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Dies irae

Ach Knipperdollinck / Knipperdollinck / wat ein rare dantz hebbe gy gehalten.

Chronik.

Die nun sechzehn Monate währende Belagerung von Münster hat um die Stirn des Feldherrn keinen Ruhmeskranz gewunden. Zweimal rennt er im Sommer 1534 mit einer dem Verteidiger gut und gern drei- bis vierfach überlegenen Macht an gegen Wälle, deren artilleristische Abwehr bei dem notorischen Munitionsmangel der Stadt nicht übermäßig stark gewesen sein kann, und beide Male ist der Erfolg für den Stürmenden schweres Schädelweh. Um die Stadt aber zu zernieren, muß er um Münster sozusagen eine zweite Festung bauen, und auch so braucht er volle zwölf Monate, um eine halbwegs wirksame Blockade zustande zu bringen.

Und wie steht es nun, im sechzehnten Monate dieses Spieles? Trotz aller zwischen Lager und Stadt hin und her pendelnden Überläufer und Zwischenträger muß gerade in diesen letzten Wochen der Nachrichtendienst, da jede der beiden Parteien im Dunkeln tappt, miserabel gewesen sein. Es ist ein seltsames Bild. Wirich von Dhaun, der nun auf dem Wormser Reichstag als Kaiserlicher Feldhauptmann vor Münster in aller Form bestätigt worden ist, weiß nicht, wie schwach die Stadt schon ist, Bockelson seinerseits ahnt nicht, welch gewaltige Kräfte sich gegen ihn zusammengeballt haben. Es ist richtig, daß seit dem Mai die Landsknechte sorglos bis dicht unter die Bastionen plänkeln, es ist aber auch richtig, daß gerade in dieser Zeit ihre Offiziere beschwert sind durch den Gedanken an einen großen Ausfall, den diese rabiaten Täufer nun nach völliger Einäscherung ihrer Stadt angeblich unternehmen wollen. Bockelson erbleicht, als er durch einen Parlamentär vom Wormser Reichstag hört und daß nun die gesamte wirtschaftliche Macht des gesamten Reiches gegen ihn aufgeboten sei. Gerade aber um die gleiche Zeit, zehn Tage vor dem Falle der Stadt, schreibt der uns schon bekanntgewordene und bislang doch recht optimistisch gestimmte Justinian von Holtzhausen, es werde diese ruhmreiche Belagerung wohl noch über den Sommer hinaus andauern, ›woho nicht anderst verretei uns helffe‹. Es wäre ohne diese dann ja auch tatsächlich erfolgte Verräterei nicht abzusehen gewesen, wie lange dieses Ringen, das nach dem gleichen Holtzhausen bislang mit sechstausend Menschenleben bezahlt worden war, noch hätte andauern sollen.

Was nun den Landsknecht mit dem Gangsternamen Hänsgen von der Langestrate angeht, so ist er ein unzuverlässiger Patron und ein Windkutscher, der, im Jahre 1534 von den Bischöflichen zur Stadt übergelaufen, dortselbst königlicher Trabant wurde, nun aber, bei einsetzendem Hunger, den Aufenthalt in der Stadt als ungemütlich empfindet und zum zweiten Male und dieses Mal aus Münster wieder zu den Belagerern desertiert, die natürlich auf ihn keineswegs gut zu sprechen sind.

Das ist Hänsgen von der Langestrate. Was aber Heinrich Gresbeck, unseren biederen Münsterer Tischlermeister Gresbeck, betrifft, so haben wir hier wohl oft genug die treuherzigen Worte gehört, mit denen er nach dem Niederbruch des Bockelsonschen Königreiches die Geschichte dieses seltsamen Thrones beschrieben hat ... wir haben nur eben allerlei aus der Vorgeschichte des Chronisten nachzutragen.

Der Mann, offenbar Hintersasse eines westfälischen Landgeschlechtes, ist anfangs 1534 in Geschäften nach Münster und somit mitten hinein in die ausbrechenden Unruhen gekommen, ist keineswegs mit den vertriebenen Altgläubigen ausgewandert, sondern ist hübsch dageblieben und hat geheiratet und hat sich taufen lassen, um nicht mit der Staatsgewalt in Konflikt zu kommen.

Und schreibt nun, da er für Münster das Ende mit Schrecken kommen sieht, an seinen alten Patrimonialherrn, den er drüben bei den Belagerern weiß, einen Brief, in dem er sehr kleinlaut im voraus um Gnade bittet. Das ist Heinrich Gresbeck. Wendiger, als die monumentalen Worte seiner Chronik vermuten lassen, schreibt er, der zurzeit ja noch königlich Bockelsonscher Wehrmann ist, an ›syne leven jonckere‹, daß er seinen Posten gegenüber dem kleveschen Wachthaus beim Kreuztor habe, daß man ihn aber dort beileibe nicht bei seinem richtigen Namen – denn er wohnte in Münster offensichtlich unter falschem! – anrufen sollte ...

Das schreibt er und bereitet mit diesem wohl schon im April verfaßten Brief den Verrat vor, dem in der Johannisnacht die Stadt endlich zum Opfer fallen sollte. Am 23. Mai laufen fünf Mann, unter ihnen Gresbeck, Hänsgen von der Langestrate und ein Mann namens Sobbe, über, werden von den Schanzen aus trotz der Dunkelheit bemerkt, verlieren zunächst, da ja allen männlichen Überläufern der Tod geschworen ist, unterwegs und mitten im ›Königreich‹ den Mut und trennen sich. Mit einem Gefährten kriecht Hänsgen von der Langestrate geradeaus, Gresbeck will nach dem schon in seinem Brief erwähnten geldrischen Blockhaus, verirrt sich aber und liegt plötzlich im Graben dicht unter den Vorwerken des Bischofs. Seitwärts, wo Hänsgen von der Langestrate auf die Linien des Belagerers gestoßen ist, werden ein paar im Vorgelände weidende Pferde scheu, dort dröhnen schon die Alarmtrommeln. Hier aber in seinem Graben sitzt Gresbeck, sieht dicht über sich ein paar Soldaten, die ihn vorerst noch nicht bemerkt haben, hält sich mäuschenstill und weiß, daß er nicht mehr in die Stadt zurück kann, weiß aber auch, daß der Tod ihm hier, bei ›syn leve jonckere‹, fast ebenso gewiß ist und ›was levendigh un doit‹ ... ist also in einem Zustand, in dem er vor Angst sozusagen nicht leben und nicht sterben kann. Da das aber nicht in alle Ewigkeit so weitergehen kann mit Heinrich Gresbeck, faßt er sich ein Herz, klettert aus seinem Graben und geht auf sein geldrisches Blockhaus zu.

Von der Stadt aus ist er im Frühlicht bemerkt und erkannt worden, und von den Wällen aus, genau so wie sie im Vorjahr dem Überläufer Ramert getan, rufen ihm die münsterischen Posten zu, er solle sofort zurückkommen – hüben tun die Landsknechte, die ihn nun auch sehen, das gleiche. Gresbeck zieht es natürlich vor, seinen Marsch zu den Landsknechten fortzusetzen, erlebt es zitternd, daß man eine Büchse auf ihn richtet und ihn zunächst durch und durch schießen will, und ist dabei ›so bestorven / dat hei half doit was unde wiste nicht / wat hei sagen solde‹. Inzwischen erzählt er den Leuten, er sei selbst, einmal ein Landsknecht gewesen, und wirklich schenkt man ihm, nachdem man ihn zunächst bis aufs Hemd ausgeplündert hat, das Leben, ›da er ja noch jung sei‹. Spediert ihn über Graben und Dornverhau des Forts und bringt ihn zum Kommandanten.

Der fährt ihn zunächst ziemlich bärbeißig an, läßt aber dem Verhungerten Essen und Trinken vorsetzen, und während die Leute belustigt zusehen, stillt er seinen Wolfshunger und bittet dann für seine abhanden gekommenen Kameraden, die zur Stunde ja noch irgendwo im ›Königreich‹ stecken müssen. Als freilich der in diesem Lager übel verschriene Name ›Hänsgen von der Langestrate‹ fällt, droht man, man werde das ›Hänsgen‹, sollte man es erwischen, stante pede in Stücke hauen, sucht aber den alten routinierten Überläufer vergeblich, weil der inzwischen sich durch die Linien geschlichen hat und erst später in Hamm wieder auftaucht. Die übrigen Leute, die man erwischt, läßt man ebenso wie Gresbeck am Leben.

Inzwischen kommen zwei höhere Offiziere, die scheinbar von dem Eintreffen eines Überläufers gehört haben, vor das Blockhaus geritten, verhören den Mann ausgiebig, lassen ihn vor das Oberkommando und den Bischof bringen, wo Graf Robert Manderscheid, der vielleicht mit Gresbecks Patrimonialherrn identisch ist, ein gut Wort für ihn einlegt. Und bei dem nun folgenden Verhör packt der Meister gründlich aus: eingehend schildert er den Zustand der Befestigungen und den mangelhaften Wachtdienst, stellt die Einnahme der Stadt als eine Kleinigkeit dar und ist so, wie er stolz feststellt, ›der aller irst gewesen / der den hern den anschlagh heft gegeven / die stat Monster tho winnen‹.

Während seiner Vernehmung hat es im ›Königreich‹ ein Gefecht mit ausfallenden Täufern gegeben, er wird mit den Gefangenen, die man dieses Mal ausnahmsweise lebend angenommen hat, nach Wolbeck gebracht, wo man ihn zunächst in ziemlich strenger Haft hält und wo er zur Orientierung der Offiziere aus Erde ein vollständiges Modell der Befestigungen herstellt und nochmals erläutert. Einmal wird er nachts vor die Stadt geholt, muß in Gegenwart mehrerer höherer Offiziere sich an die städtischen Vorwerke heranschleichen, über den Graben schwimmen und probeweise, während vom andern Ufer die Herren zuschauen, den Wall erklettern ...

Was für einen Überläufer sicherlich keine angenehme Aufgabe war, was aber bei der seit dem Frühling notorisch schlechten Besetzung des Walles anstandslos gelingt, ohne daß drüben ein Posten Lärm schlägt oder gar, was fraglos für Meister Gresbeck sehr dunkle Folgen gehabt hätte, den Überläufer an den Kragen faßt und in die Stadt zurückholt. Als er dann wieder auf der bischöflichen Seite des Grabens ist, sagt er den Herren, man hätte nun ja wohl, wäre man an dieser Stelle in entsprechender Kriegsstärke versammelt gewesen, die Stadt ohne weiteres nehmen können. Was die Herren denn auch einsehen müssen und was Gresbecks Schicksal entscheidet: er hatte bei seinen Vernehmungen über die tatsächliche Schwäche der Stadt Dinge erzählt, die den bischöflichen Offizieren nachgerade wie Räubergeschichten geklungen haben mögen, und er wäre als zweifelhafter Aufschneider fraglos geköpft worden, wenn das eben geschilderte Experiment anders ausgegangen wäre.

Nun aber ist es geglückt, und fortan wird er nicht mehr geschlossen verwahrt, sondern genießt nun allerhand Freiheiten und wird nach Bevergern gebracht, wo er zu seiner Überraschung das schon tot geglaubte Hänsgen von der Langestrate wiederfindet.

Der scheint, wenn die über sein Schicksal vorliegenden Nachrichten nicht täuschen, zunächst nach Hamm entwischt zu sein Alle fünf Überläufer kamen mit dem Leben davon. Die günstigen Resultate der Vernehmung scheinen auch den übrigen das Leben gerettet zu haben., hat dort dem Hauptmann Meinhard seinerseits die üble Lage der Stadt geschildert und ist dann vermutlich, genau wie Gresbeck, zunächst ›auf Probe‹ begnadigt worden: Du behältst das Leben, wenn das, was du sagst, sich als wahr erweist, und du verlierst den Kopf, wenn du, was sich ja bald klären wird, uns angelogen hast. So ungefähr. Und später, nach dem Falle von Münster, wird Hänsgen von der Langestrate über fünfzig Emdener Gulden quittieren, die er für seine Dienste inzwischen erhalten hat.

In jedem Falle tagt hier in Bevergern in Gegenwart der beiden Überläufer ein höchst wichtiger Kriegsrat, in dem man eifrig über eine Überrumpelung der Stadt diskutiert. Denn trotz all dieser Nachrichten sind die Herren unsicher. Gerüchte über eine Absetzung des Königs, eingeschleppt durch eine Überläuferin, zirkulieren im Lager und werden dementiert, da es sich herausstellt, daß der König nicht dem Thron entsagt, sondern nur Bernhard Krechting zu seinem Leutnant ernannt habe ... Krechting, der nach Gresbeck beim König ›im korve saß‹, also enfant gâté war. Das alles, zusammen mit den noch immer umgehenden Ausfallsgerüchten und dem aus der Stadt nun des öfteren herüberschallenden Sturmläuten macht die Herren nervös. Jedem von ihnen liegt noch immer schwer die Erinnerung an die beiden ersten mißglückten Stürme auf der Seele, der klevische Kommissar vor allem und selbst Wirich von Dhaun widerraten heftig einer übereilten Unternehmung, und nicht zuletzt wird immer wieder auf die Möglichkeit hingewiesen, daß die beiden Überläufer und ganz besonders das im bischöflichen Lager ja nicht eben gut angeschriebene ›Hänsgen von der Langestrate‹ den Belagerern eine Falle stellen könnten.

Gleichwohl wird schließlich der Sturm für die Johannisnacht endgültig festgesetzt. Es werden sofort Bauern für die Vorarbeiten aufgeboten, in Goerde werden nach den Anweisungen der beiden Überläufer Sturmleitern und zwei transportable Grabenbrücken hergestellt, ein strenger Lagerbefehl verbietet, in schmerzlicher Erinnerung an die beim vorjährigen Pfingststurm gesammelten trüben Erfahrungen, allen Marketendern den Ausschank von Alkohol in jedweder Form, ›up dat die lantzknecht sick nicht solden druncken drincken‹.

Noch einmal fordert am 22. Juni Wirich von Dhaun die Übergabe der Stadt, der dieses Mal freilich nur bei Auslieferung der Rädelsführer Straffreiheit zugesichert wird – noch einmal gibt Münster durch Rothmann einen abschlägigen Bescheid, bei dem es wieder einmal ohne Beleidigung des Kaisers, des Reiches und der Fürsten nicht abgeht. Am Vorabend der Sturmnacht aber bricht ein gewaltiges Donnerwetter mit Hagelböen und Sturm vom Himmel, übertönt alle Geräusche der Vorbereitungen, hinterläßt eine pechschwarze und neblige Nacht und begünstigt auf diese Weise das, was nun vor den Bastionen von Kreuz- und Judefelder Tor sich anspinnt. Drüben auf den Wällen sind die spärlichen Täufer, die noch zur Besetzung der Wachen zur Verfügung stehen, durchnäßt und frierend und verhungert in ihre Unterstände gekrochen. ›Erde‹ heißt in dieser Nacht die Losung auf der täuferischen, ›Maria‹ heißt sie auf der Seite der Belagerer.

Ruhmeskränze flicht auch diese letzte Nacht den Belagerern nicht – sie belastet zumindest die mittlere Führung, wo nicht den Feldhauptmann selbst mit dem Vorwurf unfaßbarer Liederlichkeit. Zuerst geht alles nach Wunsch. Vor dem Kreuztor durchschwimmt um elf Uhr nachts Gresbeck den Graben, zieht hinter sich an einem Seil eine der beiden von den Bauern herbeigeschafften Brücken und befestigt sie drüben am Wall. Während er selbst im Wasser stehen bleibt In der Bewertung der zwei Überläufer scheint es zwischen den Offizieren Unstimmigkeiten gegeben zu haben. Die einen mißtrauten Gresbeck, die anderen dem Landsknecht mehr, und jedenfalls erklärt im vorliegenden Falle Gresbeck kleinlaut, man habe ihn nicht in die Stadt lassen wollen., rückt eine von Hänsgen von der Langestrate geführte Vorhut von 35 Offizieren über die Brücke, und es folgt unter Wilkin Steding das Gros des Stoßtrupps in einer Stärke von etwa vierhundert Mann. Die Leitern sind bald angelegt, die Erdwälle der vor dem eigentlichen Tor angelegten Vorwerke bald erstiegen, ohne daß nennenswerter Widerstand geleistet oder Lärm geschlagen worden wäre: schlafend werden die spärlichen Posten, die es hier noch gibt, angetroffen und allesamt niedergemacht bis auf den Gerber Schulten, der sein Leben durch Verrat der täuferischen Losung ›Erde‹ erkauft.

Es geschieht hier nun das schier Unglaubliche, daß Wilkin Steding weitermarschiert, ohne das Tor, seinen einzigen Rückzugsweg, besetzt zu haben, es geschieht, daß, wie wir später noch sehen werden, hinter ihm die endlich wachgewordenen Täufer der umliegenden Gassen das Tor und damit hinter Wilkin Steding die Falle schließen. Der marschiert, wahrscheinlich um beim Plündern der Erste zu sein, ohne jede rückwärtige Sicherung hinein in das nächtliche Labyrinth der Gassen, findet erst auf dem Domplatz einigen Widerstand.

Denn nun endlich ist die Stadt erwacht und ist wahrlich ein aufgescheuchtes Hornissennest. Da jeder weiß, daß es nun ums liebe Leben geht, entstehen in Windeseile Barrikaden, die die Zugänge zum Markt und zum Lambertiviertel sperren, die Margaretenkapelle verwandelt sich in ein festes Fort für wütende Ausfälle, und schließlich fegt ein verzweifelter Gegenangriff die Eindringlinge vom Domplatz fort.

Das ist schon um ein Uhr früh bei währender tiefer Dunkelheit. Und inzwischen, wie schon erwähnt, haben im Rücken Wilkin Stedings die Täufer das Kreuztor zugeschlagen und besetzt, und auf dem Walle stehen ihre rasenden fanatisierten Weiber und rufen ins bischöfliche Lager hinüber, man möge nur ›die großen Hansen‹ wieder holen ... ja, und so elend werde es jedem ergehen, der Gottes Stadt antaste ...

Das hört Wirich von Dhaun, der draußen zwischen Kreuz- und Judefelder Tor mit der Hauptmacht hält und auch seinerseits in dieser Nacht keine Lorbeeren pflückt: ließ schon Wilkin Steding in seinem Rücken die Verbindung abreißen, so durfte es der Höchstkommandierende in keinem Falle geschehen lassen, daß vor seiner Nase die Vorhut in Nacht und Nebel verschwand. Nun steht er hier, hört das Geschrei der Weiber, hört aus der Ferne den Gefechtslärm und merkt, wie seine Leute unruhig werden. Die reden wieder einmal von Verrat und von einer Wilkin Steding gestellten Falle und bezichtigen den mit der Vorhut einmarschierten Hänsgen von der Langestrate des Verrates, und auch Gresbeck, der nun frierend aus dem Wasser gestiegen ist und von einem mitleidigen Offizier einen Mantel zum Schutz gegen die kalte Nacht erhalten hat, wird von den aufgeregten Leuten beinahe erstochen. In der Stadt wird Wilkin Steding vom Domplatz ins Südviertel der Stadt abgedrängt, gerät in der heute ›Die Bux‹ genannten engen Gasse vollends ins Gedränge, kann sich nur retten, indem er höchst unrühmlich durch Hintertüren und über Höfe auf Schleichwegen die Pferdegasse erreicht.

Ein klares Bild über seine Kämpfe geben die Berichte nicht, es mag denn auch in der Dunkelheit, wie bei jedem Nachtgefecht, in all den verschlungenen Dachsröhren der Altstadt ein heilloses Durcheinander gegeben haben. Tatsache ist, daß er auf dem Domplatz sich von neuem formiert, und daß ihm jetzt Bockelson, der hier in den Berichten erstmalig auftaucht, Waffenstillstand auf Gnade und Ungnade anbietet. Was bei Bockelson ›auf Gnade und Ungnade‹ heißt, weiß Wilkin Steding und weigert sich, und es gibt hier im Verhandeln ein Hin und Her, das einige Zeit andauert. In jedem Falle aber ist es nun zum dritten Male wieder so weit, daß an dem Widerstand dieser fanatischen Täufer alle Waffen der Berufssoldaten zerbrechen, und daß wieder einmal die Welt lachen wird über diese Belagerer, die, unterstützt vom ganzen Reich, seit sechzehn Monaten an dieser, Münster genannten Nuß knacken und sich einen Zahn nach dem anderen ausbrechen ...

Es ist wieder soweit, und man wagt kaum daran zu denken, was wohl geschehen wäre, hätten in dieser Nacht noch einmal die Waffen Zions triumphiert – ob es dann nicht doch zur endgültigen Auflösung des Belagerungsheeres und zum fürchterlichen und alles versengenden niederdeutschen Generalaufstand gekommen wäre. Es wäre wohl so gekommen, und daß es trotzdem nicht so kam, liegt nicht an jenem ›Zufall‹ genannten Ding, das es in der Geschichte für tiefer blickende Augen gar nicht gibt: es liegt daran, daß im kranken Münster das Fieber abgeklungen und die Stunde reif ist und daß hinfort alle wie unausdenkliche Glücksfälle aussehenden Verkettungen und Fügungen nur dem Einbringen jener blutigen Ernte dienen, zu der die Geschichte nun sich anschickt.

Wie der Fahnenträger Johann von Twickel in diesem heillosen Straßengefecht zum Wall beim Judefelder Tor kommt, bleibt dunkel – er mag bei dieser heillosen Menschenjagd in den dunklen Gassen dorthin versprengt gewesen und nun aufs Geratewohl nach dem Walle zu gelaufen sein. In jedem Falle steht im ersten Morgengrauen der Mann auf den Wallzinnen, schwenkt seine Fahne und schreit zur draußen stehenden Hauptmacht diese Worte hinüber: ›Waldeck, Waldeck, Monster is unse / tredet an / leve lantzknechte.‹

Sein Geschrei bringt die ›lieben Landsknechte‹ endlich in Bewegung. Wirich von Dhaun rückt, was er ebensogut schon vor ein paar Stunden hätte tun können, ein, macht alles nieder, was sich ihm in den Weg stellt und befreit Steding aus seiner prekären Lage. Beide erzwingen sie sich dann die Zugänge zum Markt und zur Lambertiparochie, die ja seit den fernen Februartagen des vergangenen Jahres die Brutstätte des fanatischsten Täufertums gewesen ist. Und hier, wo dieses Täufertum geboren wurde, soll es auch sterben.

Wir wissen nicht viel von seiner Agonie, wir wissen nicht einmal, ob der König, der doch eben noch auf dem Domplatz verhandelt hatte, hier noch kämpfte. Wir wissen nur, daß es im Zwielicht eine abscheuliche Schlächterei wurde und daß hier, täuscht nicht alles, den lieben Rothmann sein Geschick ereilte. Ein sehr gnädiges Geschick, nebenbei gesagt, da Ordre gegeben war, ihn lebend zu fangen, und da nach Dorps an Luther gegebenen Bericht ›der anfenger dieses spils und aller buben könig / Rothmann / auch solch reigen solt gedantzt haben‹ ... den gleichen Folterreigen also, den hinterher Bockelson, Knipperdolling und Krechting haben tanzen müssen. Wie Rothmann zu Tode gekommen ist, wird nie ganz geklärt werden. Gewiß ist, daß man ihn hier zuletzt gesehen hat, und eine dunkle Mär besagt, daß er hier einen furchtbaren Schwerthieb in die Schulter und zwei Speerstiche in die Brust erhalten habe. Wir werden annehmen müssen, daß es sich so verhält, wenn man auch noch nach zehn Tagen unter den Leichenhaufen vergeblich nach ihm sucht. Das Schicksal hat ihn hier aus dem Spiel verschwinden lassen, und es ist ja schließlich gleichgültig, auf welche Weise es ihn traf. Exit Rothmannus, defunctus et exstinctus est, und nur eine dunkle Mär bleibt übrig von ihm. Die Mär nämlich, er habe um viele Jahre den Niederbruch Münsters überlebt, habe alt und gebrochen und als Gast eines friesischen Edelmannes seine Tage geendet, sei aber vorher noch in Rostock und in Lübeck und wohl auch in Wismar gesehen worden. Ein Steckbrief, der auf uns überkommen ist und noch 1537 von Münster aus hinter ihm hergesandt wird, bleibt jedenfalls das letzte greifbare Dokument seines Erdenwallens. ›Is von personen ein drungen – gedrungener – verkant – vierschrötiger – man / under ogen wit / bleck / brun / starck har kort / dricht intgemein eine spaniske kappen unbosettet.‹ So heißt es in diesem Steckbrief. Und Lübeck, an das er sich wendet, verspricht auch, sein Bestes zu tun, verhaftet aber leider versehentlich statt des verschollenen Pastors nur den Arnheimer Arzt Heinrich Bentinck. Und muß ihn natürlich wieder laufen lassen und schickt dafür eine gesalzene Rechnung wegen gehabter Kosten und Auslagen. Ja, das ist das Ende des lieben Rothmann.

Noch aber ist es zur Stunde nicht so weit, daß behäbige und wiederum gut katholische und patrizische Stadtväter vom gotischen Rathaus von Münster Steckbriefe hinter den Propheten und Prädikanten erlassen, noch sieht dieses Rathaus nieder auf ein erbarmungsloses Schlachten, das nun – ein paar hundert Die Angaben über die Stärke der Täufer bei diesem letzten Kampf schwanken und bewegen sich zwischen zweihundert und achthundert Mann. verhungerte Täufer gegen ein paar tausend mit Pumpernickel, Rindfleisch und süßem dunklen Bier wohlgefüllte Berufssoldaten – auf dem Markt anhebt. Auf dem gleichen sauberen und strahlenden Markt, über den vor dem Kriege mit Tubaton und Paukenkrach blinkende wilhelminische Kürassiere ritten, und über den nun gelblackierte Trambahnen und die schwerbepackten Lastzüge der Ruhr rumpeln. Hier in dieser unheiligen Nacht ist es ein Schinden und Stechen mit viel Geschrei und Blutdampf gewesen. Die Bischöflichen jedenfalls gedenken der vielen vor Münster gebliebenen Kameraden, sie ärgern sich auch wohl, wie alle Berufssoldaten, über diese wildgewordenen Bürger und geben keinen Pardon, und es hilft den Täufern keineswegs, daß sie nun wütend schreien, sie seien mehr wie Schlachtvieh, sie seien keine Türken und Scythen, und also wüte man doch nicht in einer Heiligen Stadt, und in jedem Falle verbäten sie sich solch abscheuliche Metzelei.

Es hilft ihnen alles nichts. Zum Schluß, als sie sich in die hier zur Zitadelle zusammengefahrene und grimmig bewehrte Wagenburg zurückziehen, triumphieren sie über den Gegner ein letztes Mal. Ein letztes Mal verhandelt der Belagerer, der das Blutopfer eines ganz gewiß schweren Sturmes scheut, mit dem hier kommandierenden Krechting ... er verhandelt und schließt ab gegen freien Abzug der Überlebenden und vermehrt die zahllosen Vertragsbrüche, die es im Laufe der letzten anderthalb Jahre in Münster hüben und drüben gegeben hat, um einen allerletzten ...

Er läßt es geschehen, daß die nach Hause hinkenden, die zerschundenen und todesmüden Täufer auf der Straße überfallen, aus ihren Wohnungen geholt und von den wütenden Landsknechten fast bis auf den allerletzten Mann abgeschlachtet werden. Es gibt kein Halten und keine Subordination, und in der Dämmerung dieses Sonnenwendtages sehen wir sie nun Mann um Mann verschwinden, die Träger der altbekannten und berühmten oder auch berüchtigten Täufernamen. Beim Ägidienkloster erwischt man den ehemaligen Bürgermeister Tilbeck, der in jener unheilvollen Februarnacht die Stadt endgültig den Täufern in die Hände spielte – man sticht ihn nieder und wirft ihn dann ›wie einen verreckten Esel‹ – so nennt Kerssenbroch diese Bestattung – in den nächsten Graben. Da ist der Herzog Heinrich Xantus, der auf dem Markte abgeschlachtet wird, der Hofmetzger Boentrup, der vergebens um Gnade bittet und dicht beim Pranger niedergehauen wird. Da gibt sich einer, der mit seinem weißen Haar und dem bartlosen schmalen Gesicht wohl wie ein geistlicher Herr aussieht, vergeblich für einen in der Stadt verbliebenen Prälaten aus und wird erkannt und erschlagen, da wird der im Februar 1534 erwählte Bürgermeister Kibbenbrock niedergestochen, und da zerhackt man auch jenen ›schrecklich langen Cyklopen‹ Tile Bussenschute, den Münster einst, dem Bischof zum Hohn, vor anderthalb Jahren als Delegierten zum Wolbecker Landtag schickte und dem Se. Gnaden damals als einem unwürdigen Abgeordneten den Rücken drehte. Er wird auf der kleinen Aabrücke, nicht weit vom Domplatz, hingeschlachtet und ins Wasser geworfen, es werden die zahllosen anderen, die Herzöge, die kleinen Propheten, die Diakonen und die ›Herren über die fette und die über die magere Kost‹ aus den Dachböden des Rathauses geholt und auf die Straße geworfen. ›Was sich verborgen‹, sagt ein altes Flugblatt, ›ward mit fleyss gesucht / herfür gerückt und getriben / zu stund on einich verhör zerstochen und zerhackt. Da was keyn mitleyden / kein menschlich barmherzigkeyt / sonder uber zehen tag weret solch suchen / mörden und würgen.‹ Die Wächter des Lambertiturmes aber fliegen brevi manu von der Wachtstube herab, in die bereitgehaltenen Spieße der Landsknechte.

Es gibt kein Verstecken und kein Verstellen, man kennt die verhungerten Täufer an ihren bleigrauen Gesichtern und schlägt sie tot, wo man sie antrifft. Da liegen die Kadaver denn viele Tage lang in ganzen Klumpen auf den Straßen und verpesten arg die Luft, ›und do wurden die buren nunmehr in de stat gelaten / die doten corporen umb des groten stanckes willen to begraven. De buren togen de doden nacket uth unde spolierten desulvigen / groven grote kulen up den kerckhoven unde worpen de doten so nacket in de kulen, den einen up den anderen / gelick dat beeste werden gewesen.‹ Das geschieht also auf dem Domplatz, auf dem für so stille Anwohner seit anderthalb Jahren der Platz eigentlich ja wohl ein wenig enge geworden war.

Dies also ist das große Schlachten, das diese Nacht beschließt, und wir werden noch sehen, daß es mit dem aufgestiegenen neuen Tag noch keineswegs zu Ende war und daß es noch gut und gern eine volle Woche andauerte. Verschont hat man nur die Weiber, soweit sie sich von der Täuferei losgesagt haben. Wobei zu bemerken ist, daß bei weitem nicht alle Damen von Münster durch den Tod der Männer sich bekehren ließen, und daß manche von ihnen – wie das eine der schon erwähnten Fräulein von der Recke – unbelehrbar blieben und als heimatlose Sektierer aus der Stadt gelaufen und draußen im Elend verschollen sind. Sonst aber, wie gesagt, ist es nicht eine Eroberung, sondern ein hemmungsloses Vernichten, ein Ausrotten mit Stumpf und Stiel, und es berührt beinahe wohltätig, daß man in den Berichten hie und da auf eine abseitige und vom Blut der Nacht nicht bespritzte Episode stoßen kann.

Da also ist ein Landsknecht, und er ist einmal hierselbst an einer der Lateinschulen Kastellan gewesen und kennt mithin die Stadt. Der Mann schleicht sich, beutelüstern wie er ist, aus der Kampflinie zum königlichen Palast, dringt dort bei noch währender Nacht ein, findet aber keine rotgrauen Lakaien und keine Trabanten und auch keinen weißdamastenen König mehr, findet auch keinen wohlbesetzten Harem ...

Sondern findet hier nur einen kränklich aussehenden zwölfjährigen Knaben, der durch die verödeten Zimmer irrt und dem Landsknecht sofort den Tresor mit dem königlichen Schmuck zeigen muß ...

Und da liegt sie denn, die berühmte dreifache Goldkrone und die ebenso berühmte Kette mit der goldenen, von zwei Schwertern durchbohrten Weltkugel, und da liegt bei zahllosem Geschmeide, bei Ringen und Anhängern und Schaumünzen und Medaillons das Staatssiegel ...

Und ›Gods kracht‹ ist nun nicht mehr ›min macht‹, sondern Gottes Kraft hat, wofern sie sich bei ihm je aufgehalten hat, den verschollenen Sohn der Unterwelt verlassen, und es ist kein König mehr da ...

Kein König, kein Statthalter, keine Königin Divara und kein Großsiegelbewahrer, und der Landsknecht sackt nach Herzenslust Ringe und Medaillons und Schaumünzen ein und nimmt von der Krone, die er schließlich in seinen Taschen nicht gut unterbringen kann, insofern Abschied, als er mit seinen derben Stiefelabsätzen fleißig darauf herumtrampelt und sie ganz und gar verdirbt. Worauf er denn mit seinen vollgestopften Diebsäcken sich wieder auf den Markt begibt und ruhig weiterficht.

Das ereignet sich in dieser Nacht auf einer der Nebenbühnen, und Gott weiß, was sich auf zahllosen anderen ereignete, während auf der großen Bühne, auf dem alten gotischen Markte, große blutige Oper und Vorübung zur Bartholomäusnacht gespielt wurden.

Nun aber ist es hell geworden und unter Gottes Sonne ein neuer blanker Tag, und er sieht nach bitteren anderthalb Jahren, in denen wir Belagerer vom ganzen Reich ausgelacht wurden, endlich den Sieg. Den Sieg, der uns so lange vorenthalten blieb.

Nun aber ist er da und nun ist es wohl Zeit, den Kriegsherrn herbeizurufen und ihm die gedemütigte Stadt zu zeigen. Und in den ersten Sonnenstrahlen sattelt ein Reiter den schnellsten erreichbaren Klepper, setzt über Blutlachen und Leichenberge und zerbrochenen Hausrat und fortgeworfene Waffen, fliegt hinaus zum Bischof. ›Halokanti tai Attanai‹ schrieben, als sie Athen im Peloponnesischen Krieg genommen hatten, die Spartaner in ihrem plumpen Unteroffiziergriechisch auf den Depeschenriemen, und hier mag's ein ähnlich lakonisches Telegramm gewesen sein, das von den Blutorgien dem milden Bischof noch nichts verriet ...

Waldeck, Waldeck, Münster ist nun dein!

Und nach vier Tagen, als man wenigstens in den Hauptstraßen die Leichenberge ein wenig fortgeräumt hatte, rumpelte über das vergraste Pflaster von Münster, umgeben von Landsknechten und berittenen schwarzsamtenen Kavalieren, eine Kutsche, hielt auf dem Marktplatz, wo Offiziere mit den Siegestrophäen, mit der zertretenen Königskrone, den goldenen Sporen und dem goldbeschlagenen Reichsschwert von Zion warteten.

Der Mann, dem alle diese funkelnden Dinge übergeben wurden, war Franz von Waldeck, Bischof von Münster. Endlicher Sieger über eine wahnsinnig gewordene Stadt teuflischer Häresien.


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