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Vergifteter Alkoholschlaf, berauschte Träume: ein langer Zug von Tierskeletten ... eines hinter dem anderen her, in atemloser Begattung das vordere umklammernd ... von phantastischen Unholden geprügelt mit nägelbesetzten Stöcken, dennoch nicht ablassend von dieser entsetzlichen Umarmung des Todes ...

Fort ... vorüber ...

Landschaft in greller Sonne ohne Bäume ... das starre Licht des Todes ... Zug nackter, aneinander geketteter Weiber ... Bewaffnete rechts und links ... Bewaffnete ziehen an den Ketten wie an Marionettenschnüren ... Weiber beginnen unter Wehgeschrei zu tanzen, präsentieren zu obszönen Sprüngen mit schmerzverzerrten Gesichtern ihre nackten Brüste ...

Vorüber, aufgewacht mit gellendem Angstschrei.

Aufgewacht mit fürchterlich schmerzendem Schädel in einem Zimmer, das sie nicht kennt ... angekleidet aufgewacht mit zerknitterten Kleidern ... schmutzig-rötliche Tapetenmuster an den Wänden wie Masernausschlag ... Tapetenmuster kommt auf sie zu ... man muß die Augen wieder schließen.

Nachgedacht mit dem furchtbar schmerzenden Hirn: rote Schlußlaternen des Zuges ... Pudel mit schwefelgelben Augen wittert Blutfleck ... Herr Perzinski aus Wien ans Telephon ... große tote Augen, vor denen man sich entsetzlich fürchtet ... behaarte Hand, die Schalter dreht ...

Oh ... oh! ...

Nun, wie sie den verwehten Hauch von Schnaps und Parfüm spürt, irgendwo auf dem staubigen Boden zusammengeballt ihren Mantel sieht: nun brüllt sie auf vor Entsetzen, greift nach den entsetzlich schmerzenden Schläfen, sinkt kläglich stöhnend zusammen.

Der, der sie hierher geschleppt hat, antwortet nicht. Es ist elf auf der kleinen Armbanduhr, er ist, eine dunkle Erinnerung sagt ihr das, in irgendeinem Monsterprozeß auf dem Moabiter Kriminalgericht beschäftigt. Da sind also in dem schmiedeeisernen, auf meterhohem Fuß am Bette stehenden Aschenbecher abscheulich riechende Zigarrenstummel, an der Erde die zerknitterte Nummer eines Junggesellen-Witzblattes, ein Nachttisch mit einer ausgequetschten Zahnpastentube und einem unendlich unsauberen Bartkamm, an der Wand, mit Couleurhund, Schlägern, bemalten Fässern und hochgermanischen Trinkhörnern um eine fabelhafte Pappruine gruppiert das Reformkorps »Palaio-Borussia« ... in der Ecke dieses ehrlosen Zimmers, Besitztum wohl der Zimmerwirtin, der schäbige Farbdruck eines Marienbildes.

Es ist ein abscheuliches Götzenbild mit Farborgien von Blau und Rot, mit Pfeilen im Herzen, die wie Stricknadeln aussehn. Dafür sind aber Tränen im Antlitz, und aller Weiber Schmerzen auch in diesem versudelten Konterfei: »Maria, hilf uns allen in unserer großen Not« ... ja, plötzlich ist es geschehn, daß die kleine Protestantin Sif mit ihren dunklen Reminiszenzen an alte Marienlieder, mit ihren verwüsteten Haaren, ihrem Katzenjammer, ihrer großen Schande auf den Knien liegt vor diesem Fünfzigpfennigbilde.

»Du gebenedeiete unter den Weibern und gebenedeiet der Schoß deines Leibes ...«

Die Tür hinter ihr geht, irgend jemand steht hinter ihr ... keine Marienvision: es ist, glühend wie der Bolzen eines altmodischen Bügeleisens, in einem Schlafrock von furchtbarem pompejanischen Rot, die Zimmerwirtin.

Die kleine Sif, noch immer kniend mit ihren gefalteten Händen, starrt auf diese Apotheose von Bordellrot, weiß nichts damit anzufangen, muß beinahe lachen ...

»Die Frau Schwägerin ... in einer einzigen Woche die Dritte!« Die Adern auf der Stirn der andern schwellen, die Worte zischen wie Schlangenlaute. Dann hebt sich drüben die Hand, eine fette kurzfingrige Hand, die Hand hält einen beschriebenen grauen Briefbogen: Die Frau Schwägerin also dieses Mal ... Namen festgestellt aus Sifs Handtasche ... dieses Mal denn doch zu bunt ... drei Tage nach der Hochzeit ... Rohrpostbrief an den Herrn Gemahl.

Die kleine Sif, begreifend, was man ihr da androht, springt auf, greift nach dem Brief. Und dann gibt es ein verzweifeltes Ringen mit dem keifenden Weibe da, dann wird man zu Boden gedrückt von dieser fettigen, kurzfingrigen Hand, dann ballt sich diese Hand und schlägt zu, und dann liegt man zerkratzt, weinend, entehrt auf eine unaussprechliche Weise da, muß anhören, wie das Keifen des Weibes übergeht in hysterisches Kreischen.

Brief geht noch in dieser Stunde ab ... feine Leute ... jede Nacht 'ne andre ... Pflicht, dieser Luderwirtschaft ein Ende zu machen ... ein Kübel von Kot entleert sich über das daliegende geschändete Weib, das doch vor ein paar Tagen noch eine stolze, saubere kleine Sif war.

Hinaus jetzt aus dieser Hölle! Sie springt auf in ihrem verwüsteten Anzug, sie läuft durch den dunklen Korridor, die Tür fliegt hinter ihr zu mit einer letzten namenlosen Beschimpfung. Sie hetzt die Treppen herunter, sie steht auf der Straße.

Nasser Wind geht draußen, bringt ersten Schnee mit und eisigen Regen und große gelbe Ahornblätter, die verschmutzt in der grauen Sauce des Asphaltes liegen. Sie läuft, ohne an eine andere Beförderungsmöglichkeit zu denken, die trostlose Straße westwärts, läuft vorüber an dem öden Klinikbau. Gedunsene käsige Gesichter an den Fenstern ... vor dem Portal zwei sich herumlümmelnde Wärter, die ihr etwas nachrufen ... vor der Pforte ein wartender Leichenwagen, der Chauffeur auf dem Bock liest, zwischen Satz und Satz an seiner Semmel kauend, eine blutrünstige Zeitung, der ausgekuppelte Motor surrt und läßt den Silberchristus auf der Tür leise zittern.

Vorüber und weiter!

Ein Wachtmann, dem sie mit ihrem zerknitterten Anzug und den zerzausten Haaren auffällt, starrt ihr aufmerksam nach, sie duckt sich unter den schmutzvermischten Schneebällen der Schulkinder, ist froh, in der Friedrichstraße zu verschwinden.

Die Straße, hier im Norden des Talmiglanzes und der zahlungsfähigen Geschäftigkeit ihres Südteiles entkleidet, steht vernachlässigt da mit ihren regennassen Häuserfronten wie eine abgetakelte Dirne, vollgestopft zur Stunde mit murrenden, demonstrierenden Menschenmassen. Auf einem Wagendach gestikuliert, ohne daß man ein Wort verstehn könnte, ein Redner, man hört das periodische Brausen des Beifalls, sieht dann die von der nahen Kaserne ausgespienen Lastwagen mit Bewaffneten sich langsam durch die Menge schieben. Unsägliche Verwünschungen gellen durch die Schneeluft, Dreckwürfe fliegen hinauf zu den unerschütterlichen Bleifigürchen der Soldaten oben ... weiter, weiter ...

Wie sie es fertig bekommt, den Menschenwall einer politischen Demonstration mit dieser Geschwindigkeit zu forcieren, bleibt eines der Rätsel dieser rätselhaften beiden nun folgenden Tage. Sie läuft durch die Schumannstraße, wird von einem berühmten, gerade aus der Probe kommenden Mimen angestarrt, rettet sich vor diesen Blicken, die sie förmlich entkleiden, ans Wasser, steht am Kai, sieht den entehrten, zur Kloake gewordenen Fluß ziehn, Gasblasen aufsteigen, einen aufgetriebenen Hundekadaver treiben ... Kohlstrünke, Zigarettenetuis Marke »Sportgrüße«, verschnürte Packpapierbündel mit finsteren Geheimnissen ... hört Zoten, die von den Lastkähnen ihr zufliegen, sieht leeren, verständnislosen Blickes die unendlichen, mit zerfließendem Schnee bedeckten Kohlenzüge des Lehrter Bahnhofes.

Abgeschüttelt alles, gedankenlos weitergelaufen mit hämmernden Schläfen und durchgeweichten, nicht für solche Wege bestimmten Lackschuhen ...

Dann steht sie vor der Fassade des Gerichtsgebäudes, denkt nach: was wollte sie eigentlich hier? Richtig, hier ist der Mann zu finden, der sie in dieses Elend gebracht hat, der Mann wird raten, der Mann wird helfen!

Gut also: die Nummer des Zimmers erfragt, mit den triefenden Kleidern, dem zerschundenen Gesicht, der zerknickten Hutfeder die Gänge entlang gelaufen ... vorüber an Zeugen, die vor einem Meineid nervös auf und ab pendeln, Gerichtsdienern mit der Stimme des Jüngsten Tages, alten Weibern, denen das Dienstmädchen graue Wollstrümpfe gestohlen hat, Richtern in wehenden Roben, die froh sind, dem dreißigsten Fall von Übertretung des Kraftfahrergesetzes entronnen zu sein und zu Mittag gehn zu können.

Dann steht sie im Zimmer des Schwagers. Der anwesende Referendar mit dem unreinen Teint weiß nicht recht, ob er »gnädige Frau« sagen oder sie hinausweisen soll: nicht anwesend ... plädiert zur Zeit im Mordprozeß Jungschulz ... Nummer 376/78, großer Schwurgerichtssaal, den Gang hinauf die siebente Tür ... der Jüngling, seiner Diagnose endlich gewiß, beginnt zu schnarren.

Sie geht in den Zuschauerraum, sie wird hier auf ihn warten bis zur Mittagspause. Sie ist zunächst lebendig begraben in dieser Menschenmasse, sie kann, da sie kleiner ist als ihre gesamte Nachbarschaft, zunächst nur die Glühlampen sehn, die in das Elend dieses Spätherbsttages brennen, über dem Haupte des Vorsitzenden an der Wand das weinfrohe Gesicht eines längst vermoderten preußischen Königs ... zwischen den Rhythmen der rumorenden Dampfheizung hört sie die bellenden, abgehackten Sätze einer wohlbekannten Stimme.

Oh, sie kennt aus den Zeitungen der letzten Tage diesen Prozeß, der drei Tage lang das gigantische Berlin aufwühlt und begafft und gezeichnet wird und in einer Woche vergessen ist in dem gierigen Elend der Zeit: Sohn, früh hinübergegangen nach Amerika, kehrt nach zehn Jahren mit einem bescheidenen Vorrat an Dollarnoten zurück, wird von den Eltern nicht erkannt, gibt sich, um die Eltern zu überraschen, zunächst einmal für einen Bekannten des Sohnes aus, läßt einiges Geld sehn, wird zum Bleiben genötigt und bewirtet, schläft – die Dollarnoten unter dem Kopfkissen – sich gehörig aus in dem angebotenen Bett, träumt von der Überraschung, die er morgen den Eltern bereiten wird.

Mutter flüstert Vätern etwas von den Dollarnoten zu, macht harte Augen dabei. Vater will nichts wissen, will nichts sehn, verstehst du ... Vater geht in die Kneipe, macht ein bißchen blau, Vater erfährt von dem Gemeindeschreiber, daß der Fremde sein eigener Sohn ist, der die Eltern überraschen will. Vater findet zu Hause Muttern, die soeben dem Schlafenden den Hals abgeschnitten hat.

Vater sitzt nun irrsinnig in der Psychiatrischen, Mutter sitzt klaren Sinnes auf der Anklagebank. –

Wie die kleine schmächtige Sif es fertig bekommt, die kompakte Menschenmauer des Zuschauerraumes zu forcieren und bis zur Barriere vorn sich zu durchzudrängen, auch das gehört zu den Rätseln dieser Stunden. Da steht sie, sieht einen weißhaarigen dekorativen Vorsitzenden, sieht neben ihm die blinzelnden Gesichter jener beiden beisitzenden Herren, die der Juristenjargon »die Beischläfer« nennt, findet endlich auf ihrer Bank vor den zwei Gendarmen mit ihren verschlafenen Gesichtern ein altes Weiblein mit ordentlichem, wassergeglättetem Weißhaar und freundlichen, sanften Zügen: das Weib, das den Mord beging.

Da sie sich eine Mörderin durchaus anders vorgestellt hat und mit diesem Gesicht nichts anfangen kann, so läßt sie die Augen zurückwandern zu dem Vorsitzenden, zu dem vor ihm aufgebauten Silberkruzifixus; zu der andern Saalseite, von der die wohlbekannte Stimme mit den gebellten, abgehackten Sätzen kommt.

Und in diesem Augenblicke geschieht es, daß der Schwager Lex aus der schwarzen Robe die Hand mit dem obszönen roten Siegelring pathetisch vorstreckt und zu einem großen rhetorischen Schlage ausholt: »Eine Schwadron Dragoner,« schreit der Schwager Lex, »wäre in Ohnmacht gefallen vor dieser Leiche ... nicht dieses Weib, für das Jesus Christus nicht gestorben ist!« Und bei diesen sotto voce geschrienen Worten, bei denen die Beisitzer auffahren und die Gendarmen auf der Anklagebank erschreckt nach einer möglichen Inkorrektheit ihrer Uniform suchen ... hier geschieht es, daß die kleine Sif, unmittelbar an der Schranke des Zuschauerraumes stehend, ausbricht in ein gellendes, schauriges Gelächter.

Ein peinliches; ein nicht wieder gutzumachendes Ereignis! Zunächst lastet auf dem Saal eine furchtbare Pause, in der die Nachbarn im Zuschauerraum entsetzt, als hätte sie die Pest, von ihr abrücken. Da sie ganz vorn steht, so ist es unausbleiblich, daß jeder im Saale weiß, wer gelacht hat. Der Vorsitzende weiß es, und ebenso weiß es der Schwager Lex. Und während der Vorsitzende Donner und Blitz niedergehn läßt und mit allen irdischen und himmlischen Strafen droht, während schon ein Uniformierter sich durch die Menge drängt, um sie hinauszuweisen, da geschieht es, daß sie die Faust ballt und den Mann in der Robe fixiert mit einem Hasse, vor dem einen Augenblick die ganze preußische Gerichtsmaschinerie stillesteht.

Es ist gar nicht nötig, daß sie die Faust schüttelt gegen den Staatsanwalt. Der Vorsitzende weiß bei diesem Lachen und bei diesem Blick, daß sich eine persönliche, höchst peinliche Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen vollzogen hat, und mit ihm fühlt es jeder im Saal. Der Schwager Lex, herausgeworfen aus der »großen Stelle« seiner Rede, ist plötzlich sehr blaß geworden und beginnt in seinen Akten herumzuwühlen und zieht es vor, sein Gesicht dem Publikum nicht zu zeigen. Da hat der Uniformierte die Ruhestörerin erreicht und führt sie zur Tür hinaus mit Schimpf und Schande. –

Es gibt seelische Verfassungen, in denen es der ersten besten exaltierten, für die Umgebung unverständlichen Handlungen bedarf, um einem Zustande der Ratlosigkeit ein Ende zu machen. Mehrfach ist die kleine Sif in ihrer Verwirrung, ihrem derangierten Anzug auf ihrem Gange hierher Sicherheitsorganen aufgefallen, mehrfach ist sie von ihnen verfolgt, immer wieder ist sie schlafwandelnd entkommen. Es ist aber zu betonen, daß jeder, der nach den heute vorliegenden Akten ihr an diesem Tage begegnet ist, die Eiseskühle ihres Handelns betont. –

Bei der Gruppe des mit der Schlange kämpfenden Löwen bleibt sie einen Augenblick stehn: da von ihrem Schwager Hilfe nicht zu erwarten ist, so obliegt es ihr allein, ein weichherziges Menschenkind vor einem Rohrpostbrief zu schützen.

Wie verhindert man, daß dieser Brief abgesandt wird?

Mit Geld ...

Also wird man Geld zu beschaffen haben.

Sie ordnet auf dem Lehrter Bahnhof sorgfältig Anzug und Haare, setzt ihre kleine Barschaft ein, um mit einem Wagen nach Hause zu fahren, erkundigt sich bei der alten Aufwärterin nach Post, macht sich, da der ominöse Brief noch nicht eingetroffen ist, in der früh einbrechenden Dämmerung des trüben Tages über die paar Schmucksachen ihres ärmlich-improvisierten Toilettentisches her: zwei Ohrgehänge aus dünnem und zweifelhaftem Gold ... eine exotische silberne Halskette ... der kunstvolle goldene Schlangenring, das einzige Andenken an ihren schwedischen Vater, an diesen längst auf dem Matthäikirchhof schlafenden Lithographen: wenn nichts anderes, so wird dieser Ring helfen! Dann zieht sie sich ein einfaches Straßenkleid an. Es ist nach der aktenmäßigen Aussage der Alten fünf Uhr vorüber, als sie die Wohnung verläßt. –

Es gibt im Kerne Berlins Häuser, die sich der amerikanischen Note der Stadt etwa in dem gleichen Maße angepaßt haben, wie ein württembergischer, zu einem Bibelkongreß nach Philadelphia reisender Pastor seinem Äußeren eine bescheidene amerikanische Note geben mag. Es gibt im Zentrum Häuser, die außen beinahe ebenso langweilig aussehn, wie die des Börsen- oder des Zeitungsviertels, und die doch weit über die Zeit hinausreichen, als die Könige Preußens ihre Badewanne im Bedarfsfalle aus dem gegenüberliegenden Hôtel de Rome holen ließen« ... Häuser, die hinter der ehrlosen modischen Stuckfassade gotische Himmelsleitern und gotische Gänge und insoferne auch gotische Menschen bergen, als die Bewohner ihren Frieden mit der Zeit einfach nicht abgeschlossen haben und alten, höchst soliden, aber eben verschollenen Handwerken huldigen: Optiker, die der Firma Zeiß zum Trotz noch nach den Methoden arbeiten, nach denen Spinoza seine Brillen schliff, und Steinschneider, die, genau wie alte Chinesen, im Jahre drei oder vier abgöttisch schöne Billardbälle zustande bringen ... ja, es mag neben einem dunklen Triebe die Spekulation auf solide Abnehmer sein, die die kleine Sif in dieser Stunde hierher den Weg finden läßt. –

Item: scharfe Schneeluft kommt, als sie die Kurfürstenbrücke passiert, von dem düstern Fluß; in dem verlassenen, sich wie ein dunkles Gebirg auftürmenden Schlosse brennt hinter einem einzigen Fenster der riesenhaften Front ein verlorenes Licht. Sie denkt, während sie in die Burgstraße biegt, darüber nach, wer dort wohl wachen mag in der ungeheueren Einsamkeit der Räume, sie denkt an die Geheimnisse der kleinen Wasserpforten, von denen der Weg in den Schlamm des Flusses so kurz gewesen sein mag ...

Sie fröstelt und bleibt stehn.

Das Hotel »Neldener«, das in der Zeit, als der junge Bismarck zur Bekämpfung der achtundvierziger Revolution auszog, ein Absteigequartier des brandenburgischen Adels war, liegt nun, seit Jahrzehnten dem erhaltenen Schilde zum Trotz zu irgendeinem Magazin degradiert, finster da mit seinen leeren Fenstern, hinter denen die Schatten längst vermoderter Gäste hausen mögen. Dafür gibt es hier gerade eine der wenig zahlreichen Laternen, in deren Schein man lesen kann, daß im Nachbarhause die Witwe Grandjean Schmuck und Goldsachen aller Art zu den höchsten Tagespreisen zu kaufen bereit sei.

Ein sehr enger Gang führt in das Innere dieses Nachbarhauses, ein Gang, bei dem die kleine Sif sich, sie weiß nicht warum, unwillkürlich fragen muß, wie man hier die Särge verstorbener Bewohner hindurchzwängen mag. Dann wird eine am oberen Ende einer ebenso engen, himmelhohen Treppe brennende Petroleumlampe sichtbar, und dann ...

Ja, und dann, als die kleine Sif, ohne übrigens von den holprigen Stufen die Augen zu heben, diese Treppe hinaufsteigt, da eben geschieht es, daß ganz unversehens jemand, der von oben kommt, ihr begegnet – auf eine abscheuliche, unübersehbare Art ihr begegnet, so daß sie bei der Enge dieser Hühnerstiege erschreckt sich an die Wand drückt.

Ein Windstoß fährt in diesem Augenblick durch die offen gebliebene Haustür den Gang hinauf, und es ist zu bemerken, daß die kleine Sif in diesem Augenblick von irgend etwas, was sie nicht kennt, gezwungen wird, der heruntereilenden Person nachzuschauen. Sie sieht, als eben diese Person schon den Gang durcheilt, daß es eine Frau ist, sie sieht im Lichtfeld der draußen brennenden Laterne das, was ihr irgendwelche peinliche Erinnerungen an etwas schon halb Vergessenes weckt: daß nämlich diese Frau in der Hand ein sonderbares Ding, ein Halsband oder einen Rosenkranz schwenkt, und daß ferner diese Frauensperson, als sie die Laterne am Ausgang passiert und um die Ecke biegen will, im allerhöchsten Maße ihr selbst, Robbys angetrauter Gattin, ähnlich sieht.

Es ist zu bemerken, daß diese Begegnung, die in den Akten der kleinen Sif mit Fug und Recht als zufällige Ähnlichkeit, oder, wie die andern seltsamen Begleitumstände dieser Geschichte mitleidig als Ausgeburten der Erregung oder gar als trübe romantische Erfindung abgetan wird ... es ist zu bemerken, daß diese gleich darauf um die Ecke verschwundene Erscheinung sie eine ganz kurze Weile auf der Treppenmitte festhält. Dann ist es die seit dem Moabiter Zwischenfall krampfhaft gesteigerte Entschlußkraft, das Grauen und das unbändige Verlangen nach Menschennähe, die sie die Treppe hinaufpeitschen und mit voller Kraft an dem Drahtklingelzug der Witwe Grandjean zerren lassen, daß innen sich ein ganzes Armsünderläuten in Bewegung setzt.

Schritte schlurfen innen, ein Auge wird sichtbar an dem Guckloch. Dann wird die Tür, die direkt in den Raum führt, von einer kleinen verhutzelten Person mit spärlichem, an den Schädel geöltem Haar geöffnet ... die Witwe Grandjean hat es nicht der Mühe für wert befunden, die horngefaßte Lupe aus dem Auge zu nehmen bei dieser Manipulation.

Ein warmes, höchst gemütliches Zimmer mit Biedermeiertapeten und den Silhouetten einer längst verschollenen Studentengeneration an den Wänden: offensichtlich der einzige Raum in dieser Etage des engbrüstigen, wunderlichen Hauses. Ohne den Gruß ihres Gastes zu erwidern, schlurft die Witwe Grandjean hinter die Lette zurück, beugt sich über den Tisch, kramt in all den Etuis, den Zetteln, den blitzenden Dingen, beginnt, ohne dem Gast sonderliche Aufmerksamkeit zu schenken, ein großes Perlenhalsband zu beäugen ... es ist zu bemerken, daß gerade über ihrem Kopfe an der Wand auf einer schwarzen Plakette, umgeben von all diesen buntbebänderten Vandalen und Arminen ein silbergepreßter Engel mit der Devise »Gott mit dir« gen Himmel fährt.

»Guten Abend,« wünscht die kleine Sif noch einmal, und dann sagt sie freundlich, daß die alte Dame eigentlich viel Mut beweise, hier allein zu bleiben mit all den Schätzen da.

Als Antwort, ohne im übrigen ein Wort zu sprechen, starrt die Alte, die Lupe als wunderliches Monokel noch immer im Auge, ihren Gast eine kleine Weile an, wobei sie den zahnlosen Mund aufklappt, greift unter die Lette und legt einen Revolver auf den Tisch.

Es ist eine altmodische gewaltige Donnerbüchse, eine von jenen Waffen, mit denen man den Gegner am sichersten trifft, wenn man, statt zu schießen, damit nach ihm wirft ... ja, es ist aber zu bemerken, daß der Anblick dieser Waffe, die Lupe im Auge und vielleicht selbst der silbergepreßte Engel an der Wand doch vielleicht manches beiträgt zur weiteren Entwickelung der Dinge.

»Sind Sie taub?« fragt die kleine Sif etwas gereizt.

»Reden Sie nicht lange,« sagt die Witwe Grandjean, »und geben Sie rasch her.«

Die kleine Sif wird rot. »Morgen,« denkt Sif, »morgen abend wird Robby kommen.« Damit gibt Sif her, was sie gebracht hat.

Die Alte nimmt die Schätze, geht gar nicht sanft damit um ... Ohrringe und Kette fliegen sofort mit einem verächtlich durch die Nase gestoßenen Laute der Ablehnung zurück.

Die kleine Sif sieht, während die Alte wiegt, die Devise »Gott mit dir«, sie denkt an Mariä stricknadeldurchbohrtes Herz, an den Christus auf dem Leichenwagen und den auf dem Schwurgerichtstisch, der nach den Informationen des Schwagers Lex nicht gestorben ist für die Sohnesmörderin, sie fragt sich, wieviele Male ihr dieser Gott wohl begegnet sein mag an diesem Tage.

Und dann sieht sie, wie die Alte wieder wiegt und rechnet und vor sich hermurmelt ... ach Gott, sie selbst ist es ja, deren Schicksal da gewogen wird ... ach Gott, ja, erbarme dich endlich um diese große Not ...

Da sie es einfach nicht mehr ertragen kann, dieses Rechnen zu beobachten, so sieht sie sich das auf dem Tisch liegende Perlenkollier an, denkt daran, wer es wohl getragen haben mag vor zehn Jahren, streichelt über die kühlen Perlen, träumt sie an den eigenen Hals, nimmt sie in die Hand ...

Inzwischen ist die Alte fertig: »Gelump,« sagt die Alte und stößt verächtlich durch die Nase, der Schlangenring fliegt über die Lette zu Sif zurück ...

Die kleine Sif hat noch immer das Kollier in der Hand, sie versteht das einfach nicht: »Von meinem Vater,« sagt die kleine Sif, »wenn Sie gütigst erlauben ... ich möchte ... ich hätte gern ...«

Die Alte faucht sie an: »Was wollte sie gern, he? Gelump, sage ich, ha ...« wieder faucht sie durch die Nase, fixiert die kleine Sif durch die Lupe und hat plötzlich entdeckt, daß sie noch immer das Kollier in der Hand hält.

»Die Perlen,« schreit die Alte, »wollen Sie gefälligst ...«

Und vielleicht, wenn diese Lupe nicht gewesen, und, von dem Engel ganz abgesehn, dieser verfluchte drohende Schießprügel auf dem Tisch und dieser verächtliche Laut ...

Ja, wenn ...

So aber ist es geschehn, daß das weiche Kindergesicht der kleinen Sif, als die Alte wahr und wahrhaftig nach der Waffe greift, hart wird und beinahe grausam ... so hart und grausam, wie in dem Augenblick, als sie das Hündchen Binky zum Tode brachte.

» Gott mit dir,« schreit plötzlich die kleine Sif und weiß nicht, was sie tut, und sieht nur Feuerfunken vor sich stieben über ein grünes Gesichtsfeld und hat die Augen weit aufgerissen und hat die Alte an der Kehle ... dort, wo die Halsschlagadern sitzen und man den Lebensstrom abdämmen kann mit einem einzigen Griff.

Ich will durchaus nicht entscheiden, welche Macht diese Hand so führt, daß die Finger diese Stelle gerade erfassen. Ich habe nur zu berichten, daß die Alte ohne Laut zusammenfällt wie ein leerer Schlauch.

»Gott mit dir,« schreit sie noch einmal und schleudert die Witwe Grandjean zurück, daß sie mit dem Kopf gegen die Wand schlägt. Was übrigens bei diesem federleichten Körper ohne sonderliches Geräusch vor sich geht.

Die kleine Sif atmet tief auf mit einem merkwürdigen, wilden Schnarchlaut, wie man ihn von ungezähmten Steppenstuten hören kann, die ihr Füllen bedroht glauben. Dann geht sie aus dem Zimmer.

Es ist ihr im Augenblick noch ganz unbekannt, daß sie, während sie die Treppe hinabläuft, das Perlenkollier in der Hand schwenkt ... so schnell, daß man es bei der Geschwindigkeit der Bewegung auch für einen Rosenkranz halten kann.

 

* * *


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