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Prologus

Das Kapitel, das hier umgeblättert wird, dürfte in des deutschen Volkes wunderlicher Geschichte als das wunderlichste, das schaurigste und zugleich das unbekannteste dastehen, obwohl es durch fast zwei Jahre die Welt in Atem hielt, eine ganz beträchtliche Stadt des alten Reiches samt einem seiner Kreise in ein Narrenhaus verwandelte und für jene alte Welt von Kaiser und Reichsständen beinahe den gleichen Brandherd bedeutete wie neun Jahre zuvor der Bauernkrieg. Wenn aber eine ganze Stadt sich für volle achtzehn Monate absperrt gegen die Außenwelt, wenn sie, nicht nur unter dem Geschrei des Mobs, sondern unter lebhafter Zustimmung auch von Handwerkern, Großbürgern, Patriziern und sogar von diesem und jenem in die Stadt gelaufenen Edelmann einen landfremden Schneidergesellen von anrüchiger Vergangenheit zum König von Zion wählt, wenn endlich dieser König, wiederum unter Zustimmung von hoch und gering, alle gewohnten Begriffe auf den Kopf stellt, alle bürgerlichen Bindungen des Mittelalters zerreißt ... wenn Edelfrauen sich sozusagen in seinen Harem drängen und wenn endlich dieses alles hinter einem Schleier von Blutdampf und hemmungsloser Gier und mißverstandener alttestamentarischer Legende sich vollzieht: dann ist es doch am Ende wohl am Platze, von einem Massenwahn, von einer rätselhaften, auf ein ganzes Gemeinwesen gefallenen Psychose zu sprechen.

Wir haben, zumal in der Geschichte des deutschen Mittelalters, nicht wenig Beispiele für solche die Masse erfassenden Psychosen, und wir sind heute auf diese Weise wohl objektiv genug, die Gesetze dieser unheimlichen Erscheinungen so kühl zu registrieren, wie wir es in der klinischen Schilderung einer körperlichen Krankheit tun. Wir wissen heute auch, daß sie immer in den großen Schicksalskehren und in den großen Wendungen der Weltgeschichte erscheinen, wenn vor den Augen eines arbeitsamen und durchaus nüchternen Volkes alte Fundamente versinken, ohne daß schon die neuen Grundlagen für ein fleißiges und formvolles Leben sichtbar wären. Und wir wissen, daß in solchen Zeiten unterirdische Gewölbe mit ungeahnten Inhalten sich öffnen – Gewölbe, unter denen Gottes Kinder zuvor ahnungslos ihren mühevollen und freudekargen Tag gelebt haben. Und wir wollen uns auch dazu bekennen, daß es unter jeder Kultur diese unbekannten Katakomben gibt ... ja, daß es sie unter jedem des Sinnierens und der großen Gedanken noch fähigen Volke geben muß. Denn wie von Männern, so gilt auch von ganzen Völkern der Satz, daß sie in den Krisen ihrer Geschichte gar nicht wissen, wohin sie gehen.

Wir aber neigen noch immer dazu, die Renaissance, die doch dem gotischen Menschen sozusagen über Nacht den Boden seines gottgeweihten Lebens unter den Füßen fortriß – wir neigen, sage ich, noch immer dazu, diese ungeheuerliche Weltenwende als eine simple Geschmacksänderung zu betrachten, bei der man mit der Form der Fenster- und Türbogen ein wenig die Hausfassade änderte und fortan andere Kleider trug. Wir denken viel zu sehr an diese Symptome, und wir denken viel zu wenig an die Ursachen, und wir denken am allerwenigsten an das, was hinter jenen geänderten Hausfassaden dem nordischen Menschen fortan an seiner Seele geschah und wie es kam, daß er, der bis dahin sein Geld in der Lade verschlossen hatte, fortan den Begriff des zinsenden Kapitals als geschichtsbestimmenden Faktor anerkannte und warum das Betreten Amerikas, das den Wikingern doch nur ein interessantes Abenteuer bedeutet hatte, nach Christoph Columbus alle gewohnten Begriffe umwarf und das Steuerruder auf einen gänzlich veränderten Kurs legte.

Vergegenwärtigen wir uns diese Tatsachen und werden wir uns darüber klar, wie um das Jahr fünfzehnhundert tausend uralte und geheiligte Vorstellungen zerbrachen, werden wir uns wirklich einmal klar darüber, daß das Verschwinden der alten Lebens- und Gesellschaftsformen den Einzelmenschen zunächst der Formlosigkeit und einem heillosen Individualismus überantwortete, so verstehen wir erst in ihren wirklichen Ursachen alle die Vulkanausbrüche jener Zeit, ob sie nun Bauernkrieg oder schmalkaldische Wirren oder Bildersturm oder münsterisches Zion heißen mögen. Die unsichtbare Hand der Geschichtslenkung rührte die Gewässer der Seelen um so furchtbarer um, je tiefer diese Gewässer waren, und wenn wir uns fragen, warum denn dieser Eingriff erfolgte und woher denn eigentlich diese furchtbare Wandlung des gotischen homo religiosus in die heute nun auch schon überlebt und ranzig anmutende Sachlichkeit des damals neuen Menschentyps kam, so stehen wir vor einem jener ewigen Rätsel, die die Geschichte dem unverbildeten Menschen aufgibt und deren Existenz nur die Canaille im Geist unter dem Hinweis auf alle ihre Dreigroschenerklärungen zu leugnen wagt. Das, was damals in Münster geschah, war ja nur das abgelegene Teilfeld eines kosmischen Bebens, und nicht viel anders wurde es wohl von manchen Menschen empfunden, denen die Vorgänge in Münster selbst ein tiefer Greuel gewesen sein mögen. Der brave Schreinermeister Gresbeck, der die Vorgänge aus nächster Nähe sah, urteilt höchst schlicht: »Und alles, das sie taten / das mußte alles recht sein / es war alles so Gottes Wille.« Und als das münsterische Fieber abgeklungen ist und dieser König Bockelson wieder als armseliger, von der Staatsgewalt gefaßter Schneidergeselle im Gefängnis sitzt, da berichtet der bischöfliche Kaplan Syburg, der ihn in der Haft besucht, »daß die Reue des unglücklichen Menschen außerordentlich gewesen sei und daß er nach eigenem Bekenntnis sich zehnfachen Sühnetod gewünscht habe ...«

Werden wir also mit der gleichen Ehrfurcht vor dem Geschichtswillen die Registrierung dieser Fieberphasen versuchen, so bleibt vorher doch die Frage zu beantworten, wie es gerade in diesem solide bürgerlichen und auf den ersten Blick beinahe unsinnlich zu nennenden niederdeutschen Winkel zu diesem tollen Taumel, zu diesem Orgasmus der Jahre 1534 und 1535 kommen konnte. Die Frage aber deckt sich durchaus mit der Frage nach den dämonischen Möglichkeiten der mittelalterlichen Seele, nach jenen Möglichkeiten, die in den Wasserspeiern der Dome und in Syrlins und Grünewalds mummeligen Spukgestalten Wirklichkeit wurden ... ja, noch unter den tönenden Säulen Johann Sebastian Bachs werdet ihr jenen Teufeln begegnen, die schon deswegen sein müssen, weil Gott ist. Schlagen, »auf daß das Gebot erfüllet werde«, auf den gotischen Martertafeln die Geißler auf den Erlöser beinahe wie Gottes Beamte und jedenfalls so ein, daß sie dem Betrachter fast ebenso leid tun wie der Gegeißelte selbst ... war der abendländische Geist damals solcher Weite fähig, so sollen wir uns nicht wundern, daß er auf seinen schweifenden Wanderungen auch den Dämonen, den Spottgeburten seiner Unterwelt, den Plagegeistern seiner Urrohheit und aller Todsünden begegnete.

Und abermals, wie in der Geschichtsbetrachtung so oft, steht in diesem Aspekte der Mensch vor der Tatsache, daß Heilige und Teufel auf engem Bezirk nebeneinander wohnen und daß tief in den Staub die Kreatur fallen muß, will sie das Antlitz des Ewigen schauen.

 

Vielleicht wie kein anderer Stamm des deutschen Sprachgebietes neigt der von der Natur kärglich bedachte obersächsische zur sozialen Gewitterbildung, vielleicht wie kein anderer der alemannische zum Spintisieren über religiöse Themen und zum zornigen und rechthaberischen Diskutieren der Schrift.

Der erstgenannte hatte schon 1525 mit Thomas Münzers Webergesellen in den Krieg der süddeutschen Bauernhaufen die den badischen und württembergischen und fränkischen Scharen unendlich fremde kommunistische Note gebracht; der zweite, tief in sich versunken, landet, wie noch heute aus der reichen Speisekarte schwäbischer Sekten ersichtlich, gern bei verwegenen religiösen Grübeleien, um deretwillen er dann, um ja nur ein neues Reich Gottes zu gründen, willig Hab und Gut von sich wirft und schließlich mit dem Gesetz in harten Konflikt kommt. In den Zittauer Zirkeln wurzeln die sozialen, im Schwabenland und in der stammverwandten Schweiz die eigentlich ideologischen Bestandteile der Wiedertäuferei.

Der Gedanke aber, es habe nicht das unvernünftige Kind, sondern eben der bewußte Erwachsene das Sakrament des Wassers zu empfangen, ist in dem ganzen Ideenwust dieser ersten sächsischen und schwäbischen Täufergemeinden noch das harmloseste – weit explosiver wirkt es, daß sie sofort ins Häretische, vielfach ins Gewalttätige, fast immer aber ins Manische sich auswachsen. Schließe dich ab von der Umwelt, kleine Gemeinde der Heiligen, lebe besitzlos wie die ersten Christen ... lebe so, und du wirst, da die Wiederkehr des Herrn ja sowieso unmittelbar bevorsteht, sehr bald in deiner Mitte die Berufenen und Propheten finden ... ja, du wirst sehen, daß die Unscheinbarsten deiner Mitglieder der Gnade teilhaftig werden, Gottes Wundergesichte zu sehen und seine Stimme mit ihren irdischen Ohren zu hören ...

Der letzte Satz aber, die Verheißung von Gesichten und Stimmen als unmittelbaren Kundgebungen des göttlichen Willens, ist vielleicht der allergefährlichste, er erlaubte später, auf der Höhe der geistigen Erkrankung, nachgerade jedem Spitzbuben, sich auf die unmittelbar gehörte Stimme Gottes und eben geschaute Zeichen zu berufen, die ihm dann die Erfüllung von verzweifelt unheiligen Wünschen zusicherten. Das ziemlich irdische Paradies der Vielweiberei, das wir später in Münster verwirklicht finden, hat sich der »König« von Münster jedenfalls mit dieser Technik aufgebaut.

Noch aber, um 1530, ist das alles ja noch weltenweit entfernt von den späteren Orgien Münsters – noch treibt es überall in deutschen Landen aus seltsamen Wurzeln: wie denn, macht es sich, von den Papisten zu schweigen, dieser Luther nicht allzu leicht mit seiner nur auf den Glauben sich berufenden Erlösung durch Jesus Christus, streckt er sich damit nicht etwa auf ein bequemes Lotterbette, und ist es nicht am Ende Zeit, sich all der guten Werke zu erinnern, durch die der Mensch, aus Erde gemacht, sich seines Vaters Gnade erst zu verdienen hat? Dunkle unterirdische Gänge führen von dieser Lehre der guten Werke hinüber in den Bezirk des alten Testaments, sie münden im weiteren Bezirk der altjüdischen Legende und im Sittenkodex der Synagoge und führen später in Münster geradeaus in die phantastische Welt des ›Reiches Sion‹. So keimt es in Sachsen, so in der Schweiz, in Schwaben und sogar in Salzburg und München. Noch denkt niemand an eine politische Auswirkung, noch trägt ein sanfter und versonnener Mann, der Kürschner Melchior Hoffmann, diesen Ideenschatz durch Südwestdeutschland, durch das Elsaß, durch Schweden und Ostfries- und sogar durch Livland, hat von Monat zu Monat mehr Einfluß auf die allenthalben sich bildenden Gemeinden, korrespondiert gar mit diesem und jenem unter den Reichsfürsten, verlegt in seinen Träumen und Visionen den Sitz des neuen Jerusalems nach Straßburg, von wo aus, nach dem Wort der Apokalypse, einhundertvierundvierzigtausend Apostel mit ihm ausziehen werden, um allenthalben diese neue Lehre zu verkünden.

Den Einfluß auf die äußere Entwicklung der Dinge verliert dieser sanfte Mann, als er 1533 in Straßburg eingesperrt wird. Wohlgemerkt nur auf die äußere, da es ja allenthalben sich regt und da wir um 1532 schon getrost von einer breiten, über ganz Westdeutschland rollenden Welle der Massenhysterie reden können. Will man aber von einem unmittelbaren ›Nachfolger‹ Melchior Hoffmanns sprechen, so mag man wohl an jenen finsteren und gewalttätigen Haarlemer Bäcker Jan Matthys denken, der, wie wir sehen werden, auf die Münsterer Ereignisse einen unmittelbaren und entscheidenden Einfluß genommen hat: eine unheimliche Erscheinung, persönlich vielleicht unanfechtbar und jedenfalls unbelastet von all den Zweideutigkeiten, wie sie den ja ebenfalls aus Holland nach Münster importierten Bockelson umspielen. Aber eben ein gewalttätiger Mann und im Gegensatz zu Hoffmann ein Verfechter brutaler Expansion und bluttriefender Prophetokratie, wie wir sie ja in Münster sehr bald antreffen werden.

Münster aber ist damals, was man ihm heute ganz gewiß nicht mehr anmerkt, fast völlig protestantisch. Es ist fast völlig der festen Hand der alten Kirche entglitten, und seine Klöster und die in der Stadt wohnenden Vertreter des westfälischen Adels sind nebst einigen Großbürgern oder, wie man in Münster sagt, ›Erbmännern‹, die letzten Nachhuten des Katholizismus. Der münsterische Protestantismus aber ist beinahe von Anfang an von ganz besonderer Art – er will nichts wissen von all den Kompromissen Luthers, er ist höchst streitbar und beinahe häretisch, und daß es mit ihm so steht, ist nicht zuletzt dem Manne zuzuschreiben, der damals sozusagen der Modepastor der Stadt ist und Bernhard Rothmann heißt. Das Wort ›Modepastor‹ aber hallt mit allen seinen Nebenlauten wider in dem Urteil eines theologischen Zeitgenossen. ›Es hat sich der liebe Rothmann immer wie das ketzlein schmücken und schön machen wollen, gab sich als ein engel des lichts vor dem gemeinen Pöffel.‹ Und von Melanchthon kommt über ihn noch eine andere und höchst bezeichnende Kunde. Danach hat der ›liebe Rothmann‹ viel im Hause des aus Leipzig nach Münster verzogenen Syndikus Wiggers verkehrt, dortselbst zu den Anbetern der schöngeistigen, leichtlebigen und sozusagen als die Aspasia ihres Kreises wirkenden Frau des Hauses gehört, mit ihr ein Verhältnis angeknüpft und sie nach dem Tode des Mannes geheiratet. Scheinbar war er eben, wie ja auch sein hoher Frauenkonsum in der späteren Periode der Vielweiberei beweist, ein ›homme à femmes‹, ein Mann, der schon wegen seines pastoralen Geltungsbedürfnisses das ständige Echo der Weiber brauchte.

Es ist vielleicht eben dieses ›Geltungsbedürfnis‹ und dieses Verlangen nach Originalität um jeden Preis, die ihn auf seinen Weg verweisen. Frühzeitig verwirft auch er die Kindertaufe, frühzeitig erlaubt er sich seltsame Abänderungen des Abendmahlsritus. »Er brach«, berichtet von ihm ein Zeitgenosse, »semmel in ein große Schüssel, gos wein darauf, und nachdem er die worte des Herrn vom nachtmahl gesprochen, hieß er die des sacraments begehrten, zugreifen und essen, davon ist er ›Stutenbernd‹ genannt worden, denn semmel heißt auf ihre Sprach ›stuten‹«.

Der Mann mit diesem seltsamen und beinahe anstößig und doppelsinnig klingenden Spitznamen hat schon im August 1533 in öffentlicher Disputation unter allgemeinem Aufsehen seine Ansichten verteidigt, er hatte damals schon viel Anhänger auf den Gassen, und er ist von vornherein der Führer der gegen den feudalen Bischof Franz von Waldeck gerichteten städtischen Opposition, er eifert gewaltig gegen die beiden auf Luthers Rat vom Landgrafen Philipp von Hessen nach Münster geschickten Pfarrer Fabricius und Lening. Können sie denn auch nur Münsterisch reden, diese fremden Herren? Sie können es nicht, sie sind »Zugereiste«, und die fortgelaufenen Nonnen aus den alten Klöstern schelten, daß man beim Abendmahl ›nun einen hessischen Gott zu essen bekomme‹. Denn die Frauen, und die der Großbürger an der Spitze, gehören schon jetzt – weibliche Snobs gab es auch schon damals – zu Rothmanns glühendsten Verehrern, und später wird man die Matadore des ›Neuen Zion von Münster‹ auf der Folter fragen, ob er, der später spurlos verschwindet, am Ende zur Behexung der Weiber sich eines Zaubertrankes bedient habe ...

Das aber hat ›der liebe Rothmann‹ fraglos nicht getan, er hat es nicht nötig gehabt, da ja auch ohne allen Zauber hier in Münster ein unterirdisches Feuer knisterte und jeder Schürer zumal den Weibern willkommen war. Als der Bischof Franz von Waldeck gegen den schönen Pastor und die unbotmäßige Stadt einschreiten will, unternimmt Münster schon in der Weihnachtsnacht 1532 gegen den Wallfahrtsort Telgte, wo es den geistlichen Herrn eben vermutet, eine Strafexpedition, erwischt dort freilich nur alle die feudalen Kapitelherren des Bischofs und zwingt ihn, gute Miene zu dem bösen Spiel seiner Stadt zu machen und alle Pfarrkirchen der Stadt Rothmann und seinen Schülern zu überlassen.

Bis das allzu rasche Niederreißen der alten katholischen Weltmauern sich rächt und über Nacht der allzu hastig errichtete Bau auch des Luthertums wankt. Münster ist frühzeitig überschwemmt mit täuferischen, aus Holland und dem Klevischen eingewanderten Prädikanten, die, ausgestattet mit so seltsamen Namen wie Staprade und Vinne und Roll und Klopris, zunächst den lieben Rothmann in Arbeit nehmen und taufen und so sich geistig schon eigentlich der ganzen Stadt bemächtigen. Noch ist das Patriziat und der Verwaltungsapparat der immer unruhiger werdenden Stadt dem eitlen Pastor und seinem Wirken abhold, und da ja wohl auch etwas Eifersucht auf die allzu rothmannbegeisterten Damen sich eingemischt haben mag, so einigen sich die beiden ›konservativen‹ (und, man möchte hier beinahe sagen ›bürgerlichen‹) Konfessionen, Katholiken und Lutheraner, zu gemeinsamem Handeln und setzen bei den Bürgermeistern eine strenge Anordnung durch, in der Rothmann die Kanzel verboten wird und die fremden täuferischen Prädikanten ausgewiesen werden. Es ist nur eben längst zu spät und das Feuer nicht mehr zu löschen.

Denn die Herren denken leider gar nicht daran, das Predigtverbot und den Ausweisbefehl zu respektieren ... der Lieblingspastor der münsterischen Damen predigt deswegen unentwegt weiter, und auch die Prädikanten, die man durch das eine Tor hinausgeführt hat, kommen unter dem Gejohl des Pöbels zum andern wieder herein. Fanatisierte Weiber verjagen die einheimischen und erst recht die hessischen Prediger, Gesindel belästigt Bürgermeister und Ratsmannen, und inzwischen bläst, da die rechte Stunde gekommen scheint, holländischer Wind in die Glut ...

In den ersten Januartagen nämlich erscheinen auf Geheiß des Propheten Matthys zwei Wandersmänner, die Willem de Cuyper und Barthel Boeckebinder heißen, nehmen Wohnung bei unserem glaubenseifrigen und angesehenen Mitbürger, der Knipperdolling heißt und ein Gewandschneider und Tuchhändler ist ...

Verkünden in des Propheten Namen, daß ›die Verheißung nahe sei‹, taufen außer den in Münster anwesenden Prädikanten auch den Pastor Rothmann, verschwinden schon am dritten Tage, schicken aber sofort zwei Ersatzmänner. Der eine heißt Gert tom Kloster und wird noch öfter genannt werden in der Chronik dieses tollen münsterischen Jahres ...

Der andere aber wird in dieser nun anhebenden Blocksbergorgie von Münster der ureigentliche Hexenmeister ... er wird Reformator, Prophet, Staatsoberhaupt und Haremsbesitzer in einer Person sein; Er stammt aus Leyden, er heißt Johann und ist seines Zeichens Schneider, er wird nach seinem Vater, der Bockel hieß, brevi manu Bockelson genannt und wird unter diesem Namen und als späterer König des münsterischen Zion weiterleben in der Geschichte.

Wer war eigentlich dieser Mann, der später durch mehr denn ein Jahr die deutsche Welt in Atem hielt? Seine Mutter ist die Tochter eines Kleinhäuslers ... Kötter nennt man das ja wohl in Westfalen ... die Mutter ist nach Holland gewandert, hat ihren Sohn unehelich von dem Grevenhagener Schulzen Bockel empfangen, hat ihn auf der Wanderschaft und sozusagen im Straßengraben geboren, hat den Kindesvater erst nach der Geburt des Sohnes geheiratet.

Dieser Sohn aber, eben jener Johann, erlernt das Schneiderhandwerk, kommt wandernd nach England, Portugal, Flandern und Lübeck, landet schließlich in Leyden, heiratet als Zwanzigjähriger die erheblich ältere Witwe eines Ewerführers, wird der Schneiderei müde und eröffnet in Leyden eine Kneipe, die sich von Anfang an nicht des allerbesten Rufes erfreut.

Als Kneipenwirt macht er nebenbei Gedichte und Fastnachtsspiele, hat den Ehrgeiz, in die damals in den Provinzen blühende ›Kammer der Rhetoriker‹, einen Literatenklub, aufgenommen zu werden, erreicht auch dieses Ziel, gilt mit seinen Schauspielen, die nach dem Urteil des freilich etwas bigotten Kerssenbroch ›manchmal scherzhaft, meist unanständig und selten tugendhaft‹ sind, als Wundertier, betreibt außerdem, neben der Schneiderei und der Schankwirtschaft, ein wenig das ehrsame Gewerbe der Kuppelei ...

Zumindest dilettiert er darin. ›In seiner Kneipe‹, schreibt Kerssenbroch, der als Gymnasiast die ersten Tage der Wiedertäuferzeit in Münster teilweise in nächster Nähe sah, ›stellten sich Jünglinge und junge Mädchen ein, tranken Tag und Nacht, schwelgten Tag und Nacht, hurten und spielten, machten Musik auf Geigen und anderen Instrumenten und vergeudeten ihr Vermögen.‹ Matthys hat ihn ziemlich früh kennengelernt, schickt ihn erstmalig schon vor 1533 nach Münster, wo der Kneipenwirt, Literat, Schneidermeister und Kuppler sich für ›die dortselbst am Werk befindlichen ausgezeichneten Prediger interessiert‹, bei dem Bürger Ramers Wohnung nimmt, aber sehr bald seine Zelte abbricht. Aus Osnabrück, wo er dann auftaucht, wird er bereits wegen ›Wiedertäuferei‹ ausgewiesen, in Schöppingen, wo er im Hause des Gografen Heinrich Krechting wohnt, wird er in der Nacht ›durch Eingebung des Heiligen Geistes‹ an das Bett einer kranken Magd gerufen, die er – denn auch als Arzt dilettiert der ehemalige Schneider – mit seinen Heilmitteln und vor allem durch Spenden der Taufe gründlich kuriert.

Im Herbst 1533 taucht er in Koesfeld und für kurze Zeit zum zweiten Male in Münster auf, kehrt nach Leyden zu Matthys zurück, empfängt, obwohl er sie doch schon selbst gespendet hat, eigentümlicherweise erst jetzt die Taufe, reist mit Gert tom Kloster taufend durch die Provinzen, landet nach einem letzten kurzen Leydener Aufenthalt im Januar 1533 letztmalig in Münster, um die Stadt vollends in ein Narrenhaus zu verwandeln und endlich dortselbst sein ja etwas bewegtes Leben zu beschließen.

Eindrucksvoll aber ist es, die zeitgenössischen Porträts der beiden Männer zu betrachten, die die Regisseure dieser großen, wenn ja auch leider etwas blutigen Oper werden sollten. Daß Bockelson damals schon – er stand noch in den Zwanzigern! – wie ein Fünfziger aussieht, mag nicht nur an der Barttracht, sondern wohl auch an dieser Zeit liegen, da ja um Fünfzehnhundert mit den damals einsetzenden Freßorgien die überschlanken Gestalten Schongauers verschwinden und die deutsche Menschheit sich zu jenen Schmerbäuchen bläht, wie wir sie aus Kranachs Fürstenporträts kennen.

Wichtiger aber ist der physiognomische Unterschied der beiden Männer. Bei Knipperdolling, dem alteingesessenen und angesehenen Tuchhändler, kann sich weder das Cholerische noch die hochmütige Verbissenheit des Sektierers verbergen – immerhin: hier ist wenigstens alles fest, scharf und, wenn man will, ehrlich verschroben ...

Bockelson aber? Das sind die verschwommenen und versulzten Züge des im Chausseegraben geborenen Bastards, des Kneipen- und Hurenwirts, der auch als Literat dilettieren konnte, des abortiv verlaufenen Schneiders, der bei seiner Zunft wahrscheinlich für einen großen Dichter, im Klub der Rhetoriker aber vermutlich für einen geschickten Gewandschneider gehalten wurde. Am Hals die Kette und am ganzen Leibe dieses Geschmeide, mit dem der Minderwertige so gern die tiefen Wunden seines Selbstbewußtseins verdeckt, über der ganzen Erscheinung aber jene Unseligkeit, die aus der Charakterschwäche so leicht ins Laster und ins Verbrechen gleitet: die Stigmata des in übler Stunde und in üblem Bette Gezeugten, der aus einem Taugenichtsdasein so leicht in die Kloake, aus dem Milieu des Dreckigen aber ins Lasterhafte und aus dem Lasterhaften endlich ins Verbrecherische und Blutdürstige wechselt. Auch Peter der Große köpfte, ›weil die Hände nichts zu tun hatten‹, eigenhändig seine Strelitzen, auch die Borgias vergifteten Freunde und schliefen bei ihren Töchtern und Schwestern, und beide bleiben doch, wie Gott sie nun einmal geschaffen, mindestens prachtvolle Ungetüme, einer höheren Gnade gewärtig, weil sie aus einem Stück waren. Hier aber hatte die höhere Hand eine mißtönende Walze ins Spiel gelegt. Auch Bockelson köpft, wie wir sehen werden, eigenhändig seine Opfer, ohne daß wir wie bei Peter den schaurigen Überschwang der Kräfte geltend machen können ... auch er verwandelt eine an sich solide und vielleicht gar ein wenig unsinnliche Stadt für achtzehn Monate in ein Lupanar, aber den möchte ich sehen, der an diesem Manne etwas von der Unabänderlichkeit des sechsten Alexander oder gar von der Tragik Don Juans fände ...

Wer hier kratzt, wird zunächst nur auf eine dicke Schicht von Hysterie stoßen, wer tiefer schabt, stößt gar auf eine armselige und im Grunde unbedeutende Kreatur. Denn die Geschichte, die doch auf die Dauer immer nach unabänderlichen Gesetzen arbeitet, erlaubt sich wohl manchmal den grausamen Scherz, den Jämmerling, den Schwätzer und Hysteriker für kurze Zeit auf ihre Podeste zu heben, das Nichts für kurze Zeit zum Mittelpunkt der großen Dinge, den Pickelhäring zum wattierten Condottiere, den Gerber Kleon in der Vorstellung des Pöbels zum zweiten Perikles, den Gracchus Baboeuf in der gleichen Vorstellung zum Gracchus Cornelius zu machen ...

Dies aber immer nur für eine kurze Galgenfrist ... dies alles nur, um den Polichinel in Kürze um so grausamer zu entlarven. Um den betrogenen Betrüger unter dem Gelächter der Welt in die Gosse zu tunken, um zum Schluß einen zerfetzten und mit glühenden Zangen gezwickten ›roi dessou‹ in einem Eisenkäfig an die Spitze des Münsterer Lambertiturmes zu hängen.

Ein Häufchen Nichts also, geladen mit Hysterie, und füglich könnte man mich fragen, weswegen ich auf dieses Buch seinen Namen schreibe.

Dies aber ist ja auch nicht die Geschichte eines armseligen Tscheka-Königs – es ist die Geschichte eines dämonischen deutschen Rausches, eine Episode, bei der aus den geheimen Gewölben dieser zweitsehenden fälischen Seele alle die Teufel, die Albe, die Satanasse entwichen, die man bis dahin nur auf fromme gotische Tafeln zu bannen wagte.

Der Regisseur war, trotz aller goldenen Ketten und Fingerringe, nur ein armer Hanswurst, das Fastnachtsspiel aber, das ward deswegen doch gespielt von einer um so vollblütigeren Komparserie. Und über einem der vielen Trauerspiele der sterbenden gotischen Welt hebe sich der Vorhang.


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