der in San Pietro di Montorio den Antrag Orsinis gegen den Präsidenten der französischen Republik unterstützt hatte, nahm einen Korb von der Bank, wie ihn die Bauern zu tragen pflegen.

»Wir kommen von London, um Ihnen unser Werk zu zeigen. Die Aufgabe, die man uns gestellt hat, ist gelöst. Sehen Sie.«

Er hob den Deckel von dem Korb. Zwischen Früchten und Zweigen lagen zwei schwarze in Boy genähte runde Bälle von der Größe etwa zweier geballten Hände.

»Was ist das, Signor Andrea?«

»Es sind die Proben der Handgranaten, die Tolti erfunden und die wir verbessert haben. Wenn Sie eine derselben in dieser Stube mit Kraft auf den Boden werfen, so bürge ich Ihnen dafür, daß kein Stein dieser vier Wände auf dem andern bleibt!«

»Das ist groß! Sie haben die Probe gemacht?«

»Im Hyde-Park, Tolti ist das Opfer davon geworden!«

»Und Sie meinen, eine solche Handbombe müsse alles vernichten, was in ihrem Bereich ist?«

»So wahr ich Franz Bernard heiße,« sagte der Blonde, »ich bürge Ihnen für meine Verbesserung. Diese Kugel würde hundert Menschen töten, wenn sie in ihrer Mitte explodiert.«

Der Präsident des Bundes sah in tiefem Sinnen auf die furchtbare Erfindung.

Pierri legte ihm die Hand auf die Schulter. »Felicio Orsini mahnt Dich an Dein Wort. Der Verräter ist seit drei Jahren Kaiser der Franzosen, hier liegen die Mittel, unsern Schwur zu lösen, die Brüder fordern Dich, ihren Meister, auf, endlich den Befehl zu geben. Das Blut unserer Brüder von Rom schreit noch immer ungesühnt um Rache!«

Der große Führer und Helfer aller Verschwörungen, die Europa seit länger als dreißig Jahren erbeben machen, richtete sich streng empor.

»Soll das Werk, an dem wir arbeiten, gefährdet werden durch die Ungeduld des einzelnen?« sagte er fest. »Gehorsam ist die erste Pflicht, die der Eid den Brüdern auferlegt. Noch hat die günstige Stunde nicht geschlagen, ist sie gekommen, wird Giuseppe Mazzini nicht zögern, zu sagen: Geht, Italiens Befreiung fordert Euer Leben! Bis dahin: Wartet


Im Faubourg von Neufchâtel, kurz vor dem Palais Rougemont, liegt, von einem freundlichen und trefflich gehaltenen Vorgarten von der Straße geschieden, eine prächtige Villa mit reich verziertem Balkon.

Es ist das Haus des Obersten Graf Friedrich von Pourtalès-Steiger.

Es war am Spätnachmittag, als in dem mittleren Salon des Hauses eine zahlreiche Männergesellschaft versammelt war. Eine einzige Dame war anwesend, die edle Gemahlin des alten Grafen, die in der langen, kinderlosen Ehe fest und treu zu ihm gehalten hatte.

Sie selbst nahm an der Thür des Salons von einem alten Diener die Erfrischungen für die Gäste ihres Gemahls in Empfang und bediente dieselben. Kein Diener, so zuverlässig und anhänglich die Leute in dem reichen Haushalt des Grafen auch waren, durfte heute die Schwelle des Salons überschreiten. Die Gräfin versah still und geräuschlos den übernommenen Dienst, ohne sich in die Beratung der Männer zu mischen, und wenn sie auf diese Weise nicht beschäftigt war, saß sie still in einem Fauteuil am Fenster, wo ihr Arbeitstisch stand und las in einem Buch.

Dies Buch war die Bibel!

Der Hausherr, ein Mann von 60 Jahren, derselbe, der am Vormittag mit dem Dampfschiff aus dem Berner Land herübergekommen war, saß in einem Lehnstuhl vor der Mitte des langen, gewöhnlich zur Tafel dienenden Tisches. Obschon die Dämmerung erst einzutreten begann, standen doch bereits zwei prächtige Astral-Lampen auf dem Tisch, denn die Gardinen der Fenster waren niedergelassen.

Auf dem Tisch lagen mehrere Papiere und Briefschaften, schwarz-weiße Armbinden und Kokarden, von der Hand der Gräfin genäht, die 1806 erschienene und dem verstorbenen König gewidmete Karte des Fürstentums Neufchâtel von v. Osterwald und mehrere Paare Pistolen nebst Ladungsbedarf. Mit Schuß- und Hiebwaffen der verschiedensten Art waren auch die Sofas und Stühle bedeckt, die nicht von den Anwesenden benutzt wurden.

In einer Ecke des Saales stand eine Anzahl neuer Fahnen in den preußischen Farben: Schwarz und weiß. Der Reisesack, den der Graf am Dampfschiff so sorgsam der Aufmerksamkeit des Dieners empfohlen hatte, lag jetzt geöffnet neben ihm und zeigte sich mit Rollen von Druckschriften gefüllt.

Trotz des kriegerischen Aussehens, das der Salon hatte, befanden sich doch unter der versammelten Gesellschaft Männer des Friedens, denn man sah zwei oder drei Herren in geistlicher Kleidung unter ihnen. Die Anwesenden waren zu fast zwei Dritteilen Männer von gesetzten Jahren; unter ihnen befand sich einer, dessen Äußeres auf englische Abkunft schließen ließ, es war in der That ein Engländer, der Ingenieur Ibbetson.

Neben dem alten Grafen saß ein jüngerer Mann, eifrig schreibend und Befehle und Listen anfertigend. Am Ende des Tisches befand sich auch Otto von Röbel mit seinem Freund, dem jüngeren Meuron.

Der Oberst hatte sich erhoben. »Meine Freunde,« sagte er ernst, »fassen wir unsere Lage nochmals fest ins Auge. Dreimal seit dem unglücklichen 1. März 48 haben Royalisten von Neufchâtel vertraute Männer nach Berlin geschickt, um bei Seiner Majestät unserm Fürsten und Herrn eine Wiederherstellung seiner und unserer Rechte zu erbitten. Man hat uns im Jahre 48, als wir zum erstenmal diese Deputation sandten, gesagt, daß die Zeitumstände es damals unmöglich machten, gegen den Rechtsbruch der eidgenössischen Regierung mit Gewalt einzuschreiten, und daß Preußen selbst erst wieder befestigt und gekräftigt sein müsse. Wir erkannten den Zwang der Umstände und haben uns gefügt und geduldet. Damals, als Seine Königliche Hoheit der Prinz von Preußen, der Erbe des Thrones, mit seiner tapfern Armee die badenschen und Pfälzer Rebellen niedergeworfen hatte und preußische Truppen an der Grenze der Schweiz standen, sandten wir zum zweitenmal Männer, die unsers Vertrauens genossen, nach Karlsruhe und Berlin, und baten, die günstige Gelegenheit zum Einmarsch in die Schweiz, diesem Herd und Schlupfwinkel aller Revolution, zu benutzen. Der ritterliche Prinz war bereit, sein siegendes Schwert nicht eher in die Scheide zu stecken, als bis seinem Königlichen Hause das schändlich geraubte Eigentum und uns unser Recht wieder geworden; wir selbst – ich sehe die Männer jener Tage um mich! – waren gefaßt, auf den ersten Wink hier die Fahne mit den alten Landesfarben zu erheben, da kam Gegenbefehl von Berlin. Nach hartem Kampf, der selige Graf Brandenburg stand tapfer auf unserer Seite, hatte man beschlossen, von der Pfandnahme Basels abzustehen, da Österreich, eifersüchtig über die preußischen Erfolge in Schleswig, Dresden und Baden, Truppen bei Bregenz zusammenzog, um der Schweiz gegen das deutsche Bruderland zu Hilfe zu kommen, nachdem es kaum selbst in der Lombardei und Ungarn die Revolution besiegt hatte. Zum drittenmal legten wir unsere Bitten und unser Recht am angestammten Throne nieder, als die Konferenz der europäischen Großmächte nach dem Krimkrieg im Frühjahr dieses Jahres in Paris tagte. Ich selbst war in Paris. Wir forderten nichts, als was das Protokoll der Großmächte von 24. Mai 52 in London selbst anerkannt hatte: das Recht auf Wiederherstellung der königlichen Autorität. Aber Herr von Manteuffel war ein schwacher Verteidiger unserer Rechte in Paris, die siegenden Mächte hatten an Preußen keinen Dank zu zahlen für seine Neutralität, und unsere Hoffnungen wurden mit der Vertröstung eines erbärmlichen Paragraphen abgefertigt, dem die Diplomaten, die gegenwärtig in Paris das Werk beenden sollen, um Europa eine neue Sicherung des Friedens und des Bestandes zu geben, keine Beachtung widmen. Wir können, wir dürfen die letzte Gelegenheit nicht vorübergehen lassen. Das Herz unsers Königlichen Fürsten, ich weiß es mit Bestimmtheit, schlägt für uns, aber die Politik des Herrn von Manteuffel, jene Politik von Warschau und Olmütz, die den preußischen Thaler nicht für den Neuenburger Groschen daran setzen will, diese zähe, die Ereignisse abwartende, nicht handelnde Politik, sie hat kein Herz für uns, sie giebt uns keine Hoffnung! Wohlan denn, meine Herren, wir müssen uns selbst helfen, wir müssen Preußen zwingen, uns wieder Unterthanen des Königs sein zu lassen!«

Eine stürmische Bewegung ging durch die Versammlung.

»Es muß ein Ende nehmen! Wir wollen die Entscheidung!« sagte fest der alte Bannerherr Meuron, indem er die Hand schwer auf den Tisch legte.

»Sie wissen alle,« fuhr der Graf fort, »daß die Zustände in unserm Lande unerträglich geworden, daß es die höchste Zeit ist, eine Änderung zu treffen, wenn nicht alles verloren sein soll. Die täglich aus der Schweiz einwandernden Republikaner bilden ein besitzloses Proletariat, das die Rechte der alten Bewohner unterdrückt und raubgierig sich auf ihr Eigentum wirft. Die Ämter des Staats sind bereits in ihren Händen, sie haben in dem kleinen und großen Rat die Majorität, sie unterdrücken das Ansehen unserer würdigen Geistlichkeit und verschleudern das Vermögen der Kirchen und Schulen. Sie wollen jetzt selbst das alte Erbe unserer Väter, die Stiftung der Bourgeoisie und ihr großes Vermögen antasten und es unter sich teilen. Der Streit wegen der westlichen Eisenbahn hat das Lager des Feindes in zwei Teile gespalten, die Independants stehen den Republikanern gegenüber, sie werden bei unserer Erhebung sich ruhig verhalten, die Roten allein haben nicht die Macht, sich uns zu widersetzen.«

»Sind Sie des Verhaltens der Independants gewiß, Oberst?« sagte der wackere Wolfrath, der mutige Herausgeber und Drucker des royalistischen Journals › Neuchâtelois‹.

»Gewiß, mein Freund! Wir werden dafür sorgen, sofort nach unserm Siege mit den Independants Verhandlungen anzuknüpfen. Es wäre bereits geschehen, wenn wir nicht, wie Sie wissen, die größte Vorsicht anwenden müßten. Oberst Denzler, der Führer der Independants, ist ein Mann von Verstand und Herz. Diese Briefe hier, die unser Freund Jeanrenaud, der Direktor der Post, unter seiner Adresse empfangen, sind von unsern Vertrauten aus Berlin. Befinden sie sich auch nicht in der gegenwärtigen Regierung, ja, sind sie sogar in der Opposition zu dem System Manteuffel, so wissen Sie doch alle, in welchen nahen Beziehungen sie zum Hofe und zur Regierung stehen, wie mächtig ihr Einfluß thätig ist. Sie stimmen mit uns überein, daß die Zeit eine günstige ist, daß das Berliner Kabinett gezwungen werden muß, für uns einzutreten und die Neuenburger Frage zur Entscheidung zu bringen. Die Heirat der Prinzessin Luise mit dem Großherzog von Baden knüpft so enge Verwandtschaftsbande, sie öffnet so leicht den Weg zu uns, daß Herr v. Manteuffel keine Entschuldigung mehr haben kann.«

Graf Wesdehlen schüttelte den Kopf. »Ich wiederhole Ihnen, Oberst, ich traue der Dankbarkeit und der Freundschaft Badens für Preußen herzlich wenig. Die Liberalen dort wachsen täglich.«

»Und wenn auch! Wollen wir denn, daß Preußen uns in Eil' seine Bataillone aus der Rheinprovinz zu Hilfe schickt? Sie würden in jedem Fall zu spät kommen. Wir sind gewiß nicht so thöricht, zu glauben, daß wir der bewaffneten Macht der Schweiz widerstehen können. Unser Plan ist einfach nur, uns durch Überrumpelung der wichtigsten Punkte zu bemächtigen und auf diesen zu halten, bis zur Ankunft der Truppen des Bundesrats. Diesen Truppen müssen und werden wir uns ergeben. Preußen und die Großmächte werden dadurch genötigt werden, zu intervenieren; denn sie haben dann den Beweis in Händen, daß der Schweizer Bund jene unselige, durch den Wiener Kongreß 1815 stipulierte Aufnahme Neuenburgs in die Eidgenossenschaft, die Ursache alles Geschehenen, dazu mißbraucht, zum zweitenmal und dem Londoner Protokoll trotzend, die legitime Regierung des Fürsten von Neuenburg, jetzt durch die Neuenburger selbst wieder hergestellt, mit Waffengewalt zu stürzen. Daß aber die Schweizer Truppen gegen uns marschieren, das leidet keinen Zweifel. Ich habe diesen Tag gewählt, weil während die Kantonaltruppen heute bereits bei Colombier entlassen sind, die Zusammenziehung der regulären Bundestruppen bei Yverdün es deren Bataillonen möglich machen wird, sogleich gegen Neufchâtel zu marschieren, bevor etwa schweizerische Freischaren sich sammeln und Blutvergießen und Plünderung herbeiführen können. Merken Sie wohl auf, meine Freunde! Die Erhebung der Royalisten von Neuenburg, die Wiederherstellung des königlichen Regiments muß nicht durch die Neuenburger Republikaner, sondern durch eidgenössische Truppen besiegt und unterdrückt werden. Darin liegt unser Erfolg und unsere Rechtfertigung vor der Welt.«

»Auch vor dem König?« sagte eine klangvolle Stimme vom Ende der Tafel.

Aller Augen wandten sich dahin; Otto von Röbel war aufgestanden.

»Verzeihen Sie, meine Herren,« sprach er, anfangs befangen, aber die Stimme wurde fest und sicher bei jedem weiteren Wort, »daß ich, einer der Jüngsten in dieser Versammlung und fast allen fremd, nur durch das Band der Treue gegen denselben königlichen Herrn mit Ihnen verbunden, mir anmaße, einige Worte an Sie zu richten. Ich bin hierher gekommen, mein Blut und Leben Ihrer gerechten Sache, dem Siege des Königtums über die Revolution zu widmen, und ich werde der letzte sein, der, wenn das Schwert gezogen ist, zurückweicht. Aber, offen gestanden, der Plan, den wir eben gehört, scheint mehr darauf hinauszulaufen, dem Ministerium des Königs eine Verlegenheit und eine Schlinge zu bereiten, als dem innern Drang des Herzens zu folgen. Ich kenne Ihre Ratgeber in Berlin nicht und will sie nicht kennen; aber Freunde des Herrn von Manteuffel sind sie sicher nicht. Warum wollen Sie nicht auf den Sieg Ihrer eigenen Kraft vertrauen, statt auf diplomatische Verhandlungen? Rufen Sie alle Gutgesinnten zu den Waffen, lassen Sie auf der Burg Ihrer Fürsten die schwarz-weiße Fahne aufpflanzen, nicht mit der vorher bestimmten Absicht, sie vor einem zahlreicheren Gegner sinken zu lassen, sondern mit dem festen Willen sie zu verteidigen bis zu unserm letzten Blutstropfen gegen jeden Gegner, und so lange unsere Hand Büchse und Degen führen kann: dann, meine Herren, werden wir siegen, und der König wird die Kämpfer seines Rechts nicht im Stich lassen, denn die Nachricht unserer Gefahr und unseres Kampfes wird ein Echo finden in jedem preußischen Herzen, und ich bin gewiß, auf welchem Wege Sie sich auch durch die Feinde schlagen müssen, Hunderte braver preußischer Arme werden uns zu Hilfe eilen, bis der König uns seine mächtige Hilfe senden kann. Und fallen wir, ehe sie kommt, nun so fallen wir für unsere Überzeugung und für den König, nicht gegen ihn!«

Ein Beifallssturm der jüngeren Mitglieder folgte der kühnen Rede, Houriet von Locle sprang auf und reichte dem jungen Preußen die Hand.

»Sie haben mir aus der Seele gesprochen,« sagte er laut. »Fort mit aller Diplomatie, es lebe der preußische Wahlspruch: Vorwärts mit Gott für König und Vaterland!«

Auch die Gräfin, so strengen Tadel der Politik ihres Gatten auch die Worte enthalten hatten, sah freundlich auf den jungen Mann. In ihrem Auge glänzte eine Thräne. »Gott hat es nicht gewollt,« sagte sie, »daß ich einen Sohn hätte. Er wäre gewesen, wie dieser!«

Der Graf hatte sich aufs neue erhoben, sein edles Gesicht drückte keineswegs Zorn oder Ärger über den Widerspruch aus.

»Thörichte Jugend,« sagte er trübe, »schnell fertig mit Rat und Überlegung, und dennoch schön und edel in ihrem Aufbrausen! Haben Sie bedacht, junger Mann, was das Leben auch nur eines Bürgers wert ist? und erinnern Sie sich aus Ihrer Jugend der Schrecken des Bürgerkrieges? Unsere Absicht ist, das Blutvergießen möglichst zu vermeiden, wenn wir nicht dazu gezwungen werden! Darum ziehen wir es vor, die Intervention der Großmächte herbeizuführen. Unsere Kräfte sind nur gering für den ersten Sturm, wie Sie sogleich sehen werden. Wir wollen uns nicht als Helden des Königtums, sondern als Märtyrer desselben zeigen!«

»Amen! So geschehe es!« sagte die tiefe Stimme des Pastor Guillebert.

»Wer meinem Vorschlag demnach beistimmt und entschlossen ist, der hebe seine Rechte empor!«

Der Oberst sah umher; keine einzige Hand in dem Kreise war zurückgeblieben.

»Und nun, nachdem wir also entschlossen sind,« fuhr der Graf fort, »lassen Sie uns die Rollen verteilen und die letzten Maßregeln besprechen; Herr v. Terisse, haben Sie die Güte, die Zahlen zu notieren. Würdiger Perret, auf wie viel Mann haben wir in La Sagne zu rechnen?«

»Mit der Mannschaft, die Ihr Bruder Louis angeworben, Oberst, zweihundertundzehn bewaffnete Männer.«

»Ich selbst bringe fünfunddreißig mit, also 245. Monsieur Lardy, was stellt Chaux du Milieu?«

»Fünfundachtzig, Oberst, ich selbst werde sie führen.«

»Immer voran, wo es das Recht gilt, sei es vor dem Gerichtshof, sei es auf dem Kampfplatz, das ist Ihre Art! Sie und Ihr Bruder, der Prediger, sind wahre Patrioten. De Perregaux von Brévine?«

»Siebenundvierzig!«

»Locle?«

»Hier die Brüder Houriet mit 60 Bewaffneten!«

»Dank, wackerer Eduard! Was stellen unsere Brüder Bovet aus Colombier?«

»Die achtzig Getreuen von den Kantontruppen und fünfundvierzig von unsern Arbeitern.«

»Möge der Sieg mit ihnen sein. Würdiger Bannerherr Meuron, Freund Wesdehlen, Montmollin, edler Rougemont, Hauptmann Reiff, Vetter Eduard und Sie Chatelain de Pury und Wilhelm du Pasquier, wie hoch belaufen sich Ihre Leute?«

Die Aufgerufenen gaben die Anzahl an, die sie zusammengebracht. Die Zahl war verhältnismäßig nur gering, da man nur mit großer Vorsicht gewagt hatte, den einzelnen zu vertrauen.

Als man die Summe der Streitkräfte, über die man verfügen konnte, zusammen zählte, belief sie sich auf etwa siebenhundert Mann.

Man rechnete auf den sofortigen Zutritt und den Beistand der Bürger von Neufchâtel.

Der Oberst mit dem Bannerherrn Meuron und dem Hauptmann Reiff legten jetzt den Plan des Angriffs vor. Die Hauptkolonne, von Graf Friedrich Pourtalès und seinem Bruder geführt, sollte nach Mitternacht von La Sagne aufbrechen und gegen Locle und Chaux de Fonds marschieren, das der Hauptort der Republikaner war. Dort wohnte die Masse der Schweizer Arbeiter. Oberstleutnant von Meuron mit andern Führern sollte mit dreihundert Mann das Schloß und das Stadthaus besetzen, die Mitglieder der Regierung und den Präfekten Mathey, einen eifrigen Republikaner, gefangen nehmen und die königliche Regierung so wie den Belagerungszustand proklamieren. Jedes Blutvergießen sollte möglichst vermieden werden.

Man rechnete darauf, so viele Leute an sich zu ziehen, um das Schloß und die anderen occupierten Punkte mindestens drei Tage halten zu können.

Die jüngeren Leute schrieben die Befehle an die einzelnen Abteilungen. Allen wurden die von Oberst Pourtalès bereits aus Metlen vom 29. August datierten gedruckten Ordres beigelegt, die sich in jener Reisetasche befunden hatten. Sie lauteten:

 

»Die Erhebung ist auf die Nacht vom Dienstag auf Mittwoch, d. i. auf den 3. September festgesetzt. Sie wird gleichzeitig in Neuenburg und in den Bergen stattfinden. Die Royalisten der Berge empfangen durch Gegenwärtiges einen Befehl, sich in der genannten Nacht vom 2. auf den 3. September in Masse zu erheben. Die königliche Autorität wird zugleich zu La Sagne, Locle, Brévine und in den umliegenden Gemeinden proklamiert werden. Die Sammelpunkte werden später bezeichnet werden.

Der Ober-Kommandant im Namen des Königs in seinem Fürstentum Neufchâtel und Valengin:

Pourtalès, Oberst.«

 

Der wackere Wolfrath hatte bereits die zur Verteilung nach der Erhebung bestimmte Proklamation gedruckt und jeder der Anwesenden nahm eine genügende Zahl an sich. Sie hieß:

 

»Mit Gott für König und Vaterland. Neuenburger! Die Stunde der Befreiung hat endlich geschlagen. Der Ruf: ›Es lebe der König!‹ sei Euer Losungswort. Zu den Waffen, Getreue! Ich erkläre das Gebiet des Fürstentums in Belagerungszustand. Eine jede Gemeinde bestelle sogleich ein Komitee, das im Namen des Königs die Gewalt handhaben und dem Schloß von Neufchâtel seinen Amtsantritt anzeigen soll.

Der Ober-Kommandant,
Graf Friedrich v. Pourtalès, Oberst.

La Sagne, 2. September 1851.«

 

Sobald die neue Regierung in der Stadt sich konstituiert hätte, sollte ein Courier mit der Anzeige des Geschehenen an den preußischen Gesandten für die Schweiz, den Präsidenten der Hohenzollernschen Fürstentümer, Geheimen Rat v. Sydow, nach Sigmaringen, ein zweiter nach Berlin abgehen.

Das Schloß von Neufchâtel sollte verproviantiert werden, um sich einige Tage halten zu können. Man wußte, daß sich zwei kleine Kanonen und Munition in demselben befanden.

Es war 7 Uhr, als die Ordres sämtlich verteilt und die Beratungen zu Ende waren. Im Hofe der Villa standen zwei angespannte Wagen und mehrere Reitpferde, um die Verbundenen auf ihre Posten zu führen.

Sie hatten sich sämtlich erhoben und standen um den Tisch, die Gräfin ging umher und schenkte selbst die Gläser ein.

»Es ist Zeit, meine Herren, daß wir uns trennen,« sagte der Graf. »Die Herren von Locle haben einen weiten Weg, und müssen ihre Leute von Brévine und Chaux-du-Milieu bei deren Ankunft empfangen. Um Mitternacht muß jeder auf seinem Posten sein, um zwei Uhr brechen wir von La Sagne auf. Die Parole ist: Gott und der König! – Hat einer von Ihnen noch etwas zu erinnern?«

»Ich, meine teuern Brüder,« sagte der ehrwürdige Pastor Guillebert. »Lassen Sie uns das Werk mit Gott beginnen, der Erfolg gehöre dann dem König!« Und vortretend sprach er ein einfaches kurzes Gebet, der Gelegenheit entsprechend, in dem er den Beistand des Allmächtigen für die Sache des Rechts und der Treue erflehte und die Männer, die sich ihr geweiht, segnete.

Mit Ehrfurcht und Andacht hatten sie alle den Worten zugehört, kein Laut unterbrach die ernste Stimmung, bis der alte Graf sein Glas ergriff.

»Und nun, meine Freunde, ist das Herz leicht und der Mut frisch. Sie haben dem Herrn des Himmels mit demütigem Herzen gedient, jetzt lassen Sie uns unsere Pflicht thun gegen unsern irdischen König. Die Gläser in die Hand, meine Herren, und angestoßen auf ein fröhliches und siegreiches Wiedersehen! Es lebe die Treue! es lebe der König!«

Die Gläser klangen zusammen und das donnernde: » Vive le Roi!« der Royalisten übertönte den schrillen Laut, mit dem das eine zersprang.

Die Wange des mutigen Henry Houriet von Locle erbleichte leicht, aber in dem Lärm des letzten Grußes und des Aufbruchs achtete niemand auf das unbedeutende Ereignis.

» Vive le Roi! Auf Wiedersehen, Brüder, unter der schwarz-weißen Fahne!«


Otto von Röbel war mit seinem Freund, dem jungen Meuron, der Abteilung zugewiesen worden, die das Schloß in der Stadt besetzen sollte.

Nachdem die Verbündeten in der Villa des Grafen Pourtalès sich getrennt hatten, machten die beiden Freunde einen Gang durch die Stadt. Herr von Meuron benutzte die Gelegenheit, den Freund, so viel sich im Dunkel thun ließ, mit der Örtlichkeit bekannt zu machen.

Das alte Schloß von Neufchâtel, zum Teil noch aus dem 13. Jahrhundert stammend, liegt auf einer gegen den See und die Stadt zu schroff abfallenden Höhe. Nur die Südwestseite nach den Weinbergen hin und von dem Schloßgarten umgeben, bildet eine niedere Terrasse und ist leicht zugänglich. Eine Mauer scheidet den Schloßgarten von einer Art Hohlweg, der sich an ihr entlang um das Schloß zieht und dann plötzlich zur Tiefe des Felsens hinabsteigt, wo auf der andern Seite sich ein neuer Stadtteil zu erheben beginnt. Hier ist durch die hohe Felsenmauer, auf der sich die Mauern erheben, das Schloß gegen einen gewöhnlichen Angriff völlig gesichert.

Gebäude und Türme aus verschiedenen Zeitepochen, selbst bis ins elfte Jahrhundert zurück, bilden um drei ziemlich enge Höfe die Burg. In dem Flügel, nach dem kaum hundert Schritt entfernten Ufer des Sees liegen die Staatsgemächer und Ratszimmer. Ihre Fenster öffnen eine prächtige Aussicht auf die glänzende Wasserfläche, die in ewiger Bewegung bald leise murmelnd an die Steinwälle des Ufers schlägt, bald von den auf den Schweizer Seen so häufigen Böen und Stoßwinden erregt in starker Brandung ihren weißen Schaum hoch emporrauscht.

Der Hauptzugang des Felsens und Schlosses ist ein anfangs breiter, dann aber ziemlich enger, steil aufsteigender Weg, von alten Bäumen beschattet, rechts und links von massiven hohen Steinmauern eingefaßt. Nach einer kurzen Biegung führt er an einigen kleinen Häusern hin, welche zugleich die Seitenwände bilden, und unter alten Bäumen an der Schloßkirche vorbei zum Portal des Schlosses. Der Weg ist, seiner ganzen Konstruktion nach, vom Schloß aus leicht zu bestreichen und namentlich oberhalb der Biegung leicht zu verteidigen.

Meuron stieg mit dem Freunde den Weg hinauf, zeigte ihm den Eingang des Schlosses und wandte sich dann links an der Gartenmauer entlang nach dem Hohlweg.

Es war alles einsam und still, kaum daß ihnen einer der Schloßleute auf dem Wege begegnete. Als sie aber eben um einen Vorsprung bogen, vernahmen sie in dem Schatten der Mauer ein leises Flüstern und sahen eine dunkle Männergestalt, die sich mit einer unsichtbaren, von dem Laubwerk auf der Höhe der Mauer verborgenen Person unterhielt.

Bei dem Herannahen der beiden Freunde schwieg die Unterhaltung, und man hörte oben ein Knistern der Zweige.

Meuron pfiff leise.

Die Gestalt am Fuße der Mauer kam auf sie zu.

»Bist Du es, Alexander?«

»Ja, gnädiger Herr!« Es war der Jäger Meurons.

»Nun, wie stehen die Sachen!«

»Vortrefflich, Herr Leutnant. Louison wird ihrem Vater, dem Concierge, heute Abend, sobald er sich zur Ruhe begeben hat, die Schlüssel fortnehmen und mich einlassen, sobald ich das Zeichen dazu gebe. Sie machte nur einige Umstände wegen dieses weiblichen Teufels, der Bessert, der Frau des Aufsehers, vor dem sie sich alle fürchten, und dann …«

»Nun?«

»Dann hat sie eine Muhme im Schloß, ein Mädchen aus Serrières, die vor kurzem aus Deutschland zurückgekommen und bei ihr zum Besuch ist. Sie muß sie von allem unterrichten, sonst ist es unmöglich.«

»Das ist fatal; Weiber können ihre Zunge nicht halten.«

»O diese gewiß, gnädiger Herr. Sie spricht nur, wenn sie gefragt wird und auch dann so herzlich wenig, daß man die Worte zählen kann.«

»Dann laß es wenigstens erst im letzten Augenblick geschehen, wenn kein Verrat mehr zu fürchten ist. Hast Du die Strickleiter bereit?«

»Ja, Herr Leutnant!«

»Gut. Um 11 Uhr werden die Posten ausgestellt, Du kennst die Orte; Monsieur Jeanrenaud wird auf dem Sammelplatz sein und die Befehle geben.«

»Und Sie, gnädiger Herr?«

»Ich werde die Unsern in dem Peseux empfangen! – Still!«

Eine schrille keifende Stimme ließ sich in dem Garten über der Mauer hören. »Sieh da, Mademoiselle Louison! was treiben wir uns bei Nacht und Nebel hier herum, statt hinter der Lampe zu sitzen und dem Herrn Concierge, dem alten Mann, warme Strümpfe zu stricken! Ei seht mir doch, wahrscheinlich ein Liebhaber, mit dem man ein Rendezvous hat! So irgend ein nichtsnutziger landläuferischer Gesell, der den Petitmaitre spielt und für den man achtbare Leute, wie meinen Neffen Fouron, den Seiler, ausschlägt!«

»Madame Bessert,« sagte eine schüchterne Mädchenstimme, »Sie werden mir's doch nicht verbieten wollen, des Abends im Garten spazieren zu gehen!«

»Spazieren gehen? oh wir kennen das! Thun außen so fromm, wo möglich alle Tage in die Bet- und Plärrstunden bei dem alten Augenverdreher Guillebert, dem Royalisten! Gehören wohl selber zur nichtsnutzigen Clique, die das Volk um seine Rechte betrügt! ich habe wohl gesehen, wie der liederliche Jäger des hochnäsigen Meuron immer um das Schloß schleicht und werde ein ernstes Wort einmal morgen mit dem Vater reden. Das übermütige Volk hat die Lektion von Achtundvierzig vergessen und gebärdet sich wieder, als könne es den Herrn spielen in Neufchâtel! – Wo ist denn das feine Dämchen, das zu maulfaul ist, um einer ehrlichen Frau, einer Patriotin, Red' und Antwort zu stehen?«

»Meine Cousine liest meinem Vater vor, Madame Bessert!«

»Ist auch so eine, die die lieben Engel im Himmel pfeifen hört und wie die Unschuld selbst thut. Wer weiß, was sie getrieben hat draußen in der Fremde. Umsonst ist sie nicht so blaß und schlägt die Augen nicht vom Boden auf. Verdorben kommen sie alle zurück, kein frisches Volksblut mehr in den Adern, wenn sie bei den Junkern und Pfaffen in die Schule gegangen sind!«

Die drei Männer hatten sich unter stillem Lachen längst heimlich davon gemacht.

Unten am Fuß der Anhöhe trennten sie sich; Meuron brachte seinen Freund nach dem Hotel de Commerce und riet ihm, noch einige Stunden sich niederzulegen, nach 12 Uhr wolle er ihn abholen.

Als Otto von Röbel an dem allgemeinen Gastzimmer vorüberging, sah er Kapitän Laforgne an der Tafel sitzen. Die Gesellschaft war ihm durch das trotzige herausfordernde Wesen des jungen Offiziers unangenehm, und er ließ sich das Abendbrot auf sein Zimmer bringen.

Schlafen konnte und mochte er nicht, er war viel zu erregt dazu und brachte die Zeit damit hin, für alle Fälle einen kurzen Brief an seine Eltern zu schreiben und seine wenigen Sachen und seine Waffen in Ordnung zu bringen. Dann öffnete er die Balkonthür seines Zimmers und ließ die frische Seeluft sein Gesicht kühlen.

So saß er wohl zwei Stunden, träumerisch auf die Fläche des Sees, auf die Stadt und die Promenade des Ufers blickend.

Neufchâtel hat nicht die Gewohnheit der großen Städte, die Nacht zum Tage zu machen. Mit dem Schlage 10 Uhr liegen die meisten Bürger in ihren Betten, nur in den wenigen Kaffeehäusern ist noch einiges Leben.

Auch dieses erstarb nach und nach, lange vor Mitternacht war alles Treiben auf den Straßen erloschen, nur das eintönige Geräusch der Wellen, die an den Damm der Promenade schlugen, unterbrach die Stille. Der junge Soldat des Königtums hatte sein Licht längst ausgelöscht, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und ungestört seinen Gedanken nachzuhängen. Unbemerkt führten sie ihn in die Tage seines Knabenalters zurück, zu jener Fahrt mit dem Vater auf der Havel nach Berlin, an das Totenlager des für seinen König durch die Hand der Rebellen gefallenen Bruders, an die Seite des verzweifelnden Mädchens, das in Jammer ihr alles verloren, und nach deren Schicksal er sich vielfach im stillen erkundigt hatte, denn offen durfte diese Erinnerung nie in Gegenwart des strengen Familienhauptes erwähnt werden. Er dachte an den älteren Freund, den der Streit der Parteien, die auch sein Vaterland zerrissen, hinausgetrieben in die Welt, und von dem er seit lange keine Nachricht erhalten, obschon er wußte, daß derselbe nicht weit von ihm entfernt, an dem schönen Ufer des Gardasees eine Zufluchtsstätte und eine sichere Stellung gefunden hatte. Er dachte der Schwester, die ihre Jugend vertrauerte in der treuen Liebe zu jenem, und mit der Energie demütiger und duldender Herzen jede gebotene Partie ausgeschlagen hatte. Er ließ in seinem Träumen die bunten Bilder und Gestalten seines abenteuerlichen Zuges nach Wien an sich vorübergehen, dessen Ehrenzeichen, vom Kaiser längst bestätigt, jetzt seine Brust schmückte, das bunte Lager, das Gefecht in der Vorstadt, die von ihm beförderte Flucht des edlen Ungarn, von dessen Tod am Galgen von Temesvár er in den Zeitungen gelesen hatte; endlich den Sturm auf die Stadt, das grimmige Schlachten in den Straßen und die glückliche Rettung des Freundes. Auch des alten, so strengen und so wohlwollenden Fürsten, des Mannes von Stein, der damals seinen jugendlichen Streich so freundlich beurteilt und ihm das Ehrenzeichen gegeben hatte, gedachte er mit Dank und Rührung. Dann schweiften seine Erinnerungen rasch über die stillen Jahre hinweg, die ihn wieder an die friedlichere Vorbereitung des Lebens gebannt hatten, an seine Dienstzeit als Freiwilliger in Berlin und die ruhige Zeit, die er im Kreise der Familie zugebracht, bis er im Frühjahr seine Reise antrat, die ihn zuerst nach dem Süden Deutschlands und dann, wie er sich dem Freunde verpflichtet, nach der Schweiz geführt hatte. Das Bild jenes widerwärtigen Abends des Scheidens von Berlin und der mehr als zweideutigen und gefährlichen Gesellschaft, in welcher er seinen Bruder zurückgelassen, stand lebhaft vor seiner Erinnerung, aber es wurde gemildert und verscheucht durch die Erinnerung an das duldende stille Mädchen, das ihn vom ersten Wort an so lebhaft interessiert, und dem er die Mittel geschenkt hatte, frei zu werden und nach der Heimat zurückzukehren. Jetzt befand er selbst sich an dem Ort, den sie ihm als ihre Heimat bezeichnet hatte. Ob sie wohl von jenem Geschenk Gebrauch gemacht, ob sie sich frei gemacht hatte von jenem Hause des Lasters oder ob sie doch noch untergegangen in den Verführungen, die sie umringten? Er wußte nicht einmal ihren Namen, er konnte sich also nicht nach ihr erkundigen. Auch hätte er es kaum gethan, selbst wenn er den Namen gewußt, denn er wollte sich den Eindruck jener flüchtigen Erscheinung und seiner freundlichen Handlung nicht verderben.

In dem Hotel selbst war bereits gleichfalls alles zur Ruhe: nur aus dem Fenster des Portiers fiel ein schwacher Lichtschein auf die Quadern des Trottoirs. Der Preuße hatte in seinen Träumereien nicht bemerkt, daß die Thür neben der seinen, die gleichfalls auf einen der kleinen abgesonderten Balkone hinausging, schon vor einer Stunde leise und vorsichtig geöffnet worden war. Der Kopf eines Mannes sah heraus, und als er den Nachbarn in tiefem Sinnen an der eisernen Balustrade sitzen sah, zog er sich zurück, ohne jedoch die Thür wieder zu schließen.

Die Uhr der nahen Kirche, die Mitternacht schlug, weckte den jungen Kämpen für das Königtum aus seinen Träumereien.

Er wußte, daß die Stunde gekommen war und sah aufmerksam hinunter auf die Straßen.

Der Platz war noch immer still, aber er bemerkte, daß einzelne Gestalten an den Häusern verstohlen hinschlichen und ihren Weg die Promenade am See entlang nahmen. Ein scharfes Ohr konnte zuweilen das Klirren von Waffen hören.

Die Straße vom Marktplatz herauf kam im leichten eiligen Schritt ein Mann in einen Mantel gehüllt; er blieb vor dem Hotel stehen, sah sich aufmerksam um und ging dann nach dem matt erleuchteten Fenster des Portiers.

Otto von Röbel glaubte den Freund zu erkennen.

»Meuron, bist Du es?«

»Ja! Bist Du wach? Soll ich hinaufkommen?«

»Es ist unnötig, ich bin bereit und sogleich bei Dir, ich selbst wecke den Portier.«

»So eile, es ist Zeit, daß wir aufbrechen!«

Er schritt vor dem Hause auf und nieder. Der junge Edelmann hatte sich rasch fertig gemacht, er band ein Tuch unter dem Rock um die Taille, steckte seine Pistolen und einige Munition hinein und setzte eine Militärmütze auf, die er unter seinen Sachen hatte. Für alle Fälle hatte er seine ganze Barschaft, und was er von Wert mit sich führte, zu sich gesteckt. Einen Säbel oder Degen, da er als gewesener Soldat eines der Unterkommandos führen sollte, fand er am Ort des Rendezvous.

So ausgerüstet, die Hand vor das Licht haltend, ging er leise die beiden Treppen des Hauses hinunter, blies das Licht aus und pochte an die Loge des Portiers.

Der Mann war augenblicklich zur Hand, er war angekleidet und schien gewartet zu haben.

Der Preuße drückte ihm ein Fünffrankenstück in die Hand. »Öffnen Sie leise die Hausthür, und lassen Sie mich hinaus, die Nacht ist so schön, daß ich noch etwas frische Luft schöpfen möchte!«

Der Mann lächelte, beeilte sich aber, die Thür leise zu öffnen. »Gehen Sie mit Gott, Monsieur, und möge der Sieg mit Ihnen sein! Ich bin nur ein geringer Mann, aber ich rufe aus vollem Herzen: Vive le Roi!«

Röbel ging hinaus, der andere lehnte die Thür an und lugte zuweilen neugierig ins Freie. Sein Herz war, wie er gesagt, bei dem nächtlichen Werk, das sich bereitete.

Es waren etwa fünf Minuten vergangen, und er hörte noch den raschen Schritt der beiden jungen Männer, die sich am See-Ufer hin entfernten, als eine Hand sich fest auf seine Schultern legte.

» Laissez moi sortir s'il vous plait!«

Er fuhr erschrocken zurück, der Lichtschimmer aus der Thür seiner Loge zeigte ihm im Hausflur eine Männergestalt, in ein weites Plaid gehüllt. Es mußte offenbar ein zweiter Fremder aus dem Hause sein, obschon er ihn nicht erkannte, da er den Hut tief ins Gesicht gezogen hatte.

»Monsieur wollen auch dahin? ich wußte nur von dem einen. Sie können sie leicht noch einholen,« sagte der Portier.

» Ouvrez!« Der Fremde stampfte ungeduldig mit dem Fuß. Unter dem Plaid klirrten Waffen.

Der Hauswart öffnete eilig.

»Nun, nun,« sagte er. »Sie werden noch zeitig genug als Fremder dazu kommen. Nicht einmal die eingeborenen Patrioten haben's so eilig.«

Er schloß unwillig und brummend hinter ihm die Thür und legte sich aufs Ohr, in der Hoffnung, daß sein Patriotismus auch morgen noch zur rechten Zeit kommen werde.

Der Zweite, der das Hotel verlassen, orientierte sich durch das Gehör von der Richtung, die seine Vorgänger eingeschlagen, dann folgte er ihnen in der Entfernung von etwa tausend Schritten mit leichtem elastischen Tritt.

Die beiden Freunde schritten unterdes in leisem, aber eifrigen Gespräch an dem Schloß vorüber und schlugen die Richtung nach Serrières und dem Peseux ein.

Als sie die letzten Häuser der Stadt hinter sich hatten, trafen sie auf einen Mann, der mitten im Weg stand.

»Wer da?«

»Freunde des Königs!«

»Gebt die Parole!«

»Friedrich Wilhelm!«

»Passiert!«

Meuron blieb bei der Schildwache stehen. »Wie viel der Freunde sind vorübergekommen?«

»Dreiundvierzig, Herr!«

»Gut! Merkt genau auf alles Verdächtige. Jedermann kann die Stadt verlassen, so lange bis wir passieren. Hinein aber darf vorher niemand von jetzt ab. Sobald wir in die Stadt eingerückt, darf vor morgen früh 5 Uhr gleichfalls niemand mehr die Stadt verlassen. Wer auf den Anruf nicht umkehrt oder den Weg erzwingen will, wird niedergeschossen. Es kommt viel darauf an, daß die Nachricht von unserm Unternehmen nicht zu zeitig in die Berge gelangt. Habt Ihr Eure Instruktion genau verstanden, Freund?«

»Ja, Monsieur de Meuron!«

»Gut, so lebt wohl! in spätestens zwei Stunden sind wir hier.«

Sie gingen weiter. Während des Gesprächs war der Mann, der sie verfolgte, ihnen so nahe gekommen, daß er gezwungen war, sich in dem Winkel einer der Mauern zu verbergen, die rechts und links die Weinberge einschließen. In dieser Nähe hörte er den letzten Teil des Gesprächs, nur war es ihm nicht möglich gewesen, zu Anfang desselben die Parole zu verstehen.

Doch wußte er jetzt genug, um danach seinen Entschluß zu fassen.

Nachdem jene die frühere Entfernung wieder erreicht hatten, trat er aus seinem Versteck und ging dreist auf die Wache zu, sie noch eher anrufend, als sie dies thun konnte.

»He, mein Freund, ist Herr von Meuron mit dem jungen Preußen bereits passiert?« fragte er, »die Herren wollten auf mich warten, da ich den Weg nicht weiß, und nun hab' ich mich leider verspätet.«

»Wenn Sie sich ein wenig eilen, Monsieur,« sagte arglos der Posten, »so können Sie die Herren noch vor Serrières einholen!«

»Und wenn ich sie verfehlen sollte, welchen Weg schlage ich ein zum Versammlungsort? Ich würde mir es nie vergeben, wenn ich zu spät käme.«

»Oh, Sie finden ganz leicht, Monsieur. Das Peseux ist gleich rechts hinter Serrières, Sie brauchen bloß immer die gerade Straße zu verfolgen, wo sie abbiegt, steht sicher ein anderer Posten.«

»Welche Parole hat dieser?«

»Ohne Zweifel ganz dieselbe wie hier – Friedrich Wilhelm!«

»Gut! Auf Wiedersehen, Kamerad!«

Der Fremde hatte ein so militärisches Aussehen gehabt, daß der ehrliche Bürger sich über die Benennung ungeheuer geschmeichelt fühlte, und ihm in seinem Eifer jede Losung mitgeteilt hätte, die er irgend gewußt. Der andere schritt rasch weiter, er wußte jetzt, wo und wie er seine Leute finden konnte.

Meuron und Röbel hatten unterdes Serrières passiert und sich nach dem Peseux gewandt. Mehrere Wachen waren hier bereits ausgestellt, der Oberstleutnant war schon vor anderthalb Stunden eingetroffen, um die Zuzüge zu erwarten. Drei- bis vierhundert Männer waren anwesend, alle gut bewaffnet, meist Leute von den Besitzungen der alten Familien, Land- und Weinbauern, ehemalige Soldaten, kleine Besitzer und Handwerker. Jeder trug eine schwarzweiße Binde um den Arm oder eine große, in die Augen fallende Kokarde am Hut. Den Ankommenden, die noch nicht damit versehen waren, wurden solche sofort von den Frauen und Mädchen gereicht, deren viele mit Körben voll Erfrischungen für ihre Männer, Söhne und Brüder anwesend waren. An verschiedenen Stellen waren preußische Fahnen aufgesteckt. Der Eifer, die Begeisterung waren allgemein, kein Gedanke des Zauderns, des Zurückweichens, oder eines Mißlingens des Erfolges.

Kapitän Laforgne – denn der Bote Garibaldis an das Oberhaupt der republikanischen Agitation war es, der auf den Befehl Mazzinis die Vorgänge beobachtet und vom Hotel aus die beiden Freunde verfolgt hatte – hütete sich natürlich bei den letzten Posten das frühere Vorgeben zu wiederholen und begnügte sich, einfach das Losungswort zu geben, mit dem er überall von den Royalisten für einen der Ihren gehalten wurde. Er blieb unter dem dichten Haufen und vermied es, den Leitern der Bewegung nahe zu kommen.

Während man bis einhalb zwei Uhr auf freiem Felde wartete, um den Nachzüglern noch Gelegenheit zu geben, sich anzuschließen, besprachen die zusammengetretenen Führer: Oberstleutnant Meuron, die Grafen Ludwig und Petitpierre Wesdehlen, Rougemont, Wolfrath, der Hauptmann Reiff und die Brüder Bovet aus Colombier die Art des Angriffs auf das Schloß und verteilten die Rollen. Die beiden Abteilungen, zu der der jüngere Meuron und Röbel gehörten, erhielten die Aufgabe, für die Öffnung des Hauptthors zu sorgen, das Schloß auf der Nord- und Ostseite zu umstellen und abzusperren, und den Präfekten gefangen zu nehmen. Die Hauptmacht der Royalisten sollte an dem Aufgang zum Schloß die Öffnung der Thore erwarten, bevor man mit Gewalt einzudringen suchte. Kleinere Abteilungen hatten die Ordre, die Mitglieder der republikanischen Regierung, von der nur die beiden Häupter, der Präsident Piaget und sein Sekretär Aimé Humbert im Schloß selbst wohnten, in der Stille aufzuheben, sich des Rathauses zu bemächtigen und die Stadt zu besetzen.

Die Mannschaften wurden in die verschiedenen Sektionen verteilt, die achtzig Mann starke Kompagnie des Kanton-Militärs, die bei den Übungen in Colombier sich für die königliche Sache erklärt hatte und mit den Gebrüdern Bovet und Hauptmann Reiff auf dem Sammelplatz erschienen waren, bildete die Hauptmacht und die Vorhut des Zuges.

Noch einmal ließ Oberstleutnant Meuron die Männer einen Kreis schließen, erinnerte sie mit kurzen kräftigen Worten an das Unrecht, das die Republikaner dem königlichen Fürsten, ihrem angestammten Landesherrn und ihnen selbst zugefügt hätten und versprach den Schutz des Königs allen Getreuen, wie auch ihr Unternehmen ausfallen möge. Keiner von allen solle unter dem Ausgange leiden, darauf verpfände er sein Wort.

»Und nun, Brüder,« schloß die Rede des wackeren Veteranen, »ist die Stunde da, in der die Neuenburger sich ihre alten Rechte wieder aufrichten sollen gegen die Bedrückung der Fremden. Wer mit mir ist, der rufe aus voller Brust: » Gott und der König! Es leben Seine Majestät unser Fürst und König Friedrich Wilhelm!«

Ein donnerndes dreimaliges Hoch erklang in die Nacht, dann stimmte eine kräftige Stimme die preußische Volkshymne »Heil Dir im Siegerkranz« an, deren Melodie jedem braven Neuenburger Herzen so bekannt und vertraut geblieben war, wie irgend einem in Mitten des nordischen Preußenlandes, und alle die Männer und Frauen fielen ein, die Fahnen und Waffen wurden aufgenommen, und unter den Klängen des patriotischen Gesanges setzte sich der Zug in Bewegung.

Als sie in der Nähe der großen Straße und von Serrières gekommen waren, geboten die Führer Schweigen. Hier mußten auch die Frauen und Kinder zurückbleiben; sie trennten sich unter Segenswünschen und Ermunterungen, sich, wenn es nötig, tapfer zu schlagen, von den Ihren.

In Schweigen marschierte der Zug vorwärts.

Kapitän Laforgne befand sich in den hintersten Reihen; neben ihm marschierte ein stattlicher Mann von großer robuster Figur und mittleren Jahren, ein Weinbauer aus der Umgegend. Er erzählte gesprächig seinem Nachbar, den er für einen Preußen hielt, daß er vier Jahre und zwar unter dem verewigten Friedrich Wilhelm III., dem alle alten Neuenburger treue Verehrung bewahren, in Berlin gedient habe, und zwar nicht, wie die meisten seiner Landsleute, bei dem Schützenbataillon, sondern aus besonderer Liebhaberei bei der Garde-Artillerie, wo er es zum Unteroffizier gebracht hatte. In Berlin hatte er die Bekanntschaft eines armen aber braven Mädchens gemacht, das er, als der Tod seines Vaters ihn in den Besitz eines kleinen Erbes gebracht, geheiratet und nach der neuen Heimat geführt hatte. Treu dem König und im preußischen Geist wären seine drei Söhne von ihrer braven Mutter erzogen; der älteste habe mit seinem Willen Neuenburg verlassen und diene in der preußischen Armee seine Zeit ab, und so wolle er es auch mit den beiden jüngeren halten.

Der Mann hatte etwas überaus Gemütliches, Offenes in seinem ganzen Wesen und sprach so fest und männlich, daß der Abenteurer unwillkürlich Achtung für ihn gewann und mit Gewalt sich erinnern mußte, daß er zu ganz andern Zwecken hier war. Von ihm erfuhr er, daß man eine Gegenrevolte der Montagnards besorgte und die Hoffnung des Sieges allein auf deren gegenwärtigen Zwiespalt mit den Independants setzte.

Man hatte jetzt die letzten Posten vor der Stadt passiert und es war nochmals die Instruktion des jungen Meuron eingeschärft worden, von diesem Augenblick an niemand mehr aus der Stadt passieren zu lassen.

Die Straßen waren einsam, nur in den Häusern einiger Getreuen, die um die Unternehmung wußten, brannte halbverborgen Licht.

Etwa 1000 Schritt von dem Schloß entfernt, machte die Schar Halt. Oberstleutnant Meuron ermahnte die Führer der einzelnen Abteilungen nochmals zu Schnelle und Umsicht, dann marschierten diejenigen, denen der Auftrag geworden, die Stadt zu besetzen und die Regierungsmitglieder zu verhaften, in aller Stille vorwärts.

Die felsige Anhöhe, auf der das Schloß liegt, wurde auf drei Seiten von Posten umstellt, der Oberstleutnant mit seiner etwa 200 Mann starten Schar blieb zurück, um durch seine Annäherung auf dem Hauptwege nicht eher Lärm zu machen, als bis der Ausgang der Verhandlung des Jägers entschieden war.

Der jüngere Meuron hatte gleichfalls die Ordre erhalten, sein Unternehmen zu beginnen, und er zog mit seiner aus einigen zwanzig Mann bestehenden Abteilung links um den Schloßgarten nach dem Hohlweg zu, der nach Nordosten die Burg von der Stadt trennt.

Der Felsen, auf dem das Schloß steht, ist hier etwa 70 Fuß hoch, und die Mauern erheben sich unmittelbar aus dem Gestein.

An der Biegung des Weges stellte man einen Posten aus. Hier machte die kleine Kolonne Halt.

»Ich kann Dir nur fünf Mann geben,« sagte Meuron zu dem Freunde. »Gelingt Alexander der Streich, so ist es genügend; mißlingt er, so können wir auf den andern Punkten niemand entbehren. Während ich mich des Präfekten bemächtige, öffnest Du den Freunden das Thor des Schlosses und nimmst die beiden Schurken fest, die so lange eine Geißel für Neufchâtel waren. Verlaß Dich in jeder Beziehung auf den Jäger, er weiß in jedem Winkel des alten Nestes Bescheid und wird Dich führen. Sobald Ihr Herren des Schlosses seid, laßt ihr als Signal die Rakete steigen. Und nun – vorwärts! Gott und der König!«

Fünf Mann außer dem Jäger blieben zurück, mit den anderen wandte sich Meuron nach dem Innern der Stadt, um den Präfekten Matthey, einen der enragiertesten und entschlossensten Gegner der Royalisten, zu verhaften.

Unter den Fünfen befand sich Kapitän Laforgne; es war ihm unmöglich gewesen, sich zurückzuziehen, als Herr von Meuron ihn arglos dem kleinen Haufen zugeteilt hatte. Jetzt blieb ihm nichts übrig, als sich auf sein gutes Glück, seine Besonnenheit und das Dunkel der Nacht zu verlassen.

Der Jäger Alexander ging voran, Otto von Röbel, den blanken Hirschfänger, mit dem man ihn im Peseux versehen, in der Hand, folgte zuletzt, um seinen kleinen Trupp im Auge zu behalten.

Man schlich an der Felsenwand hin, bis man an die Stelle gekommen, über der das von der Tochter des Concierge bezeichnete Fenster lag.

Auf den Rat des Jägers mußten sich die fünf Männer dicht an der Felswand verbergen. Mit dem jungen Preußen trat der Leiter der Expedition dann auf die entgegengesetzte Seite und pfiff leise.

Bei der dritten Wiederholung hörten sie in der Höhe leise ein Fenster öffnen.

»Louison!«

»Ich bin hier!«

»Hast Du die Schlüssel?«

»Hier sind sie, aber ich habe so große Angst, ich zittre an allen Gliedern.«

»Thorheit, Kind! Du weißt, es kann Dir nichts geschehen und unser Glück steht auf dem Spiel. Laß die Schnur fallen!«

»Wohlan denn, Alexander, auf Dich kommt die Schuld!«

Ein Arm streckte sich aus dem Fenster; der Jäger tappte an der Mauer umher, bis er das Ende der Schnur fand, die sie hatte herunter fallen lassen. Er hatte die seidne Strickleiter, die er um den Leib gewickelt getragen, bereits gelöst, und band sie an die Schnur.

»Auf, Louison, und befestige sie gut! Du weißt, mein Leben hängt davon ab! Zum Teufel! was ist das? wer ist bei Dir?«

Er hatte trotz der Dunkelheit zwei Gestalten an dem Fenster und vier Arme bemerkt, die sich bemühten, die schwanke Leiter emporzuziehen.

»Meine Cousine ist bei mir, fürchte nichts, Alexander, sie ist auf unserer Seite!«

Die vereinten Kräfte der beiden Mädchen hatten rasch die geringe Last in die Höhe gezogen und waren jetzt bemüht, die Enden der Seidenstricke zu befestigen.

Der Jäger probierte unten die Haltbarkeit, indem er sich mit der ganzen Kraft seines Körpers an die Leiter hängte; sie hielt!

»Wollen Sie vorangehen, Monsieur de Röbel?«

»Ich könnte die Mädchen erschrecken und werde der letzte sein. Sobald Sie oben sind, bemächtigen Sie sich vor allem der Schlüssel, und halten Sie das Fenster gegen jeden Angriff.«

»Mit meinem Leben, Herr! Sobald ich die Schlüssel habe, soll niemand sie mir entreißen!«

Er setzte den Fuß in die erste Schlinge und klomm in die Höhe.

Droben mochte er wohl einige Unterhandlungen pflegen müssen mit der Tochter des Kastellans über die Zahl derer, denen der Eintritt auf diese Weise gestattet werden sollte; denn es dauerte einige Minuten, bevor er sich aus dem Fenster beugte und Otto von Röbel leise zurief, daß er im Besitz der Schlüssel sei, und sie ohne Besorgnis nachfolgen möchten.

Der junge Preuße winkte dem nächsten Mann und hieß ihn hinaufsteigen. Dies geschah, noch drei verschwanden in dem Fenster der Mauer.

Nur er selbst und der fünfte Mann waren noch am Fuß der Leiter.

Dieser zögerte; er hielt sich möglichst im Dunkel der Mauer und hatte seinen Tiroler Hut tief in das Gesicht gezogen.

»Nun voran, Freund, auf was wartet Ihr noch?«

»Gehen Sie selbst voran, Herr, ich werde der letzte sein,« sagte der Mann mit dumpfer Stimme. »Ich leide an Schwindel, und könnte auf Sie fallen!«

»Ich werde mich vorsehen, mein Freund,« erklärte der Preuße. »Ich bin gewohnt, mich nur auf mich selbst zu verlassen und werde deshalb unter allen Umständen der letzte sein. Hier darf niemand zurückbleiben, also steigt ohne weiteres hinauf, wenn ich nicht zweifeln soll, daß Ihr es redlich meint, und ich Euch zwingen muß.«

Einen Augenblick noch zögerte der Mann – es war Laforgne – und bedachte sich, ob er, da er mit seinem Gegner allein war, sich nicht auf ihn werfen und Lärm machen solle. Aber der Gedanke, daß ihm dies bei der Unbekanntschaft mit den Örtlichkeiten und ohne Beistand nichts nützen und nur die Maßregeln der Gegner beschleunigen würde, hielt ihn davon zurück. Er setzte den Fuß in die Leiter und stieg empor.

Den blanken Hirschfänger noch immer in der Hand folgte ihm der junge Anführer.

Als sie oben waren, befanden sie sich in einem ziemlich geräumigen Zimmer. Der Raum war nur durch den matten Schein erhellt, der durch das Fenster herein kam.

»Können wir Licht machen, Louison?«

»Noch nicht, erst, wenn wir über den Korridor sind. Auf der andern Seite schläft Frau Bessert, sie ist das argwöhnischste Weib, das es in ganz Neufchâtel giebt, und würde beim geringsten Verdacht das ganze Schloß in Alarm bringen!«

»Der Teufel soll ihr das Licht halten, wenn sie es wagt. Ich schnüre der alten Hexe die Kehle zusammen, schon für die Schandreden, die sie Dir gestern Abend zu hören gab. Nun, Monsieur de Röbel, müssen wir uns teilen. Ich nehme zwei Mann, um mir zu helfen, die Riegel von dem Thor zu heben und den Eingang zu bewahren, bis der Oberstleutnant herein ist. Das wird nicht ohne Lärmen abgehen, ich kenne unsere Burschen. Also nehmen Sie die andern drei, um den Halunken Piaget und sein Faktotum festzunehmen. Bedrohen Sie sie mit dem Tode, wenn sie sich zu rühren wagen. Wo ist Deine Verwandte, Louison?«

»Sie ist in unser Zimmer neben dem des Vaters zurückgekehrt, um acht zu geben, daß er nicht erwacht.«

»Dann mußt Du diesen Herrn führen und ihm die Wohnung des Präsidenten zeigen. Ich kenne meinen Weg durch die Gänge und Höfe schon allein. Hast Du Feuerzeug?«

»Hier ist es!«

»Gut, dann nimm diese beiden Enden Wachslicht und zünde sie an, sobald Ihr an Ort und Stelle seid. Auf Wiedersehen, Herr von Röbel; sobald wir Herren der Eingänge sind, wird ein Pistolenschuß Ihnen das Signal geben.«

Louison öffnete ihnen vorsichtig die Thür; leise schlichen der Jäger und seine beiden Begleiter den Korridor entlang, der zu den innern Höfen und dem großen Schloßthor führte.

Als sie sich entfernt hatten, ergriff das Mädchen die Hand des Preußen und bat ihn flüsternd ihr zu folgen. Röbel gab seinen Leuten den Befehl, sich einer hinter dem andern dicht bei ihm zu halten und kein Geräusch zu machen.

So gingen sie vorwärts, zuerst durch einen langen Gang, der an dem Zimmer des Concierge vorüberführte, dann stiegen sie eine Treppe hinauf zum ersten Stock, wo die Wohnung des Präsidenten und seines Sekretärs sich befand.

Hier blieb das Mädchen stehen, sie zitterte vor Furcht und Angst.

»Das ist alles, Monsieur, was ich für Sie thun kann, der Himmel möge Ihnen und Alexander weiter helfen. Entlassen Sie mich jetzt, denn mein Vater darf mich um keinen Preis außerhalb meines Zimmers finden, wenn der Lärm ihn erweckt. O mein Gott, vielleicht ist es schon zu spät!«

Er hielt sie zurück.

»Einen Augenblick noch, mein Kind. Wie viel Ausgänge hat die Wohnung dieser Herren und steht sie sonst noch in Verbindung mit dem Innern des Schlosses?«

»Nein, Monsieur, es sind allein zwei Thüren, die in das Vorzimmer und auf diesen Gang münden. Hier ist die eine, die andere befindet sich dort, wo die drei Stufen hinaufgehen, an der Wendung der Treppe.«

»Gut. Und wohin führen ihre Fenster?«

»Sie sind sämtlich mit Eisengittern versehen. Eine Flucht ist nur durch diese Thür möglich.«

»Dann haben wir sie in der Falle. Jetzt zünden Sie das Licht an, Mademoiselle, und dann überlassen Sie das weitere uns. Der König soll den mutigen Dienst, den Sie unserer Sache geleistet, erfahren. Hier Mann, stellen Sie sich vor diese Thür und lassen Sie niemand heraus; brauchen Sie nötigenfalls Gewalt, bis man Ihnen zu Hilfe kommt. Sie da bleiben hier mit demselben Befehl, indes ich und … Höll' und Teufel!« unterbrach er sich, denn der Schein des von der Kastellantochter angezündeten Lichtes erhellte den Vorplatz, auf dem sie sich befanden, »wo ist der dritte Mann?«

Der Platz, die Treppe waren leer; – der Mann war verschwunden, auch die beiden andern wußten keine Auskunft über ihn zu geben, jeder hatte ihn vor oder hinter sich im Dunkel geglaubt.

Plötzlich noch während sie die Sache besprachen, fiel unter ihnen, in dem Korridor, aus dem sie gekommen, eine Thür ins Schloß, und man hörte ein lautes Kreischen: »Zu Hilfe! zu Hilfe!«

Das Mädchen ließ in Todesschrecken das Licht fallen.

»Barmherziger Gott, wir sind verraten! ich bin verloren!«

Sie rannte in wahnsinniger Furcht davon.

Der junge Anführer hatte das noch am Steinboden fortglimmende Licht aufgerafft. »Wenn Verrat im Spiel ist, so ist es der Schurke, der nicht die Leiter hinauf wollte. An Eure Posten, Freunde, und thut, wie ich befohlen! die unsern müssen sogleich im Schloß sein!«

Die Kerze mit der Hand, vor dem Luftzug schützend, sprang er die Treppe hinab, vier, fünf Stufen auf einmal, es galt ihm, den Alarm so lange zu verhindern, bis die am Thor ihr Werk gethan. Im Nu war er auf dem Korridor, in demselben Augenblick fiel es ihm ein, daß die Thür des Zimmers, zu dem sie emporgestiegen, von ihnen offen gelassen worden, daß die Strickleiter noch am Fenster befestigt war.

Aus demselben Zimmer klang jetzt das Zetergeschrei einer weiblichen Stimme: »Mord! Feuer! Aufruhr! Zu Hilfe, Patrioten, zu Hilfe!«

Mit zwei Sätzen war der Preuße an der Thür, schon vernahm man Geräusch in den anstoßenden Wohnungen.

An der Thür prallte er zurück; der Mann, den sie vermißt, stand auf der Schwelle.

»Wahnsinnige Närrin, hinunter mit Euch! bringt die Stadt in Alarm! hier nützt Euer thörichtes Geschrei nichts – ich decke Eure Flucht! Zurück, Herr, oder ich schieße Sie nieder!«

Die letzte Drohung war gegen den Preußen gerichtet, der in das Zimmer dringen wollte. »Aus dem Wege Du selber, Verräter!« Er hob die Hand mit dem Licht, faßte mit der andern fest die blanke Waffe, sein Blick fiel auf den Gegner und er fuhr unwillkürlich betroffen zurück.

»Leutnant Laforgne!«

» Kapitän, Herr von Röbel, wenn es Ihnen nichts verschlägt,« sagte mit spöttischem Lächeln kaltblütig der Abenteurer, indem er noch immer die Pistole ihm entgegenstreckte. »Ich versichere Sie, wenn meine würdigen Landsleute Rom nicht so zeitig genommen, könnte ich Oberst sein!«

»Leutnant oder Kapitän, was thun Sie hier, Herr?«

»Es scheint, Sie examinieren mich! doch müßten Sie mir zuvor sagen, mit welchem Recht?«

»Das Recht kennen Sie, da Sie sich in unsere Mitte gedrängt. Aus dem Wege, Herr!«

Kapitän François sah sich um nach dem Zimmer.

»Zum Teufel, alte Vettel, so machen Sie doch, daß Sie aus dem Fenster kommen, statt hier zu schreien, die Strickleiter hängt ja dort! Sachte, mein Herr, ich wiederhole Ihnen, daß Sie diese Schwelle nicht überschreiten werden, bis die würdige Dame dort glücklich auf die Straße gelangt ist. Zurück, oder ich schieße Sie nieder, wie einen Hund!«

»Hund Du selbst!«

Von dem blitzschnellen Schlage des Hirschfängers flog der Revolver in die Höhe, noch ehe Kapitän Laforgne, der mit dem jüngern Mann glaubte spielen zu können, abgedrückt; im selben Augenblick hatte der Preuße Waffe und Licht fallen lassen und sich auf seinen Gegner gestürzt, den er über die Schwelle in das Gemach zurückwarf.

Durch das Unerwartete des kühnen Angriffs war der Republikaner zu Boden geworfen, aber mit der durch sein abenteuerliches Leben ausgebildeten Muskelkraft und Gewandtheit gelang es ihm rasch, das Spiel wieder herzustellen und seinen Feind mit sich niederzureißen. Durch die größere Erfahrung im Kampf ersetzte er das, was sein jüngerer Gegner an körperlicher Kraft voraus hatte, und beide rangen etwa zwei Minuten lang am Boden ohne zu sprechen.

Während dieses Kampfes verdunkelte ein menschlicher Schatten das Fenster des Gemaches, schwang sich hinaus und glitt auf der Leiter die Mauer hinab.

Man hörte Thüren schlagen, durch das Gewölbe krachte das Echo eines Schusses, gleich darauf lautes Jubelgeschrei: » Vive le Roi!«

»Zur Hölle mit ihm! Vive la Republique!«

Die ungeschwächte Jugendkraft des jungen Preußen hatte in diesem Augenblick über die größere Gewandtheit des Garibaldiers einen Sieg errungen, der Kapitän Laforgne lag mit keuchender Brust unter seinem Knie.

»Ergeben Sie sich, Herr!«

»Einem Knaben? Niemals!« Er versuchte das Pistol aus dem Gürtel des Gegners zu reißen, aber Otto von Röbel kam ihm zuvor und entwand es ihm.

Diesen Augenblick benutzte sein Feind, in die eigne Brusttasche zu fassen und zugleich des Preußen Knie von sich abzuschütteln, indem er sich auf das seine erhob.

Die linke Faust des Deutschen auf seiner Schulter hielt ihn jedoch noch immer halb am Boden. In diesem Augenblick fiel ein heller Lichtstrahl in das Gemach und zeigte beide Kämpfer einander.

Otto von Röbel hatte den Hahn des Pistols gespannt: »Zum letzten Mal, geben Sie sich gefangen?«

»Niemals! nimm dies!«

In dem Schein des hellen Lichts sah der Preuße einen hellen Blitz funkeln; gedankenschnell griff er mit der Linken zu und faßte die mit einem scharfen italienischen Stilet bewaffnete Hand des Kapitäns. Der Stoß, der sonst von unten herauf seine Brust durchbohrt hätte, ging seitwärts und fuhr an seinen Rippen hin, ihn leicht verwundend, aber der Zorn darüber reizte ihn so, daß er die Mündung der Pistole auf die Stirn des Gegners senkte und den Finger an den Drücker legte, ohne sich darum zu kümmern, daß dieser Mann einst seiner Familie das Anerbieten einer Million überbracht hatte.

»Stirb!«

Der Schuß krachte, das Feuer versengte das schwarze Kraushaar des Abenteurers, aber die Kugel pfiff neben seinem Schädel vorüber und schlug in das Estrich.

Eine Frauenhand hatte sich in dem verhängnisvollen Augenblick auf den Arm des jungen Preußen gelegt und ihn zurückgezogen.

Das Licht, das ihre andere Hand trug, dasselbe, dessen Schein auch dem Sieger die Gefahr gezeigt, in der er selbst geschwebt, beleuchtete ihre Gestalt und ihr von der Angst und Aufregung leicht gerötetes Gesicht, wie die beiden Gegner, die sich jetzt gegenüberstanden, denn Laforgne war nach dem Schuß emporgesprungen.

Beide starrten gleich einem Gespenst die Erscheinung an, die sie so plötzlich getrennt.

Es war eine schlanke Mädchengestalt, in ein einfaches Nachtgewand gekleidet. Ihr hübsches sanftes Gesicht mit einem demütigen, schmerzlichen Zuge um den Mund drückte jetzt Angst und Schrecken aus und das blaue Auge war mit unwiderstehlicher Bitte auf sie gerichtet.

» Elise

Der Ausruf erklang so gleichzeitig von den Lippen der beiden Gegner, daß es fast wie ein und derselbe Schrei war, und sie erstaunt sich einander anstarrten.

Aber auch auf die Friedensstifterin schien der Ruf einen merkwürdigen, überraschenden Eindruck zu machen, denn ihre Augen erweiterten sich und nahmen den Ausdruck freudigen Staunens statt des bisherigen Schreckens an. Dann fiel sie plötzlich zwischen den beiden Feinden auf die Knie und streckte die Arme aus, als wolle sie beide von einander trennen.

»Halten Sie ein! halten Sie ein,« rief sie tief erregt, »Gott selbst hat mich in diesem schrecklichen Augenblick zwischen Sie geführt, um eine blutige That zu verhindern, die mein Herz gebrochen hätte. O Sie, die beiden einzigen Menschen, die mir Großmut und Güte bewiesen, die mich von Tod und von Schande gerettet, Sie dürfen sich nicht so begegnen, und müßte ich es mit meinem Leben verhindern. Töten Sie mich eher, nur durch mein Herz geht der Weg zu dem Ihren!«

Der Preuße hatte die Waffe gesenkt. »Wie, Mademoiselle, so seltsam müssen wir uns wiederfinden? Ich wußte nicht, daß dieser Herr Ihnen bekannt und sein Leben Ihnen teuer sei – sonst …«

»Keine Beleidigung, mein Herr!«

Sie hatte die Hand des jungen Preußen gefaßt. »Sie wissen nicht, was er für mich gethan hat, als ich noch ärmer und verlassener war, als zur Zeit, wo Sie mir begegneten und mir die Mittel gaben, mich einer traurigen Stellung zu entziehen und in mein Vaterland zurückzukehren. In meinen Träumen, in meinen Gebeten habe ich täglich an Sie beide gedacht und Gottes Segen für Sie erfleht, o lassen Sie nicht jetzt mich bedauern, Sie wiedergefunden zu haben!«

Der Kapitän stand, trotzig vor sich niedersehend, nur zuweilen warf er einen raschen, finstern Blick auf das Mädchen und seinen Gegner.

Dieser, von milderem, freundlicherem Charakter, war von dem unerwarteten Wiedersehen der jungen Neufchâtelerin und von ihren Worten tief bewegt worden; der Zorn über den Angriff Laforgnes und seine leichte Wunde war in seinem ritterlichen Geist bereits erloschen.

»Geben Sie sich gefangen, Herr Kapitän,« sagte er freundlich, »das Schloß muß bereits in unsern Händen sein, und weiterer Widerstand wäre thöricht!«

»Der Übermacht dort, nicht Ihnen!«

Laforgne wies nach der Thür, durch welche eben Oberst-Leutnant Meuron mit einer Anzahl Royalisten eintrat.

»Was ist geschehen, Herr von Röbel? Wir vernahmen hier einen Schuß, und ich war schon besorgt um Sie, nachdem mir der Jäger meines Neffen gesagt, wie wacker und einsichtig Sie sich benommen. Wer ist der Mann dort?«

Der Preuße rapportierte kurz das Geschehene.

»Wie? ein Spion unter uns? Wer sind Sie, mein Herr? wie haben Sie es wagen können, sich unter uns einzuschleichen und uns zu täuschen?«

»Wer ich bin,« sagte der Kapitän trotzig, »das wird Ihnen dieser Herr hier mitteilen können. Aber ich will es Ihnen selbst sagen: ein Feind der Tyrannei, ein Soldat der Republik und der Freiheit der Völker, und als solcher habe ich meine Pflicht gethan, Sie zu verhindern, dies freie Land wieder unter die Knechtschaft eines Fürsten zu bringen!«

»Wir werden später, wenn mehr Zeit ist, über Ihre angebliche Pflicht weiter verhandeln,« bemerkte ruhig der alte Oberstleutnant. »Sie sind ein Fremder, wie ich von Herrn von Röbel höre, und mit Revolutionären von Profession machen wir wenig Umstände. Durch Ihre Hilfe ist jenes höllische Weib entwischt, dessen Kehle genügt, um uns vor der Zeit die Feinde des Königtums auf den Hals zu hetzen. Das Blut, das deshalb wahrscheinlich vergossen wird, komme auf Sie. Vor der Hand will ich wenigstens sorgen, Sie unschädlich zu machen. Entwaffnet und bindet den Burschen, Leute!«

»Mich binden? Wage es niemand!«

Aber schon hatten sich drei stämmige Männer auf ihn geworfen, und, nachdem er vergeblich gegen sie gerungen und einen der Gegner nicht unerheblich mit dem Stilett verwundet hatte, wurde er entwaffnet, zu Boden geworfen und an Händen und Füßen gebunden, so daß er sich nicht rühren konnte.

Die junge Gouvernante hatte ihm zu Hilfe eilen oder wenigstens den Oberbefehlshaber der Royalisten um Schonung für den Gefangenen anflehen wollen, aber Otto von Röbel hielt sie zurück, indem er sie versicherte, daß ihre Einmischung nutzlos sein und jenem nichts weiter geschehen würde. Später, wenn die Gemüter beruhigt und die Ordnung wieder hergestellt sein würde, werde er selbst sich des Kapitäns annehmen. Er übergab sie ihrer Cousine, die, sehr erschrocken und unschuldig thuend, mit ihrem Vater und mehreren andern Schloßbewohnern jetzt herbeigekommen war, und ließ sie von dieser fortführen. Zugleich erschien Alexander, der Jäger, und berichtete dem Oberstleutnant, daß die Herren Piaget und Humbert in ihren Wohnungen überrascht und verhaftet worden wären und dort jetzt sicher bewacht würden. Sämtliche Ausgänge des Schlosses waren mit Posten besetzt und an der Barrikade in dem hohlen Weg, der zu dem Hauptthor führte, wurde rüstig gearbeitet.

Der Oberstleutnant nahm seinen Hut ab und trat in die Mitte des Kreises: »So erkläre ich denn hiermit dieses Schloß und Land wieder für fürstliches Gebiet und Eigentum unseres Allergnädigsten Herrn, Sr. Majestät des Königs von Preußen, die gegen alles Recht und Gesetz aufgedrängte Regierung der Schweizer Republik abgesetzt und die alten Behörden unsers Königfürsten wieder hergestellt. Ich nehme in seinem Namen Besitz von Stadt und Land und pflanze die ehrwürdige Fahne unserer Väter wieder auf den Turm dieses Schlosses. Möge sie lange und siegreich dort wehen, und, wer es wagt, sie anzutasten, wird als Feind und Verräter von jedem braven Neuenburger behandelt werden! Wer es redlich meint mit seinem Vaterland, der rufe mit mir: Vive le Roi!«

Otto von Röbel hatte ihm eine der Fahnen gereicht, welche die eingedrungenen Royalisten mit sich geführt. Der Oberstleutnant erhob sie. Bei dem Anblick dieses so lang entbehrten, so tief in ihrem Herzen bewahrten Banners, unter dem ihre Väter glücklich gewesen und sie selbst wenigstens ihre heitere Jugend verlebt hatten, brach der alte Enthusiasmus in unverkümmertem Strom aus jeder Brust, und dreimal weckte ein donnerndes

Vive le Roi!

das Echo der alten Mauern.

Die Fahne voran, gefolgt von den Royalisten, stieg der Oberstleutnant von Meuron, nachdem er Befehl gegeben, den gefangenen Spion, wie er den Kapitän nannte, in das Gemach einzuschließen und einen Posten vor die Thür zu stellen, die Treppe zum Hauptturm des Schlosses hinauf und pflanzte mit eigener Hand die preußische Fahne wieder an die Stätte, von der sie so lange verdrängt gewesen war. Dann wurden sofort alle nötigen Anstalten getroffen, das Schloß in Verteidigungsstand zu setzen und die in dem kleinen Arsenal, der alten Rüstkammer der Burgherrin, aufbewahrten Waffen für den am andern Morgen erwarteten Zuzug aus Stadt und Land bereit zu machen. In dem Hohlweg zur Burg wurde, wie bereits erwähnt, eine starke Barrikade errichtet und mit den beiden mit Kartätschen geladenen Kanonen besetzt, die man im Schlosse gefunden. Der alte preußische Artillerist, mit dem Kapitän Laforgne von dem Peseux her marschiert war, erwies sich hierbei besonders nützlich und thätig.

In dem Ratssaal des alten Schlosses hatte der Oberstleutnant sein kleines Hauptquartier aufgeschlagen und die Offiziere und Führer der Royalisten versammelt, um mit ihnen die weiteren Schritte zu beraten und Rapporte und Nachrichten aus der Stadt und den Bergen in Empfang zu nehmen. Aus den letztern durfte man sie erst gegen Mittag erwarten und mußte sich bis dahin gedulden. Herr von Meuron entwarf eine Proklamation an die Bewohner von Neuenburg, die der treue und mutige Wolfarth noch in der Nacht drucken und an den Straßenecken anschlagen ließ. Sie lautete:

 

»Es lebe der König! Die königliche Fahne weht aufs neue auf dem Schloß unserer Fürsten. Neuenburger! danket Gott! Zu mir, Ihr Getreuen!

Der Kommandant des ersten Bezirks,
v. Meuron, Oberstleutnant.

Schloß Neuenburg, den 3. September 1856.«

 

Nach und nach gingen die Nachrichten aus der Stadt ein, die allmählich aus dem Schlaf erwachte und sich zu ihrem großen Erstaunen auf einmal wieder unter der alten Landesherrschaft fand.

Hier ergab sich der erste große Fehler, den die Führer der royalistischen Partei aus Besorgnis vor einem Verrat begangen: man hatte, wie bereits erwähnt, in der Stadt und überhaupt im Lande nur sehr wenige Personen ins Vertrauen gezogen. Graf Pourtalès mit seinen Freunden rechnete auf die ihnen bekannten Gesinnungen und den Einfluß seines durch viele Wohlthaten bei dem Volke seit langen Jahren beliebten Namens, um, sobald bekannt geworden, daß er sich an die Spitze gestellt, eines großen Zulaufs sicher zu sein.

Aber die Bürger, so gut royalistisch sie im Herzen größtenteils gesinnt waren, wurden durch das Plötzliche der Schilderhebung zu sehr überrascht, um so schnell einen Entschluß fassen zu können, wie es hier nötig gewesen wäre, wenn die Sache von Erfolg sein sollte. Man zögerte, man beriet, einzelne kamen und schlossen sich an, die Mehrzahl aber wollte erst die Nachricht aus den Bergen abwarten, und so vergingen kostbare Stunden. Unterdes zeigte man doch vielfach offen die Sympathieen für die Royalisten, indem man Körbe mit Lebensmitteln und Fässer mit Wein aus vielen Häusern auf das Schloß schaffte und sie so verproviantierte.

Dies alles geschah im Laufe des Vormittags am 3ten.

Erhitzt und verstimmt trat der jüngere Meuron eine Stunde nach der Occupation des Schlosses in den Saal, wo die Führer der Royalisten Rat hielten.

Er warf Hut und Degen auf einen Tisch. »Der Teufel hole den Schurken, er ist auf und davon!«

»Wer?«

»Wer anders, als dieser Spitzbube von Schweizer, der Präfekt Mathey! Er wird die ganzen Berge in Alarm bringen, wo der Kerl unter den Roten großen Anhang hat. Wenn Ihr die beiden Haupthähne hier im Schloß, Piaget und seine rechte Hand, Humbert, erwischt habt, so ist es gut, die andern sind alle fort!«

Der Oberstleutnant runzelte die Stirn. »Das ist sehr unangenehm. Wie war dies möglich? wie ist es geschehen?«

»Im erstern Fall ist meine eigne Thorheit schuld, wie konnte ich auch ein Narr sein und einem republikanischen Diebe trauen? Die andern Mitglieder der Regierung sind durch den höllischen Lärm gewarnt worden, den ein Weib erhob, das aus dem Schlosse entsprungen sein soll. Sie hat an ihre Thüren geklopft und sie wach gerufen, während wir uns des Stadthauses bemächtigten. Unter den Händen ist der Drache uns entwischt, ich habe das Weib durch zwei Leute verfolgen lassen, aber sie werden sie zwischen den Weinbergen schwerlich wieder einholen.«

»Du hattest Befehl, zuerst Mathey zu verhaften. Er ist der Entschlossenste von allen und kann uns gefährlich werden.«

»Ich habe die Ordre auch vollzogen wie ein Soldat, aber mich dann wie ein Schulbube betölpeln lassen.«

»Sprich!«

»Wir schlugen die Thür ein, und ich fand den Spitzbuben noch in Schlafrock und Unterbeinkleidern, wie er eben erst aus dem Bett gesprungen war. Seine Frau war in das Nebenzimmer geflüchtet. Ich erklärte ihn im Namen des Königs, seines rechtmäßigen Herrn, für meinen Gefangenen und sagte ihm, daß ich Ordre habe, ihn an die neue fürstliche Regierung die wieder von dem Lande Besitz ergriffen, auf das Schloß abzuliefern. Er war anfangs erschrocken und wollte protestieren, als ich ihm aber bedeutete, daß man nicht viel Umstände mit ihm machen werde und strenge Ordre seinetwegen vom Oberkommandanten Grafen Pourtalès gegeben worden sei, verlangte er, zu diesem geführt zu werden und bat um die Erlaubnis, sich erst ankleiden zu dürfen. Ich war so einfältig, ihm zu gestatten, sich zu diesem Zweck ins Nebenzimmer zu seiner Frau zu begeben! Wir hörten sie die Thür zuriegeln und als ich die Öffnung verlangte und mit Gewalt drohte, suchte sie mich mit Redensarten und Ausflüchten hinzuhalten, bis sie ihn an Bettlaken und Handtüchern aus dem Fenster in den Garten hinabgelassen hatte. Als ich endlich die Thür sprengte, war er auf und davon, und wir hatten das Nachsehen!«

Der Oberstleutnant tadelte mit strengen Worten die Unvorsichtigkeit, aber der Fehler war nicht mehr zu ändern, und man mußte die Folgen abwarten.

Der jüngere Meuron hatte unterdes von dem Freunde das ähnliche Mißgeschick erfahren und drang erbittert darauf, daß der angebliche Spion sofort verhört und Kriegsgericht über ihn gehalten werde.

Die Besprechungen waren bei offenen Thüren geschehen, während die Royalisten ab- und zugingen. In den Höfen hatte man große Feuer angezündet und sich um sie her gelagert, während von den herbeigeschafften Lebensmitteln gezehrt, und ein Faß Wein nach dem andern angezapft und lustig auf das Gelingen der Erhebung getrunken und der König in unaufhörlichen Toasten gefeiert wurde.

Dadurch waren die Männer aufgeregt worden, und der Vorschlag des jüngeren Meuron, den fremden Gefangenen herbeizuführen und zu verhören, fand daher den lauten Beifall der Menge.

Der Oberstleutnant wünschte jede Gewaltthat möglichst zu vermeiden und wollte daher die Sache lieber verschoben oder unter den Führern abgemacht wissen, aber das stürmische Verlangen der jüngeren Royalisten nötigte ihn nachzugeben, und er gab daher, nachdem noch einige andere Geschäfte abgethan waren, dem Jäger die Ordre, den Gefangenen von seinen Banden zu befreien und ihn vorzuführen.

Während der Jäger sich mit einigen Männern entfernt hatte, den Befehl zu erfüllen, erzählte Otto von Röbel, ohne seine Familienverhältnisse dabei weiter zu erwähnen, wie er den Kapitän in Berlin kennen gelernt und was er von diesem gehört hatte. Das diente natürlich nur dazu, die Erwartung noch höher zu spannen, und alle Blicke wandten sich mit Interesse nach dem Eingang, als das Geschrei und der Lärm draußen die Rückkehr des abgeschickten Kommandos anzeigte.

Der junge Preuße beschloß, wenn es nötig wäre, zu Gunsten des Abenteurers einzuschreiten, nicht allein, weil er dies den früheren Beziehungen desselben zu seiner Familie schuldig zu sein glaubte, sondern auch aus Interesse für das junge Mädchen, das er vergeblich im Schloß aufgesucht hatte, um etwas Näheres über ihre seltsamen Beziehungen zu Laforgne zu erfahren.

Die Menge, die mit lauten Verwünschungen durch die Thür eindrängte, öffnete sich, der Jäger Alexander mit seinen zwei Begleitern und dem sehr verblüfft und verwundert aussehenden Mann, den der Oberstleutnant selbst vor die Thür des Gefangenen gestellt hatte, zeigte sich den erstaunten Blicken, aber den Gefangenen selbst sah man nicht.

»Wo ist der Mann, den Ihr herführen sollt?«

Der Jäger hob zur Antwort die Hand, in der er mehrere Stricke hielt.

»Was soll das heißen?«

»Ich kann's nicht ändern, gnädiger Herr, er ist fort – spurlos verschwunden!«

»Dann hat ihm die Wache herausgeholfen!«

»Der Mann ist von Ihren Gütern, Herr Oberstleutnant, und treu und zuverlässig. Er schwört Tod und Leben, daß er nicht von seinem Posten gewichen ist, und niemand das Zimmer betreten hat. Ein anderer Zugang, als der vom Korridor ist nicht vorhanden und dennoch ist keine Spur von dem Gefangenen aufzufinden, als die durchschnittenen Stricke, mit denen er gebunden war!«

»Er wird durch das Fenster entflohen sein, wie das Weib,« sagte der jüngere Meuron. » Ihr Dummköpfe habt die Strickleiter hängen lassen!«

»Nein, gnädiger Herr, ich hab' sie selbst aufgezogen und fortgenommen.«

»Dann ist er hinabgesprungen!«

»Die Höhe ist mindestens drei Stockwerk, er würde Hals und Beine gebrochen haben!«

Der Oberstleutnant, ruhiger und besonnener als die übrigen, stellte ein kurzes Verhör an, aber es war auch ihm nicht möglich, etwas Näheres zu ermitteln. Im Grunde wäre er ganz zufrieden gewesen über die Flucht, da sie ihm aus der Verlegenheit half, was bei der erregten Stimmung der jüngeren Royalisten mit dem Gefangenen zu beginnen gewesen wäre, wenn ihn eben nicht die Besorgnis bedrückt hätte, daß auch dieser Flüchtling ihnen vor der Zeit die Roten auf den Hals ziehen würde.


Es war etwa eine halbe Stunde nach der Gefangennahme und Einsperrung des Kapitäns gewesen. Er knirschte bei dem Gedanken an die Niederlage, die er durch einen Gegner erlitten, dem er sich gar nicht gewachsen geglaubt und den er mit Hochmut behandelt hatte, und die eigentümliche Doppelerkennung des Mädchens, über die er sich den Kopf zerbrach, diente nicht dazu, seine Laune zu verbessern.

Dennoch trat das Bild dieses Mädchens immer wieder vor seine Phantasie. Obschon sie damals, als er ihr zum erstenmal in jener peinlichen und seltsamen Situation in Berlin begegnet war, fast noch ein Kind war, hatte ihre Erscheinung und ihr Wesen doch tiefen Eindruck auf ihn gemacht, so daß selbst das glänzendere Bild der Carmen die Erinnerung an das arme demütige Kind nicht zu verwischen vermocht hatte, das er, von seinem väterlichen Freund und Führer gerufen, damals in so gefährdeter Lage zurücklassen mußte. Oft hatte er an sie gedacht und was wohl ihr Schicksal geworden sein möchte, und als sie jetzt so plötzlich in einem der unglücklichsten Augenblicke seines Lebens ihm plötzlich wieder erschien, dasselbe demütige, sanfte und liebliche Gesicht, nur vollendeter, statt des kindlichen Mädchens die Jungfrau, da kehrten all die ersten tiefen Eindrücke mit verdoppelter Stärke wieder, und er empfand ein Gefühl, das fast der Eifersucht glich, als er das Vertrauen und den Dank sah, mit dem sie den jungen Royalisten begrüßte.

Die romantische Galanterie für die reiche und schöne Haciendera, die Bewerbung um ihre Gunst, die nur durch ihr unaufgeklärtes Verschwinden in der Ballnacht der Tuillerieen unterbrochen worden war, alle jene glänzenden, an die Höhen des Lebens geknüpften Erinnerungen, sie waren verschwunden vor dem einfachen demütigen Bilde der armen Bonne.

In diesem Sinnen und diesem Kampf seiner Gefühle hatte er auf ein leichtes Geräusch, wie das Fortschieben von Riegeln und das Knarren einer Thür in dem entgegengesetzten Winkel des Gemachs nicht geachtet; erst ein schwacher Lichtschimmer, der sich an der gewölbten Decke brach, machte ihn aufmerksam.

In demselben Augenblick auch ließ sich eine sanfte Stimme dicht neben ihm hören, die in französischer Sprache und in flüsterndem Ton sagte: »Monsieur, ich bin hier, Elise, der Sie einst in der großen deutschen Stadt ihr Leben und ihre Ehre retteten.«

Der Gebundene machte eine abwehrende Bewegung, als sie mit zitternden Händen versuchte, die Knoten der Stricke zu lösen.

»Bemühen Sie sich nicht, Mademoiselle. Es wäre Thorheit von mir, zu leugnen, daß ich Sie wiedererkannt habe, aber der kleine Dienst, den ich Ihnen vor Jahren zu leisten imstande war, ist heute reichlich vergolten; denn offenbar hat Ihre Fürsprache bei dem spätern Beschützer, den Sie gefunden, meine Hirnschale vor der Pistolenkugel dieses Herrn gerettet.«

»Ich bin zum Unglück geboren,« sagte sie schluchzend, »daß Sie, mein Retter, die geringe Hilfe zurückstoßen, die ich Ihnen leisten kann. Die edelherzige Großmut jenes Herrn befreite mich nach langen Jahren des Leidens aus einer unangenehmen Lage; Ihre Hand, Ihr Mut aber waren es, die das dem Elend und der Schande verfallene Kind retteten, und selbst als jene Bösewichter mich um des Geldes wegen, das Sie mir gegeben, zu ermorden versuchten, und das Wasser über mir zusammenschlug, waren Sie mein letzter Gedanke!«

Er richtete sich mühsam empor. »Was sagen Sie, man hat Sie zu ermorden versucht? Also darum konnte ich das Schiff am andern Morgen nicht wieder finden?«

»So haben Sie mich doch gesucht?« Wäre es heller gewesen in dem Gemach, er hätte den Ausdruck der Freude in ihrem Gesicht gesehen.

»Ich wartete vergeblich und bis zum letzten Augenblick auf den Mann, der Sie den beiden Schiffern übergeben hatte und der am Morgen kommen wollte, um mich zu Ihnen zu führen. Als er sich nicht blicken ließ, eilte ich an den Platz, wo ich Sie verlassen. Das Schiff war fort, alle Nachfrage, alle Mühe vergeblich, da ich nicht die Sprache des Landes verstand. Der einzige, auf dessen Hilfe ich rechnen konnte, verlachte mich und mußte überdies ebenso wie ich, Berlin verlassen. Eine dringende Botschaft rief mich noch an demselben Morgen nach Frankreich und Italien. Was war geschehen mit Ihnen?«

»Erst erlauben Sie mir, Ihre Bande zu lösen!«

»Schnell, schnell! haben Sie kein Messer zur Hand? Diese Schurken haben die Knoten so dicht gezogen, daß Ihre kleinen schwachen Finger unmöglich damit fertig werden können.«

Sie hatte dies befürchtet und ein Messer mitgebracht. Mit dessen Hilfe waren rasch die Stricke durchschnitten, die seine Hände gebunden hielten; als diese frei waren, löste er selbst leicht die Bande der Füße und wollte emporspringen.

»Um Gotteswillen, verhalten Sie sich ruhig! Vor der Thür steht eine Schildwache, die jedes lautere Geräusch hören kann. Kommen Sie, folgen Sie mir so leise als möglich.«

»Ich weiche nicht von diesem Fleck, bis ich weiß, was Ihnen damals geschehen ist.«

Er hatte in seiner halb aufgerichteten Stellung ihre zitternden Hände erfaßt und hielt sie fest, obschon sie versuchte, sich loszumachen.

»Sprechen Sie, ich muß alles wissen!«

»Ich zitterte vor Angst, als ich mich von Ihnen trennen mußte, denn die Gesichter jener beiden Männer kamen mir so unheimlich vor. Aber Ihr Zureden, Ihr Versprechen, mich aufzusuchen, beruhigten mich. Als wir so allein auf dem kleinen Kahn durch die Nacht fuhren, hörte ich die Männer flüstern, plötzlich erhielt ich einen Stoß und stürzte ins Wasser. Als ich es über mir zusammenschlagen fühlte, verlor ich das Bewußtsein.« Villafranca, II.

»Und dann? und dann?« Er hatte sich in atemloser Spannung erhoben und den Arm um ihre Taille gelegt, so hielt er sie fest. Ihre Stirn war auf seine Schulter gesunken in der Erinnerung an jene Schrecken und Leiden.

»Ich weiß nicht, wie ich gerettet worden bin. Ein glücklicher Zufall muß mich an das Ufer des Kanals gebracht haben, vielleicht, daß ich in der Todesangst unbewußt mir selbst herausgeholfen habe durch Gottes Beistand. Ich habe keine Erinnerung daran. Man fand mich am Morgen an der Straße am Kanal, bewußtlos, in heftigem Fieber, ganz durchnäßt, und brachte mich in eine Krankenanstalt. Die Verzweiflung und die Leiden die ich erduldet, die entsetzliche Scene in jener schändlichen Gesellschaft, der Todesschreck und die schwere Erkältung hatten wohl zusammen gewirkt; auch als ich wieder ins Leben zurückgerufen wurde, fand ich das Bewußtsein nicht wieder, ich hatte den Verstand verloren!«

Er wagte nicht, ihr leises Schluchzen zu unterbrechen, er preßte sie nur warm an sein Herz.

»Es war vielleicht gut, daß Gott mich so lange des Lichts der Vernunft beraubt hat, denn wie hätte ich sonst die Erinnerung an jene Schande ertragen können! Erst langsam nach mehreren Jahren kehrte das Licht der Vernunft mir wieder, und der traumartige, apathische Zustand, in dem ich gelebt, wurde mit der Erinnerung und dem Bewußtsein wieder belebt. Aber die Scheu vor den Menschen und das Gefühl meines Unglücks blieb mir und machte mich ängstlich und befangen. Oft, ach täglich und stündlich, stand das Bild meines Retters, stand Ihr Bild, vor meiner Seele, und die Erinnerung an Ihren Edelmut war das einzige, was ich bewahren mochte aus jener schrecklichen Zeit.«

»Armes Kind!«

»Zwei Jahre blieb ich auch nach meiner Genesung noch in jener Anstalt. Ich wußte ohnedem nicht wohin, ich war ganz mittellos und hatte mich stets geweigert, über meine früheren Verhältnisse Auskunft zu geben. Man hegte Teilnahme für mich und überließ mir die Stelle einer Pflegerin und Aufseherin der Unglücklichen, deren Leidensgefährtin ich so lange gewesen war. Endlich zeigte sich mir die Aussicht einer glücklicheren Existenz, aber ach …«

Sie schwieg, Thränen strömten aufs neue aus ihren Augen.

»Vollenden Sie!«

»Eine Fremde, eine spanische Tänzerin, suchte eine französische Bonne und Erzieherin für ihren kleinen Knaben. Durch den Arzt der Anstalt, der zufällig mit jener Fremden bekannt geworden, wurde ich ihr empfohlen, und da sie gerade ein Geschöpf in hilfloser Lage wünschte, das keinen eigenen Willen hatte und sie nicht zu genieren wagte, so wählte sie mich. Wir waren ein Jahr lang auf Reisen, es war meine glücklichste Zeit! Dann kehrten wir zurück nach Berlin. O mein Herr, lassen Sie mich schweigen von den traurigen Erfahrungen, die ich in jenem Hause machen mußte. Es war eine Spielhölle, der Sammelplatz der Vornehmen und Reichen und unerfahrener Opfer, und entsetzliche Dinge gingen dort vor!«

»Aber warum verließen Sie nicht sofort dieses Engagement?«

»Ich war gänzlich mittellos, und man hielt mich in einer Abhängigkeit, die der Sklaverei glich. Auch war ich der Dame Dank schuldig, da sie mich aus jenem Hause genommen, wo ich über kurz oder lang durch den Anblick der Leidenden wahrscheinlich wieder in den frühern Zustand verfallen wäre. Es war eine Hölle, aber ich konnte mich ihr nicht ohne Hilfe entreißen!«

»Und wie entkamen Sie ihr?«

»Durch die Großmut jenes jungen Mannes, mit dem ich Sie heute in dem unglücklichen Kampf auf Tod und Leben fand. Sie können ermessen, welcher Schmerz mich überfiel, als ich die beiden Wesen, die in der Fremde sich so großmütig und edel der armen Verlassenen angenommen hatten, jetzt einander als Todfeinde gegenüber stehen sah!«

»Sie kennen ihn also sonst nicht?«

»Ich habe ihn weder vorher noch nachher je gesehen. Er war wider Willen mit seinem Bruder in jenes Haus gekommen, und einige Worte, die mir entfielen, als er mir Freundlichkeit und Wohlwollen zeigte, mochten ihm meine Lage verraten haben. Mit der Zartheit eines edlen Herzens zwang er mich, seinen Gewinn am Spieltisch anzunehmen, ehe er entrüstet das Haus verließ, und dies gab mir die Mittel, mich wieder frei zu machen und den sehnlichen Wunsch zu erfüllen, ein gebrochenes Leben nach der geliebten Heimat zurückzuflüchten.«

»Dies rettet sein Leben, das sonst meiner Rache verfallen war! Doch genug von jenen traurigen Tagen. Glauben Sie mir, Mademoiselle, wenn ich eine Ahnung davon gehabt oder gewußt hätte, Sie aufzufinden, nichts würde mich zurückgehalten haben, Sie aufzusuchen und zu beschützen, nachdem ich die Pflicht der Ehre gegen meinen väterlichen Freund auf den Wällen des Trastevere und in jenem unglücklichen Zuge durch die Apenninen erfüllt hatte. Ich danke Gott, daß ich Sie jetzt glücklich und zufrieden im Kreis der Ihren wiedergefunden.«

Ein leiser Seufzer antwortete ihm.

»Wie? Sie wären es nicht?«

»Ich habe nur das Grab meiner guten Mutter wiedergefunden und stehe allein in der Welt. Ich habe vorläufig Aufnahme in dem Hause eines alten Mannes in Serrières gefunden und verweile seit acht Tagen hier in diesem Schloß, dessen Concierge ein Verwandter meiner seligen Mütter war. Gott wird mir weiter helfen.«

»Und ich, bei meiner Ehre, will seine Hand sein, wenn Sie es mir gestatten. Jetzt, Mademoiselle, nachdem ich alles weiß, sage ich Ihnen doppelten Dank für den Beistand, den Sie mir geleistet und frage: giebt es ein Mittel, aus diesem Schloß zu entkommen?«

»Seit einer Viertelstunde bin ich bereit, Sie herauszuführen. Ich habe meiner Cousine geholfen, den Royalisten den Zugang zu erleichtern, und meine Bitten und Thränen haben Sie bewogen, mir dafür die Mittel zu geben, Sie zu retten. Diese Fallthür im Boden hat früher dazu gedient, Sachen aus den untern Räumen zu heben, ist aber längst nicht mehr benutzt und nur von unten zugänglich. Eilen Sie, Monsieur, denn ich fürchte, wir haben schon zu viel Zeit verloren.«

Sie führte ihn zu der genau in die Dielen eingefügten Thür und stieg die angelegte Leiter zuerst hinab. Er selbst schloß die Thür und schob die Riegel wieder vor.

In dem untern Geschoß, einem gleichfalls unbenutzten Raum, dessen Fenster aber bereits stark vergittert waren und deshalb keine Flucht zuließen, erwartete sie die Tochter des Kastellans. Elise hatte ihrer Verwandten wenigstens genug gesagt über die Dankespflicht, die sie gegen den Kapitän hatte, um ihr erklärlich zu machen, weshalb sie so lange ausgeblieben sei, und Louison begnügte sich daher nur, das Paar zur Eile anzutreiben, da jede weitere Verzögerung die größte Gefahr bringen konnte.

Die beiden Mädchen hatten Vorsorge für die Flucht getroffen und einige Kleidungsstücke des Concierge für den Kapitän mitgebracht. Indem Louison voranging und ihre Cousine dem Flüchtling folgte, gelangten sie in den Garten und schlichen an der Mauer bis zu einer Stelle, an der diese hinter dichtem Gebüsch vom Alter schadhaft und halb eingestürzt war.

»Hier, Monsieur,« sagte die muntere Louison, »müssen Sie hinüber und dies möglichst rasch, denn wenn Alexander oder einer der andern Royalisten, denen ich trotz meiner Beihilfe zu Ihrer Flucht von Herzen den Sieg wünsche, mich hier träfen oder von unserm Thun die leiseste Ahnung erhielten, würde ich übel genug fahren und verlöre alle Aussichten auf meine Heirat. Also allons, Monsieur! und machen Sie sich so eilig davon, als möglich.«

»Aber wohin soll ich mich wenden? ich bin ganz unbekannt in dieser Gegend?«

»Ei, haben Sie denn keine Augen und sehen Sie nicht, daß Elise bereit ist, Sie zu führen?«

In der That bemerkte der Kapitän jetzt erst, daß die ehemalige Bonne ein kleines Bündel mit ihren Sachen unterm Arm trug.

»Wir haben es so abgemacht,« fuhr die schelmische Louison fort, »denn wir können unser Werk doch nicht halb thun und Sie im nächsten Augenblick wieder in die Hände Ihrer Gegner fallen lassen. Sie müssen wissen, Monsieur, daß hinter diesen sanften Taubenaugen, die mich mit wahren Thränenströmen zu diesem Verrat an unserer Sache gebracht, der Sinn und das Herz einer Löwin wohnt. Ich glaube, sie würde mich umgebracht haben, wenn ich nicht eingewilligt hätte, ihr beizustehen. Aber eine Liebe ist der andern wert, und so will ich denn sagen, daß sie sich vor all dem Kriegslärm gefürchtet hat und einstweilen nach Serrières auf und davon gelaufen ist, wenn irgend jemand nach ihr fragen sollte. Und nun fort, Kinder, oder ich rufe im Ernst die nächste Schildwache und zeige Euch selbst an.«

Die Bonne, deren Erröten bei den Worten ihrer Cousine der Schleier der Dunkelheit bedeckt hatte, drückte ihr die Hand, dann half der Kapitän ihr über die Mauer und schwang sich mit leichter Mühe selbst hinauf. Sein scharfer Blick und sein aufmerksamer Geist hatte bereits erkannt, wie wichtig die Kenntnis dieses verborgenen Zugangs für seine Pläne werden konnte; denn sobald er frei war, hatte er auch schon darauf gesonnen, an denen, die ihn zum Gefangenen gemacht, Revanche zu nehmen.

»Adieu, Mademoiselle, und haben Sie Dank für Ihren Beistand. Auf baldiges Wiedersehen!«

Er sprang auf der andern Seite von der Mauer, wo ihn seine besorgte Begleiterin erwartete, während ihre Cousine leichtfüßig zu dem Schloß zurückeilte und sich bald darauf mit gut geheucheltem Erstaunen der allgemeinen Verwunderung über die Flucht des Gefangenen anschloß.


Der Morgen dämmerte bereits, als das Paar seinen Weg durch die Weingärten nach den Bergen zu fortsetzte. Elise, noch aus ihrer Kindheit mit dem Terrain genau bekannt, machte die Führerin auf den verborgensten Fußsteigen, um nicht etwaigen Posten der Royalisten in die Hände zu fallen.

Sie traten eben aus einem Weinbergsgehege hinaus und mußten, um in ein neues zu kommen, den Fahrweg überschreiten, als das Mädchen, das voranging, mit einem Schrei zurückfuhr.

Der Kapitän war sogleich an ihrer Seite, da er glaubte, daß ihr eine Gefahr drohe, aber er sah nichts, bis sie bleich und zitternd auf einen dunklen Gegenstand deutete, der einige Schritte weiter mitten im Wege lag.

Es war ein menschlicher Körper, der nur halb bekleidete Körper einer Frau, die auf dem Gesicht in einer Blutlache lag.

Der Offizier, durch sein Leben abgestumpft gegen solche Schrecken, ging vorsichtig näher und wandte den Körper um.

» Parbleu!« sagte er kaltblütig, »es ist das Weib, dem ich vor zwei Stunden aus dem Fenster half, um die Stadt in Alarm zu bringen!«

»Frau Bessert!«

»Ich glaube, so heißt sie. Sie muß auf der Flucht von einem Posten erschossen worden sein, denn die Kugel ist durch den Rücken eingedrungen.«

»Die Unglückliche! sie hat Kinder!«

»Desto schlimmer für den Mann, sie war ein resolutes Weib und auf der Stelle bereit, als ich, durch das Geschwätz Ihrer hübschen Cousine auf ihren Royalistenhaß aufmerksam gemacht, in dem Korridor zurückblieb und sie zu Hilfe rief. Kommen Sie, Elise, damit der Anblick Sie nicht weiter erschreckt. Bei Krieg und Überfall geht es nicht anders, aber der Vorfall wird ein treffliches Hilfsmittel abgeben, um die Republikaner gegen die Königlichen in Alarm zu bringen.«

»Das wird er, Monsieur,« sagte eine fremde männliche Stimme. »Überlassen Sie die Sache nur mir!«

Der Kapitän war schützend vor seine Führerin gesprungen. Er hatte auf dem Wege durch die Weinberge einen der kräftigen Stöcke ausgerissen, die zum Aufbinden der Reben dienen?«

»Wer da?«

» Vive la Suisse!« sagte der Fremde, der aus dem Gehege hervortrat, wohin er sich bei dem Nahen der Schritte zurückgezogen. Er war nur mit Hemd und Beinkleidern und leichten Schuhen angethan und zeigte in seinem Äußern die Spuren einer hastigen Flucht. »Ich habe aus Ihren Worten gehört, daß wir Parteigenossen sind, und ich Ihnen vertrauen kann,« fuhr er fort, »und so, denk' ich, werden wir besser thun, unsern Weg gemeinschaftlich fortzusetzen, wenn er dasselbe Ziel hat, wie ich vermute.«

»Wer sind Sie?«

»Mademoiselle kann Ihnen sagen, daß ich der Präfekt Matthey von Neuchâtel bin, und ich denke, mein Name ist genügend bekannt als der eines Gegners der Anhänger der Tyrannei, um jedem Freunde der republikanischen Freiheit Vertrauen einzuflößen.«

»Wenn Sie Monsieur Matthey sind, so kann ich mir keine bessere Begegnung wünschen. Ich bin der Kapitän Laforgne, Adjutant des Generals Garibaldi und wegen einer Privatangelegenheit zufällig in Neufchâtel anwesend, wo ich Gefangener der Royalisten und durch diese Dame befreit wurde. Ich wünsche nichts sehnlicher, als mich einem Kampf gegen jene anzuschließen und hoffe, Ihnen durch meine militärischen Erfahrungen nützlich sein zu können.«

»Dann lassen Sie uns eilig vorwärts gehen, wir sind hier noch zu sehr gefährdet und können uns unterwegs leicht verständigen.«

Der junge Offizier fühlte das Verständige des Rates, und alle drei schritten eilig weiter, denn François bestand darauf, daß ihm das Mädchen folgen müsse, als sie jetzt, ihn in den Händen eines bessern Führers wissend, allein zurückkehren wollte.

»Das Schicksal hat uns zu wunderbar zusammengeführt,« sagte der junge Mann, »als daß ich Sie eher verlassen kann, als bis ich Sie in vollkommener Sicherheit weiß. Noch habe ich nicht das Recht dazu, Ihr Geschick an das meine zu knüpfen, aber ich hoffe, es mir zu erwerben, und die bevorstehenden Ereignisse hier sind zu ernster Natur, als daß ich Sie auf das Ungewisse dem Zufall oder gar der Gefahr eines Unglücks aussetzen dürfte, wie das, was jene Frau betroffen. Nur wenn ich Sie vor den Wechselfällen des Kampfes, der notwendigerweise erfolgen muß, gesichert weiß, werde ich zugeben, daß Sie mich vorläufig verlassen.«

Die Wangen des Mädchens brannten in dunklem Rot, und ihre Brust hob sich tief bewegt, als der Abenteurer diese leidenschaftlichen Worte mit einem warmen, seine Gefühle verratenden Händedruck begleitete, aber sie erwiderte nichts, um ihre eigenen nicht preiszugeben.

Die Verständigung der beiden Männer über das, was geschehen müsse, war rasch erfolgt. Beide waren von dem brennenden Verlangen beseelt, den Sieg der royalistischen Überrumpelung durch einen Gegenschlag zu vernichten.

»Es wird alles darauf ankommen,« sagte der Präfekt, »welchen Erfolg der Aufstand in den Bergen gehabt hat, und welche Stellung die Independants zu der verräterischen Erhebung nehmen werden. Sie sind zwar in diesem Augenblick unsere Gegner wegen des Streits um die Eisenbahn, aber die gemeinschaftliche Gefahr der Republik muß alle andern Rücksichten schwinden lassen, und Oberst Denzler, so sehr ich ihn sonst hasse, ist der Mann zu raschen und kräftigen Schritten. Meiner Montagnards in Chaux de Fonds und Locle bin ich sicher, sie werden nicht ruhig zugesehen haben. Es gilt jetzt vor allem, unsere Freunde in den Bergen zu sammeln und die Pässe von Valengin zu besetzen, um jede Verbindung der Royalisten zu unterbrechen. Dies übernehme ich. Sie, Herr Kapitän, müssen den Obersten aufsuchen, und ihn bewegen, sich uns anzuschließen. Die Kantontruppen, die zur Übung in Colombier versammelt waren, sind noch nicht alle zerstreut und leicht wieder zusammenzubringen, und wenn auch, wie Sie erlauscht haben, ein Teil zu Verrätern geworden und zu den Empörern übergegangen ist, so werden noch genug zur Fahne der Freiheit halten, um mit den Montagnards gemeinschaftlich dem Aufstand die Spitze zu bieten, bis Hilfe von der Besatzung kommt.«

»Ich bin zu allem bereit,« erklärte der Offizier, »aber ich halte es für das Dringendste, daß sofort die Anzeige des Geschehenen nach Bern gemacht wird. Ich muß Ihnen sagen, daß ich einer Person von Wichtigkeit versprochen habe, dies sofort zu thun.«

Der Präfekt sann einige Augenblicke nach. »Die gewöhnlichen Mittel des Verkehrs werden offenbar von den Royalisten abgesperrt sein,« sagte er nach kurzem Bedenken. »Aber ich habe an meinem Weinberg jenseits Serrières ein Boot liegen und den Schlüssel dazu zufällig in der Tasche meiner Beinkleider. Es wird allerdings gut sein, wenn wir jemand, der unverdächtig ist, finden können, der eine Nachricht dahin bringt, denn den Leuten in der Nachbarschaft traue ich nicht.«

Er blickte mit Bedeutung das Mädchen an.

»Ist es möglich, das Blutvergießen zu hindern, wenn die Nachricht zeitig genug in Bern eintrifft?« fragte die Bonne.

»Gewiß; die Regierung würde sofort Kommissäre und so zahlreiche Truppen hierher senden, daß die Empörer sich ergeben müssen.«

Das Mädchen wandte ihre Augen auf den Offizier. »Dann vertrauen Sie mir Ihre Botschaft an; ich will es versuchen!«

»Um des Himmels willen, Sie, Elise? Es ist unmöglich, ich werde es nie gestatten!«

»Lassen Sie Mademoiselle immerhin gehen,« sagte der Präfekt. »Es ist das beste, was geschehen kann, und sie läuft weniger Gefahr auf der Fahrt, als vielleicht hier. In Bern ist sie ganz sicher und leistet uns mit ihrem Mut einen zweiten großen Dienst. – Der See ist ruhig und die Fahrt unbedenklich. Der Wächter in meinem Berg ist ein zuverlässiger Bursche, und wenn er den Schlüssel in Ihren Händen sieht, wird er keinen Anstand nehmen, meinen Auftrag, Sie über den See zu rudern, ohne weitere Beglaubigung als richtig zu erkennen und Sie in anderthalb Stunden über den See schaffen. Von Cudrefin lassen Sie sich eiligst mit Gefährt nach Murten bringen und senden von dort mit dem Telegraphen die Nachricht nach Bern voraus. Sind Sie mit Geld versehen?«

Die Bonne verneinte.

»Wenn es denn sein muß, und Sie haben recht, Mademoiselle wird am andern Ufer sicherer sein, wie hier, so kann ich aushelfen. Hier ist meine Börse, die man mir mit meinem Taschentuch gelassen hat.«

»Das ist alles, was wir brauchen. Setzen Sie sich auf jenen Stein, Monsieur, und schreiben Sie Ihre Depesche, indes ich aufpasse, daß uns niemand überrascht. Sie kennen meinen Weinberg, Mademoiselle?«

»Ich werde fragen!«

»Das ist unnötig und könnte Verdacht erregen. Er liegt an dem zweiten Querweg nach dem See, rechts die letzte Pforte. Das Passen des Schlüssels wird Ihnen die beste Probe sein. Der Wächter heißt Blenard. Sind Sie fertig, Kapitän?«

François hatte rasch einige Zeilen in spanischer Sprache, die hier schwerlich jemand verstand, auf ein Blatt seiner Schreibtafel geschrieben, riß es heraus und überschrieb es an die Adresse, die ihm Mazzini am Tage vorher gegeben. Er vergaß nicht, beizufügen, daß der Agitator das Mädchen bis auf weiteres unter seinen Schutz nehmen solle. Der Präfekt schrieb hierauf eine ähnliche Anzeige, und es wurde bestimmt, daß Elise die letztere mit dem Telegraphen absenden solle.

Nachdem alles besprochen worden, der Kapitän das Mädchen gebeten hatte, in Bern zu verweilen, bis er selbst erscheine oder ihr Nachricht sende, und nachdem er sie auf das Angelegentlichste beschworen, jede Gefahr zu meiden, trennten sich die drei. Der Präfekt zeigte dem Kapitän einen Fußweg, der ihn in einer halben Stunde zu einem Hause führen sollte, dessen Besitzer zu den Republikanern gehörte und ihm gewiß die Mittel verschaffen werde, den Oberst Denzler aufzufinden. Er selbst machte sich auf den Weg nach dem Val de Ruz.

Die ersten Strahlen der Sonne glühten über die Spitzen der Alpen, als der Kapitän von der Höhe des Weges der zwischen den Mauern und Gehegen verschwindenden Gestalt des Mädchens nachschaute, das rasch zum Ufer des Sees hinunterstieg. Fast bedauerte er, daß er in die Übernahme des Auftrags gewilligt hatte, aber der Gedanke an die blutigen Scenen, die das friedliche Ländchen vielleicht bald in Schrecken und Angst setzen würden und denen er sie damit entzogen, beruhigte ihn wiederum.

Noch einmal, an der Ecke des Weges, wandte sie sich um, ihr Tuch flatterte zum Lebewohl in der Morgenluft, dann war sie hinter der Ecke einer Mauer verschwunden.

Er wußte, wo er sie wieder finden würde und gelobte sich, daß nichts ihn daran hindern solle, denn er fühlte, wie teuer sie ihm in den wenigen Stunden geworden. Mit diesem Entschluß, der seine Thatkraft und seinen Eifer spornte, eilte er jetzt rasch auf dem bezeichneten Pfade weiter.


Der Haupttrupp der Royalisten, der sich in La Sagne gesammelt, hatte sich unter dem Oberbefehl des Leiters des ganzen Aufstandes, des Obersten Pourtalès nach zwei Uhr gegen Locle in Marsch gesetzt und traf hier mit den dortigen Verschworenen zusammen. Der Präfekt von Locle und der Gerichtspräsident wurden gefangen genommen und die königliche Regierung proklamiert. Der Graf Petitpierre Wesdehlen wurde zum Präsidenten, Mathey Doret zum Kommissar der provisorischen Regierung ernannt.

Aber man konnte nicht verhindern, daß schon bei dem ersten Alarm Flüchtige die Nachricht sofort weiter in die Berge trugen, und anstatt sofort mit aller Macht gegen Chaux de Fonds, den gefährlichsten Ort des Ländchens, vorzurücken und die Vereinigung der Montagnards mit Gewalt zu verhindern, hielt man sich auf dem Wege dahin unnütz mehrere Stunden auf.

In Chaux de Fonds traf die Nachricht von der Erhebung der Royalisten und ihrem Anrücken nach Locle schon des Morgens bald nach drei Uhr ein. Sofort wurde Sturm geläutet, Boten wurden in die Umgegend gesandt und alle waffenfähigen Männer mit ihren Stutzen und Büchsen aufgeboten. Der Hauptmann Ami Girard, ein Mann voll Energie und republikanischem Fanatismus, stellte sich an die Spitze der Gegenbewegung, sammelte und ordnete die republikanischen Milizen und rückte mit zwei kleinen Geschützen schon gegen 7 Uhr den Royalisten entgegen.

Statt zu überraschen, wurden diese so selbst überrascht. Von allen Seiten strömten die Montagnards herbei und vermehrten die Streitkräfte der Republikaner von Chaux de Fonds, während die nicht zum Aufstand gehörigen Königlich-Gesinnten scheu und zaghaft erst den Verlauf der Dinge abwarten wollten, ehe sie offen für ihre Sache auftreten mochten.

Gegen 10 Uhr stießen die beiden Scharen aufeinander, und es entspann sich ein Gefecht, in dem die Royalisten zwar tapfern Widerstand leisteten, aber bald der Übermacht weichen mußten. Vergeblich boten der tapfere Oberst und Hauptmann Reiff ihre militärischen Kenntnisse und alle persönliche Hingebung auf und waren stets, wo die Gefahr am dringendsten; ihre Mannschaft war zu ungeübt in der militärischen Taktik, um die Überzahl ausgleichen zu können. Die Republikaner von Locle vereinigten sich bald mit der Girardschen Schar, die preußische Fahne wurde aufs neue abgerissen und« durch die eidgenössischen Farben ersetzt, und die Königlichen mußten Locle räumen.

Von einem Kolbenschlag getötet fiel einer der edlen Brüder Houriet von Locle, Henri, die Royalisten hatten nach zweistündigem Kampfe fünfzehn Tote und an dreißig Verwundete, und als der Oberst die Nachricht erhielt, daß der Paß von Valengin durch Matthey und seine Anhänger stark besetzt war und Oberst Denzler sich gegen die Royalisten erklärt habe und die Milizen der Kantons sammle, mußte er jede Hoffnung aufgeben, sich selbst an den Orten, welche sich bereits offen für die königliche Herrschaft ausgesprochen hatten, halten zu können, und zog sich fechtend und von den Montagnards hart verfolgt gegen den See und die Stadt zurück.

In Neufchâtel fehlten indes der Besatzung des Schlosses noch alle sichern Nachrichten über den Ausfall der Erhebung in den Bergen. Die Stadt verhielt sich ruhig und zeigte ihre Teilnahme an der königlichen Sache nur durch die reiche Verproviantierung der Burg.

Oberstleutnant von Meuron hatte indes nichts unterlassen, letztere in den möglichsten Verteidigungsstand zu setzen. Die Barrikade quer über den Aufgang zu dem Schloß wurde verstärkt, die Kanonen wurden mit Kartätschen geladen, und die Rundmauer des Gartens mit zahlreichen Posten besetzt, um jeden Überfall zu verhüten.

Unterdes war die Nachricht von dem Aufstand in Murten und durch den Telegraphen alsbald in Bern, dem Vorort der eidgenössischen Regierung, eingetroffen und hatte dort natürlich den größten Alarm erregt.

Es wurden sofort zwei Mitglieder der Regierung, die Bundesräte Frey, der die Funktionen als Kriegsminister versah, und Fornerod als Kommissäre nach Neufchâtel abgesandt. Sie trafen mit dem Dampfschiff nachmittags um 5 Uhr selbst ein. Da die Royalisten nur das Schloß besetzt hielten, widersetzte sich niemand ihrer Landung, und sie traten sofort mit dem Kommandeur der Burg in Unterhandlung und forderten deren Übergabe und die Niederlegung der Waffen.

Nach einem kurzen Kriegsrat der Royalisten wurde beides verweigert. Zugleich hatte die eidgenössische Regierung Ordre gegeben, daß die beiden Berner Bataillone von Büren und Nicklas, ein Bataillon Solothurner, eine Kompagnie Artillerie und eine Kompagnie Scharfschützen nach Neufchâtel aufbrechen sollten. Diese Truppen konnten die Stadt aber nicht vor dem nächsten Tage erreichen.

So weit wäre alles dem Plan des Anführers der Erhebung gemäß gegangen; aber Graf Pourtalès hatte sich, wie bereits erwähnt, in einer Hinsicht schwer verrechnet, in Betreff der Neutralität der Independants. Der rasche Entschluß und die Thätigkeit des Obersten Denzler, sobald Kapitän Laforgne bei ihm angelangt war und ihn von dem Geschehenen in Kenntnis gesetzt hatte, nahm jede Aussicht, das Schloß zu halten, bis die eidgenössischen Truppen selbst die Belagerung übernommen hätten.

Gedrängt von den Montagnards schlug sich Graf Pourtaltès durch die Vortruppen des an 1500 Mann starken Denzlerschen Korps nach Neuenburg durch und zog mit etwa 3-400 Mann in das Schloß ein. Die Montagnards unter Hauptmann Girard folgten ihm auf dem Fuße und drangen in die Stadt ein, während die Independants sich langsamer näherten und zunächst die Umgegend besetzten.

Unter den Republikanern Girards befand sich fast kein einziger geborener Neuenburger, es waren durchgängig Schweizer Eingewanderte und fremde Demokraten.

Bereits in Peseux hatten sie einen Mann, der im Verdacht royalistischer Gesinnung stand, Roulet mit Namen, auf das Schändlichste ermordet. Sofort nachdem sie in die Stadt eingerückt, wurden die empörendsten Grausamkeiten und Excesse begangen. Der Pöbel, der in keiner Stadt fehlt, schloß sich ihnen an, und ein Haufe zog zunächst vor das Haus des Pastor Guillebert mit der Drohung, ihn aufzuhängen.

Aber der ehrwürdige Greis war nicht der Mann, in der Stunde der Gefahr die Überzeugungen seines Lebens und den stets bewiesenen Mut zu verleugnen. Als der Haufen vor seiner Thür lärmte und die blutdürstigsten Drohungen ausstieß, öffnete sich jene plötzlich und die hohe Gestalt des Geistlichen mit den weißen Locken erschien auf der Schwelle derselben.

Eine augenblickliche Stille des Erstaunens trat ein, und weithin vernahm man die ruhige, feste Sprache des Greises.

»Meine Brüder,« sagte er, »wenn Ihr mein Leben haben müßt, hier ist es. Ich vergebe Euch im voraus, was Ihr thut, aber keine Todesfurcht soll mich bewegen, meinem himmlischen Gott und meinem irdischen König, dem ich Treue geschworen, ungetreu zu werden!« und er erhob die Arme und richtete seinen Blick empor zu dem Sternhimmel, wie ein Märtyrer, der den Todesstreich erwartet.

Ein dumpfes Gemurmel lief durch die Menge, aber ein brutaler Kerl von kurzer vierschrötiger Gestalt und pockennarbigem Gesicht mit rotem Bart, ein deutscher Flüchtling aus dem Jahr Achtundvierzig, der in einer Buchdruckerei Unterkommen gefunden, hob die Muskete, die er trug und schlug sie auf den Greis an.

»Es geschieht der Welt nur ein Dienst, wenn man sie von einem der verdammten Pfaffenbrut befreit!«

Aber ehe er Unheil anstiften konnte, wurde ihm von einer kräftigen Faust die Muskete aus der Hand gerissen, und er erhielt einen solchen Kolbenstoß ins Genick, daß er in die Kniee sank.

»Schämst Du Dich nicht, Schurke, daß Du es wagst, unsere gute Sache mit dem Mord eines alten unbewaffneten Mannes zu entehren? Wage es einer, ihm ein Haar zu krümmen, und ich schlage ihm den Schädel ein!«

Es war Kapitän Laforgne, der so rechtzeitig dazwischen gekommen. Der junge Offizier war von Oberst Denzler mit der Führung einer vorgeschobenen Abteilung der Independants beauftragt worden und kurz vorher mit dieser in der Stadt angekommen. Er stellte sich vor den Prediger, den Säbel in der Faust, und die besseren unter seinen Leuten und viele der anwesenden Bürger sammelten sich um ihn.

Der Greis verneigte sich gegen ihn. »Ich danke Ihnen, mein Herr, nicht für die Erhaltung des kurzen Restes meines Lebens, das ich jeden Augenblick bereit bin, meinen Mitmenschen zu opfern, wenn es den geringsten Nutzen für sie haben kann, aber dafür, daß Sie jenen eine That ersparten, über die sie sich vielleicht einst schwere Vorwürfe gemacht haben würden. Um deswillen stelle ich mich unter Ihren Schutz!«

Der Rote, den die Hand des Kapitäns zu Boden geschlagen, hatte sich wieder emporgerafft und erging sich in Schmähungen und Drohungen, aber obschon er Gesinnungsgenossen genug in der Bande hatte, schreckte sie doch das entschlossene Aussehen François zurück und das Gesindel zog ab, um an einer andern Stelle sein Mütchen zu kühlen.

Pastor Guillebert erhielt eine Wache in seinem Haus, die jedoch mehr zu seiner Sicherheit, als zu seiner Gefangenhaltung diente.

Das nächste war, daß die Montagnards das Haus des Buchdruckers Wolfarth plünderten und es gänzlich demolierten.

Eine große Anzahl Royalisten in der Stadt wurden gefangen gesetzt, die Häuser derer, welche die Besatzung des Schlosses mit Lebensmitteln versehen, wurden der Plünderung preisgegeben, und zahlreiche Personen wurden auf das Brutalste mißhandelt.

Wir haben bereits mitgeteilt, daß die erste Aufforderung der beiden eidgenössischen Kommissäre, die gefangenen Staatsräte freizugeben und das Schloß zu überliefern, von dem Oberstleutnant von Meuron und seiner Schar sofort zurückgewiesen worden war.

Die Nacht war unterdes eingetreten und mit dem Einrücken der Sagnards unter Graf Pourtalès war die Lage eine ganz andere geworden. Außer der Nachricht von dem gänzlichen Mißlingen des Aufstandes in den Bergen brachte er die Gewißheit mit, daß die Independants sich gegen sie erklärt hätten und mit Übermacht im Anzuge begriffen wären.

Man wußte, daß man sich unter diesen Umständen kaum bis zum andern Morgen werde halten können, denn einem Angriff von verschiedenen Seiten und mit Geschütz konnte das Schloß unmöglich lange widerstehen.

In diesem Augenblick erschienen die beiden Waibel der Stadt Neufchâtel in ihren roten Amtsgewändern nochmals im Auftrag der Bundeskommissare vor der Barrikade des Schloßweges mit Friedensvorschlägen.

Sie wurden über die Barrikade eingelassen, die sie, wie alle andern Zugänge, stark besetzt fanden. Eine Anzahl Montagnards war ihnen gefolgt und hielt sich vor der Barrikade, der man sich jedoch nicht weiter zu nähern wagte wegen der drohenden Mündungen der wohlbewachten Geschütze.

Aber man benutzte die Gelegenheit, sich von der Stellung der Royalisten und ihren Verteidigungsanstalten möglichst genau zu unterrichten, bis die Offiziere derselben erklärten, daß auf jeden, der sich ohne Berechtigung den Posten nähere, sofort gefeuert werden würde.

In dem Saal des großen Rats waren, wie am Morgen, jetzt die Führer der Royalisten versammelt, um über die nochmalige Botschaft der Bundeskommissarien zu beraten. Die Debatte war ziemlich stürmisch, obschon die von den Waibeln überbrachte Nachricht, daß das Denzlersche Korps bereits zum Teil angelangt sei und das Schloß nach Süden, Westen und Norden cerniert habe, während die Stadt im Besitz der Montagnards sich befand, auch die letzten Hoffnungen niederschlug.

Zuletzt, wie vorauszusehen war, siegte die ruhigere Überlegung. Die Übergabe wurde beschlossen, und es handelte sich nur noch um die Bedingungen. Die zuerst gestellte Forderung eines freien Abzugs mit den Waffen und einer unbedingten Amnestie für alle an dem Aufstand Beteiligten konnte von den Kommissarien, so bereit sie auch dazu waren, aus Furcht vor dem Terrorismus der Roten nicht zugestanden werden; die mit der Unterhandlung beauftragten Waibel überschritten wiederholt die Barriere, um die Botschaften hin und wieder zu tragen.

In den Straßen um die Burg und am Ufer des Sees kampierten die Montagnards. Aus den nächsten Häusern war mit Gewalt genommen worden, was man zu dem Biwak brauchte, Getränke und Lebensmittel waren überall zur Disposition, und der wilde Jubel der Republikaner drang bis hinauf zu den Höfen des Schlosses.

Hier fand er sein verderbliches Echo.

Otto von Röbel hatte eben nochmals die Runde durch den Garten gemacht und die ausgestellten Posten revidiert, als er in den mittleren Hofraum trat, aus dem rechts die Thür zu den Staatsgemächern führt.

Auf den Quadern in der Mitte des Hofes brannte ein großes Feuer, zwei der am Tage gelieferten Weintonnen waren soeben angezapft und die zahlreich hier versammelten Mannschaften der Royalisten hatten ein wildes Zechgelage begonnen, das den aus der Stadt heraufschallenden Lärm der Montagnards mit übermütigen Trinksprüchen auf die Zukunft, mit Schmähungen der Republik und Hochs auf den König beantwortete. Die Sagnards, die mit dem Grafen eingezogen waren, erzählten Wunderdinge von den vollbrachten Heldenthaten und das Ganze hatte weit mehr das Aussehen der ausschweifenden Feier eines Sieges, als das einer eingeschlossenen, aufs äußerste bedrängten Truppe.

Der junge Preuße sah mit Erstaunen auf diese Veränderung. Vor kaum einer halben Stunde, als er diesen Hof verlassen, war alles in einer düstern verzweifelten Stimmung. Man machte die Waffen zum Gefecht bereit, nicht mit dem ruhigen besonnenen Mut, der den Ausgang des Kampfes von sich selbst erwartet, sondern mit der Niedergeschlagenheit, die an jedem Erfolg verzweifelt, oder dem Trotz und Haß, der das Leben wenigstens so teuer als möglich verkaufen will.

Eben trat der jüngere Meuron von der andern Seite her in den Hof, ging zu einem der Fässer und nahm einen gefüllten Becher.

»Der Cortillon ist zu gut, als daß wir einen Tropfen übrig lassen dürfen, die Kehlen dieser Schufte von Chaux de Fonds morgen Vormittag auszuspülen! Auf das Wohl des Königs, so lange wir es noch rufen dürfen, ohne vor den Maire citiert zu werden!«

Die Menge umher that ihm jubelnd Bescheid, Otto von Röbel faßte seinen Arm.

»Was thust Du? Du ermunterst diese Leute noch zum Trinken, während sie aller Wachsamkeit auf ihren Posten bedürfen werden!«

»Sie sind überflüssig. Du kannst sie einziehen, und sie mögen helfen, den Cortillon zu leeren, damit für die Montagnards nichts übrig bleibt.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Du weißt, daß die Kommissare Fornerod und Frey neue Unterhandlungen angeknüpft haben!«

»Ich habe den äußern Posten übernommen, um nichts damit zu thun zu haben; was ist der Erfolg?«

»Der Handel ist soeben abgeschlossen worden; die Waibel werden sogleich mit der Unterzeichnung des Vertrages das Schloß verlassen! Morgen früh um 10 Uhr wird es den eidgenössischen Kommissaren und Oberst Denzler übergeben.«

»Und die Bedingungen?«

»Man hat uns zugestanden, daß wir ungehindert das Schloß verlassen und uns zurückziehen dürfen, wohin es uns gefällt, doch müssen alle Waffen zurückgelassen werden. Das weitere soll vor dem Großen Rat verhandelt werden. Ich denke, man wird mit einigen Geldbußen der Wohlhabenderen zufrieden sein.«

Das Gesicht des Preußen hatte sich mit einer dunklen Röte überzogen. »Wie, eine vollständige Entwaffnung, ein Abzug ohne Waffen, bevor noch ein Schlag geschehen? Nimmermehr!«

»Es ist ein nichtswürdiger Ausgang, aber es ist nichts zu machen! Hätten wir nur ein Bataillon unserer Berliner Garde hier, wir wollten das Gesindel in die Berge zurückfegen, daß ihnen das Wiederkommen vergehen sollte; aber wir haben kaum dreißig Mann unter uns, die militärisch geschult sind. So traurig es ist, die schwarz-weiße Fahne muß morgen wieder von der Zinne des Schlosses!«

»Nicht, so lange ich sie verteidigen kann. Hat man sie leichtsinnig hier aufgepflanzt, ohne der Mittel sicher zu sein, sie aufrecht zu erhalten, so soll doch ihre Ehre nicht verletzt werden, und keine freche Hand sich an sie legen, ohne daß preußisches Blut sie getränkt hat!«

»Was willst Du thun?«

»Das wirst Du sehen! Thut, was Ihr für Eure Pflicht und die Notwendigkeit haltet, ich thue die meine und werde die Folgen tragen. Übernimm die Ablösung der Posten; von dem Augenblick der Unterzeichnung des Vertrages an halte ich mich der Verpflichtung gegen den Kommandanten ledig.«

Meuron reichte ihm die Hand. »Du wirst mich an Deiner Seite finden, denn ich war es, der Dich zu unserm Unternehmen geworben!«

»Nicht Du, sondern der Schwur, den ich als Knabe an der Leiche meines Bruders gethan. Deine Pflicht ist hier, die Sorge für diese Männer, die eine politische Intrigue ihr Leben und das Wohl und Wehe ihrer Familien nutzlos an eine falsche Berechnung setzen ließ. Mein Posten aber ist an der Fahne von Preußen!«

Der Freund umfaßte ihn, sein Herz war so voll, er vermochte kein Wort der Abmahnung zu sagen, und er drückte ihn schweigend an seine Brust.

Dann untersuchte am Schein des Feuers, um das sich die zechende Gesellschaft gruppiert, der junge Preuße seine Pistolen, setzte frische Zündhütchen auf, rückte den Griff seines Hirschfängers handgerechter und schritt die Stufen der Treppe hinauf, die zu dem Turm des Schlosses führte, von dessen Söller die schwarz-weiße Fahne wehte, den Republikanern zum Trotz.


Der größte Teil der Nacht war mit den Unterhandlungen vergangen; nachdem sie beendet, und die Übergabe des Schlosses von den Royalisten unterzeichnet und somit der Waffenstillstand eingegangen war, hielt jedermann die Sache für beendet, und niemand dachte an eine Gefahr.

Die äußern Posten wurden eingezogen, die Feindseligkeiten waren ja eingestellt und selbst an der wichtigsten Stelle, an der Barrikade auf dem Hohlweg zum Schloß blieb nur eine einzelne Schildwache, mehr zur Beobachtung der Form, als zu einem militärischen Zweck, zurück, und auch diese Vorsicht wäre noch kaum geübt worden, wenn der Mann nicht selbst freiwillig den Posten übernommen hätte.

Es war der alte gediente Artillerist, der bei dem Anmarsch zur Stadt der Nebenmann des Kapitän Laforgne gewesen war.

Die andern Mitglieder der Royalistenschar brachten, wie wir bereits erwähnt haben, die Nacht größtenteils in Gelagen zu, mit denen sie sich über das Mißlingen ihres Unternehmens zu betäuben suchten. Die Führer konnten und mochten nicht dagegen einschreiten; der schlimme Erfolg hatte ohnehin ihre Autorität erschüttert. – – –


Es war etwa ein Uhr nach Mitternacht, als zwei Männer, der eine in seinen Uniformmantel, der andere in ein Plaid gehüllt, den südwestlichen Weg erstiegen, von dessen Höhe man den Schloßgarten und die Burg übersehen konnte.

Auf dem höchsten Punkt angelangt, blieben sie stehen. Auf dem Quai waren die Wachtfeuer der Montagnards im Verlöschen; dagegen sah man noch mehrere gleiche Feuer auf den Höhen und in den Wegen um die Süd-Westseite des Schlosses in weitem Halbkreis frisch auflodern.

»Das sind die Independants des Obersten,« sagte der Mann im Militärmantel. »Der Vortrab hat den Kordon um die Burg geschlossen, bei guter Zeit werden sie alle zur Stelle sein und uns an der Nase vorbei mit Sang und Klang in das Royalisten-Nest einziehen, als wären sie es gewesen, die den schändlichen Aufruhr verhindern und die Republik gerettet hätten. Ja, verdammt! ich möchte darauf schwören, daß wir sie noch Arm in Arm mit dem hochnäsigen Adelspack und der Bourgeoisie sich breit machen und den wahren Demokraten jeden Vorteil unter irgend einem Vorwand zu Wasser machen sehen.«

»Das darf nicht geschehen. Ihnen, Hauptmann, und Ihren wackern Montagnards gebührt die Ehre und das Recht des Sieges!«

»Das ist leicht gesagt! Aber was können wir thun? Die Kommissare haben sich die Entscheidung angemaßt, die eidgenössischen Truppen werden spätestens morgen hier eintreffen, und bis dahin sind die Independants stärker als wir und halten zu den Kommissären.«

»Sie müssen demnach wider Willen fortgerissen werden!«

»Ich verstehe Sie nicht!«

»Hören Sie mich an, Herr Kamerad. Die Montagnards müssen sich noch in dieser Nacht des Schlosses mittels eines Handstreiches bemächtigen!«

»Aber der Vertrag?«

»Zum Henker mit dem Vertrage, was kümmert er Sie? Er ist von den Federfuchsern geschlossen worden ohne Sie zu fragen. Zerreißen Sie ihn mit dem Degen. Sie waren im Quartier der Kommissäre, ist die diesseitige Unterschrift des Vertrages bereits nach dem Schloß gebracht?«

»Nein. Die Waibel haben Befehl, da es schon zu spät war und alles einiger Stunden Ruhe bedurfte, ihn um 5 Uhr zurückzubringen!«

»Gut! Das ist die beste Zeit für einen Überfall. Wo befindet sich Oberst Denzler?«

»Bei seinen Leuten; in irgend einem der Häuser ihrer Stellung.«

»Er darf von Ihrem Plan nichts wissen; erst im Augenblick der Ausführung müssen die Independants alarmiert werden mit der Nachricht, daß die Royalisten selbst den Waffenstillstand gebrochen haben und auf die Unsern feuern. Das wird sie fortreißen, und sie mögen das Schloß von ihrer Seite angreifen, indes wir das Thor stürmen. Ist die Sache erst im Gange, dann kann ihr kein Einhalt mehr geboten werden, und Sie werden im Handumdrehen im Besitz der Burg sein!«

»Die Sache ist gut ausgedacht und kann gelingen. Aber ich darf mich nicht zu sehr kompromittieren. Meine Leute sind zwar alle aufs höchste erbittert über den Vertrag, aber ich habe keinen darunter, dem ich die Führung des Handstreichs anvertrauen könnte!«

»Ich selbst werde sie übernehmen. Ich habe da drinnen eine Scharte auszuwetzen und werde es thun, indem ich jene Fahne von dem Turm reiße und in den Staub trete. Erst dann bin ich wieder ruhig. Bereiten Sie jetzt Ihre Leute vor, Hauptmann, aber ziehen Sie nur die zuverlässigsten ins Vertrauen. Für die übrigen ist es Zeit genug, wenn sie kurz vor der Ausführung geweckt werden und die Sache erfahren. Stellen Sie einen Posten aus, der uns zeitig genug benachrichtigt, wenn die Waibel sich auf den Weg machen!«

»Die beiden nächtlichen Wanderer gingen, das nähere des Plans besprechend, weiter. – – – – – – –


Der alte Turm, von dessen Zinne die Fahne der Royalisten wehte, hat unter der Spitze einen offnen viereckigen, den ganzen Platz zwischen den Mauern und dem Gebälk einnehmenden Raum, aus dem große Fenster nach den vier Himmelsgegenden sich öffnen.

Im Fußboden befand sich die offene, durch keine Fallthür verschlossene Mündung der Treppe, welche durch den Turm hier herauf führt.

In diesem Raum, zwischen der Fahnenstange und der Mündung der Treppe, saß auf einem Balken der junge Preuße. Es war dunkel um ihn her, der matte Schimmer, der durch die großen freien Fensteröffnungen hier hineinfiel, genügte kaum, ihn die Räumlichkeiten erkennen zu lassen.

Er hatte den Hirschfänger mit dem er sich bewaffnet neben sich gelegt, ebenso seine Pistolen, die er vorher sorgfältig untersucht und gespannt hatte.

Von Zeit zu Zeit beobachtete er durch die Fensteröffnungen die Umgegend und die Zeichen in der Stadt. Er konnte die Wachtfeuer der Independants und zum Teil der Montagnards in den Straßen am See sowie die in dem großen Hof des Schlosses selbst sehen und dachte an die jugendliche Begeisterung, mit der er die erste ihm von dem Freunde gemachte Andeutung des Unternehmens erfaßt und sich ihm angeschlossen hatte.

Wohl zwei Stunden hatte er so auf seiner einsamen Fahnenwacht zugebracht. Die Feuer in den Höfen des Schlosses waren erloschen, das wüste Gelage hatte sich erschöpft; um die zusammengebrannten Kohlen, um die geleerten Fässer mochten die Leichtsinnigen im gefährlichen Schlafe liegen. Auch auf den Straßen und in der Umgebung des Schlosses war es ruhiger geworden, und die Feuer in den Straßen und am Ufer des Sees waren erloschen.

Es war ungefähr 4 Uhr, als der Preuße einen leichten Schritt die Treppe des Turmes heraufkommen hörte. Er faßte sofort seine Waffen und stellte sich an die Seite der Treppe.

»Wer da?«

»Gutfreund! Gott und der König!«

Der Preuße trat zurück, und der Ankommende stieg durch die Luke empor. So viel die beginnende Dämmerung zu erkennen erlaubte, war es ein kräftig gebauter Mann, mit Mütze und Blouse bekleidet und nur mit einem Säbel bewaffnet.

»Wer sind Sie?«

»Ein Montagnard, Herr, aber einer von denen, die dem König treu und ergeben sind. Andrée Droz ist mein Name und Herr von Meuron schickt mich zu Ihnen.«

»Warum? was giebt es?«

»Er ist besorgt um Sie, und weil er weiß, daß ich treu bin und das Innere des Schlosses zufällig genau kenne, da ich hier früher viel gearbeitet, so läßt er Sie bitten, mich bei sich zu behalten, bis alles vorüber ist.«

Der Preuße bedachte sich einen Augenblick; die offene ehrliche Stimme des Mannes gefiel ihm.

»Sie stellen sich an einen gefährlichen Posten, mein Freund,« sagte er. »Wissen Sie, was ich hier will und mir selbst gelobt habe?«

»Sie wollen die Fahne unseres Königs wahren bis zum letzten Augenblick, damit keine andere Hand als eine ehrliche und getreue preußische dieselbe berühre,« antwortete der Mann. »Das ist brav von Ihnen, und deshalb komme ich her, um Ihnen beizustehen. Leutnant von Meuron, der Verlobte meiner Milchschwester, Des Fräuleins von Creuxdevent. läßt Ihnen sagen, daß die Unterhändler mit dem abgeschlossenen Vertrage sogleich zurückkommen werden und eine Klausel in demselben bestimmt, daß alle Fremden noch im Laufe des Tages den Kanton verlassen müssen, daß Oberst Pourtalès mit dem Oberstleutnant sich vorläufig auf sein Gut Metlen bei Vern zurückziehen wird und Ihnen anheimstellt, ihn zu begleiten.«

»Ich muß für die Einladung danken,« sagte der junge Mann kalt; »unsere Wege gehen auseinander. Sobald das Schloß übergeben ist, gedenke ich abzureisen, aber nicht allein!« Er wies nach der Fahne.

»Ich wiederhole das ehrliche Anerbieten meines Beistandes,« sprach der Handwerker. »Ich fürchte, die Herren, die uns führen, haben sich selbst getäuscht und somit auch uns; für unsern ehrlichen Patriotismus und unser Blut hätte man uns nicht eine politische Intrigue geben sollen! Die großen Herren werden sich leicht herausziehen und für uns Kleine wird es zu heiß im Lande werden!«

Der junge Preuße hatte ihn schweigend angehört. Endlich schien ihm etwas einzufallen, er nahm seine Brieftafel und suchte in dem matten Nachtschein darin, bis er eine Karte fand.

»Wenn wir Licht hätten, würde ich Sie fragen, ob Sie einen Mann des Namens kennen, der hierauf verzeichnet ist.«

»O wenn's nur dessen bedarf, das ist leicht geschehen!« Der Handwerker rieb ein Streichholz an seinen Manchesterhosen und las bei dem Schein den Namen: »Cölestin Aimand?! – wie kommen Sie zu dem Mann?«

»Man hat mir die Karte in Berlin gegeben mit dem Bedeuten, daß, wenn ich hier in irgend eine Verlegenheit kommen sollte, ich bei ihm sicher Beistand finden würde. Wer ist der Mann?«

»Das ist schwer zu sagen, Herr! Er hält es mit allen Parteien und hat offenbar Einfluß bei allen, obschon er seiner Stellung nach zu den niedern Leuten gehört. Er hat eine Schenke in Serrières und ist der Oheim einer Verwandten des Schloßkastellans. Im Volk will man wissen, daß er geheime Verbindungen hat mit den Jesuiten in Freiburg und Luzern. Aber so viel ist sicher, wenn die Empfehlung gut ist, und Sie ihn nötig haben, ist die Sache so gut wie gethan, denn er hat die Macht dazu!«

Die Karte war noch in seiner Hand, als man unten auf dem Zugang zum Schloß Geräusch und gleich darauf die schweren Thorflügel öffnen hörte.

Der Handwerker bog sich über die Brüstung des hohen Turmfensters.

»Da kommen sicher die Kommissarien oder ihre Boten. Der Handel ist geschlossen, und Neufchâtel wieder für den König verloren. Ich wollte …«

Ein gellender Ruf von unten her zerriß die Luft.

»Verrat! Zu den Waffen!«

»Hölle und Teufel, was ist geschehen?«

Dem Ruf folgte ein schrecklicher, entsetzlicher Schrei, der Schrei eines zum Tode getroffenen kräftigen Lebens. Im nächsten Moment knallten Flintenschüsse und ein wilder Tumult erhob sich. Der donnernde Ruf: » Vive la Suisse!« erscholl vor dem von dem Turm aus nicht sichtbaren Eingangsthor aus hundert Kehlen, wenige Augenblicke darauf scholl es aus dem ersten innern Hofraum empor, Waffen klirrten, in den Lärm des plötzlichen Gefechts mischten sich Rufe der Angst und des Schreckens.

» Vive la Suisse! Vive la Suisse!«

Von der Westseite her an der Mauer des Schloßgartens entwickelte sich ein regelmäßiges Tirailleurfeuer.

»Das ist Verrat, das Schloß wird erstürmt! wir sind überlistet! Zu Hilfe den Brüdern!« schrie der Handwerker und stürzte nach der Fallthür, um die Treppe hinunter zu eilen.

Der Preuße vertrat ihm den Weg. »Halt! zurück da! Hier ist unser Posten!«

»Aber unsere Freunde …«

»Wir können ihnen nicht helfen, wenn die Feinde bereits im Innern des Schlosses sind. So lassen Sie uns die Fahne des Königs mit unserm Leben verteidigen!«

Die Treppe zum Turm polterte es herauf. » Vive la Suisse! Nieder mit dem Zeichen der Despotie!«


Es war kurz vor 5 Uhr gewesen, als einer der vom Hauptmann Girard ausgestellten Leute die Nachricht brachte, daß die beiden Waibel aus dem Quartier der Kommissäre aufgebrochen wären, um die gegengezeichnete Konvention über die Übergabe nach dem Schlosse zu bringen.

Sofort war der von dem Hauptmann ausgesuchte Haufe auf den Beinen und postierte sich an den Aufgang des Hohlwegs, wo er weder vom Schlosse noch von der Hauptbarrikade aus gesehen werden konnte. Die Männer hielten ihre Waffen meist unter den Röcken und Blusen verborgen; Kapitän Laforgne instruierte noch einmal die Leute und drohte jeden, der, bevor er das Signal zum Angriff gegeben, durch Unvorsichtigkeit das Unternehmen verraten würde, mit eigener Hand nieder zu stoßen.

Wie erwähnt, bildeten an der rechten Seite des Weges, von der scharfen Biegung bis zu der Stelle, wo die Barrikade den Zugang versperrte und mit zwei Kanonen besetzt war, zwei kleine Häuser auf der Steinwand den Hohlweg.

Noch während der Nacht hatte Kapitän Laforgne sie von einigen vertrauten Leuten besetzen und die Zwischenmauern im stillen durchbrechen lassen, so daß man von der Biegung ungesehen durch das Innere bis zu dem äußersten Fenster gelangen konnte, das etwa zwei Schritte hinter der Barrikade lag.

Der Führer der Montagnards von Chaux de Fonds hatte es-übernommen, bei dem ersten Zeichen des Angriffs durch falsche Nachrichten auch die Independants zu alarmieren, und zugleich mit der Hauptmacht der Seinen den gelungenen Überfall zu unterstützen.

»Sie wissen, Bürger, was Sie zu thun haben,« sagte der junge Condottieri zu den Leuten, die er um sich versammelt hatte. »Die einzige Gefahr ist, daß die Schildwache zu früh bemerkt, daß wir einen Überfall beabsichtigen. Sie muß daher gehindert werden, Alarm zu machen. Die Sache ist nicht leicht, da wir Schußwaffen nicht anwenden dürfen und der Mann, wie ich mich überzeugt, ein wachsamer und tüchtiger Bursche ist, der seinen Posten im Auge hat. Es bleibt nur übrig, ihn von dem letzten Fenster aus zu überfallen. Jeder Augenblick zu früh oder zu spät kann von den schlimmsten Folgen sein. Wenn es ihm gelingt, eines der Geschütze abzufeuern, würde die Wirkung in dieser Nähe furchtbar sein. Wer hat den Mut und die Ruhe, die Aufgabe auszuführen?«

»Wenn es so gefährlich ist, warum thun Sie es nicht selbst, statt bequem davon zu schwatzen und einen andern zu schicken?« sagte hämisch der Kerl mit dem Fuchshaar, den der Franzose am Abend vorher zu Boden geschlagen hatte, als er die Flinte auf den ehrwürdigen Pastor Guillebert anlegte.

François nahm, ohne ein Wort zu erwidern, einem der Männer ein breites Zimmerbeil aus der Hand: »Auf Euren Posten, Freund! dort kommen die Waibel!«

Der Haufe verlor sich an den Seiten, während die Boten der Kommissäre heraufstiegen.

Sie hatten kaum die Biegung passiert, als der Abenteurer sich auf die Schulter eines der Männer und von dieser auf die Höhe der Mauer schwang, auf der die Häuser stehen. Im nächsten Augenblick verschwand er in einem Fenster des ersten.

Die Waibel setzten ahnungslos ihren Weg fort; sie sprachen vertraulich mit den Männern, die sich am Eingang der Straße wie zufällig um sie sammelten und ihnen folgten, und teilten ihnen mit, daß alles in Ordnung sei und um 10 Uhr bestimmt die Übergabe und Besetzung des Schlosses sowie der Abzug der Royalisten mit Zurücklassung aller Waffen erfolgen solle. Die Führer derselben würden sich freiwillig in Bern zur Haft auf Ehrenwort stellen, bis der Bundesrat entschieden habe.

So gelangte man in die Nähe der Barrikade.

»Halt! Wer da?«

»Die Waibel von Neufchâtel! Die Boten der Kommissäre der hohen Eidgenossenschaft!«

»Sie können passieren, meine Herren, aber ich verlange, daß Ihre Begleiter in zwanzig Schritt Entfernung bleiben!«

Ein schallendes Hohngelächter der Montagnards antwortete der Forderung des royalistischen Postens.

»Kurz und gut – entschließen Sie sich, oder ich verweigere Ihnen die Passage!«

Die beiden Waibel waren ruhige, verständige Männer, sie sahen, obschon sie den ganzen Streit für beendet hielten, die Berechtigung der Forderung ein und redeten ihren unberufenen Begleitern zu, zurückzubleiben. Als einzelne mit Hohn antworteten, forderten sie es.

Die Montagnards blieben jetzt zurück, sie standen einzeln oder in Gruppen an der Mauer, sprachen laut, und verspotteten die Vorsicht des einzelnen Wächters der Barrikade.

Dabei näherten sie sich derselben wie zufällig Schritt um Schritt.

Der Artillerist bat die Waibel, über die Barrikade hinwegzusteigen; da er allein sei, vermöge er nicht, ihnen einen bequemeren Zugang zu öffnen.

Es geschah.

»Gott sei Dank, daß die Sache in Ordnung ist, meine Herren,« sagte der treue und ehrliche Mann, als ihn die Waibel versicherten, daß seine Vorsicht unnötig sei, indem der Vertrag geschlossen wäre. »Ich freue mich darüber wegen Weib und Kind. Aber bis ich die Ordre von meinen Offizieren erhalten habe, darf ich als alter Soldat von meinem Posten nicht weichen und muß meine Pflicht erfüllen. Gehen Sie nach dem Thor, meine Herren, man wird Ihnen sofort öffnen.«

Die Waibel gingen weiter an der Kirche vorüber nach dem Thor und klopften an; es dauerte eine Weile, bis man ihnen öffnete.

Der Artillerist schritt unterdes hinter der Barrikade auf und nieder. Er hielt die brennende Lunte in seiner Hand und rauchte seine kurze Pfeife.

Die Montagnards draußen versuchten wiederholt, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Bei der Gelegenheit kamen sie Schritt um Schritt näher.

»Halt da!« sagte der Artillerist. »Ihr kommt zu nah, meine Bursche! bleibt zurück, oder ich mache Alarm!«

»Alter Narr, Du wirst doch nicht?«

In diesem Augenblick hörte man das Knarren der schweren Thorflügel, die sich vor den Waibeln öffneten.

Der Artillerist fuhr zusammen. Sein altes Soldatenohr hatte zugleich über seinem Haupt einen verdächtigen Ton gehört – das Klirren eines Fensters.

Er sah empor. –

Über ihm in dem Häuschen, das hinter die Barrikade reichte, hatte sich ein Fenster geöffnet, eine dunkle Männergestalt schwang sich eben in den Rahmen – ein gellender Pfiff erklang.

Die Montagnards in dem Hohlweg sprangen vorwärts. » Vive la Suisse!« In ihren Händen blitzten plötzlich die verborgen gehaltenen Waffen.

Einen Augenblick nur, kaum die Hälfte einer Sekunde lang war die wackere Schildwache unentschlossen. Dann sprang sie, die brennende Lunte schwingend, nach der Lafette der ihr nächsten Kanone.

»Verrat! Zu den Waffen!«

Es war der laute Ruf, den die beiden Wächter der Fahne auf dem Turm gehört hatten.

Es war zugleich der Todesruf eines wackern Mannes, eines treuen Royalisten.

Neben ihm, als er eben die Kanone erreicht, als er die Lunte hob, um das Zündloch zu suchen, plumpte es nieder wie eine dunkle schwere Masse auf das Pflaster des Weges. In demselben Moment auch schnellte sie empor, ein Arm erhob sich, ein breites Eisen leuchtete und zischte durch die Nachtluft und fiel nieder mit einem knirschenden Klang.

»Jesus Christus!« der Mann sank in die Knie, die Lunte fiel ihm aus der Hand, noch ehe sie das Pulver erreicht, dann stürzte er schwer zu Boden, der Kopf war ihm von dem Beilhieb Laforgnes gespalten.

Im Augenblick auch waren die Montagnards oben auf der Barrikade. » Vive la Suisse!«

Der Royalist, der den Waibeln das Thor geöffnet hatte, schaute erschrocken heraus, was es gäbe, aber schon stürzte der Kapitän, gefolgt von seiner Meute heran, und im Rennen feuerte er eine seiner Pistolen gegen den Mann.

Die Kugel schlug dicht an dessen Kopf in das Holz; der Mann sprang erschrocken zurück und rannte davon, ohne die schweren Thorflügel wieder zu schließen.

»Sieg! Sieg! das Schloß ist unser! Vive la Suisse!«

Einzelne Schüsse krachten, in der Stadt unter den bereits harrenden Montagnards Girards fand der Ruf sein hundertfältiges Echo, und mit jedem Moment stürmten neue Scharen herauf.

Kapitän François hatte das Thor sofort stark besetzt, ehe er weiter in das Innere des Schlosses vordrang. Aus allen Teilen desselben knallten jetzt Schüsse und drang der Lärm des Gefechts. Von allen Seiten eilten die Royalisten, aus dem ersten Schlaf geweckt, halb bekleidet, oft ohne Waffen, noch wüst und halb trunken von dem nächtlichen Gelage, herbei und versuchten einen schwachen ungeordneten Widerstand, während der größte Teil von Schrecken überwältigt nur einen Ausweg zur Flucht suchte, oder seine Waffen fortwarf und sich widerstandslos gefangen nehmen ließ.

Vergebens stürzten nach dem ersten Alarmruf die Führer der Königlichen herbei, warfen sich zwischen die Kämpfenden und beriefen sich auf den geschlossenen Traktat. Der rohe Übermut der Sieger hörte sie nicht. Ebenso vergebens versuchten sie an andern Orten einen kräftigen Widerstand zu organisieren, ihre Anhänger um sich zu sammeln und den Überfall zurückzuschlagen, denn die Verwirrung steigerte sich und die letzte Hoffnung schwand, als jetzt auch ein scharfes Tirailleurfeuer von dem Schloßgarten her gegen die dorthin Flüchtenden losbrach und die Independants hier in Massen angriffen.

Die Führer der Montagnards hatten alsbald beim Beginn des Überfalls die Posten und das Lager der Independants mit falschen Nachrichten alarmiert, als sei der Angriff von den Royalisten verräterisch begonnen worden, und sofort beteiligten sich diese an dem Sturm und drangen auf der schon vom Kapitän Laforgne am Morgen vorher bei seiner Flucht bemerkten leicht zugänglichen Stelle ein, auf die er den Hauptmann Girard bei ihrem nächtlichen Rundgang aufmerksam gemacht hatte.

Das Getümmel im Innern der Höfe, in den Gemächern und Gängen war entsetzlich; die Montagnards und bald von ihrem Beispiel entflammt auch die Independants erlaubten sich die infamsten Grausamkeiten. Fünfzehn Royalisten wurden mehr ermordet, als im Kampf getötet, an dreißig durch mehr oder weniger gefährliche Wunden mißhandelt, nachdem sie bereits die Waffen niedergelegt hatten. Die Grafen Pourtalès, Steiger und Pury wurden bei dem Bemühen, die Ruhe herzustellen, verwundet, Kapitän Reiff erhielt einen Säbelhieb über den Kopf und einen Bajonettstich in den Unterleib, sie alle wurden vom Tode nur durch die ehrenhafte Aufopferung des Obersten Denzler gerettet, der sie mit seinem Leib deckte, Kapitän Fabry von La Sagne, Pernod, Eduard Houriet, der bereits den Tod seines Bruders beklagte, sanken blutend zu Boden unter den Waffen der fanatisierten Menge; nur der Energie einzelner Führer war es zu danken, daß dem Morden Einhalt gethan und die Besatzung des Schlosses zu Gefangenen gemacht wurde.

Hundert und einigen fünfzig Mann, darunter Eugène de Meuron, Wilhelm du Pasquier und Chatelain de Pury war es gelungen, sich durchzuschlagen und zu entkommen, verfolgt von den Kugeln der Gegner; an dreihundertsechzig wurden gefangen genommen und mit den in der Stadt Verhafteten in die Schloßkirche eingesperrt, wo man sie 24 Stunden ohne alle Nahrung ließ und auf das Schimpflichste behandelte. Unter den Gefangenen befanden sich noch die Grafen Pourtalès, Steiger und Sandoz, Perrot von La Sagne, Meuron-Terrisse der Alt-Staatsrat Perregaux, Chambrier, der frühere Maire von Valengin, Chambrier, der Maire von La Chaux de Fonds, Pourtalès Gorgier, Rougemont von St. Aubin, die Brüder Bovet von Areuse, Terisse von Cottendar, der englische Ingenieur Ibbetson, Lardy, der Bankier Jeanjaquet, Wolfrath, de Montmollin und vier Geistliche. Graf Ludwig Wesdehlen und Roued, die man in einen Kerker unter dem Turm geworfen, blieben dort drei Tage und drei Nächte vergessen ohne jede Nahrung und wurden nur durch einen Zufall vom Hungertode gerettet.

Während diese traurigen Scenen in und um das Schloß spielten, entwickelte sich ein blutiges Drama über seinen Zinnen, an der Stelle, wo die preußische Fahne über den Häuptern der Kämpfenden oder vielmehr der hinterlistigen Mörder und ihrer Opfer wehte.

Gleich unter dem ersten Haufen, der nach Übersteigung der durch den Tod des treuen Wächters zum gefahrlosen leichten Hindernis gewordenen Barrikade in das Schloß drang, befand sich der Rotkopf, der am Abend vorher den Pastor Guillebert hatte erschießen wollen und später den jungen Abenteurer herausgefordert hatte, selbst den Weg zum Thor über die Leiche der Schildwache ihnen zu öffnen.

Der Kerl war ein geborener Preuße, geboren in der Hauptstadt des Landes und nach den Excessen des Sommers von Achtundvierzig verfolgt, wegen Diebstahls entwichen und auf seinen Kreuz- und Querzügen mit anderm Gesindel nach der Schweiz gekommen, wo er sich das große Wort unter den Arbeitern anmaßte.

Mit dem Geschrei: »Mir nach, Kameraden, daß wir die preußischen Lappen herunterreißen!« stürzte der Mensch, gefolgt von drei oder vier seiner Begleiter, in die Pforte, die zu den oberen Stockwerken und der Treppe des Turms führte, in demselben Augenblick, als Kapitän Laforgne, nachdem er die Besetzung des Thors geordnet, in der: innern Hof drang, wo bereits der Kampf und das Morden tobte.

Der Kapitän hatte den Ausruf des Roten gehört und sprang ihm nach, den Säbel in der Hand, als zwei Royalisten sich ihm entgegenwarfen.

Ein Hieb quer über Kopf und Gesicht warf den einen zu Boden, dann griff er den zweiten an, der sich mit seinem Gewehr tapfer verteidigte, und trieb ihn vor sich her, die Treppe hinauf.

An der Fallthür stand der Preuße, die gespannte Pistole in der Hand, neben ihm der Montagnard.

»Sind Sie entschlossen, Kamerad?«

»Bis in den Tod!« sagte der Handwerker.

»Ich bin Ihr Offizier, wollen Sie mir gehorchen?«

»Befehlen Sie, Herr, und Sie werden sehen!«

»Dann hören Sie mich! Es ist kein Zweifel mehr, das Schloß ist in den Händen der Republikaner. Sie sagten mir vorhin, daß Sie mit allen seinen Gängen und Winkeln vertraut seien. Wären Sie imstande, sich genügend zu verbergen oder unentdeckt zu entkommen?«

»Gewiß – es sollte mir nicht schwer werden. Aber ich habe mein Wort als ehrlicher Mann verpfändet, bei Ihnen auszuhalten, und weiche nicht von der Stelle.«

»Es giebt Wichtigeres zu retten, als Ihr Leben! Jene dort!« Er wies nach der Fahne.

Der Handwerker nickte. »Das ist wahr; wenn wir gefallen, wird man sie doch herunterreißen!«

»Das darf nicht geschehen! keine Feindeshand soll sich daran legen. Sie werden sie retten und in Sicherheit bringen!«

»Ich?«

»Ja! reißen Sie die Fahne von der Stange, schnell!«

Mit kräftiger Hand hatte der Handwerker die seidenen Falten von der Stange gerissen. Ebenso rasch schlug er sie zusammen.

»Ihre Blouse aus! So – nun winden Sie das Tuch um den Leib! Die Blouse bedeckt es; wenn Sie Ihre Geistesgegenwart nicht verlieren, wird man Sie leicht für einen der Republikaner halten. Nun fort und lassen Sie uns versuchen, das anvertraute Gut in Sicherheit zu bringen!«

»Aber Sie, Herr?«

»Ich werde Ihnen folgen und jeden niederschießen, der es wagt, Hand an Sie zu legen!«

»Wahrhaftig! der Plan kann gelingen. Wenn wir nur erst den Schloßboden erreicht haben, will ich bald einen Ausgang finden. Aber nun fort, Herr! Hölle und Teufel, da sind sie!«

Er sprang die drei Stufen der Treppe wieder herauf, die er bereits hinabgestiegen, hob mit Geistesgegenwart die Fallthür und warf sie in die Öffnung.

Im nächsten Augenblick krachte unter ihnen ein Schuß und eine Kugel schlug durch das morsche Holz der dünnen Bretter.

» Vive la Suisse! Herunter mit dem Wahrzeichen der Tyrannei!«

Kolbenstöße donnerten gegen die schwache Schranke. »Aufgemacht, verfluchte Reaktionärs oder Ihr werdet alle massakriert!«

Die Brauen des jungen Mannes hatten sich finster zusammengezogen. Sein sonst so ruhiges festes Auge funkelte mit unheimlichem Glanz.

»Zurück, Schurken! Es lebe der König!«

Ein wildes Geheul der Wut von unten her antwortete ihm, eine zweite Kugel zersplitterte das Holz.

Der Preuße warf einen Blick umher, dann zuckte es auf seinem Gesicht wie ein glücklicher Gedanke.

»Sagten Sie nicht, daß wenn wir den Boden erreichen könnten, wir gerettet wären?«

»Gewiß, aber die wütende Meute versperrt uns den einzigen Weg.«

»Sie haben die Fahne, wenn Sie den Mut haben, Ihr Leben einzusetzen, dort ist ein Weg auf das Dach, die nächste Luke ist keine zehn Schritt entfernt.«

Er wies nach einem der Fenster.

»Der Sprung ist zu hoch, ihn zu machen – es ist unmöglich!«

»Die Eisenstange! der Blitzableiter! Er läuft zum Dach nieder! Fort! ich halte die Schurken hier im Schach!«

Der Handwerker hatte ihn begriffen, ein Blick hinab von der Steinbrüstung überzeugte ihn, daß bei einiger Kühnheit und Gewandtheit der Weg allerdings möglich war.

»Wohin soll ich die Fahne bringen?«

»Zu dem Mann, der auf der Karte steht! Sagen Sie ihm, ein Toter sende Sie und übertrage Ihnen sein Recht auf Beistand!«

Der Handwerker schwang sich über die Brüstung des Fensters. Ein Wink mit der freien Hand, dann glitt er hinunter.

Im selben Augenblick flog eine Planke der Thür unter den Kolbenstößen empor.

» Vive la Suisse! Herunter mit der Schandfahne!«

»Zurück, sage ich! Wer es wagt, das Plateau zu betreten, ist ein Kind des Todes!«

»Unsinn! Ergebt Euch! Vorwärts, Kameraden! laßt Euch nicht schrecken, der Sieg ist unser!«

Der Kopf mit dem Rothaar hob sich durch die Luke. »Im Namen der Republik – ergebt Euch oder es geht Euch schlimm!«

Statt der Antwort knallte ein Pistolenschuß. Die Kugel schlug dem Roten zwischen den Zähnen durch in den Schlund und hinten am Nacken wieder heraus.

Ein schrecklicher Schrei, ein dunkler Blutstrom stürzte aus dem Munde, der Arm schlug krampfhaft durch die Luft, dann verschwand der Kopf mit dem stieren Todesausdruck aus der Öffnung, und der Körper stürzte zurück unter seine Gefährten.

Der Preuße ließ die Pistole fallen, die ihm nutzlos war und nahm die zweite in die Hand. Der Rest der Thür dröhnte unter den wütenden Stößen der Republikaner.

»Rache! In Stücke mit den Mördern! Herunter mit dem preußischen Lappen!«

Aber bei all dem Geschrei und Lärmen begnügte man sich, aus sicherer Entfernung gegen die Fallthür zu stoßen und zu schießen; der plötzliche Tod ihres Führers, dessen Leiche die Stufen sperrte, hatte den Thatendurst der Meute gewaltig abgekühlt, und kein zweiter wagte, in der Öffnung zu erscheinen.

Der Preuße stand bleich, entschlossen auf seinem Posten, in der Rechten jetzt die blanke Waffe, in dem improvisierten Leibgurt das zweite noch geladene Pistol. Er wußte, daß er fallen müsse unter der Übermacht, aber jede Minute, die er sie aufzuhalten vermochte, war die Lösung seines Wortes, die Sicherung der Fahne, die er bewacht.

Dann drang durch das Schreien und leere Wüten der Republikaner eine kräftige klare Stimme mit dem Tone des gewohnten Befehls.

»Aus dem Wege, Memmen! die Fahne ist mein! daß niemand sie anzurühren wage!«

»Sie haben Dillmann erschossen, Sie müssen sterben!«

»Dann versucht's! Gehe voran, wer Mut hat!«

Eine kurze Pause erfolgte, dann unterbrach sie ein spöttisches Gelächter.

»Zurück, Bursche! schafft den Toten beiseite und überlaßt mir die Sache!« Im nächsten Augenblick krachte ein gewaltiger Axthieb gegen die noch haltenden Planken, ein zweiter gegen das Schloß der Thür, daß oben die Haspen des Riegels aus ihren Nägeln sprangen. Bevor Otto von Röbel sich entschlossen, ob er weiter den Zugang oder jetzt nur noch sein Leben verteidigen solle, flog die zerschlagene Thür empor, und ein Mann im Jagdrock sprang in den Raum, ein blutiges Beil in der Faust.

Hinter ihm her drangen mehrere wüste Gestalten und hielten sich, ihre Waffen schwingend, Drohungen und Verwünschungen sprudelnd, am Rande der Treppe.

Das Licht, das durch die vier Fensteröffnungen drang, war jetzt bereits hell genug, um die Gesichter gegenseitig zu erkennen.

»Monsieur de Reubel!«

»Kapitän Laforgne!«

»Legen Sie die Waffen nieder! ergeben Sie sich, Herr,« sagte dieser. »Das Schloß ist in unsern Händen!«

»Durch bübischen Verrat, bei dem Kapitän Laforgne sicher mitgeholfen!«

Das sonnverbrannte Gesicht des Abenteurers wurde von dunkler Glut übergossen, denn er fühlte, daß der Vorwurf nicht unverdient war, und seine Faust krampfte sich fester um die schreckliche Waffe, die den Eingang in das Schloß in so blutiger Weise erzwungen hatte. Dennoch beherrschte er sich.

»Das sind unnütze Worte; geben Sie die Fahne heraus, Herr, die man hier auszustecken gewagt, ich habe geschworen, sie herabzureißen. Aller Widerstand ist unnütz und könnte für Sie gefährlich werden. Geben Sie die Fahne heraus, und Sie sollen eine ehrenvollere Haft haben, als Sie mir gegeben!«

»Tod! Tod! Schlagt ihn nieder, den Reaktionär! er muß sterben!«

Der Kapitän schwang drohend das Beil. »Zurück, Gesindel! seht Ihr nicht, daß Ihr mit einem Soldaten zu thun habt? Der erste, der anrührt, was mir gehört, fällt von meiner Hand. Die Fahne heraus, Herr, reizen Sie die Schurken nicht länger, oder Ihr Leben ist in Gefahr!«

Der Preuße hatte sich bis in die Nähe der Öffnung zurückgezogen, aus der sein Wachtgenosse entkommen, hier blieb er mit dem Rücken gegen das Fenster stehen.

»Die Fahne? wo ist die Fahne?«

»An Preußens Fahne soll sich keine Rebellenhand legen, die Fahne ist in Sicherheit!«

»Das ist Ausflucht, heraus damit, oder, so gern ich Sie schonen will, ich hole sie mit Gewalt!«

»Versuchen Sie es!«

Mit einem Satz sprang der verwegene Partisan der Revolution gegen den Royalisten, und der Schwung seines Beils traf die vorgestreckte Waffe, daß die Klinge des Hirschfängers aus dem Griff flog. Aber der Stoß, den er mit dem Heft empfing, war so kräftig, daß er zurücktaumelte, und im Nu hatte sich der junge Preuße von ihm losgemacht und schwang sich auf die Fensterbrüstung, den linken Arm um die Mauer geschlungen, den rechten mit der Pistole ihm entgegenstreckend.

»Auf Eure Gefahr! wer einen Schritt näher thut, teilt das Schicksal Eures Gefährten!«

Die Männer, die bei dem kurzen Angriff des Kapitäns herbeigesprungen, prallten zurück, als sie die Pistolenmündung des sicheren Schützen auf sich gerichtet sahen.

Das Auge François unterlief mit Blut, der mißlungene Erfolg beraubte ihn der bis jetzt bewahrten Ruhe und ließ ihn allein den triumphierenden Feind sehen.

»Zum letztenmal – wollen Sie sich ergeben und die Fahne überliefern?«

»Ich ergebe mich auf Ihr Ehrenwort!«

Er senkte den Lauf der Pistole.

»Die Fahne! die Fahne!«

»Niemals in französischer Hand, sie ist aus Ihrer Gewalt und gerettet!«

Die hochherzigen Worte waren kaum über die Lippen, als von der Treppe her ein Schuß knallte.

Die Pistole entfiel der Hand des Preußen, er hob die Arme in die Luft und schwankte auf seinem gefährlichen Platz.

»Schurken, was habt Ihr gethan? Meine Ehre ist hin, wenn er ermordet ist! Zu Hilfe, rettet ihn!«

Der Kapitän warf das Beil fort und sprang zu dem Taumelnden, den er umfaßte und von der Brüstung zu heben versuchte; aber schon hatte dieser das Gleichgewicht verloren und hing, nur mit einer Hand noch krampfhaft an einer Klammer der Fensterwand sich haltend, aus der Öffnung hinaus und über dem Abgrund, während aus seiner Seite das Blut über die umfangenden Arme François strömte!

»Herbei! Er fällt! helft! helft!«

Die Hand des Verwundeten ließ plötzlich die Klammer los und schlang sich um den Hals des Retters – die andere Hand folgte nach, die Augen mit dem Blick der Verzweiflung, des Hasses, starrten weit geöffnet, in dichtester Nähe, grimmig ihn an …

»Mit mir!«

Ein gellender Schrei, dann ein wildes entsetztes Durcheinanderrufen der herbeistürzenden Republikaner.


Die Fensteröffnung war leer!



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