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Kinder des Waldes

Der zivilisierte Indianer

An den Ufern der Flüsse und in den halbzivilisierten Grenzregionen begegnen wir dem mehr oder weniger zivilisierten Indio. Nicht dem Serano, dem Bergbewohner, von dem wir schon gesprochen haben, sondern dem Bewohner der Amazonastiefebene, der die Frische und stellenweise Kälte subtropischer Gebiete nicht liebt und auch nicht ertragen könnte, ebenso wie der Serano das heiße Klima der Tiefebene nicht aushält. (Denn so verrückt, aus einem Klima in das andere, entgegengesetzte zu gehen, ist höchstens ein Weißer.)

Ein Unterschied zwischen zivilisierten und unzivilisierten Indianern ist in der Wirklichkeit nicht so leicht zu treffen wie in der Theorie. Weil einer zerlumpte Hosen aus billigstem Kattun anhat, braucht er noch nicht zivilisiert zu sein, ebensowenig wie der ein wilder Indianer ist, der in voller Kriegsbemalung im Zirkus auftritt.

Hat es eine Indianerin, eine halbblütige natürlich, dank dem Fleiße ihres Mannes gar zu einer Nähmaschine gebracht, dann hält sie sich sehr wahrscheinlich für zivilisiert. Das schließt aber nicht aus, daß diese Frau, die Maschinennähen kann, die Ameisen für Zauberer halt und irgendeinem »dämonischen« Baum die Schuld gibt, daß ihre Kinder den Katarrh haben, und ihn umhackt, um ihn unschädlich zu machen.

Der als zivilisiert geltende Indianer ist selten ein reinblütiger (obgleich der vorletzte Präsident von Peru ein reinblütiger Serano war), sondern in der Mehrzahl ein Mischling, der nicht mehr im Wald lebt, sondern in einer Ortschaft, und der schon einen Zivilisationsberuf ausübt.

Der braune Steuermann eines kleinen Baumwolldampfers sah mir, wenn ich eine Aufnahme machte, mit sehnsüchtigen Kinderaugen zu. Fotografiert werden ist für diese Leute der Gipfelpunkt der Wunschträume. Endlich wagte er die Bitte auszusprechen, ich möchte ihn aufnehmen, und als ich zusagte, stellte er sich mit einem Ernst in Positur, als ginge es zur Hinrichtung. Aber vielleicht haben es unsere Voreltern auch nicht viel anders gemacht. Der Commandante des gleichen Schiffchens bewunderte in vollem Ernst einen falschen Brillantring, einen Schundartikel, den ich aus Spaß angesteckt hatte. Eine sehr dunkelhäutige Dame auf diesem Schiff wischte sich den Mund am Tischtuch ab. Der Marketender dieses Schiffes (das zahlreiche zivilisierte Menschen beförderte) las ein Buch »Der Krieg Montenegros gegen die Türkei«; als ich ihn fragte, warum er das lese, antwortete er: »Zur Bildung.« Und ein sehr hellhäutiger halbindianischer Farmer fragte mich, als er meine Schreibmaschine bestaunte, ob die Tinte drin versteckt sei. Schlimm war, was passierte, als eine Chola wollte, daß ich ihr Kindchen knipse, eine reizende kleine Strampelpuppe. Sie legte es auf ein Tuch auf den Boden. Ein Haufen Weiber stand herum. Eine bemerkte, es sehe schlecht aus, wenn man »alles sehen« würde. Flugs nahm die Mutter einen schmierigen Lappen und legte ihn dem armen Kind auf den Bauch. Ich sagte mit schlecht verhehltem Ärger: »Señora, ich bin kein Fotograf von alten Lumpen!« und wollte gehen. Einer der zuschauenden Männer warf den Fetzen fort. »Es ist eine Kreatur wie eine andere auch«, sagte er zu der Alten, »verschandelt doch das Geschöpf nicht!«

Doch das passiert anderswo auch, und solche Leute, die zu den zivilisierten zählen, gibt es überall. Ein bayrischer Bauer fragte mich, auf die Staffelei deutend, zu was das gehört, und ein Tiroler Jäger hatte noch keine Briefwaage gesehen; und das ist durchaus in der Ordnung. Was einer nicht braucht, wozu soll er das kennen? Aber aus solchen Beispielen sieht man, daß der Begriff Zivilisation ein dehnbarer ist, und daß sich der gesunde Mensch von ihr nur so viel aneignet, als er unbedingt braucht.

Doch, wir befinden uns am Rand des Urwalds, wo noch Einzelsiedler hausen, sei es ein Spanier oder Kreole, ein Japaner oder Mestize, oder auch ein eingewanderter, wenn nicht schon im Lande geborener Deutscher, der zwischen Wasser und Urwald einige Hektare Boden gerodet hat, jeder ein von allem Verkehr abgeschnittener Robinson. Auch hier sind wir mitten im Wald, der die bepflanzte Lichtung auf allen Seiten umgibt, so weit man blicken kann. Hier beobachtete ich den Waldindianer, der im Busch lebt und aus Neugierde und weil er einen stählernen Säbel, oder weil sein Weib einen zinnoberroten Kleiderstoff haben will, der also zum Pflanzer kommt und sich als Arbeiter bei ihm verdingt. Der Pflanzer braucht Arbeitskräfte zum Roden des Waldes, zum Ausrotten des Unkrauts, zur Ernte und im Haus und auf der Jagd, wenn nicht gar als Helfer beim Goldwaschen. Als Hausgehilfen verwendet er häufig Indianerkinder, zu Küchenarbeiten, zum Viehhüten, Melken, Waschen und Holz- und Feuermachen. Solche Burschen und Mädchen bleiben meist nur solange im Pflanzerhaus, bis sie heiraten, und kehren dann zu ihrer Sippe zurück. Diese Hilfskräfte kosten den Weißen nichts als die Verpflegung und ein bißchen billiges Tuch für Hosen und Hemden. Oft bezieht der Indianer aber auch andere Waren von ihm, wodurch er ewig im Lohnvorschuß steht und Zeit seines Lebens weder aus den Schulden noch aus der Arbeit, mit der er sie abtragen soll, herauskommt. Es mag auch vorkommen, daß ein solcher Indianer mehr ein Freund der Familie und Hausgenosse ist als ein Angestellter, in den meisten Fällen aber haben besonders die Besitzer großer Pflanzungen der Versuchung nicht widerstehen können, dieses einst patriarchalische Verhältnis immer mehr in eines der materiellen Ausnützung zu verwandeln.

Der noch unabhängige, freiheitsliebende Waldindianer läßt sich auf ein dauerndes Arbeitsverhältnis nicht ein. Bescheiden und zurückhaltend, immer wie ein Fremder, bleibt er zwar vor dem Haus des Pflanzers stehen, anspruchslos schläft er unter dem auf Pfählen ruhenden Fußboden auf der Erde. Aber in dieser Zurückhaltung und Bedürfnislosigkeit liegt auch nicht selten, bewußt oder unbewußt, die abwartende Kraft, die sich eines Tages vielleicht mit dem fremden Eindringling messen wird. Und wenn er seine Arbeit beendet und die Axt oder was er sonst brauchte, verdient hat, nach acht oder vierzehn Tagen, verschwindet er wieder, so laut- und spurlos, wie er gekommen war.

Geld, das auch bei den Urwaldsiedlern knapp ist, bekommt er höchst selten oder nie, und er hätte auch keine Verwendung dafür. Würde er aber mit Geld bezahlt, so müßte es unbedingt Metallgeld sein. Ihm Papiergeld anzubieten, würde er als Witz oder Betrugsversuch auffassen. Für das dickste Bündel Banknoten hätte ich von Indianern kein Ruder mieten können, geschweige einen Ruderer. Dabei haben sie keine Vorstellung von dem Wert eines Gegenstandes. Was sie am meisten begehren, ist für sie das Wertvollste, so daß sie einen wertlosen Gegenstand, der ihnen gefällt, ohne Besinnen einem wertvollen vorziehen. Sie bei dieser Gelegenheit zu übervorteilen, ist trotzdem keine vorteilhafte Spekulation. In dem Augenblick, da ein Indianer begreift, daß er betrogen wurde, ist es bei ihm mit dem Respekt vor dem Weißen ein für allemal vorbei, und wenn dieser seine Hilfe vorher billig oder sogar umsonst haben konnte, so bekommt er sie dann nicht mehr für die größte Gegenleistung.

Die Männer und Alten bleiben ihrem Wesen und Herkommen leichter treu als mancher junge Indianer, dem die schillernden Neuheiten der Zivilisation in die Augen stechen. Es geht ihnen dabei vielleicht so wie uns, wenn wir durch ein Warenhaus wandeln und allerlei Dinge sehen und erwerben wollen, deren Besitz weder notwendig ist, noch uns reicher oder zufriedener macht, was man aber erst nach dem schon vollzogenen Kauf gewahr wird, dabei einsehend, daß man einer Verführung erlegen ist. Solche junge Burschen, die den Verführungen der Zivilisation leichter erliegen, besitzen manchmal den Ehrgeiz, sich zu den Weißen zu zählen, wobei sie nicht nur die Hautfarbe, sondern vor allem den geübteren Verstand des Zivilisierten für einen beneidenswerten Vorzug ansehen. Solche Indianer, die nicht mehr Indianer sein und am liebsten ihre Herkunft und Rasse verleugnen möchten, findet man vor allem an der Peripherie von Gebieten und Ortschaften, wo sie sich von einer Scheinzivilisation überrumpeln ließen. Aber auch diese Renegaten sind keineswegs konsequent oder verlässig, sondern fallen unversehens eines Tages wieder in ihr altes Element zurück und gebärden sich dann als »zivilisiert Gewesene« nicht selten wilder als die Wilden.

Der Begriff »Wilde«

Das Wort Wilde hat seit Seume für jeden denkenden und interessierten Menschen seine zuerst nur negative Bedeutung längst eingebüßt. Woher das Wort ursprünglich stammt, dürfte klar sein: die Wilden waren immer diejenigen, die man unterwerfen wollte und derer man nicht so leicht Herr wurde. Auch die Incas haben die Stämme, die sich ihnen nicht unterwarfen, Wilde genannt – wie die Römer einst die Germanen; und so wird es immer gewesen sein, die Lüge von den »Wilden« ist so alt wie die zivilisierte Menschheit. Die Unzivilisierten brauchten sie nicht, ihnen genügte, wenn sie einen Nachbarstamm erschlugen und beraubten, das Kraftbewußtsein des Stärkeren. Erst mit der Zivilisation, die Bildung und Heuchelei nebeneinander entwickelt, und da der Mensch sich der Begriffe von Gut und Böse erst bewußt wird, entsteht die Moral. Der Zivilisierte ist nicht mehr so ungebrochen, daß ihm das Bewußtsein seiner Kraft und Stärke genügte, seine Taten vor sich und anderen gut zu finden, er braucht die moralische Rechtfertigung für sich wie für andere. So entwickelte sich der Brauch, daß der, dessen Hab und Gut man rauben und den man von seinem Grund und Boden vertreiben wollte, zuerst verdächtigt wurde, womit der Räuber sich einen Schein von Recht gab. Nicht nur das Gut und Leben, auch das moralische Recht der Besitzergreifung nahm er für sich in Anspruch, auch die Moral fiel unter die Raubgüter. Wer zuvor verdächtigt wird, kann um so leichter entrechtet und enteignet werden, und je mehr sich eine Machtinstitution auf moralische Grundsätze stützte, desto mehr war sie gezwungen, nach diesem Prinzip vorzugehen, wie es die Inquisition der katholischen Kirche und alle unter der Überschrift Christentum unternommenen Raub- und Eroberungszüge und Kriege beispielhaft veranschaulichen.

Die Tatsache, daß es der weiße Mann gewesen ist, der zum Indianer kam und ihm seinen angestammten Platz streitig gemacht hat, ist unleugbar. Daß die Rothaut sich dagegen wehrte, war nicht nur ihr absolutes Recht, sondern auch ein Beweis eines tapferen, gesunden und starken Volkes. Und mehr hat der Indianer nicht getan, auf welche Art er sich auch verteidigte, oder wie er auch angriff. Kein Indianer ist nach Europa gekommen, um einem Europäer sein Land wegzunehmen. Hätten ihn die Weißen in seinem Land in Ruhe leben lassen, so hätte kein rothäutiger Mensch ihnen ein Haar gekrümmt. Vielleicht hatte man erwartet, daß sie sich wehrlos wie Hasen abschießen lassen. Als das nicht der Fall war, hat man sie nicht nur mit den fortgeschrittenen Waffen des Europäers bekämpft, sondern auch mit der noch viel vernichtenderen, der Propaganda, dem »Krieg des Wortes«. Der Indianer wurde nicht nur gejagt, verfolgt und gebrandschatzt, sondern auch gebrandmarkt: als gefährlich, blutdürstig und grausam, als Räuber, Mörder, Greuelverüber, Menschenfresser, Kannibale, Barbar, mit einem Wort als Wilder. Diese alte Litanei kennt man nun allmählich. Auch wir Deutsche werden als Hunnen und Barbaren verschrien, nur weil wir uns gegen den erkannten Feind wehren, und je besser und wirkungsvoller wir das tun, um so »schlimmer« sind wir, und noch schlimmer als die Wilden. Die Deutschen sind »Wilde«, schrieb jüngst ein englischer Professor in der »Times«. Leider aber sind wir himmelweit davon entfernt, so gesund, stark, einfach und unverdorben zu sein wie die »Wilden« – in diesen Zustand der Natur und Unschuld kehren wir nicht mehr zurück, und wenn wir uns jeden Tag auf den Kopf stellen würden.

Es ist immer dasselbe, bei allen Völkern, bei kleinen und bei großen, bei weißen und bei farbigen. Das Wort »Wilde«, ob damit Indianer, also die Uramerikaner, Afrikaner, Indier, Australier oder Südseeleute gemeint sind, war von je eine politische Propagandalüge. Sie beruht auf der weder unintelligenten, noch psychologisch falschen Beobachtung, daß die Masse der Menschen lieber nachplappert als denkt, weil das erstere einfacher und bequemer ist und außerdem auch nicht jeder denken kann, selbst wenn er wollte. Nur darum kann sich so eine Lüge, mag sie noch so plump und dumm sein, Jahrhunderte lang halten. Die Eroberer des nordamerikanischen Indianerlandes, das heute noch angelsächsisch ist und denkt, waren in erster Linie die Engländer. (Und nicht erst heute, schon seit langer Zeit versucht das angelsächsische Nordamerika mit allen Finten und Finessen, Südamerika »merkantil« zu erobern.) Und auf die englische Propagandalüge vom wilden Indianer, wie anderen ihnen unbequemen Völkern, die sich nicht von ihnen unterdrücken lassen, sind Schriftsteller, Gelehrte, Wissenschaftler, Politiker und Geschäftsleute, ist die ganze zivilisierte Welt prompt hereingefallen und eingegangen, die einen gutgläubig und unwissend, die anderen wissend und bewußt.

Die Lüge vom »Wilden« ist nicht nur eine alte, sie ist auch, weil sie materiellen Zwecken dient, eine heilige Lüge, die, in strafbarer Unwissenheit, sogar noch von denen verteidigt wird, die keinen Nutzen von ihr haben. Zum heiligen Dogma erhobene Zwecklügen aber sind so gut wie unausrottbar (das wissen ihre Urheber), und ihnen zu Leibe zu rücken ist gefährlich, weil damit materielle Interessen bedroht werden. Ohne diese materiellen Interessen, die sich hinter der moralischen Phrase verstecken, wäre die Frage Wilde oder nicht eine müßige Streitfrage von Gelehrten.

Ob diese und jene indianischen Stämme diese und jene Sitten und Gebräuche und andere als wir haben, wen geht das eigentlich etwas an? Das ist doch wohl ihre Sache und kann uns und anderen egal sein! Die »Wildheit« der noch ungezähmten und unzivilisierten Stämme in den Waldparadiesen des inneren Südamerika besteht hauptsächlich darin, daß sie sich, ohne sich für andere Länder und Völker im geringsten zu interessieren, da sie nichts von ihnen wissen, größtenteils noch ihres ungestörten Daseins erfreuen und sich selbstverständlich dabei nicht gerne stören lassen, noch ihre Jahrtausende alten, von den eigenen Stammesgesetzen geregelten Lebensgewohnheiten aufgeben wollen. Hat sich ein Indianer je um unsere Sitten und Unsitten gekümmert? Sie kennen nicht einmal die Sittenverhältnisse in den zivilisierten Bereichen ihres eigenen Landes und haben nicht die blasseste Ahnung davon, was sich in den eleganten, taghell erleuchteten Straßen und Hotels des nächtlichen Rio oder Buenos Aires abspielt. Vielleicht aber werden sie sich dafür eines Tages interessieren müssen, um sich ihrer Haut besser erwehren zu können.

Wir haben gesehen, daß die Incas – und das war nicht das einzige hochkultivierte Indianervolk – eine mehr als beachtliche Kulturstufe erreicht hatten, und daß die beutegierigen Eroberer sich auch von dieser Tatsache nicht abhalten ließen, sie, um ihre Zwecke zu heiligen, mit Barbaren, Wilden, Teufelsanbetern und anderen lächerlichen Schimpfnamen zu verunglimpfen! Wir werden auch sehen, daß sogar der unzivilisierte Waldindianer nichts weniger als kulturlos ist. Mancher Wissenschaftler meint zwar, er könne die Charaktereigenschaften von zahlreichen Völkern und Hunderten von Stämmen in ein paar Jahren oder auf einer Reise von wenigen Monaten studieren und erfassen. Wir aber würden es wahrscheinlich als äußerst oberflächlich und unzulänglich, wenn nicht als lächerlich empfinden, wenn ein gelehrter Indianer über weiße Rassen ein Werk verfaßte, in dem er den Körperbau von einzelnen weißen Stämmen, deren Kleidung, Waffen und einige ihrer markantesten Gebräuche aufzählte. Sicher ist, daß niemand eine Ursache hatte, dem Indianervolk andere Sitten und Gebräuche und eine andere, art- und landfremde Zivilisation und Kultur aufzuzwingen, solange dieses Unternehmen stets nur auf die materielle Übervorteilung hinauslief, stets nur nutzbringend für den einen Teil und nichts als ein verkapptes Geschäft war, begonnen mit tönenden Zivilisations- und Religionsphrasen und beendet mit vor Rührung triefenden Ergüssen über die armen »Wilden«, die der bösen Zivilisation nun leider erlegen sind.

Die Wahrheit ist die, daß der Indianer ein Mensch ist, nicht mehr und nicht weniger, und etwas anderes als das Menschliche ist an ihm nicht zu entdecken. Wo diese Betrachtung nicht enthalten ist, sind alle anderen trotz Fleiß, Mühe und Gelehrtheit belanglos. Wissenschaftler sind sehr oft Leute, die ein riesiges Material bearbeiten, ohne etwas damit anfangen zu können. Der Mensch aber, das ist sein Los, führt überall auf der Erde ein anonymes Dasein.

Wenn manche Forschungsexpedition sich mit Eifer und Aufwand der Entdeckung von exotischen Tieren und Pflanzen widmet, so muß man sich kopfschüttelnd fragen, ob in den Augen dieser Forscher der exotische Mensch weniger Interesse verdient als seltene Affensorten. Wäre eine Ladung von Erkenntnissen über antipodische Menschen, die gedankenlos Wilde genannt werden, nicht ein lohnenderes Ergebnis (zumal solche Expeditionen viel Geld kosten), als eine Ladung präparierter Affenbälge? Aber die Schriften, die diese Ansicht vertreten, sind nicht üppig gesät. Zu erwähnen sind hier vor allem Koch-Grünberg und Hans Krieg oder z. B. das ganz unwissenschaftliche, aber um so aufschlußreichere Buch von dem Amerikaner Mac Creagh »Schwarzwasser und Weißwasser«.

Wahrheit ist unbeliebt, und die sie berichten sind nicht gerne gesehen. Schon der Papst Zacharias hat alle Geographen zum Feuertod verdammt, die es wagen sollten, Berichte von den auf der entgegengesetzten Seite der Erde wohnenden Menschen zu verbreiten; und die Päpste jener Zeit haben sich nicht mit leeren Drohungen die Zeit vertrieben, sondern sie in aller Seelen- und Gemütsruhe auch ausgeführt. Der Leib seiner Heiligkeit Zacharias ist zwar schon lange verfault, aber der internationale Kapitalismus braucht die Ausrede, daß die Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel »ja nur Wilde« sind, ebenso dringend notwendig, um ihnen besser auf den Leib rücken zu können. Sogar in Südamerika selbst, das es, wie man meinen möchte, besser wissen sollte, begegnet man in den großstädtischen Zeitungen immer wieder den kindischsten Greuelberichten über die Salvajes, auch Chunchos genannt, die wilden Stämme im Innern, die nach diesen Schreibern und ihren Auftraggebern weiter nichts zu tun haben und kein anderes Vergnügen kennen, als die Weißen zu überfallen, zu ermorden, zu köpfen und zum Frühstück zu verzehren. Und sie können sich diese bösartigen und dummen Scherze um so leichter erlauben, als kein zivilisierter Südamerikaner das Innere seines Landes kennt. Der Indianer kennt natürlich nur die Gegend, in der er geboren und aufgewachsen ist, aber diese Kenntnis genügt für seine Bedürfnisse, und er behauptet auch nicht, daß er mehr kenne. Der »gebildete« Südamerikaner aber, der in die Schule ging und etwas gelernt haben sollte, kennt geographisch auch nicht mehr als ein unzivilisierter Indianer, nämlich nur die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen ist; und dazu allerdings noch das Vorrecht des Geldverdienens. Darum, wenn berichtet wird, daß ein Missionshaus oder eine andere Händlerniederlassung niedergebrannt wurde, werden weder die Ursachen und Gründe solcher Vorfälle untersucht, noch gar auf die geschichtlichen Umstände Bezug genommen, von denen sich derartige Vorkommnisse letzten Endes herleiten. Wenn man die Städte hinter sich läßt und sich dem Landesinnern zuwendet, hören solche Greuelmärchen freilich gleich auf, und wenn man einen im Innern Ansässigen nach dergleichen fragt, begegnet man nur ungläubigem Kopfschütteln und mitleidigem Schmunzeln.

Solche auf Sensationswirkung für Dumme berechnete, leicht durchschaubare Räubergeschichten sind zwar nicht so wichtig zu nehmen wie die ganz ernst gemeinte Einstellung von Forschern, die zwischen sich und den Menschen und der Welt der Urnatur eine unüberbrückbare Wertdistanz sehen. Mit Unrecht, denn ein wissenschaftliches Werk zu verfassen, beispielsweise, ist eine andere Tätigkeit als einen Jaguar zu erlegen, und welche von diesen beiden Tätigkeiten die wertvollere ist, das kommt ganz auf die Umstände an, unter denen sie ausgeübt werden. Wenn ein Gelehrter auf den Indianer, weil er nicht lesen und schreiben kann, glaubt mit Geringschätzung herabblicken zu müssen, so kann ihm dieser mit Recht entgegenhalten, daß seine bebrillten Augen schlecht sind, und daß er ihm auf der Jagd nicht folgen kann, weil seine Sinne und seine Körperkräfte dazu nicht ausreichen. Die gleiche Überheblichkeit kann der gelehrtere Mensch aber auch jedem Bauern gegenüber zum Ausdruck bringen, und dann kann ihn dieser fragen, was aus seiner Tätigkeit wohl würde, wenn der Bauer nicht für Getreide und Brot sorgte. So besitzt jede Leistung nur dort Wert, wo sie wirkt. Ein allgemeines Urteil über alle aber fällt nur die Unkenntnis.

Statt Wilde sollte man, um Mißverständnisse zu vermeiden und den Verdacht billiger Zweckabsichten auszuschließen, sagen Vorzeitmenschen, Urmenschen, Naturmenschen, Urwaldmenschen.

Auch ausländische Farmer bezeichneten die Indianer, freilich nur als Nachplapperer, verächtlich als Wilde und immer nur als Wilde, und dabei war ihre eigene Zivilisation eine mehr als dürftige. Warum ließen sie denn die »Wilden« nicht wild sein und ihr Leben führen, warum bekümmerten sie sich denn so sehr um diese Wilden? Weil sie sie als miserabel bezahlte Arbeiter brauchten, während das Leben des Indianers Tausende von Jahren ohne diese Arbeit vor sich gegangen ist.

Als ich einige Jahre unter unzivilisierten, sogenannten wilden Indianern lebte, wußte ich, was sie sind und konnte es doch nicht ausdrücken. Ich kam wieder nach Europa und beschäftigte mich immer noch mit ihnen, ging wieder hinüber und lebte mit ihnen. Dann kam ich wieder in meine engste Heimat, nach Oberbayern und Tirol, und heute kenne ich mich so ziemlich aus. Man sollte jedem, der fragt, wie es denn eigentlich bei den Indianern ist, so antworten wie jener Reisende, den man fragte: »Wie ist es denn eigentlich im Orient?«, worauf er zur Antwort gab: »Alles genau so wie bei uns – nur orientalisch!«

Ludwig Thoma läßt in seinem Roman »Altaich« einem norddeutschen Kurgast, als er sich auf dem Bahnhof vom Hausknecht verabschiedet, sagen: »Und grüßen Sie mir die anderen Indianer!« Thoma glaubte vielleicht, da nur einen netten Witz zu machen, doch sein Berliner hat nicht gewußt (weil es Thoma auch nicht wußte), daß die Indianer keineswegs viel wilder sind als die »Altaicher«. Wo in der Welt gibt es denn zum Beispiel nur das eine, daß Männer Hüte aufhaben, und zwar schief, auf denen Spielhähne, Adlerflaume und Gamsbärte verwegen wild nach hinten stehen? Nur Indianer und afrikanische Stämme haben ähnliche und manchmal noch fantastischere Federkopfputze.

Heute wenden wir die Bezeichnung Wilde nicht nur mehr auf fremde Naturvölker an, sondern, bald so und bald so, auch bei uns. In Tölz sah ich bei einem Schuhplattlertanz eine dicke sächsische Dame, die mit dem Ausruf: »Wie bei den Wilden!« aufs tiefste entrüstet das Lokal verließ. Ob diese Dame bei den Wilden gewesen ist, da sie sie so genau zu kennen schien, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Wenn zum Beispiel von einem Maler oder Dichter gesagt wird, er sei ein »Wilder«, so will man damit vor allem zum Ausdruck bringen, daß er sich keiner Richtung, Schule oder Partei einordnen, oder wie man sagt, nicht so leicht »katholisch machen« läßt. Und wenn einer nicht lesen noch schreiben kann, so liegt das daran, daß er es nicht gelernt hat. Wenn es einer aber gelernt hat und trotzdem nicht kann, dann liegt das an ihm, und dann ist er vom Standpunkt des Gebildeten nicht weniger wild als andere. Und um solche Wilde zu finden und zu studieren, braucht man keine Expeditionen auszurüsten.

Wilde? Bei uns sagt man, nachsichtiger, Gscherte.

Die »Romantik« des Indianers endlich ist ein literarisches Erzeugnis und nichts als die Kehrseite und Ergänzung der gegen ihn in Umlauf gesetzten Greuellügen. Man hört jetzt öfters sagen, mit der Indianerromantik sei es endgültig aus. Wenn das nur wahr wäre, aber diese Romantik, die ja immer nur in Romanen existiert hat, lebt in dieser so unehrlichen wie unsterblichen Literatur lustig fort. Hier kommen Wohlwollen und »gerechte« Betrachtung des Indianers zur Geltung, die ihm, zum Ausgleich für die vorausgegangenen Verleumdungen, nun auf einmal einen edlen und vornehmen Charakter, Klugheit, Verstand, Gemüt, Hochherzigkeit und sämtliche vortrefflichen Eigenschaften, die ein Mensch besitzen kann, beilegen, nur leider ohne jede sachliche und wirkliche Kenntnis. Man weiß nicht, welche Fälschung die gröbere ist: die negativ oder die positiv sein wollende, die dem Indianer, um ihn uns sympathisch zu machen, Eigenschaften andichtet, auf die er selbst nicht den geringsten Wert legt.

Ohne die Brille dieser Literatur betrachtet ist im Leben des Indianers nichts Romantisches zu finden. Der rothäutige Waldbewohner verkörpert ein Stück Urwelt und Vorzeit, das in unsere Zeit hereinreicht und auf das der neuzeitliche Begriff Romantik nicht anwendbar ist. Eher anwendbar wäre auf ihn und sein Schicksal der ewige Begriff Tragik, aber dieser Anwendung gehen die Unterhaltungsschriftsteller wohlweislich aus dem Wege.

Romantisch ist nur das, was man nicht kennt.

Der Verwilderte

Etwas ganz anderes, dem »Wilden« völlig entgegengesetztes, ist der Verwilderte, der von der wissenschaftlichen Forschung überhaupt nicht in diesen Zusammenhang gebracht und Vergleich gezogen wird.

Der, entweder weiße oder mischblütige, Verwilderte stammt nicht aus der Wildnis, noch ist er mit deren Bewohnern identisch, da ihm dazu alle Voraussetzungen fehlen. Er ist auch nicht als eine schlechte Nachahmung der echten »Wilden« zu betrachten. Unter den Urwaldstämmen gibt es den Verwilderten nicht; einen von einer dünnen Zivilisationsschicht übertünchten Indianer kann man höchstens als unnatürlich, verwahrlost und verkünstelt bezeichnen. Der Verwilderte stammt aus der Zivilisation und ist dort zahlenmäßig am häufigsten, aber auch ebenso in wenig oder nicht zivilisierten Ländern und im Urwald anzutreffen. Außer den Auswanderern in überseeische Länder, die ihre Heimat verließen, um sich und ihrer Familie auf neuer Erde ein neues Dasein aufzubauen, spült es an die fremden Küsten stets auch einen gewissen Prozentsatz fragwürdiger und verbrecherischer Elemente. Für diese Kerbholzbrüder und Ausreißer aller Art, denen der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, und andere seltsame Gesellen, die es wie ein steuerloses Wrack überall herumtreibt, ist der Urwald, in den der Arm des Gesetzes nicht reicht, ein vortrefflich geeignetes Terrain, um sich mit allen Mitteln auf Kosten anderer Leute, weißer wie farbiger, durchzuschlängeln, und solche Erscheinungen sind, sehr im Gegensatz zu Indianern, mitunter mit Vorsicht zu genießen. In Gebieten, in denen keine Obrigkeit und kein anderes Recht als das Faustrecht herrscht und wo der Grundsatz: »Jeder ist sich selbst der Nächste« mit einem Ernst verteidigt wird, als handle es sich um das allerneueste Evangelium, treten sich selbst Farmer, längst nicht so friedlich wie die Indianer und immer aus langweiligen Nützlichkeitsgründen im Streit, mit dem Gewehr gegenüber, hetzen Indianer gegen Weiße auf, usw. Dem Urwaldfarmer wieder kann man es nach den Erfahrungen, die er gewöhnlich macht, nicht verübeln, wenn er jeden Weißhäutigen zuerst von der negativen Seite betrachtet, bis dieser sich auf irgendeine Weise legitimiert hat. Auch ich bin, wenn auch nur wenigen, aber den sonderbarsten weißen Käuzen im Urwald begegnet und habe dabei lernen müssen, daß es keineswegs angebracht ist, jeden gleich und als seinesgleichen zu betrachten und zu behandeln.

In seinem prachtvollen Buch »Die Tropen« erzählt Robert Müller von einer anderen Art von Verwilderten, von einem Stamm weißer Indianer. Nach dem, was ihm über sie berichtet wurde, seien diese weißen Indianer Nachkömmlinge von Spaniern, die sich in der Zeit der Conquista in abgelegenen Urwaldgebieten mit Indianern vermischt und bis heute als ein eigener Stamm erhalten haben. Außer der hellen, fast weißen Haut soll dieses eigenartigen indianischen Bräuchen huldigende Mischvolk jedoch nichts weder mit der weißen noch mit der braunen Rasse gemein haben, sondern vielmehr durch eine Entartungserscheinung auffallen, die selbst bei fanatisch weißenfeindlichen Indianerstämmen nicht anzutreffen ist, nämlich durch ausgeprägte Grausamkeit und Mordgier. Diese weißen Indianer töten Menschen, nicht weil sie angegriffen werden und um Recht, Besitz und Freiheit zu verteidigen, ja nicht einmal, um zu rauben, sondern aus reiner Blutgier und Mordlust, indem sie auf feige und heimtückische Weise harmlose Reisende durch einen Hagel von Pfeilschüssen aus gedecktem Hinterhalt überfallen und ermorden.

Robert Müller knüpft an diesen Bericht die Bemerkung, daß der Mensch der weißen Rasse, der sein Blut mit dem eines unzivilisierten Volkes mischt und dessen Lebensweise annimmt, trotzdem kein Wilder mehr werden kann, sondern nur ein Verwilderter mit krankhaften Entartungs- und Degenerationserscheinungen.

Noch ein anderer Verwilderter muß erwähnt werden, der zwar nicht aus der Zivilisation stammt, aber mit beiden Füßen in sie hineinspringt: der Farbige, der auf europäischen Schlachtfeldern gegen Zivilisierte kämpft, wobei die Verantwortung allerdings weniger ihm zufällt, als der Macht und Gewalt, deren hilfloses, irregeführtes und benutztes Opfer er ist, weniger ein Abtrünniger und mehr ein Abgetrennter und Verführter, ein Opfertier in der Tat, das, unter Umständen von seinem eigenen Stammesoberhaupt verraten und verkauft, nicht mehr »wild« und noch nicht zivilisiert ist, das gewaltsam zum Verwilderten gemacht wird.

Vergleichende Betrachtung

Bei der Beurteilung des Menschen können als Grundlage nur seine menschlichen Eigenschaften betrachtet werden, wobei man natürlich nicht nur an Vorzüge und Tugenden denken muß, sondern an die Gesamtheit der menschlichen Eigenschaften; und diese Betrachtung kann nicht eine sogenannte objektive sein, sondern nur eine vergleichende, da es keine anderen Werte gibt, als die durch den Vergleich der Unterschiede sichtbar werdenden, wie der weiße Mann die braune Haut des Indianers ja auch nur deshalb wahrnimmt, weil seine eigene weiß ist. Eine objektive Betrachtung wäre überhaupt keine Betrachtung, denn objektiv sehen heißt tatsächlich, mit einem Objektiv, einem künstlichen Glasauge sehen. Ein objektiver Beobachter gleicht einem Bankbeamten, der Bücher mit Zahlen füllt, ohne sich dabei über das Wesen und die Bedeutung wirtschaftlicher Vorgänge die geringsten Gedanken zu machen.

Die geistige Überlegenheit des Zivilisierten kann sich nur darin ausdrücken, daß er auch anderen Völkern gerecht zu werden versucht. Was sich dem Europäer in zivilisationslosen Ländern und unter ihren Menschen am deutlichsten aufdrängt, ist der Unterschied zwischen zwei Welten und zwei Menschengeschlechtern, den in der Zivilisation befindlichen und den im Naturzustand verbliebenen. Das eine hebt sich vom anderen ab und wird sichtbar durch seine Verschiedenheit, wie das Meer sich vom Festland unterscheidet, das Gebirge von der Ebene, der Wald von der Steppe. Und wie es unmöglich ist, daß einem Seefahrer, wenn er an Land geht, nicht zum Bewußtsein kommt, daß er sich nicht mehr auf dem Wasser befindet – das aber immer in seiner Erinnerung bleibt –, so unmöglich wäre es mir auch, die Tatsache, daß ich mein ganzes Leben unter Europäern zugebracht habe, bei meinen Beobachtungen und Erlebnissen im Indianerland aus meinem Bewußtsein auszuschalten. (Übrigens muß ein Buch, und wenn es von Ölsardinen handelt, immer von seinem Verfasser handeln.)

Der auffallendste von allen Unterschieden ist der klimatische.

Daß Leute, die nie hinausgekommen sind, trotzdem über das Draußen urteilen, ist eine binnendeutsche Untugend, die sich hoffentlich bald überlebt haben wird. Immerhin ist, wenn auch nicht diese Unart, so doch die daraus entspringende Verständnislosigkeit wenigstens erklärlich. Man sollte es aber nicht für möglich halten, daß es auch Menschen gibt, die diesen krassen Unterschied des Klimas, der Temperatur, Witterung und Vegetation sogar dann, wenn sie ihn erleben, trotz aller ihrer Sinne immer noch nicht merken. Sie schwitzen wie im Dampfbad und denken dabei immer noch so, als würden sie frieren.

Bei der Charakterbeurteilung der Völker und Rassen südlicher und tropischer Regionen wird der Wichtigkeit der klimatischen Verhältnisse das eine Mal viel zu wenig und das andere Mal überhaupt keine Bedeutung beigelegt. Sonst wäre es nicht möglich, daß die der Sonne und dem Wachstum näher lebenden Menschen ohne jede weitere Überlegung einfach unter den gleichen Voraussetzungen betrachtet werden wie die Bewohner sonnenarmer Zonen, wobei man dann feststellt (und womöglich auch noch von einem moralischen Standpunkt aus), daß ihnen Eigenschaften fehlen, die für uns wichtig und notwendig sind und die wir darum für wertvoll halten, und daß sie andererseits Eigenschaften besitzen, die wir an und bei uns nicht schätzen. Wieder sind es die geographischen Unterschiede, die, entweder aus Mangel an Erfahrung oder sogar trotz dieser, außer acht gelassen werden. Es ist provinzliche Spießbürgerei, wenn selbst auf ihre Weise gebildete Menschen nicht zu begreifen scheinen, daß anders geartete Länder und Klimen anders geartete Menschen hervorbringen müssen, und wenn sie diese dann für geringwertige Menschen halten, anstatt für andersartige. Man hat doch schließlich im Laufe der Zeit schon manches kennengelernt, das es früher bei uns nicht gegeben hat, wie Kartoffel, Tabak, Reis, Kaffee, Tee, Kakao und so weiter; niemand würde auf den Gedanken kommen, von einer Banane den gleichen Geschmack, das gleiche Aussehen und die gleichen Eigenschaften zu verlangen wie von einem Apfel; vielleicht wird man also auch einmal den Indianer kennenlernen, wenngleich er kein Exportartikel ist.

siehe Bildunterschrift

Campa-Junge und -Mädchen

siehe Bildunterschrift

Beim Fischen

Alle Menschen ohne Ausnahme sind in jeder Beziehung Produkte ihres Klimas, nicht anders als die Frucht an Baum und Strauch und in der Erde; Produkt und Abbild, denn wie ihre Ernährung ist, dürftig, reichlich, einfach, kompliziert, kräftig, derb, schwach, fein, primitiv, gesund, raffiniert oder ausschweifend, so sind auch die Menschen. Genau das gleiche gilt von der Witterung. Es gibt keine Eigenschaft des Menschen, die nicht zuletzt auf die klimatischen und geographischen Bedingungen, unter denen er lebt, zurückzuführen ist; und diese von den Völkern nicht wegdenkbaren klimatischen und landschaftlichen Besonderheiten sind auch mit der Grund für ihre gegenseitige Zuneigung oder Abneigung. (Ein Gesandter eines südamerikanischen Staates sagte einmal zu mir, indem er den gleichen Fehler beging wie diejenigen, die über Sonnenmenschen geringschätzig urteilen, mit unverhohlener Verachtung: »In Ländern, die keine Sonne haben, müssen sich die Menschen wie das Vieh im Stall zusammendrücken, um Wärme zu haben!«) Man kann und darf sich Italien und Spanien nicht ohne Sonne und blaue Meere denken, England nicht ohne Nebel, Rußland nicht ohne Steppe, Grönland nicht ohne ewiges Eis und Mitternachtsonne und Tirol nicht ohne Berge. Sogar innerhalb des kleinsten Landes teilen und scheiden Klima und Lage die Bewohner schon in verschiedene Charaktere; die auf den Höhen lebenden sind nicht die gleichen wie die Talbewohner, und die auf der Schattenseite eines Gebirgstales wohnenden grundverschieden von denen der Sonnenseite. Und der Bauer mag den Städter nicht – solange er kein Zimmervermieter ist, doch dann ist er kein Bauer mehr –, und so fort.

Natürlich interessieren diese Selbstverständlichkeiten solche Europäer wenig, die fremde Rassen und Völker nur als Ausnützungsobjekte betrachten; für ihren Zweckgebrauch und -horizont genügt der Sammelbegriff Wilde. Und ohne diese Herrschaften wären solche Binsenwahrheiten allerdings nicht wert, erwähnt zu werden.

Bevölkerung

Ein Quadrat, das im Norden von Quito, im Osten ungefähr von Tabatingo am Amazonas und im Süden von einer unweit südlich von Lima gezogenen Linie gebildet wird, und das Teile von Peru, Ecuador, Columbien und Brasilien einschließt, würde das Gebiet des oberen oder das Quellflußgebiet des Amazonas ungefähr umgrenzen. Ich habe dieses ganze Gebiet nicht bereist, und wenn ich es durchreist hätte, könnte ich darum noch nicht sagen, daß ich es kenne. Ich kann sagen, daß ich Peru, das den größten Teil des erwähnten Quadrates ausfüllt, einigermaßen kenne, und ich konnte beobachten, daß die landschaftlichen und Bevölkerungsverhältnisse aller oberen Amazonasländer denen von Peru sozusagen aufs Haar gleichen.

Die Bevölkerung Perus wird angegeben mit ungefähr

50 % reinblütigen Indianern,
32 % Mischlingen,
15 % im Lande geborenen Weißen,
3 % Negern.

Dieses Verhältnis trifft ohne große Abweichungen auf das ganze obere Amazonasgebiet zu.

Mischlinge sind:

aus Weißen und Negern = Mulatten,
aus Weißen und Indianern = Mestizen oder Cholos,
aus Indianern und Negern = Zambos.

Weiße, Mischlinge und Neger bewohnen das verschwindend kleine zivilisierte Gebiet, die reinblütigen Indianer das übrige, sehr ausgedehnte und durch seine Unwegsamkeit praktisch fast grenzenlose.

Wenn z. B. gesagt wird, in Peru treffen auf einen Quadratkilometer acht Menschen, so ist das falsch, weil es zu falschen Vorstellungen führt. Den Flächeninhalt eines Landes mit der Zahl der Einwohner des Landes zu dividieren, ist ein ebenso einfaches wie bequemes Verfahren, nur daß es nichts nützt, denn es leben nicht so viele Menschen auf einem Quadratkilometer, wie bei dieser Teilung herauskommt. In den fünf bis sechs größeren Städten und in der Landeshauptstadt von Peru leben auf einem Quadratkilometer mehrere tausend Menschen; in den Minengebieten und Gebirgsdörfern und in einzelnen Siedlungsgebieten durchschnittlich hundert bis dreitausend; in kleineren, abgelegenen Siedlungen oft weniger als ein Dutzend; auf vielen Tausenden von Quadratkilometern Perus leben zwei und drei Menschen und auf ebenso vielen Tausenden von Quadratkilometern lebt überhaupt kein Mensch.

In der Fläche des vorhin bezeichneten Quadrates leben ungefähr fünfzig verschiedene, zum größten Teil reinblütige Indianerstämme. Nur wenigen davon bin ich begegnet, so, außer den Chechua der Anden, den Chama am Rio Pachitéa, den Cachibo zwischen Pachitéa und Huallaga, den Conibo am oberen Ucayali, den Huitoto im nördlichen Loreto, den Cocama am Marañon, den Lamisto am Huallaga, den Yagua am Amazonas. Bei allen diesen Leuten, durch deren Wohngebiete ich kam, konnte ich mich nicht lange aufhalten, und noch weniger blieb mir Zeit, abseits der Wasserstraße zu weit von den Flüssen entfernt hausende Stämme aufzusuchen. Dagegen habe ich drei Jahre unter zwei Stämmen, den Amoishe und Campa, gelebt.

Wenn die etwa fünfzig Stämme des oberen Amazonaslandes (und darüber hinaus die zahlreichen Völker und Stämme, die zwischen Patagonien und der Nordgrenze Mexikos leben) auch zum großen Teil aufgezeichnet und wissenschaftlich bekannt sind, so ist damit nicht gesagt, daß sich die Forscher sehr lange mit ihnen beschäftigt haben, was man sich leicht ausrechnen kann. Um nur von fünfzig Stämmen jeden nur drei Monate zu beobachten, wären schon zwölfeinhalb Jahre notwendig. Und bei ihrer scheuen, verschlossenen und abweisenden Haltung gegen Fremde bedürfte es zudem einer ganz außergewöhnlichen Anpassungs- und Einfühlungsgabe, um ihnen in ein paar Monaten schon näherzukommen. (Wenn beispielsweise ein norddeutscher Sommerfrischler nach einem vierwöchigen Aufenthalt in einem Tiroler Dorf glaubt, die Tiroler zu kennen, dann ist er auf dem Holzweg.) Ich fand, daß drei Jahre ein viel zu kurzer Aufenthalt unter meinen Indianern waren. Nehmen wir an, daß ich mich, nachdem ich schon zwei Stämme wenigstens einigermaßen kannte, bei jedem anderen nur mehr ein halbes Jahr hätte aufhalten müssen, so hätte ich dennoch an die dreißig Jahre gebraucht, um allein die Indianer des oberen Amazonasgebietes kennenzulernen. Woraus man wieder einmal sieht, daß unser Leben viel zu kurz ist, wenn man nur eine einzige Sache gründlich tun will.

Ich habe zwar im Lande von einem Schmetterlingssammler erzählen hören und ihn dann auch brieflich kennengelernt, der dreißig Jahre im Amazonasgebiet herumgejagt war, aber einen solchen Wissenschaftler kenne ich nicht. Auch stammen nicht alle Berichte aus erster Hand und eigener Beobachtung. Das Reisen in den Urwaldländern ist beschwerlich und zeitraubend, und die Zeit des Forschers ist kostbar und seine Mittel sind beschränkt. Er kann sich weder überall lange aufhalten, noch alle Stämme aufsuchen. (Sie sind darüber zwar nicht todunglücklich.) So ist er oft auf nur peripherische Beobachtungen und auf Mitteilungen und Erzählungen von dritter und vierter Seite angewiesen. Und die sind mit Vorsicht zu genießen.

Als ich von Cerro de Pasco aus über Huanuco an den oberen Marañon wollte, hieß es, da seien bis jetzt nur einzelne Weiße durchgekommen.

»Ja, und? Ich bin auch ein einzelner Weißer!«

»Ja, aber da leben Menschenfresser!«

Die mir solches mitteilten, waren Mischlinge, Cholos, braun wie Kakao, und ihre »Warnung« entsprang weniger ihrem Bedürfnis, mich vor Gefahren zu beschützen, als dem komischen Ehrgeiz mancher Halbblütigen, sich zur weißen Rasse zu rechnen und ihre Stammväter zu verleugnen und zu verleumden, um sich auf diese Weise plastischer von ihnen zu unterscheiden als dies ihre Hautfarbe zu bewirken vermag.

Ich habe über die Menschenfresserei meine eigene Ansicht, nämlich die, daß in dem weißen Abscheu über diese Sitte oder Unsitte eine gute Portion tantenhafte Heuchelei, Unwissenheit und Gedankenlosigkeit steckt. Wenn man überlegt, welche Hekatomben von Menschen nur allein die englische Weltherrschaft barbarisch brutal und rücksichtslos grausam aufgefressen hat, dann ist, verglichen mit einem wohlgenährten, delikatest gepflegten, durchaus harmlos aussehenden und oft auch noch sehr frommen Lord in Frack und Zylinder, ein indianischer oder afrikanischer Kannibale wahrlich das unschuldigste Säuglingsgemüt, das auf Erden herumkriecht.

Der peruanische Dichter G. V. Calderon – der Maupassant des Urwaldes – schildert in einer seiner unübertrefflich echten Erzählungen, wie eine alte Indianerin, die mit ihrer Enkelin unter Weiße geriet, in verzweifeltes Weinen ausbrach, als man ihr mitteilte, daß man sie nach ihrem Tode begraben würde – sie wollte von ihrer Enkelin verzehrt werden. Nicht aus Gefräßigkeit oder verderbter Geschmacksverirrung, die man dem, der verzehrt wird, nicht gut nachsagen kann. Calderon sagt: »Die Alte handelte letzten Endes nicht anders als eine katholische Dame, die den Riten ihrer Kirche gemäß sterben will. Nach ihrer Überzeugung bleibt die Energie ihrer Rasse dadurch erhalten, daß man die Toten ißt, und auf diese Weise vererben sich die Tugenden und Fähigkeiten Jahrhunderte hindurch.«

Der Kannibalismus der Indianer ist oder war keine materialistische, sondern eine religiöse Angelegenheit, während die Anleitung des Philosophen Chrysippus, der lehrte, daß es im Notfall erlaubt sei, Menschenfleisch zu essen, keine religiöse, sondern eine rein materialistische Anweisung war.

(Diese Betrachtung gehört in das Kapitel Religion, aber nachdem wir schon davon reden, mag sie ebensogut hier stehen.)

Auch die Cachibo, so wurde mir gesagt, sind Menschenfresser. Ich kam mehrere Male durch ihr Gebiet, wie auch an den oberen Marañon, ohne daß ich Gelegenheit hatte, diesen kannibalisch-spiritualistischen Brauch zu beobachten oder selbst verzehrt zu werden. Entweder hatten Missionare, die sich in alles einmischen, das sie nichts angeht, ihnen Brauch und Glauben schon ausgetrieben, oder sie hielten, da ich weder ein hervorragender Jäger noch Fischer war, von meinen Tugenden und Fähigkeiten nicht so viel, daß es ihnen der Mühe wert erschienen wäre, sie sich einzuverleiben.

So flüchtig meine Beobachtungen auch sein mußten, wenn ich unterwegs war, so war der auffallende körperliche und Charakter- und Intelligenzunterschied der verschiedenen Stämme trotzdem nicht zu übersehen. Diese Artverschiedenheit wird auch der Grund ihrer gegenseitigen Eifersucht und Feindseligkeit sein. Aber die Stämme, die sich gegenseitig nicht riechen können, bekriegen sich heute nicht mehr oder nur noch in seltensten Fällen, wenn auch Streitigkeiten als Reste der früheren kriegerischen Feindschaft oft noch bestehen. So hörte ich von einem alljährlichen Fest, dem Maifest in Lamas, zu dem verschiedene Stämme zusammenkommen, die Sangamo, Cachici und Tapullina, die Lamista vom Rio Mayo und die Bicheina vom Rio Sisa. Das Fest beginnt am ersten Mai und dauert vier Wochen. Es wird (wie ich auf Seite 185/86 geschildert habe) die Nächte durch bis zur Besinnungslosigkeit vor gipsernen Heiligenstatuen getanzt, Schweine werden geschlachtet, riesige Tongeschirre mit Kaffee und Massato stehen herum, in aufgestellten Holzhüttchen gibt es Kuchen und Schleckereien. Und der Höhepunkt des Festes ist, wie bei der oberbayerischen Bauernkirchweih, die allgemeine Rauferei. Sogar schon auf dem Weg zum Fest, wenn verschiedene Stämme einander begegnen, liefern sie sich mit Macheten, Lanzen und alten Flinten die schönsten Gefechte, bei denen stets ein paar dran glauben müssen. In der letzten Zeit hat der Gobernador dieses Departements Truppen bereitstellen lassen müssen, die nötigenfalls eingreifen müssen, um das sinnlose Gemetzel einzuschränken oder zu verhindern.

Und der Huitoto, der einst Kopfjäger war, schneidet zwar auch heute noch seiner Großmutter den Kopf ab, aber erst, wenn sie tot und eines natürlichen Todes gestorben ist. In seinem ursprünglichen Glauben war der Kopf des getöteten Feindes nicht nur eine Siegestrophäe, sondern ein Medium, dessen Kräfte und Eigenschaften auf den Besitzer übergingen. Heute kennt er nur noch die althergebrachte Präparierung des ohne Kampf erworbenen Kopfes; den er – allerdings sehr billig – an einen weißen Händler verkauft, der ihn wieder an Sammler, Gelehrte und Museen weiterverschachert.

Dabei scheinen die für die braune Rasse bezeichnendsten Wesenszüge trotzdem allen Stämmen ohne Ausnahme gemeinsam zu sein. Und in einem sind sich alle reinblütigen Stämme einig: in der Verachtung des Serano-Cholo, des nicht selten verlogenen, faulen, diebischen, devoten und feigen Mischlings.

Kaum ein Jahr vergeht, in dem nicht neue, »völlig unbekannte« Indianerstämme entdeckt werden. Und dem jeweiligen Entdecker ist nicht immer bekannt, leicht nachprüfbar oder überhaupt wichtig, ob den unbekannten Stamm nicht doch schon einmal, wenn auch vor längerer Zeit, irgendein Forscher gekannt hat. Bekannt oder unbekannt, da ist nicht sehr viel Unterschied, außer dem einen, daß an den Flüssen wohnende leichter erreichbar sind als die in den riesigen, unbegangenen Waldgebieten zwischen den Flüssen, die oberhalb der Schiffbarkeitsgrenzen und die oberhalb von schwer zu passierenden Katarakten und Stromschnellen hausenden. Manche von ihnen werden wohl öfters als einmal entdeckt. Um dann, wenn sie entdeckt und bekanntgeworden sind, wieder so unbekannt zu sein, wie sie vorher waren.


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