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Das geschieht um sechs Uhr nachmittags.

In den sehr viel später noch zu erwähnenden, heute in der Kriminalgeschichte übrigens ziemlich bekannten und viel besprochenen Akten finde ich die Meldung eines Wachtmannes des sechsundzwanzigsten Polizeikommissariates, wonach dieser Wachtmann bei seinem Patrouillengang über den Friedhof am Friedrichshain auf einem der dortigen Eisenkreuze der Achtundvierziger eine Frauensperson angetroffen habe, die von ihm darauf aufmerksam gemacht worden sei, daß sie die unter öffentlichem Schutz stehenden Gräber beschädigen könne, und daß der Aufenthalt im Friedhof um diese Stunde verboten sei. Worauf diese Frauensperson, deren nähere Beschreibung auf die kleine Sif durchaus paßt, sich dann willig, aber fröhlich pfeifend entfernt habe. –

Ich finde ferner die Aussage der die kleine Atelierwohnung betreuenden Aufwartefrau, wonach ihre Herrin gegen sieben Uhr abends höchst angeregt nach Hause gekommen sei, resultatlos nach einem Rohrpostbrief gefragt, daß sie sich dann »wie zum Balle« angezogen, mit dem besten Appetit gegessen und dazu eine ganze Flasche von dem noch dastehenden Hochzeitswein getrunken habe und dann ausgegangen sei. Gegen einhalb neun Uhr. –

Soweit also der Aktenbefund. –

Tatsächlich hat sie große Toilette gemacht, tatsächlich ist sie leicht angetrunken, tatsächlich bringt sie, in der eine zynische, bisher unbekannte Sif erwacht zu sein scheint, es fertig, zum Abendkleid die geraubte Perlenkette anzulegen.

So sicher ist sie nun ihrer selbst, daß sie, die zu Fuß die Viertel östlich des Flusses durcheilt, nicht einmal, trotz ihres eleganten Anzuges, den Protest der grämlichen Weiber erregt, die mit ihrem Abendeinkauf aus den Konsumvereinen, den kläglichen Krämerläden kommen. Es fällt ihr auch nicht ein, in die Burgstraße einzubiegen zum Schauplatz ihrer Tat ... sie denkt zur Stunde nicht einmal an die Witwe Grandjean ...

Und nun stehn böse Sterne am schwarzen Himmel, nun bläst frischer, eisiger Wind, daß man marschieren könnte bis ans Ende der Welt. Nun rauscht man schön und sicher wie vor dem Passat eine Viermastbark die Linden entlang, weiß, daß man Aufsehen erregt mit seiner Schönheit, wittert hier, wo zur Stunde die Omnibusse ganze Wagenladungen lebenshungriger Mannsbilder nach den Lokalen der Friedrichstadt verfrachten, wie ein schönes Tier, bringt mit einem stolzen eisigen Blick eine gelegentliche zynische Bemerkung zum Schweigen.

Was aber geschehn soll nach den unerschütterlichen Gesetzen menschlichen Schicksals und menschlichen Leidens, geschieht am westlichen Teil der Linden, hier, wo an der via triumphalis der alten preußischen Legionen die Reihe der Botschaften beginnt. Was geschehn soll, vollzieht sich vor irgendeinem altmodischen, vornehmen Hause mit irgendeinem Staatswappen, auf dem unter einer phrygischen Mütze sich zwei Hände reichen.

Menschen drängen sich vor dem Hause unter dem Eindruck einer Sensationsnachricht, die an der Telegrammtafel irgendeiner Zeitung angeschlagen ist, splittern ab von dem Haufen, gehn, leise debattierend, um ja ihre Ansicht nicht laut werden zu lassen, die Straße hinunter.

Hinein in den Haufen von Männern, mitten hindurch zwischen unwirschen Arbeitern und Börsendandys! Was da zu lesen ist, ist einfach die Nachricht von der Ermordung irgendeines verhaßten Revolutionsministers: angefallen auf einem Spaziergang ... sofort tot ... anscheinend mehrere Mörder ... Täter entkommen ... ist sie eigentlich wahnsinnig, daß sie, die elegante Dame inmitten dieser Menge, die Nachricht des Blattes da mit einem schrillen bubenhaften Pfiff quittiert?

Sie spürt das Mißfallen ringsum, sie hört abfällige Bemerkungen, sie fühlt, daß der Alkohol mit diesem als Demonstration aufgefaßten Pfeifen ihr einen schlechten Streich gespielt hat. Sie faßt die Menge ins Auge mit dem frechen Blick, den sie seit heute abend erst zu handhaben versteht: »Wagt's doch, mich anzurühren!« Sie kommt wirklich frei, ordnet unter der Bogenlampe des Gesandtschaftsportales das im Gedränge herabgeglittene Cape, hört, daß etwas auf die Granitquadern des Trottoirs gefallen ist.

»Sie geruhten, Ihre Kette zu verlieren.«

Der Mann, der zu diesen altmodisch höflichen, mit irgendeinem exotischen Akzent gesprochenen Worten gehört, steht plötzlich wie aus der Erde gewachsen vor ihr. Es ist ein bartloses, ein wenig altmodisches Gesicht mit großen melancholischen Augen, der knabenhaft schlanke Körper, der unter dem kurzen Frackmantel sichtbar wird, will eigentlich nicht passen zu diesem alten Gesicht: es ist der Mann, der sie gestern im Exzelsiorhotel fixiert hat.

Unwillkürlich ist sie einen Schritt zurückgetreten. Der andere hat die Perlenkette aufgehoben, hält sie in der Hand: »Ein erlesener Schmuck, Madame, ein außerordentliches Stück ... man sollte doch sehr vorsichtig sein mit solchen Dingen!«

Sie sieht ihn scharf an: irgendein anzüglicher Hohn scheint in diesen Worten zu lauern, in den großen Augen, deren Blick aus dem Grabe kommt ... es ist ein Dämon, der sie verfolgt und gestellt hat!

Da kommen zwei Hände, zwei zierliche, außerordentlich gepflegte, kindliche Hände; die Hände halten das Kollier, legen es ganz langsam, ganz langsam um den Hals ... es ist, als legte der Henker ihr eine Schlinge um die Kehle.

»Man muß acht geben, Madame,« sagt die sanfte Stimme, »man muß vor allem die Sicherung hier festlegen, man muß ...«

Die Finger, die Perlen liegen auf ihrem Fleisch, es ist, als ob Grabeskälte von den Perlen ausginge. »Wer sind Sie?« stammelt sie halb von Sinnen, faßt sich, bringt ein paar Worte des Dankes zustande, will sich verabschieden.

»Ich hatte die Ehre, Sie gestern im Exzelsiorhotel zu sehn,« sagt die Stimme, die wie gesprungenes Glas klingt. »Oberst Miramon ... glücklich, Ihnen einen Dienst erwiesen zu haben. Ich sage ›auf Wiedersehn‹.« ...

Zylinderlüften ... verschwunden: eine riesige dunkle Limousine, die mit tiefem langgezogenen Baß nach Westen, nach dem Brandenburger Tor zu fliegt.

*

Omnibusse, die mit Männerfracht zur Friedrichstadt eilen, metalliges Blitzen der Räderspuren auf dem Asphalt. An die Mauer gelehnt eine Weile, in die Menge gestarrt: eine Kokotte ... ein Perser in Tracht, ein Herr aus Chemnitz, fest entschlossen, sich heute zu amüsieren, und bestimmt, morgen, zu erwachen mit den größten Kopfschmerzen der Welt und gestohlener Brieftasche. Zwei Kokotten, Herr in Cut, drei japanische Studenten, die nach weißem Weiberfleisch ausspähen, eine Kokotte, ein herrenloses Hündchen, das die Straße entlang jagt mit gekrümmtem Rücken ... Cocain à discrétion ... alter, unerhört abgemagerter Bettler mit unverkennbarer Krebskachexie und demütig abgezogener Lumpenmütze ... daß Gott den armen Kranken helf ...

Was, barmherziger Gott, ist denn eigentlich eben geschehn mit ihr, daß nun die Perlen so auf ihrem Fleische brennen, daß sie nun in wütender Angst davonläuft, sie, die verloren ist, wenn sie auffällt?

Verloren ... verloren ... fort von hier um Gottes willen!

An der Ecke der Friedrichstraße, in dem heulenden, aus Lastautomobilen, Handwagen, Droschken und springenden Menschen zusammengemahlenen Wirbel geschieht es, daß sie beinahe unter die Räder eines Omnibusses gerät: sie wird einige Schritte vorwärts gestoßen von dem Kühler des Wagens, fällt nieder, das unerbittliche Rad mit den grauen Gummireifen rollt auf sie zu: die Erlösung ... das Ende allen Jammers!

Das Rad steht, wenige Zentimeter vor ihrem Kopfe. Sie wird aufgehoben, schaut um sich mit ihren irren Augen, klopft mechanisch den Schmutz von ihrem Mantel, hört das Fluchen des Chauffeurs, die belehrenden Reden des Wachtmannes ... weiter, weiter ...

Sich Vergessen schaffen, sich wieder sicher machen!

In der Passage, wo in kleinen Läden Rasierklingen »Mond extra«, Patentgummitragbänder, Konserven, Berduxflügel und Lippenstifte feil gehalten werden, schlüpft sie in eine der auf hastiges Publikum berechneten Kneipen. Man stellt sich vor den Bartisch, läßt von dem Mixer, ohne daß alles vermischt wurde, Marascino, weißen Bordeaux, Kognak übereinanderschichten ... das ganze, aus Amerika eingeschleppte, durchaus zum Untergang des Abendlandes gehörige Getränk nennt man wohl einen »Engelskuß« ... man läßt es sich zwei-, dreimal geben, der Barmixer macht verwunderte Augen, man hetzt weiter. –

Alte Kriminalistenerfahrung sagt, daß der Mörder an die Schauplätze seiner Verbrechen automatisch zurückkehrt. Ob diese Erfahrung noch für den modernen Mörder-Gentleman zutrifft, weiß ich nicht, glaube aber, daß diese Regel in gleichem Maße auf die Opfer irgendeines Anschlages zutrifft ... arme Verwundete, die eben dorthin zurückkehren müssen, wo ihnen etwas geschah. –

Die große Flügeltür des Exzelsiorhotels mahlt wie ein Wasserrad Gerechte und Ungerechte, Gentlemen und Zuhälter, englische Reverends, Falschspieler, mediatisierte Fürsten, Zwickauer Textilfabrikanten und verkleidete Polizeiagenten. Der Mann hinter dem Tisch der Office verteilt mit ehernem Gesicht Zimmer, Schlafwagenbilletts, Quittungen, Opernkarten und Verbeugungen.

Sie rauscht in guter Haltung durch dieses Getriebe; so schön ist sie an diesem Abend, daß sie durchaus auffällt. Sie birgt sich wieder in der kleinen Bar mit der Schrammelmusik und den ungeheuerlichen, wie aufgedeckte Betten herausfordernden Klubsesseln. Hier war es, hier begann etwas, was nun über sie kommen muß ...

Tanzmusik aus der hinteren großen Halle. Ist der Herr am Nachbartisch nicht am Ende ein Detektiv, daß er sie so anstarrt?

Kapelle Schachmeister hinten, Onestep »O Katharina«.

Nein, der Herr im Smoking ist kein Detektiv, Herr im Smoking verbeugt sich etwas täppisch, bittet um diesen Tanz. Der Herr ist ein unzulänglicher Industriejüngling aus Gera, der väterliche Gelder vertut und im Tanz wie eine Lokomotive schnauft.

Scharf ausgeschaut beim Tanzen nach jemandem, der kommen muß, der mit mathematischer Gewißheit eines Planeten erscheinen wird, nach jemandem, vor dem sie sich doch so fürchtet ...

Sie wechselt, wandert in die Arme eines Lebegreises, dem der Kalk in den Arterien dampft, verführt einen schüchternen amerikanischen Jüngling von der Quäkermission zu höchst degagierten Pas, fragt ihn, als er nicht genügend reagiert, ob er seine Mutter aus Chikago mitgebracht habe, späht nach der Tür aus ...

Sitzt wieder in der Mittelhalle in dem Klubsessel, horcht auf das Spiel der aus den oberen Stockwerken kommenden Elevatoren, weiß genau, daß er kommen wird, genau ...

Herr aus Bayern mit Rasierpinsel auf giftgrünem Hutband fragt einen Liftboy nach Nachtlokalen, zwei Herren in Smoking mit dreifachem Specknacken vertiefen sich in die Abendblätter mit den ersten Einzelheiten des politischen Mordes. Indischer Dichter, in seinen einem Damenmantel gleichenden Burnus gehüllt, angestaunt von sämtlichen in der Halle versammelten Snobs, wird zu dem Automobil geleitet, das ihn in seinen Vortrag bringt ... schwere Papiere unter Führung von Körting und jungen Mannesmann stark anziehend ... junger Mensch dann mit zusammengestapelter, etwas schäbiger Eleganz, auf sie einredend.

»Coks?« Diskret geflüstert. Weißes Pulver, das man schnupft, und das einen sehr sicher machen soll ... in Gottes Namen auch das!

Drei Stakkato-Hupenschreie draußen, das Surren des Elevators, das Weinen eines nicht hierher gehörigen Kindes, Aufspringen der Aufzugtür, Verbeugung des Liftboys: jetzt ist er da!

Der Mann, der vor einer Stunde ihr Perlenkollier aufgehoben hat, geht drei Schritte entfernt an ihr vorüber, verbeugt sich leicht, als wäre dies die selbstverständlichste Begegnung der Welt ... aus großen dunklen Augen trifft sie ein ironischer Blick.

»Hat gewußt, daß ich kommen werde!«

Der Mann ist für Minuten hinter den Papiermauern eines exotischen Blattes verschwunden, faltete das Blatt zusammen, bestellt ein Teufelsgebräu, spielt nachdenklich mit einem Lorgnon, schaut mit abwesenden großen Augen in das Theater der Halle.

»Katze spielt mit der Maus ... wird kommen, wird zufassen!«

Hinten Boston, »I wish, I had a girl«, mit einer obszönen Generalpause, die die Tanzenden programmäßig zu einem Übereinanderneigen der Körper zu benützen haben. Dann wird sein Name in der Vorhalle, wo die Postoffice ist, gerufen, dann erscheint ein Page mit einem für ihn bestimmten Telegramm.

Der Oberst Miramon öffnet es lässig, schiebt's in seine Fracktasche, läßt, ohne sich aus dem Sessel zu rühren, den Manager kommen, eröffnet ihm, daß er übermorgen nach Buenos Aires müsse, daß man ihm Plätze besorgen, daß man seine Zimmer hier reservieren solle ...

Das Gespräch wird so geführt, daß sie's hören muß.

»Nachtausgabe des ›Tag‹ ...«

Ein Zeitungsboy, der mit diesem journalistischen Paradoxon durch die Halle läuft. »Sie reisen übermorgen?« fragt die kleine Sif höchst blasiert ihren Nachbarn, obwohl man eigentlich merken muß, daß ihre Stimme zittert bei der Frage, daß ihre Hände noch mehr zittern, als sie dem Zeitungsjungen sein Blatt entreißt.

»Wirklich übermorgen?« Während sie fragt, jagen ihre Augen über die Spalten mit den Berliner Ereignissen: Straßenbahnkollision im bayerischen Viertel ... General a. D. in Wilmersdorf verübt Selbstmord aus politischem Gram ... neugeborene Kinderleiche im Lietzensee. Nichts ... kein Raubmord in der Burgstraße.

»Übermorgen also ... ja, für Sie gibt es keine Grenzen!« Sie erinnert sich, während sie das mechanisch dahinplappert, an das kleine Mädel, das vor drei Tagen in der Marienkirche getraut wurde ...

Fort mit der Erinnerung ... schnell!

Er lächelt leise: »Sie reisen gerne?«

Sie wird blaß, übergeht die Frage: »Tanzen Sie?« Sie hat, während sie das sagt, den Anstand einer preußischen Prinzessin, die einen Gardeleutnant zum Tanzen befiehlt. Aber da, als sie eintreten, geschieht das Ungeheuerliche, daß die Musik abbricht, daß da irgendein Frackträger einen jungen Menschen festhält: Taschendieb, von den Hoteldetektivs eben auf frischer Tat ertappt ... ehemaliger Kriegsleutnant, wie sich herausstellt ... früher bessere Tage gesehn ...

Der junge Mann wird so rasch wie möglich abgeführt, sieht mit bitteren Augen auf die korrekte Bourgeoisie ringsum, verschwindet mit seinen Häschern, die Kapelle Schachmeister setzt über alles hinweg mit geschmierten Geigentriolen.

»Gibt es denn Detektive hier?« Für feine Ohren hat diese Frage nicht mehr die Sicherheit einer preußischen Prinzessin.

»Ich denke, daß das hier sehr angebracht ist,« sagt der Oberst Miramon und tritt mit ihr zum Tanze an.

Ein seltsames, ein abscheuliches Tanzen, bei Gott!

Für die gleichgültigen Menschen ringsum mag es ein distinguierter eleganter Herr sein, der da tanzt ... ein Frackträger, wie andere mehr: nicht für das gehetzte Weib, das den Mord beging. Für die kleine Sif sind diese Passagen der Kapelle Schachmeister die Fidel des Satans ... Totenlichte brennen ringsum ... Gesichter wie in einem Wachsfigurenkabinett ringsum in der Halle ... wächsern das Gesicht ihres Tänzers ... Hände, die ihr das Leben aus dem Leibe zu saugen scheinen ... traurige tote Augen ... 0 ja, das ist es: wie auf jenem Bilde im Dom vor drei Tagen, so tanzt mit ihr jetzt das Unabänderliche, der Würger ...

Die Generalpause im Boston, diese obszöne Pause, in der sich die Leiber der Tanzenden übereinanderzuneigen haben: »Lassen Sie mich ... ich bitte Sie, lassen Sie mich!«

Da schauen die toten Augen sie an: »You must.« Der Tanz geht weiter, er geht übers Grab hinweg, er wird dauern, bis man umsinkt vor Grauen.

Es geschieht erst an dem von der Kapelle Schachmeister vorgesehenen Ende dieser Musik, daß er sie entläßt.

»Wir werden morgen wieder tanzen,« bestimmt er.

Sie antwortet nicht, läßt sich ihren Mantel geben, läuft davon, halb wahnsinnig vor unbekanntem Grauen.

*

Um ein Uhr kommt sie nach Hause. Auf dem Tisch ein Robbysches Telegramm. In dem Telegramm steht, daß Robby am nächsten Tage mit dem Abendschnellzug nach Hause kommt. Ferner steht in dem Telegramm, daß Robby ganz unerwartete Aufträge heimbringt, wirklich einen Sack voll Aufträgen ...

Vor ihr, beschienen von dem grellen Atelierlicht, steht ihr Porträt, an dem Robby noch am Nachmittage seiner Abreise gearbeitet hat. Als Robby diese bläuliche Vene am Halse malte, unterhielten sie sich von der Aussicht, im nächsten Jahre eine Sommerreise zu Fuß zu machen, wobei man in kleineren Städten Duette singen würde ... auf dem Lande, weißt du, Robby ... für Nachtquartier und Essen ... Über der Vene hängt jetzt das ominöse Perlenkollier ... herunter mit dem Kollier: die Schnur birst, die Perlen fahren umher auf der Diele ...

Genau noch einundzwanzig Stunden, bis Robby aus dem Zuge steigen wird ... Barmherzigkeit, Gnade ...

Auf und ab beginnt sie zu rennen mit langen rücksichtslosen Schritten, die von den Nachbarn unten gehört werden und in den Akten vermerkt sind ... rennt mit weiten irren Augen, die nichts sehn vor Angst, rennt mit der Stirn gegen die Wand, fällt in die Knie, starrt auf die Ölskizzen ringsum: man muß unter allen Umständen das Schweigen der Megäre erkaufen, man wird das Kollier eben versetzen!

Aber morgen schon, kleine Sif, ehe die andere schreibt! Und ja nicht sicher sein, kleine Sif, wenn morgen kein Brief kommt oder wenn es gelingt, den Brief abzufangen: es hat sich am Ende schon ereignet, daß solche Megären höchstpersönlich erschienen sind, wo ihre Briefe nichts geholfen hatten ...

Sie sucht die Perlen zusammen, reiht sie wieder an ihre Schnur. Die Schlagschatten ihrer Hand schießen als greuliche Tatzen an der Wand empor, draußen auf den Treppen scheint etwas, was man lieber nicht sehn will, zu ihrer Tür zu schlurfen ... wenn sie dem leeren Atelier den Rücken wendet, ist es ihr, als hätten Robbys Gliederpuppen Leben bekommen, stünden hinter ihr, griffen nach ihr mit den Holzfingern ...

Nein, nicht hier bleiben ... fort um jeden Preis in die Nacht hinaus ... weiß nicht wohin ...

Drei Uhr morgens ist es, als sie nach der Aussage des schlaflosen mürrischen Hausmeisters ihre Wohnung verläßt. Schnee ist wieder gefallen, ist liegen geblieben. Kleine ruhelose Sif-Füße lassen dunkle Spuren in dem anständigen Weiß, laufen durch die ungeheuere nächtliche Öde der Frankfurter, der Kaiserstraße, über den Alexanderplatz, müssen, obwohl sie nun schon sehr schmerzen nach diesem bitterlichen letzten Tag, immer weiter, immer weiter: der Mensch, der zu den Füßen gehört, könnte fehlen ... vom Henker abgehauene kleine Frauenfüße müßten trotzdem laufen bis zu der Stelle, wo der Mord geschah.

Ein Posten am Ende der Königstraße klappt mit den durchnäßten Stiefeln im Schnee herum, beachtet sie nicht weiter. Der Große Kurfürst reitet als gespenstischer Bitter durch ein Meer von Dunkelheit, und in der ungeheueren Front des Schlosses brennt noch immer Licht hinter einem einzigen, einsamen Fenster.

Die Fenster von Neldners verlassenem Hotel, wo vor achtzig Jahren noch der brandenburgische Adel abstieg, sind dunkel, der Wind heult durch eine zerbrochene Scheibe. Da man das Gefühl hat, daß hinter diesen Fenstern unversehens wunderliche Gestalten auftauchen könnten, so sieht man lieber nicht hin, tastet sich im Häuserschatten zur Nachbartür. Hier war es.

Sie sieht hinauf. Licht brennt oben in der ersten Etage, brennt einsam bei der Toten, wird morgen in den trüben Tag hinein brennen, bis es bemerkt wird! Sie steht und starrt. Sie möchte gern fort von hier, muß trotzdem die Hand da auf den Türdrücker legen, und die Tür aufklinken, muß, muß ...

Hinein in den engen Gang, dem unsäglichen Grauen zum Trotz. Sie starrt hinauf: das Petroleumlämpchen vorn auf dem Podest der ersten Etage brennt nicht mehr: es ist ausgeblasen von jemandem, die Tat muß entdeckt sein.

Sie schleicht die Stufen hinauf, eine nach der andern, hört ihr Herz hämmern, tastet sich die Wand entlang, sucht die Tür. Der nämliche satanische Trieb, der ihr befohlen hat, hierher zu gehn, befiehlt ihr jetzt, nach dem Klingelzug zu suchen, den Griff in die Hand zu nehmen, an der gleichen Tür, hinter der die Tote liegt, zu läuten ... halt, halt doch ein wenig um Gottes willen ...

Als sie den Klingelzug eben erwischt hat, hört sie da drinnen Stimmen ... Männerstimmen, schwere unbekümmerte Schritte, die auf die Tür zu kommen ... jetzt ...

Es ist das blasse Entsetzen, das sie in dem gleichen Augenblick, als die Tür dort sich zu öffnen beginnt, mit einem einzigen Seitensprung sich flüchten läßt in den harten Schlagschatten. Ein Ungeheuer von einem alten Schrank steht dort ... man hat ihn gesehn, als man vor neun Stunden zum ersten Male hier hinauf ging ... im letzten Augenblick, ehe der Mann da zwischen Tür und Angel sich von dem im Zimmer Verbleihenden verabschiedet hat: im selben Augenblick hat sie sich in den Winkel zwischen Tür und Schrank geklemmt.

Steht da, wartet, bis der andere, dieser dicke schwere Mensch im Pelzmantel vorüberkommen und sie entdecken wird.

Wartet. Überlegt, was sie sagen wird, wenn er sie entdeckt: von irgend jemandem auf der Straße belästigt, bis zur Tür verfolgt, hierher geflüchtet ... geflüchtet, Herr, glauben Sie doch ... wirklich nur geflüchtet ... oh, großer Gott, ja, im gleichen Augenblick, als sie mit dieser primitiven Ausrede im reinen ist, fühlt sie, daß sie in ihrer Handtasche das Perlenkollier mit sich genommen hat ...

»Um sieben Uhr die Fingerabdrücke,« sagt der Mann in der Tür.

»Wird ja die Tasche durchsuchen,« denkt die kleine Sif, »... oh, wenn es doch nur schneller ginge, wenn es doch schneller ginge.«

»Und die Notizen erst am Abend ... haben Sie Feuer, Bock?« Der drinnen Verbleibende ist ein Uniformierter, der drinnen Verbleibende reibt das Zündholz an, der Mann im Pelzmantel saugt mit seiner Zigarre an der kleinen Flamme.

»Lassen Sie noch ein bißchen auf ... verfluchte Dunkelheit,« sagt der Mann im Pelzmantel und geht.

Geht dicht vorbei an der kleinen Sif, die da im Schatten des Schrankes steht, streift mit seinem fetten Hinterteil ihren Mantel. Geht hinunter, beginnt in der Haustür den gerade aktuellen Schmarrn vom Auseinandergehn und Wiedersehn zu pfeifen.

Die Tür geht, die Schritte verhallen.

Oben das Weib wartet eine Weile, schleicht sich die ausgetretenen Stufen hinab, leise, leise ... hinaus ins Freie.

Steht auf der Burgstraße, atmet weit auf.

Geht an dem Wachtmann vorüber, der an der Brücke steht, fragt arglos, ob er nicht ihre Brieftasche gefunden habe, steckt ein paar Belehrungen ein, wo sie sich nach ihrer Tasche erkundigen könnte, durchwandert die öden, zum Schlesischen Bahnhof führenden Straßen, schleppt sich mit den letzten Kräften die Treppe zu dem ärmlichen Dachatelier hinauf und bricht oben in ihrer Wohnung zusammen in grenzenloser Erschöpfung.

*

Sie überhört das Pochen der Aufwartefrau: bis tief in den Nachmittag schläft sie hinein, wacht erst um drei Uhr auf, als es von neuem schellt.

Ein Eilbrief ist da, in dem die Gerichtsdienerswitwe Meta Brack in einer höchst persönlichen Angelegenheit Robby ihren Besuch für den nächsten Tag ankündigt. Gut, man weiß, daß abends um zehn Uhr Robby kommen wird. Gut also, nun heißt es, das Äußerste wagen.

Nach einer halben Stunde steht sie in ihrem einfachsten Kleidchen, das Perlenkollier in der Handtasche, Queue vor dem Schalter des Versatzamtes in der Stralauer Straße, sieht, wie die Reihe stumpfsinnig sich vorwärts schiebt, sieht, wie der Schalter Tombakuhren, dünne Konfirmationsringe, auf Abzahlung gekaufte photographische Kameras verschlingt, Papierscheine mit phantastischen Ziffern ausspeit und vergrämte, enttäuschte Menschen entläßt. Sieht, wie zwei Nummern vor ihr von den Beamten peinlichst nach der Herkunft des ersten wirklichen Wertobjektes, eines Siegelringes gefahndet wird, den eine verhungerte Hauptmannswitwe eben anbietet.

Sie stutzt. Wie, wenn in den Akten neben dem Beamten da schon die Beschreibung des geraubten Perlenkolliers liegt? Nein, nicht hier vor aller Welt entlarvt werden, nicht hier, nicht hier ...

Sie drängt, eben als die Reihe an sie kommt, vorbei an den räsonierenden Hinterleuten, läuft wie von Hunden gehetzt aus dem überheizten Raum, läuft auf der Straße auf und ab, wird plötzlich inmitten ihres Elends von einem Weinkrampf überwältigt, der den kleinen gebrechlichen Körper hin und her schüttelt: geschändet, verdorben ... hab's doch nicht gewollt, nicht gewollt, nicht gewollt ...

Schritte von hinten, eine Hand, die sich auf ihre Schulter legt, eine freundliche Stimme: »Was denn, Fräuleinchen ... was denn nur?« Ein alter Arbeiter mit weißem Stoppelbart, der sich ihres Herzleides annehmen will. Sie schüttelt den Kopf, trocknet die Tränen, läuft ohne Antwort davon.

Schlüpft in eine kleine Kneipe, bestellt unter den fliegenkotbedeckten Plakaten der Patzenhofer-Brauerei sitzend einen Kaffee, extrastark. Und dann einen Benediktiner, Fräulein, einen Benediktiner ... Benediktiner, wie eine Badewanne so groß, Fräulein ...

Trinkt sich Mut an, faßt einen Vorsatz. Reinlichkeit, Geständnis, Sühne!

Starrt, während sie ißt und trinkt, in ein altes, verstaubtes Heft der »Woche«: in Unterkleidern, aneinandergereiht, mit großen Blutflecken, mit geborstenen Stirnen und zerrissenen Leibern liegen da die Toten, die irgendwann einmal und irgendwo in den baltischen Provinzen von den Bolschewiken erschossen worden sind ...

Auch in Deutschland werden ja wohl neuerdings Mörder erschossen, Erschossene aber sehn doch wohl immer so aus, wie diese hier ... genau so also wird man selbst aussehn, nicht wahr, kleine Sif?

Nichts mehr zu ändern ... weiter ...

Hinaus, das Wasser entlang. Güterwagen werden von einer jämmerlich schnaufenden Lokomotive rangiert, ein Schnellzug gleitet vorüber, beginnt sich zu strecken im Lauf in die großen Ebenen des Ostens, in die Freiheit ...

Das Polizeikommissariat, auf dem sie vor acht Tagen den Verlust eines Sonnenschirmes angezeigt hat, und in dem sie sich jetzt als Mörderin der Witwe Grandjean angeben wird, liegt an der nächsten Ecke der langen Kaistraße: ein ehrloses, von oben bis unten mit armem Volk vollgestopftes Gebäude. Ein krüppelhafter Hollunder kämpft verzweifelt um Sonne und Luft, grämliche Weiber klagen über die Lebensmittelpreise, über dem Keller verkündet ein uraltes Schild, daß »hier Schirrme repariert werden«.

Schirme mit zwei r ... oh, daß du noch lachen kannst, kleine Sif, jetzt, wo du die letzten Atemzüge tust in Freiheit ...

Ein überheizter Raum, ein Pritschenverschlag hinten mit hängenden Säbeln und Pistolenhalftern und kartenspielenden Beamten, braunverstaubte Akten von 1879 bis zur Neuzeit reichend, ein Eisenofen, der wie der der biblischen drei Männer glüht, eine Luft, die man der staatlichen Umwälzung zum Trotz nur als königlich preußische Kasernenluft ansprechen kann.

In der Handtasche klappert das Perlenkollier. Der Beamte, der sie kennt, nickt ihr freundlich zu, trinkt einen letzten energischen Bierschluck, sieht sie plötzlich scharf an: »Ja bitte, junge Frau ... ist Ihnen nicht gut?«

Nach dem Stuhl getastet, nach Atem gerungen: »Ich bin gekommen ... ich wollte ...«

»Ein Glas Wasser, junge Frau.« Er öffnet das Fenster. Kinder singen draußen.

»Die Zerschossenen,« denkt die kleine Sif, »ich habe ja Angst ... oh, so entsetzliche Angst.«

»Sie wünschen?« fragt der Beamte, der nun für sie getan hat, was er hat tun können.

Ja, wenn man nicht an die zerschossenen Toten hätte denken müssen, wenn durch das offene Fenster nicht das lustige Pfeifen eines vorübergehenden Burschen, der Hauch vom Wasser, von der Freiheit gekommen wäre in diese furchtbare Stickluft ...

Die kleine Sif, wieder zu sich kommend, mit den Fingern die Perlen des Kolliers in der Handtasche betastend, sieht ihn an: »Ich wollte fragen, ob sich mein Sonnenschirm gefunden hat.« Die Frage wird verneint. Die kleine Sif geht.

Bleibt vor der Tür stehen, starrt in den rötlichen Nebelball der Gaslaternen. Weint nun nicht mehr, hat auch nicht mehr das weiche Gesicht des jungen Mädchens, hat plötzlich die harten, schrecklichen Züge einer Sibylle: Zu feig zu sterben, verdorben für alles ... Hund, der du das mir tatest, Mörder, Satan ...

Vorüber auch dieser letzte wilde Ausbruch. Sie geht nach Hause, sie weiß nun, was sie zu tun hat: ein Zettel für Robby mit einem einfachen »Lebewohl«, dann der Koffer, in den man seine Kleider hineinstopft, ein paar letzte Aufträge für die alte Aufwartefrau, dann der Wagen, den man bestellt hat ...

Die freudlosen Straßen des Ostens, unter dem brennenden Himmel der träge Fluß, die Leipziger Straße mit ihrer Jagd nach Futter und Liebe.

Der Potsdamer Bahnhof, von dem man vor vier Tagen zu einem schuldlosen Nachmittag am Wannsee aufgebrochen ist ... nicht zurückdenken, oh, nur nicht zurückdenken ...

Die Flügeltür des Exzelsiorhotels, der Manager, der sie nun schon kennt, die Halle mit ihrer Ruhe heuchelnden Marmorarchitektur, mit den Menschen, die Stoizismus heucheln und alle doch an einen Winkel ihres Lebens denken müssen, für den sie zwei Jahre und sechs Monate Zuchthaus verdienen ... alle, alle ...

Eine improvisierte Karte mit ihrem draufgekritzelten Namen, die sie dem Boy übergibt: »Dem Oberst Miramon.«

Der Boy verschwindet im Aufzug, der Aufzug surrt.

Wenn es doch schnell ginge ... oh, wenn es doch nur schnell ginge!

In den Klubsesseln vor den Elevatoren Fürst zu Wied, diesjähriger Gappa-Florio-Sieger ... Direktor Ostermayr mit kleiner aber einträglicher Meineidverleitung ... Professor Patzmann, im Kriege Erfinder der aus Viehjauche gefertigten Nährhefe, eben das Generalversammlungs-Diner der »Adamag« verdauend.

Wieder ein Elevator. Wirklich der Boy mit dem kleinen für sie bestimmten Briefchen. Der Oberst Miramon läßt die gnädige Frau tausendmal um Entschuldigung bitten, wenn er sie in seinen Zimmern oben empfangen muß.

Oben der Dachsbau des Riesenhotels, die endlosen blutroten Teppiche auf weißen Gängen, die indiskreten Stiefelpaare der Hochzeitsreisenden vor den Zimmern. Nach der Königgrätzer Straße hinaus der riesige Salon mit den Teppichen, in denen man beinahe versinkt, die Uhr mit dem Schlagwerk der Westminsterabtei, aus dem Halbdunkel des Lampenscheines am Schreibtisch die knabenhafte Gestalt dessen, bei dem man nun Schutz sucht.

»Eine Bitte an Sie ...« Sie fühlt, daß es rasch zu Ende geht mit ihren Kräften.

»Entzückt, Ihnen helfen zu können ...« In dem enganliegenden Kniehosenanzug aus dunkler Seide, den er hier trägt, mit dem schwarzen Barett sieht er wie ein mittelalterlicher Nachrichter aus.

»Es ist Ihnen möglich, mich auf Ihre Reise mitzunehmen?« Das erste ist damit gesagt ... man fühlt, daß man, ob man will oder nicht, noch mehr wird sagen müssen, noch mehr, noch mehr ...

Er verbeugt sich geschmeidig: »Ein kleiner Dienst, auf den zu hoffen ich nie gewagt habe.«

»Sie müssen wissen, ich habe ...«

»Es wird gut sein, wenn Sie nun sehr leise sprechen, Madame ...« Die toten Augen sehn sie an.

»Ich habe ... ich habe jemanden getötet.« Es ist gesagt. Die kleine Sif greift mit den erbarmungswürdigen überzarten Händen in die Luft, sucht nach einem Halt, liegt auf dem Teppich.

»Ein kleiner Mord ... oh, Madame, wer wird denn derlei so ernst nehmen?«

Die Hand des Obersten Miramon klopft bei diesen Worten den Hals der kleinen Sif, beruhigend wie ein Schlächter, ehe er dem Tier den Schlag versetzt.

Draußen auf der Königgrätzer Straße werden zwischen Hupengeschrei und Trambahnklingeln die Börsentendenzen von New York und Chikago ausgerufen.

 

* * *


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