Fritz Reck-Malleczewen
Bomben auf Monte Carlo
Fritz Reck-Malleczewen

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III.

Was aber Violet Counteß Hensbarrow, ehemalige Erzieherin und nunmehrige erste und einzige »Palastdame« der Hoheit von Labrador, betrifft, so war sie empört. Schlechterdings und geradezu empört.

Bis in den Frühlingsabend hinein hatte sie nach der strapazanten Reise und dem ausgiebigen Frühstück dem Laster des Nachmittagsschlafes gefrönt, war um sieben Uhr erst erwacht, hatte eine halbe Stunde mit bleischwerer Müdigkeit und mit offenen Augen dagelegen, hatte mit dieser Anwesenheit in Monte Carlo und mit der ganzen Ägyptenreise ihrer Herrin gehadert. Erstens ging man heutzutage nicht nach Monte Carlo, sondern nach Cannes. Zweitens fuhr man nach Ägypten nicht auf einem für die Anwesenheit zweier Damen gar nicht vorbereiteten Schiff. Drittens aber und viertens und fünftens: man ging 59 nach Ägypten nicht auf ein Schiff, das dieser Cradock kommandierte. Einmal war dieser Cradock kein Brite von Geburt, zweitens war er ein berüchtigter Abenteurer, Spieler und Hasardeur, drittens hatte er, was die alte Violet durch den heute noch im Flottenamt tätigen Vetter Percy ganz genau wußte, in Siam heilige Tempelkatzen mit Baldriantropfen närrisch gemacht. Schließlich aber hatte man schon vor Jahren über ihn und die kleine Mary in London allerlei gemunkelt. Folglich war dieses ganze Abenteuer und die Fahrt auf dem Kreuzer »Persimon« nur ein Vorwand, einen alten Galan wiederzusehen, und folglich war ein Skandal im Anzuge. Mit dieser trüben Erkenntnis hatte sich die Gräfin von ihrem Lager erhoben. Eine halbe Stunde später, während die ältere und nicht mehr übermäßig schlanke Dame sich vergeblich um das Schließen ihrer silbergestickten Abendrobe bemühte, war etwas geschehen, was die schlimmsten Befürchtungen wahr machte.

Hereingewirbelt ins Zimmer kam in der Laune eines eben in die Ferien entlassenen 60 Schulmädchens die Hoheit von Labrador, setzte sich (was mit den Geboten des Anstandes unvereinbar war) auf das noch nicht zurechtgemachte Bett ihrer alten Hofdame, schlug die Beine übereinander, paffte eine ihrer unleidlichen Zigaretten ins Zimmer und erzählte, nachdem die alte Violet die Zofe schleunigst hinausgeschickt hatte, daß sie – die regierende Fürstin-Witwe von Labrador – soeben als Domino maskiert den Karnevalskorso besucht habe und mit dem Kapitän Cradock zusammengetroffen sei.

Daß sie mit ihm ein amüsantes Abenteuer in der Altstadt bestanden habe und von ihm dreimal geküßt worden sei. Zweimal auf den Nacken und einmal auf den Hals – »Kuß auf den Mund« wurde trotz strenger Inquisition geleugnet. An diese Mitteilung hatte sich eine ernste, längere Aussprache beider Damen angeschlossen.

Zu erinnern ist daran, daß die alte Violet vor nun schon zwanzig Jahren die Erziehung ihrer jetzigen Herrin überwacht hatte, daß sie sich unter vier Augen duzten, und daß diese 61 Beziehungen der alten Dame in solcher Aussprache einen durchaus degagierten Ton gestatteten. Ob sie denn wenigstens diesen ungeheuren Verstoß sofort entsprechend geahndet habe, fragte die alte Violet: da hatte die kleine Mary sich geschüttelt vor Lachen und geantwortet, daß er sie ja gar nicht erkannt habe, und daß sie ihn selbstverständlich nach dem Dinner – maskiert natürlich – im Palmensaal des Kasinos treffen werde. Ob sie sich denn nicht ihrer Stellung, ihrer fürstlichen Würde bewußt sei, hatte die empörte alte Dame gefragt: da war die kleine Hoheit in den Harnisch geraten und hatte sogar mit dem Fuß gestampft und sehr energisch erklärt, daß es genug sei, mit achtzehn Jahren an einen abgelebten Greis verheiratet und mit fünfundzwanzig Witwe zu werden und das ganze Jahr über Landesmutter zu spielen.

Daß sie jetzt nicht Staatsoberhaupt, sondern ein schwarzseidener Domino sei, erklärte nachdrücklich die kleine Mary. Und daß auch sie einmal das Recht habe, in Karnevalsstimmung zu sein, erklärte sie ebenfalls. Ob sie 62 übrigens, da Susan nun einmal fort sei, der alten Violet die etwas schwer zugehende Taille zuhaken dürfe, fragte sie und fiel plötzlich der alten Dame um den Hals und versicherte, daß gar nichts . . . aber ganz bestimmt auch gar nichts passieren werde, und daß sie sich eben nur einmal einen einzigen Tag austoben wolle, und daß die »liebe alte Eio« ganz beruhigt sein könne. Als dann aber die »liebe alte Eio« fragte, ob sie denn etwa diesen entsetzlichen Cradock, diesen Flaneur, Hasardeur und Baldrianer, noch liebe, da hatte die kleine Hoheit einen trotzigen Mund gezogen und geschwiegen. Gesprochen wurde von dem »Komplex Cradock« bis auf weiteres nicht mehr. Das Dinner verlief mit »Hoheit« und »liebe Gräfin« ziemlich wortkarg, und dann war man – eine halbe Stunde vor der mit Cradock verabredeten Zeit – ins Kasino gegangen.

Der Karneval aber, der draußen gegen das Kasino brandete, er schickte seine großen und kleinen Wellen bis hierher in die Roulettesäle. Oben in den Räumen des Baccaratklubs hatte man eine Maskenredoute, und als Geishas und 63 Pierretten und silbrige Rokokodamen zwitscherten kleine ätherische Amerikanerinnen durch die Gänge. Im übrigen war es hier bei der Roulette das übliche Bild: ein bekannter Jazzkomponist aus Boston hatte siebenhundertsechzig Dollar gewonnen, ein alter schwedischer Gutsbesitzer mit dem bekannten bombensicheren Spielsystem war nun schon so weit, daß er sich telegraphisch Geld kommen lassen mußte . . . in einem Winkel machte ein Herr aus Basel seiner Gattin erregte Vorwürfe wegen eines Spielverlustes von zwölf Gulden. Sonst gab es noch die üblichen jungen Polen mit edler Schwermut im Antlitz und kleiner Hochstapelei in der Vergangenheit . . . dann einen indischen Talmifürsten, zwei japanische Studenten, einige Sachsen mit heimlicher Netzwäsche hinter dem Smokinghemd. Endlich aber und vor allem ältliche fette Russinnen, die in der Bar zuviel »Ginfizz« getrunken hatten und sich nun zuviel degagiert benahmen. Pause war eben bei der Roulette, und die Croupiers rechneten ab vor dem Schichtwechsel, und das ganze, wirklich 64 etwas spießige Publikum dieses aus der Mode gekommenen Kasinos flutete für eine Stunde hinaus in die Bar, in die warme Nacht, auf die Terrasse und auf den Korso. Es wurde leer im Saal, die beiden Damen hatten sich die Cocktails hinter der Palmengruppe servieren lassen.

Die kleine Mary war aufgestanden und auf die Terrasse gegangen, träumte hinaus in die laue Frühlingsnacht. Unten die Bucht lockte mit Mondlicht und kleinen goldenen Kräuselwellen. Der kleine silberne Kreuzer, der dort unten vor seinen Ankern schwamm, schickte die schöne volle Stimme seiner Sirene über das Wasser, und das kleine Boot, das sich nun loslöste von seinem Leibe, das mochte schon ihn tragen. Ihn, den berüchtigten, schlimmen Cradock. Den Abenteurer Cradock. Den Gottseibeiuns Cradock . . . Ein kühlerer Luftzug kam plötzlich von den Bergen her, fiel auf die nackten Schultern, reizte die noch immer angegriffenen Lungen. Bitterböser Husten kam. Die alte Violet brachte den Umhang und bestand darauf, daß sie wieder in dem heißen Saal unter den Palmen Platz nahm.

65 Sie saß verdrossen vor ihrem Glase, sie schwieg trotzig. So lustig war es gewesen, eine kleine Inkognito-Fürstin auf Ferien, ein unbekannter Domino zu sein. Dann war die alte Violet gekommen mit ihrer Moralpauke und ihrer Schicksalsfrage, ob man diesen Cradock liebe, und seither hatte man eigentlich die ganze Unbefangenheit verloren: an die nutzlos verwehte Jugend mußte sie denken, an diese alberne Ehe mit einem schütteren Lebegreis, an die lächerliche Operette des kleinen Balkanstaates, an das »Palais«, das eigentlich nicht viel mehr als ein umgebauter Pferdestall war. An die schäbigen Livreen ihrer Bedienung, an ihren »Oberstzeremonienmeister« mit den blankgescheuerten Hosen, an ihre alte dicke Violet mit dem permanenten Tröpfchen an der Nasenspitze . . .

Daran mußte sie denken. Schwermut war gekommen. Das Gefühl eines ungenützt verstreichenden Lebens, die allererste Vorahnung vorzeitigen Alterns. Dreiviertel neun war es und mithin noch eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit, als sie draußen in der Bar 66 zwei laute Männerstimmen hörte. Die eine – der tiefe Baß eines wahrscheinlich ältlichen und wohlbeleibten Menschen – war ihr unbekannt. Die zweite mit dem unbekümmerten und etwas jungenhaften Lachen, die gehörte ihm, dem langen Cradock. »Hierher«, flüsterte sie der alten Violet zu und zog sie hinter die grüne Wand der Palmen. »Daß du mir nicht das Spiel verdirbst«, zischte bitterböse die kleine Hoheit und setzte die Maske auf. Als sie sich eben verkrochen hatte in den großen Ledersessel, ging drüben die Tür auf. Mit seinem Schiffsarzt Crofts kam der Kapitän Cradock.

Der Doktor hatte noch immer im Café de Paris über dem »Manchester Guardian« gesessen, hatte sich dann seinem Kapitän etwas unerwünschterweise angeschlossen und war augenblicklich damit beschäftigt, Land und Leute in diesem verfluchten Hafen einer heftigen Kritik zu unterziehen. Die Monegassen, das waren nach Ansicht des Doktor Crofts Neger . . . Neger von einer etwas abweichenden Färbung, aber eben Neger. Das 67 frühlingsfrohe Land ringsum war mit seinen Blumendüften ein Friseurladen, die ganze blütenselige Riviera eine ewige Fruchtsauce, und der Cocktail, der hier serviert wurde, war »amerikanisches Klapperschlangengift«. Der Kellner endlich, der, leise eine Verdikoloratur trällernd, den Cocktail gebracht hatte, das war ein verdammter Operntenor, und die Bewohner der Riviera im besonderen und die von Italien im allgemeinen waren in ihrer Gesamtheit eine »Nation von Heldentenören«. Nach dieser homerischen Schilderung von Land und Leuten fragte der Doktor Crofts, was das eigentlich für ein seidener Domino (und der alte, nicht sehr frauenfreundliche Herr sagte »halbnacktes Biest« statt Domino) gewesen sei, mit dem er heute seinen Kapitän gesehen habe.

Für einen alten Aventurier war der lange Cradock eigentlich ungewöhnlich erregt, als er die Geschichte dieses Nachmittags zu erzählen begann – ging auf und ab mit langen Schritten, trank ziemlich hastig, blieb stehen und trank wieder. Ob Crofts wisse, wie das sei, wenn einen angehenden Vierziger 68 Erinnerungen an allererste Liebesgeschichten befielen, fragte der lange Cradock.

Das wußte der alte dicke Crofts nicht mehr.

»In Port Said«, sagte der lange Cradock und wollte mit seiner Midshipman-Geschichte und der kleinen Araberin Kaina beginnen. Da knurrte der alte Crofts, daß Port Said der unpassendste Ort der Welt sei, und daß alle von dorther kommenden Liebesgeschichten notwendigerweise unpassende Geschichten seien. Nach diesen Vorhalten konnte der Cradock dann endlich mit seiner Beichte beginnen . . .

So also, in ihren Lederstuhl geschmiegt, hörte die kleine Mary die Ereignisse dieses Nachmittags, wie sie sich spiegelten im Gedächtnis ihres alten Galans. Daß ihr Nacken ihn eben doch nur an ein kleines Arabermädchen aus Port Said und an einen allerersten, wenn auch harmlos verlaufenen Kadettenflirt erinnert habe. Daß er sich zunächst einfach in ihren Nacken verliebt habe, und daß es immer eine höchst gefährliche Sache sei, wenn Männer jenseits der allerersten Jugend überfallen würden von den Erinnerungen an allererste, 69 wenn auch harmlos verlaufene Liebesgeschichten . . . Das also bekam die kleine Mary zu hören. Dann kam das Abenteuer in der Rue de la Paix . . . dann die drei Küsse (zwei auf den Nacken und einer auf den Hals) und dann kam das, was sie freilich noch nicht wußte: der Ankauf dieses einzigartigen göttlichen Halsbandes . . .

Angekauft, weil dem Cradock gerade der einzige zu diesem Halsband passende Frauennacken begegnet war.

Angekauft, weil der lange Cradock den Gedanken einfach nicht ertragen hätte, daß dieses Halsband jemals in den Besitz einer anderen Frau, als der gerade von ihm bevorzugten, gekommen wäre.

Angekauft, weil man eben, wenn man wirklich einmal einer ganz schönen Frau begegnete, auch die kavaliermäßigen Konsequenzen tragen mußte.

Das war ja nun ein bodenlos leichtsinniger, ein jungenhafter, ein unerhört ritterlicher, ein echter Cradockstreich – die kleine Hoheit hinter ihren Palmen hätte eben kein Weib 70 sein müssen, wenn in ihr nur ein anderer Impuls als dieser gewesen wäre: die alte Violet hinausschicken, den dicken Doktor zum Teufel schicken, alles Störende fortschicken und alle landesmütterlichen Pflichten vergessen und dem langen Cradock um den Hals fallen . . . in diesem Augenblick geschah jenseits dieser Wintergarten-Botanik etwas, was den Dingen eine ganz andere Wendung gab. –

Ein Diener kam und fragte nach dem Kapitän Cradock und führte hinter sich einen Herrn im Cutaway herein. Der Cutaway kam und sagte, daß er Jarras heiße und im Auftrage der Firma Lebas käme und sowohl dies wie das hier zu überbringen habe. Dann gab er das Päckchen mit dem Schmuck dem Kapitän Cradock, und die Rechnung überreichte er demjenigen, der gerade danach griff. Nämlich dem Doktor Crofts.

Bemerkt muß werden, daß der Doktor Crofts um gute zwanzig Jahre älter und an Bord derjenige war, von dem der Cradock sich ganz gehörig und väterlich den Kopf waschen ließ, wenn es (was ja wirklich 71 vorkam) ein wenig »Holterdipolter« ging in seinem Leben. Im vorliegenden Falle war es mit den beiden so, daß der Kapitän beseligt mit den eingehandelten Perlen spielte und der Doktor sehr wenig beseligt in die Rechnung starrte. »Weißt du, was das Ding kostet?« fragte der Doktor. Daß er das doch unmöglich wissen könne, sagte der Cradock. »Man fragt doch nach dem Preis«, sagte der Doktor. »Man fragt, wenn man einer schönen Frau eine Freude machen kann, niemals nach dem Preis«, sagte der Cradock. Nach dieser Sentenz seines Kapitäns, gegen die sich vorderhand ja nichts machen ließ, sagte der Doktor Crofts zu Herrn Jarras von der Firma Lebas, daß er, ehe der Schmuck bezahlt werde, noch einmal unter vier Augen mit dem Kapitän sprechen müsse. Dann schob er Herrn Jarras zur Tür hinaus, und dann begann zwischen ihm und dem Kapitän ein Gespräch, das an Überraschungen und dramatischen Wendungen nicht gerade arm war. –

»Kassenstand?« knurrte der alte Crofts. »Wieviel hast du bei dir?« Da drehte der 72 Kapitän wortlos die linke Hosentasche um, und es fielen zu Boden neben einigen Gegenständen, die in Herrentaschen sich immer vorfinden und deren Benennung den Geboten der Schicklichkeit widersprechen würde: es fiel also zu Boden die private Barschaft des Kapitäns Cradock.

Elf Pfund, sieben Schilling, sechs Pence. »Zweitausend Pfund, du Windkutscher, kostet der Schmuck«, schrie der Doktor. Da drehte der lange Cradock die andere Hosentasche herum, und da fiel zu Boden die Schiffskasse des Kreuzers »Persimon«.

Zweitausendvierhundert Pfund. Regierungsgelder. Gelder für Mannschaftslöhnung, für dringend benötigte Kohlen. »Damit willst du zahlen?« stöhnte der Doktor. Der Cradock, hingelümmelt mit langausgestreckten Beinen in seinen Stuhl, nickte höchst gleichmütig. »Defraudant!« schrie der Doktor. Der Cradock schwieg. Defraudant war ein allzu bilderreiches Wort, auf das ein Kavalier nicht antwortete. »Deine Ahnen«, stöhnte der Doktor, »werden sich im Grabe herumdrehen!«

73 Da antwortete der Cradock, daß seine Ahnen im Gedanken an ihren Nachfahren schon seit geraumer Zeit mit sechzig Umdrehungen pro Minute um ihre Längsachse rotierten in ihren Gräbern. Als aber der Doktor fragte, wie er denn eigentlich diese Regierungsgelder wieder ersetzen wolle, da machte der Cradock mit dem Kopf eine nicht mißzuverstehende Bewegung nach dem Spieltisch hinüber und sagte nur das eine Wort »Roulette«. Und als der Doktor die Hände rang, was denn eigentlich werden solle, wenn er an dieser Roulette alles verlöre, da sagte der Cradock das, was er in allen kitzlichen Situationen seines Lebens sich gesagt hatte.

Neunzehnhundertneunzehn, als bei dem bewußten Kaffernputsch neunzig brüllende Nigger seine Farm umstellt hatten. Und zwei Jahre später, als er beim Lizard mit gebrochener Großschote vor dem Oststurm ins offene Meer hinausgetrieben worden war . . .

»Ich verliere nie«, sagte der Cradock und gähnte gelangweilt und hob die Gelder auf und versorgte sie in beide Hosentaschen. Die 74 Privatgelder in die linke und die Regierungs- und Kohlengelder in die rechte. Nach diesem schönen männlichen Bekenntnis, an dem alle Überredungskünste des Doktor Crofts scheiterten, trat eine neue Komplikation der Lage ein . . .

Der erste Mann, der diese Bühne betrat, war der Leutnant Williams, und der Leutnant Williams hatte ein eben auf der »Persimon« eingegangenes Telegramm in der Hand, hatte den Kapitän bereits überall gesucht, beteuerte, daß es ein dringendes, ein ganz außerordentlich wichtiges Staatstelegramm sei: der Leutnant Williams wurde im Drange der weiteren Ereignisse übersehen und dann mit harten Worten und allen Protesten zum Trotz dahin beschieden, daß er sich samt seinem Staatstelegramm in die Hölle scheren solle.

Der zweite Mann aber war der Barkeeper, und der Barkeeper meldete, daß draußen der Herr Jarras von der Firma Lebas unmöglich länger warten könne und nötigenfalls das bewußte Paket zurückerbitte und in jedem Fall nun endlich Bescheid oder Geld haben müsse.

75 »Rückgängig machen!« schrie der Doktor Crofts und meinte den Perlenkauf.

»Esel«, sagte sanft der Kapitän Cradock und meinte den Doktor Crofts und schob den Leutnant Williams samt seinem Telegramm zur Seite und ging, um Herrn Jarras zu besänftigen, zur Tür hinaus. Es geschah schon in seiner Abwesenheit, daß hinter der Palmengruppe zwei Damen hervortraten und sich durchaus in diese Angelegenheit mischen wollten. Eine ältliche unmaskierte, die dem ratlos in seinem Sessel verbliebenen Crofts wie ein »ganz angenehmes silbergesticktes altes Krokodil« vorkam. Und dann eine jüngere, die nach Ort, Stunde und Maske niemand anderes sein konnte, als das »halbnackte Biest« des heutigen Nachmittags. Da schnurrte denn das einmal in Gang gekommene Räderwerk weiter.

Sie, die kleine Mary, hatte hinter ihren Palmen natürlich die Entwicklung der Dinge sofort begriffen: das Halsband war für sie gekauft worden, weil ihr Nacken an den eines kleinen Arabermädchens aus Port Said 76 erinnierte. Die Schiffskasse mit den Kohlengeldern sollte geplündert werden, weil das Halsband für die legitimen Mittel eines Kapitäns aus ihrer Kriegsmarine zu teuer war. Und gespielt endlich sollte werden, weil man doch irgendwie das Loch in der Schiffskasse wieder flicken mußte. –

Zuerst hatte sie sich natürlich geärgert. Dann war sie neugierig geworden. Wenn nämlich dieser Cradock gesagt hatte, daß er für eine schöne Frau alles wage, dann mußte man eben sehen, ob es wirklich noch solche Ritter gab in dieser etwas unritterlich gewordenen Welt. Und wenn er gesagt hatte, daß er niemals verlöre, dann lockte eben an seiner Seite das Wagnis. Das Ungewöhnliche und das Abenteuer waren zu der kleinen Mary gekommen nach so und soviel toten Jahren, und da war sie denn aufgetaucht aus ihrem Palmenversteck und hatte die Bühne der Männer betreten.

Das aber, was nun begann auf dieser Bühne, das war ein Spiel, das die Akteure einigermaßen durcheinanderhetzte und für die 77 nächsten vierundzwanzig Stunden wirklich einiges Leben brachte in dieses verstaubte und tote Monte Carlo. Der Kapitän Cradock, wie gesagt, war inzwischen hinausgegangen, um den in der Bar wartenden Herrn Jarras von der Firma Lebas zu beruhigen – aus der Bar hörte man einen Wortwechsel, der Schlüsse auf mancherlei Meinungsdifferenzen zuließ. Der kleine Williams aber hielt noch immer sein Telegramm in der Hand, und der alte Crofts saß als tief gebrochener Mann in seinem Sessel. »Ist Ihr Kapitän immer so feurig?« fragte der Domino. »Bei Seewind sanft wie der Erzbischof von Canterbury«, stöhnte der Doktor Crofts. Und dann, als draußen der Wortwechsel zwischen dem Kapitän und der Firma Lebas zu einem ansehnlichen Fortissimo anschwoll, da sagte er, daß heute leider etwas Seewind sei. Windstärke einhundertvierundzwanzig. Dann nahm er dem armen Williams endlich sein Telegramm aus der Hand und öffnete. Im selben Augenblick trat, ohne die etwas abseits stehenden Damen zu bemerken, in bester Laune der Kapitän 78 Cradock ins Zimmer und erklärte, daß man mit solchen Leuten wie mit diesem Cutaway doch nur ein freundliches Wort zu reden brauche, und das Halsband habe er natürlich sofort bezahlt und . . . Da hielt ihm wortlos der Doktor Crofts das Telegramm hin.

Das Telegramm aber war von derjenigen Behörde, die sich in Labrador etwas stolz »Marineministerium« nannte, und es teilte dem Kapitän der »Persimon« mit, daß morgen, am ersten März, Ihre Hoheit, gegenwärtig von Mailand unterwegs, mit kleinstem Gefolge in Monte Carlo mit dem Nachmittagsexpreß eintreffen und den Kreuzer »Persimon« zur Überfahrt nach Ägypten benutzen werde. Direktester Kurs sei sofort nach Eintreffen auf Alexandria zu nehmen, jedwede besondere Vorbereitung auf allerhöchsten Wunsch zu vermeiden.

Das stand in dem Telegramm. Hinten bei dem verwaisten Spieltisch gab es mit schwarzer Maske und seidenem Domino eine Dame, die den Inhalt des Telegrammes sich ganz gut zusammenreimen konnte und hinter der 79 Maske mühsam das Lachen verhielt. »Die grundgütige Landesmutter kommt«, stöhnte der weiberfeindliche alte Crofts. »Die freudlose Witwe« sagte, unhörbar glücklicherweise für den Domino, der lange Cradock und ballte den Fetzen zusammen und schleuderte ihn auf die Erde. Eine etwas beklommene Stille war im Saal. –

Er rannte auf und ab. Er war wütend. Seit jener Hochzeit in London hatte er eigentlich nur miserable Bilder von ihr gesehen, wußte nicht einmal, ob sie nicht am Ende gar schon verkümmert und ein böser alter Mann in Weiberröcken geworden war. Der Domino aber von heute nachmittag, der war jedenfalls nicht verkümmert und böse und alt, und auf drei Hafentage hatte man ja wohl eigentlich rechnen können, und mindestens drei Spielnächte brauchte er doch wohl auch, um ohne allzu gewagtes Spiel die fehlenden zweitausend Pfund an der Roulette wieder zu verdienen! »Nun wird die grundgütige Landesmutter wohl zu Fuß nach Ägypten pilgern müssen, wenn du ihre Kohlengelder stiehlst«, fauchte 80 in seinem Sessel der alte Crofts. »Weiberwirtschaft«, stöhnte wütend der Cradock und beförderte mit einem Fußtritt das ministerielle Telegramm in die Ecke. Und in diesem Augenblick, als er gerade am Spieltisch vorüberkam, rief sie ihn an. »Kapitän Cradock . . .«

Die beiden abseits stehenden Damen hatte er in der Erregung bislang nicht bemerkt – dazu hatte ihn wohl das Telegramm allzusehr beschäftigt. Daß sie ihn nun unter Nennung seines Namens anrief, das beachtete er im Augenblick nicht – dazu war er viel zu erfreut über das Wiedersehen. »Untröstlich, mich anscheinend verspätet zu haben«, sagte der Cradock und beugte sich (die alte Violet ignorierte er als eine unerwünschte Statistin vollkommen) über ihre Hand. »Unannehmlichkeiten?« fragte teilnahmsvoll der Domino, und man konnte natürlich nicht sehen, wie sie hinter der Maske mit dem Lachen kämpfte bei dieser Frage . . .

Der lange Cradock aber sagte sich, daß es nach diesem Telegramm doch wohl allerlei Notwendiges zu ordnen gab an Bord. Daß er 81 für das Spiel um Kopf und Kragen nur eine einzige Nacht übrig hatte, daß es besser war, wenn man diesen Kopf vorher frei machte von allen Geschäften und Sorgen. Daß ihn leider allerlei dringlichste und unaufschiebbare dienstliche Angelegenheiten für eine knappe Stunde an Bord zurückgerufen hätten, sagte der Cradock zu Madame.

Daß ihm diese dringlichen und unaufschiebbaren Dienstgeschäfte hoffentlich nicht allzuviel Kopfschmerzen machen würden, antwortete Madame.

Ob er sie denn wenigstens ganz bestimmt hier vorfinden würde, fragte der Kapitän.

Daß sie ihn selbstverständlich hier erwarte, sagte Madame und reichte ihm die Hand zum Kuß. Und damit trennten sie sich einstweilen.

Der lange Cradock aber war, als er nach diesem Gespräch das Kasino verließ, völlig wiederhergestellt in seiner Laune.

Dem alten Crofts, der melancholisch über der ersten Flasche Chateau d'Yquem saß, erklärte er, daß er ein unverbesserlicher 82 Hypochonder und Schwarzseher und ein humorloser Talgmops sei.

Dem kleinen Williams, der in der Bar ganz bescheiden seinen »Deap Sea« trank, gaukelte er noch zwischen Tür und Angel mit »alter Junge« und jovialem Schulterschlag als Folge des fürstlichen Besuches an Bord den Sonnenorden von Labrador oder vielleicht gar ein selbständiges Kommando vor.

Sich selbst aber sagte er, daß die Dinge doch schließlich niemals so schlimm abliefen, wie es anfänglich schiene. Daß er bis morgen ja schließlich auch von James Vanderbilt zum Universalerben eingesetzt oder in Mergentheim der Erbonkel James Cradock von seinen fünf Prozent Zucker geholt sein konnte. Daß ihn das Spielglück bisher noch nie verlassen habe, daß bis morgen noch lange zwölf Stunden waren, und daß diese Stunden ein buntes Abenteuer mit einer schönen Frau bedeuteten.

Das alles sagte sich der lange Cradock, als er das Kasino verließ. Er pfiff den Sussexmarsch und drückte dem Bootsführer als 83 Trinkgeld alle seine Silberschillinge in die Hand. Und war als unverwüstliches Glückskind überhaupt in der Laune jenes berühmten Mannes, dem die Götter in der Wiege bescherten, alle Tage Geburtstag zu haben. 84

 


 


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