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Incipit tragoedia

Der Ausbruch des münsterischen Feuers fällt, was ja wohl kein Zufall gewesen sein dürfte, ziemlich genau zusammen mit dem Eintreffen der beiden holländischen Propheten. Anfangs Januar 1534 durchlaufen die täuferischen Prädikanten Klopriss, Stralen, Roll und Staprade die Gassen, schreien Ach und Wehe über das gleißende und reiche Münster im allgemeinen und über die Geschmeideträger im besonderen, wenden sich dabei vor allem an die schmuckbehangenen Frauen der Ratsherren und ›Erbmänner‹ und erreichen es endlich, daß die eleganten Damen ihre Juwelen in Rothmanns Hause, wo sie angeblich zum Unterhalt bedürftiger Prediger bereitgehalten werden sollen, deponieren.

Was leider auf die herbe Kritik der zugehörigen Ehemänner stößt. Die nämlich wittern hier frühzeitig noch ganz anderen Unrat und bringen für das Treiben der geistlichen Herren das erwartete Verständnis nicht auf. Auf die vom Opfergang heimkehrenden Damen warten sie mit Ochsenziemern und Stöcken, und der Ratsherr Wördemann ›befestigte‹, wie Kerssenbroch berichtet, ›sein Eheweib, das sich bei dieser Gelegenheit hatte taufen lassen, mit dem Stock dermaßen im Glauben, daß sie kaum kriechen, geschweige denn gehn konnte‹.

Daß die mißtrauischen und empörten Ehemänner bei dieser Gelegenheit auch gleich den Herren Prädikanten selbst eine Tracht Prügel in Aussicht stellen, hilft blutwenig, da die Weiber nun einmal Feuer gefangen haben und selbst im feudalen Überwasserkloster die jüngeren Nonnen zu desertieren beginnen. Wovon ein zeitgenössisches Poem ein ziemlich anschauliches Bild gibt ...

›Ethliche sind ut ehren orden gebleven
Un sind uth ehren kloister gedreven
Velle waren van fleschliker begerde dull
Und weren derhalven des uprorerischen handels vull.
Se weren von groiter unkuischheit sehr verbaset
Darum hebben se uith ehren kloister nach unkuischen kerls geraset.‹

Was die Äbtissin Ida von Merfeld veranlaßt, sich in einem ratlosen Brief an den Bischof zu wenden, der ihr seinerseits anbefiehlt, die Fortgelaufenen, damit nicht noch die Treugebliebenen angesteckt würden, auf keinen Fall wieder aufzunehmen.

Franz von Waldeck, der Bischof, rafft sich endlich zu energischem Handeln auf. Am 28. Januar erläßt er ein Edikt, in dem er auf die Täufer Pech und Schwefel regnen läßt, allen ihren Münsterischen Beschützern die bürgerlichen Sicherheiten aufkündigt und mit weiteren Repressalien droht. Als Antwort verlegt Rothmann, um die Anwesenheit von Spionen auszuschalten, die Gottesdienste in die Privathäuser frommer Brüder, in die man nur auf ein verabredetes Zeichen Eintritt erhält. Auch in der Öffentlichkeit erkennen sie sich nun gegenseitig an einer kleinen kupfernen Brosche, die die Buchstaben DWWF trägt: ›Das Wort ward Fleisch‹, im übrigen sind sie in der aufbegehrenden Stadt eigentlich gar nicht mehr auf Heimlichkeit und illegales Leben angewiesen: auf der Straße wird der Mob, der sich inzwischen bewaffnet hat, so angriffslustig, daß die den alten Bekenntnissen treu Gebliebenen ihre Häuser in Verteidigungszustand versetzen und eine Art Selbstschutz bilden. Am dreizehnten Januar sind Bockelson und Gert tom Kloster in Münster eingetroffen.

Unter ihrem Vorsitz hat in Knipperdollings Haus sofort nach dem Erscheinen des bischöflichen Ediktes eine höchst geheime Sitzung stattgefunden, bei der allen Ernstes die frommen Prädikanten, was den ›Altgläubigen‹ natürlich nicht ganz verborgen bleibt, eine gegen Katholiken und Protestanten zu inszenierende Bartholomäusnacht vorschlagen. Daß unter diesen Umständen die ›Altgläubigen‹ beizeiten Gegenmaßnahmen vorbereiten, erscheint selbstverständlich: schon jetzt beginnen sie, mindestens mit Wissen des Bürgermeisters Judefeldt, Waffen in das auf der anderen Seite des Aa-Flusses gelegene Überwasserkloster zu schaffen, und schon jetzt dürften sie den Bischof um Intervention gebeten haben.

Mit der Bartholomäusnacht von Münster aber ist es vorerst sowieso nichts, die beiden Münsterer Sendboten verlangen zur Bearbeitung der breiten Massen noch Frist und erklären, ›noch sei die Zeit nicht gekommen, Gottes Tempel zu säubern und die eigenen Hände im Blute der Gottlosen zu beflecken‹. Bemerkenswert ist, daß die Versammlung, zu der man bewaffnet gekommen ist und die man erst im Morgengrauen wieder verläßt, die beiden von vornherein nicht nur als die Sendboten des Propheten Matthys, sondern direkt als Sendboten Gottes behandelt.

Der Rat, der inzwischen erneut und wiederum vergeblich die Entfernung Rothmanns aus der Stadt versucht hat, wittert wohl den Willen zu blutiger Gewalttat, tut aber nichts weiter als das, was in solcher Lage noch jede schwächliche Regierung getan hat: er unterhandelt, redet von ›friedlich und freundlich nebeneinander leben‹ und läßt seinerseits ein entsprechendes Edikt anschlagen. Die Rebellen reißen hohnlachend das Edikt ab, kriechen immer häufiger und immer in Wehr und Waffen aus ihren Schlupfwinkeln ans Tageslicht und setzen es durch, daß die Stadt zu dem vom Bischof auf den zweiten Februar nach Wolbeck einberufenen Landtag neben dem Bürgermeister Judefeldt den täuferischen oder mit den Täufern doch kokettierenden Syndikus Wyck, außerdem Heinrich Redeker, der in der Telgter Überfallnacht dem bischöflichen Kavalier Melchior von Büren fünfhundert Goldgulden stahl ... endlich aber Tile Bussenschute, einen Büchsenmeister und ›fürchterlich langen Cyklopen‹, wie Kerssenbroch ihn nennt, abordnet. Der Bischof empfindet diese Kommission als Herausforderung und dreht ihr den Rücken und ›dar ys de landtag mede sletten‹ heißt es treuherzig in einem zeitgenössischen Bericht.

Inzwischen ist unserem Rothmann leider ein Malheur zugestoßen: um Ida von Merfeld auch noch die letzten Nonnen abspenstig zu machen, hat er im Überwasserkloster gepredigt, hat die jungen Damen, was ihnen gar nicht so fern liegt, an ihre Pflicht, das Menschengeschlecht fortzupflanzen, erinnert, ist dann aber zu einer noch wirksameren Dialektik übergegangen und hat für die kommende Mitternacht den Einsturz des Klosterturmes prophezeit.

Man soll nicht, wenn man seiner Sache nicht sehr sicher ist, den Einsturz festgefügter Türme prophezeien, und Rothmann fühlt wohl selbst, daß er sich hier vergaloppiert hat. Die jüngeren Damen waren – nach Kerssenbroch – zwar ›mehr erfreut als erschreckt‹, sie sahen, wie ringsum die alte Welt versank und sahen wohl bei den anzüglichen Redensarten des ›lieben Rothmann‹ eine neue bunt und verlockend sich auftun. Sie laufen unter Mitnahme ihrer Siebensachen davon und verschwinden damit in dem großen Sudkessel, zu dem Münster nun für anderthalb Jahre wird. Ida von Merfeld und die Damen von Linteloen und von Langen sind die einzigen, die bleiben.

Da es nun dem Überwasserturm nicht im mindesten einfällt, Rothmann zuliebe einzustürzen, und da Rothmanns Ausrede, das Unheil sei ja nun wohl durch die Bekehrung der Nonnen abgewendet, doch allzu wenig Eindruck macht, so retten Roll, Knipperdolling und auch Bockelson das Ansehen des täuferischen Propagandaapparates, indem sie ›in doller gestalt‹ auf die Straße stürmen und dort hysterisch zu brüllen beginnen ...

›Oh vader! Bettert jew! Doit bote!‹

Bessert euch, tut Buße, der Tag des Herrn bricht an, der Untergang der Stadt ist nahe! Wenige bringen den Mut auf, zu lachen, die meisten sind dem münsterischen Irrenhause schon so verfallen, daß sie nun auch ihrerseits sich zur Erde werfen und beten und aufspringen und weinend sich umarmen. Ein Schneider, dessen Tochter bereits einen ähnlichen Anfall hysterischer Verzückung produziert hat, sieht, das Haupt emporhebend, ›Gott mit der Siegesfahne in den Wolken thronen und den Gottlosen drohen‹ und die blutrünstige und wahrscheinlich von dem brutalen Matthys ausgegebene Ankündigung, ›daß Gott nun bald seine Tenne kehren wolle‹, fehlt keineswegs in dieser visionären Entleerung des Schneiders. Der Mann, völlig außer Rand und Band, springt auf den Bordsteinen herum, klatscht in die Hände, macht mit den Armen Flugbewegungen, fällt, da es mit dem Fliegen trotz aller Begeisterung nicht recht geht, zu Boden, liegt in Kreuzesform im Straßenkot. Die Gymnasiasten, die mit Kerssenbroch das alles mit ansehen, lachen, die Orgie aber dauert deswegen doch an. In diesen Nächten, die dem eigentlichen Ausbruch des Feuers vorausgehen, laufen Entflammte beiderlei Geschlechts durch die Straßen, verkünden den bevorstehenden Einsturz des Himmels, fallen unversehens in Unrathaufen, sehen aber trotzdem ›Myriaden von Engeln‹ und schreien, bis der heiser gewordene Kehlkopf den Dienst versagt.

Münster ist über Nacht verrückt geworden, und da es sich nicht gut leben mag in einer verrückt gewordenen Stadt, denken in diesen Tagen schon die bei leidlicher Vernunft Gebliebenen an Emigration, während die Prädikanten den Wankenden und den kleinen Leuten voran ins Ohr flüstern: ›Draußen vor euren Mauern steht schwer bewaffnet der feudale Bischof, um das in eurer Mitte keimende Reich Gottes auszurotten ... achtet also gut auf Verräter!‹ Es ist das alte Spiel, mit dem in allen revoltierenden Staaten und Städten die Machthaber die Aufmerksamkeit der Masse von ihren eigentlichen Plänen ablenken – es war 1792 in Paris, es war 1917 in Moskau so und es konnte in Münster kaum anders sein. Prompt erscheint, wenn man den Aufzeichnungen eines Unbekannten Glauben schenken darf, auf dem Rathause laut schreiend der alte Krakeeler und Taschendieb Redeker, erzählt von einem Fremden, der morgens von auswärts in der Stadt angekommen sei und berichtet habe, es sei der Bischof mit einer Strafexpedition von dreitausend Reisigen schon unterwegs. Es ist der neunte Februar und trotz allen Bußegeschreis wohl etwas Karnevalsparfüm in der Luft.

Durch Botenmeister holt man den Fremden aufs Rathaus, und blitzschnell – der Bürgermeister Tilbeck erscheint schon damals als schwankende Gestalt – verbreitet sich die Nachricht von der drohenden Gefahr in der ganzen Stadt. Denn der Bischof, das ist den Münsterern kein geringeres Schreckgespenst, als den Parisern im September 1792 der schon auf den Vogesenkämmen stehende Herzog von Braunschweig mit seiner weißen Interventionsarmee und seinen ›tausend transportablen Galgen‹ es sein wird, und wenn Paris, wie ein Zeitgenosse sagt, damals ›presque électrique‹ ... sozusagen elektrisch gewesen ist: Münster wird durch diese Nachricht vom Herannahen des Bischofs jedenfalls nicht weniger ›elektrisiert‹.

Schon um acht Uhr früh halten bewaffnete Massen auf dem heutigen Prinzipalmarkt, stoßen allerlei unzweideutige Drohungen gegen die Altgläubigen, gegen die reaktionären ›Erbmänner‹ und gegen die Wohlhabenden aus – es ist von vornherein in diesem Spiel mindestens ebensoviel soziales Ressentiment wie religiöse Inbrunst ...

Not aber lehrt eben gelegentlich auch gemeinsame Gebete, und in dieser Stunde der Bedrängnis haben Katholiken und Protestanten sehr rasch ihren Hader vergessen und werden sehr schnell einig über die gemeinsame Abwehraktion. Das Überwasserkloster und der dazugehörige Kirchhof war als Waffendepot und Place d'armes für den nun eingetretenen Fall schon lange vorgesehen – dazu empfahl die Örtlichkeit sich wegen der dortselbst vorhandenen Schlupfwinkel, wegen der Gesinnung der Oberin, wegen der Nähe des Frauentores und wegen der fraglos mit dem tatsächlich heranrückenden Bischof getroffenen Vereinbarungen. Kerssenbroch, bei dem ›gegenrevolutionären‹ und altgläubigen Arzt Wesling in Pension und als junger Humanist selbstredend seinerseits auf der Seite der Bischöflichen, zieht mit seinem Pensionsvater in dieser Nacht selbst aus und trägt den Herren Waffen und Munition nach, nachdem Weslings Magd Assola, die den gleichen Auftrag hatte, leider von den Täufern erwischt und ihrer Last beraubt worden ist.

Es gehört zu den Spielregeln aller Revolutionen, daß Putsche dieser Art nie gelingen, ehe in den aufbegehrenden Massen der seelische Abszeß geleert ist und das Ressentiment sich ausgetobt hat ... es gehört nun einmal zu diesen Spielregeln, daß solche Anschläge nie glücken, ehe im Mob Raub-, Mord- und Rachsucht sich ihr Recht verschafft haben und alle Taschen gefüllt und alle Geltungsbedürfnisse befriedigt sind und die feurigen Propheten von gestern nach ausgiebiger Atzung vor der Staatskrippe über den Resten ihrer Beute faul verdauen.

Da aber die vulkanische Eruption von Münster im Geschichtsprogramm so notwendig war wie in einem verschlackten Körper ein Furunkelausbruch, so mußte in diesem Stadium auch dieser intra et extra muros vorbereitete Putsch scheitern. Die Altgläubigen, die ja in diesem Falle identisch gewesen sein dürften mit den Besitzenden, begeben sich, wie das mit dem Bischof ja wohl verabredet war, nach dem Frauen- und dem Judefelder Tor, heben dortselbst den täuferfreundlichen Ratsmann Palken nebst dessen Sohn auf, nehmen ihnen die Torschlüssel weg, beschlagnahmen drei Hakenbüchsen nebst Munition, bringen sie auf den Überwasserkirchhof und richten sie auf die Innenstadt, wo sie ihre Feinde wissen. Als ihre Reihen sich verstärken, besetzen sie die ganze Mittelstadt einschließlich des Domplatzes, besetzen und armieren die Domtürme, erwischen bei dieser Gelegenheit die Prädikanten Vinne und Stralen und sperren sie in den Turm dicht unter die Glockenstube.

Auf dem Prinzipalmarkt stehen die Täufer. Sie haben leider versäumt, die wichtigen Brücken der Aa und die Zugänge zum Domplatz zu besetzen, sie verbarrikadieren sich hier nun in wenig vorteilhafter Stellung hinter Fässern und den aus der Lambertikirche herbeigeschleppten Bänken. So steht man sich mit dem Feldgeschrei ›Christus‹ auf der altgläubigen, und ›Vater‹ auf der täuferischen Seite plänkelnd gegenüber, knallt fleißig aus Arkebusen und Kanonen und läßt in diese Erde, die fernerhin ja noch des öfteren den gleichen Trank kosten wird, das erste Bruderblut rinnen – zu den Opfern dieser Nacht gehört ein junger Kommilitone Kerssenbrochs, der durch die Schläfe geschossen wird, während Kerssenbroch selbst, ›noch ein Kind und das Sausen der Kugeln noch nicht gewöhnt‹, sich auf dem Aegidienfriedhof hinter dem Beinhaus verbirgt. Auf der altgläubigen Seite ermuntert der Pfarrer Fabricius die Kämpfer, drüben wirkt im gleichen Amt, gewissermaßen als Feldprediger also, der holländische Sendling Bockelson.

So also geht es auf Mitternacht, und es kann doch nicht so in alle Ewigkeit weitergehen! Die Herren auf Überwasser haben dafür gesorgt, daß, was fraglos mit dem Bischof verabredet worden ist, die Häuser ihrer Getreuen Strohkränze tragen als Zeichen, daß hier ›gute Leute‹ wohnen und von den sehnlichst erwarteten Mannen des Bischofs nicht geplündert werden wollen – ja, wo in aller Welt aber bleiben diese Mannen? Es geht auf die zwölfte Stunde, und die Herren frieren und beratschlagen, und da sie fast alle humanistisch gebildete Männer sind und sich mithin auf die Lektüre des Julius Caesar und die dort geschilderte Belagerung von Alesia besinnen, so kommen sie auf den Gedanken eines Sturmangriffes, bei dem sie sich vor dem gegnerischen Arkebusenfeuer durch mitgeführte transportable Schutzdächer schützen wollen – leider aber sagt keiner, wo er in aller Eile solche trefflichen Kriegsmaschinerien herzunehmen gedenkt. Inzwischen unternimmt drüben der Feind auch eine ›seelische Offensive‹, indem mit etwa fünfzig anderen Schreihälsen Knipperdolling bis dicht unter die Mauern von Überwasser gelaufen kommt und sein übliches ›Bessert euch, tut Buße‹ durch die Nacht brüllt. Wozu die edlen und gestrengen Herren im Kirchhof aber keineswegs gewillt sind: sie packen nebst einer ganzen Rotte den Schreihals und sperren sie zu den übrigen ›in thorn‹, wo ›he riep gliek wie die ossen plegen tho rupen‹. Will sagen, das Gebrüll dauert fort bis zur kompletten Heiserkeit. Später freilich, als sie das gleich zu erwähnende Pferdegetrappel von Reitern unten auf dem Pflaster hören, ›swiegen sie stil in dem thorn un riepen nicht mehr‹. Sie ahnten nämlich, daß es des Bischofs Reiter waren, und vor denen hatten sie doch einen ganz erheblichen Respekt ...

Was aber ist kurz nach Mitternacht geschehen und wie kommen die Reiter in die Stadt? Begeben hat sich folgendes: vor dem Tor ist mit Rotger Schmysing im Auftrage des Bischofs Herr Dietrich von Merfeld, Droste von Wolbeck, mit etlichen schwer bewaffneten Domherren erschienen – auch Herr Melchior von Büren in seinem Groll über die von Redeker in Telgte gestohlene Geldtasche ist nebst den Reisigen des Bischofs gekommen. Die Herren begehren Einlaß im Namen des Bischofs, der Bürgermeister Judefeldt, ein dem alten Regime im Grunde ergebener Mann, geht ihnen entgegen, äußert einige Bedenken wegen der durch die Anwesenheit der Bischöflichen möglicherweise doch gefährdeten Stadtprivilegien, läßt sich aber, da die Herren strikten Auftrag der Respektierung dieser Privilegien haben, gleich wieder beruhigen ...

Worauf also Herr Judefeldt das Tor öffnet und die Herren, zur Ernüchterung des bislang ›in thorn‹ brüllenden Knipperdolling, einreiten. Jetzt erst wird Weiteres bekannt. Der Bischof ist im Anmarsch, ebenso ziehen dreitausend Bauern auf Münster, und nun endlich soll es ein Ende haben mit den Prädikanten und den ewigen Krawallen. Den Täuferischen, die, vielleicht durch Tilbeck, Wind von diesen Dingen bekommen haben, wird bänglich zumute.

Judefeldt selbst ist vollkommen einverstanden mit dem bischöflichen Plan, er sieht ein, daß hier endlich einmal gründlich Remedur geschaffen werden muß, und somit scheint das Schicksal des doch eben erst keimenden Reiches Zion besiegelt. Es kommt anders. Es kommt bei solchen Anschlägen, wenn alles schon gelungen scheint, immer ›anders‹ ... es erscheint nämlich in solcher Stunde immer der Mann mit dem Stearinherzen, der alles verdirbt. Es war so beim Bastillesturm, es war so 1792 bei der Verteidigung der Tuilerien, es war so 1848 bei der Räumung des Berliner Schloßplatzes durch die siegreichen Truppen, und es war also 1534 mit Fug und Recht nicht anders. Der ›andere‹ Bürgermeister Tilbeck ist derjenige, der hier alles verdirbt.

Kerssenbroch behauptet, es habe bereits am Abend der Bischof in einem Briefe eilige Hilfe zugesagt und die Schonung der Stadtprivilegien feierlich versprochen, Tilbeck aber habe diesen Brief – der heute in den Archiven nicht mehr aufzufinden ist – in Empfang genommen und unterschlagen, und es singt denn auch von ihm ein zeitgenössisches Epos:

›Unser gnedige först hadde Tilbeck einen brief gesandt
Des de veredder Tilbeck för de gemeinheit (Allgemeinheit!) nicht was bekannt
De först hadde em doen wetten und schrieffen
Seine gnaden woll de Stadt Monster by ehren rechten leten blieven
He sollte siner gnaden de porten apen halden,
Sin gnaden wolde by denen frommen luden syn haeste und balde.‹

So urteilt über ihn das Epos. Das bischöfliche Versprechen, die Privilegien der Stadt zu respektieren, mußte auf alle hier Versammelten einen tiefen, dem Bischof günstigen Eindruck machen, und weil es so war, behielt Tilbeck den Brief für sich und operierte in dieser Nacht mit der in mittelalterlichen Städten ja allgemeinen Furcht vor dem Verlust der Privilegien: habe ich denn etwa unrecht mit meiner Feststellung, daß unter anderen Namen und in anderem Gewand dieser Bürgermeister Tilbeck in so ziemlich allen Revolutionsgeschichten immer wieder vorkommt?

Item, die bischöfliche Vorhut ist nun in der Stadt, im ersten grämlichen Licht des anhebenden neuen Wintertages kommen noch dreitausend Bauern hinterdrein, und den Täufern auf dem Prinzipalmarkt wird Herz und Hose schwer, und weil es so mit ihnen steht, tun sie das, was vierhundert Jahre später die Bolschewiken ihnen nachmachten, als sie die weißen Heere mit papierner und mit Wortmunition beschossen: sie schicken also, um ... ich möchte hier fast sagen ›die Bourgeoise‹ in Überwasser zu demoralisieren, Unterhändler, um ›Mißverständnisse‹ aufzuklären.

Es ist – da in diesem tollen Münsterer Jahr dieses ehrsame Handwerk nun einmal seine ›Aristeia‹ erlebt – der Schneidermeister Kibbenbrock, der aus dem Täuferlager kommt, es kommt ferner in seiner Begleitung ein Mann, der auf den etwas apokryphen Namen Swedartho hört. Diese beiden Herolde unterhandeln also. Das Geplänkel von heute war natürlich nicht gar so ernst gemeint, sie, die Täufer, haben an diesem Tage eigentlich nur eine Waffenübung abhalten wollen, und es ist einfach ein bitterböser Zufall, ihr Herren in Überwasser, wenn ihr diese unsere harmlose Absicht so mißverstanden und uns arme Leute gleich scharf beschossen habt! Wen aber sehen wir da in eurer Mitte? Doch wohl Leute des Bischofs, geschworene Feinde der Stadt, feudale große Hansen und gewohnte Schinder! Habt ihr denn auch bedacht, ihr altgläubigen Strohkranzträger, wohin dieser Einlaß des notorischen Stadtfeindes euch führen wird und daß er, ist er erst einmal Herr der Tore und Mauern, unweigerlich eure Freiheit nehmen wird ... ja, wie denn, wäre es da nicht am Ende besser, man unterhandelte und entschlösse sich, wie ihr ja selbst in eurem Edikt vorgeschlagen habt, fortan in Friede und Eintracht nebeneinander zu leben?

Also der Schneider Kibbenbrock, der nach dieser Rede sich wieder ostwärts, in die Zionsbezirke rund um St. Lambert begibt. Entschließt euch gefälligst, ihr Herren, zu einem Vertrag mit einer neben euch liegenden Kobra, ›fortan mit ihr in Frieden und Freundschaft zu leben‹ ...

Die Kibbenbrockschen Worte sind sorgfältig vergiftete Pfeile, ihr Gift ist wohl dosiert für die allenthalben und stets in solcher Stunde zu findenden Männer mit der lieben kleinen Rückversicherung, für die ewigen Kompromißler und die ewigen ›Weder-Ja-noch-Nein-Sager‹.

Vor allem sind sie berechnet für einen Mann, der Tilbeck heißt, sie sind am Ende mit den Täufern – wer kann denn hinter jede Büberei nach vierhundert Jahren kommen – verabredet. In jedem Fall sind sie, sowie die beiden Unterhändler erst wieder am Westufer der Aa sind, Stichworte für ein neues Tilbecksches Lamento. ›Ist denn dieser Vorschlag, fortan in Frieden nebeneinander zu leben, wirklich so unannehmbar? Und wer bürgt dafür, daß der Bischof sein Versprechen auch wirklich hält?‹ Und dann vor allem: ›Habt ihr bedacht, ihr Herren, daß es Bruderblut ist, das ihr hier vergießen wollt?‹

Da ist es wieder, das alte Judaswort, und noch jedesmal, wenn es gesprochen wurde – 1789 und 1848 und 1918 und in Rußland 1917 – noch jedesmal folgte ihm eine Periode, die dann das Bruderblut nicht tropfen-, sondern bottichweise vergoß und ungleich größere Wunden schlug, als wenn man von vornherein fest zugepackt hätte. Man entschließt sich jedenfalls auch hier, zu verhandeln, und selbst der sonst einigermaßen besonnene zweite Bürgermeister Judefeldt – denn Tilbeck war der erste! – heißt, was er später schwer bereuen wird, den Entschluß gut. Man wählt also seine Unterhändler und gibt ihnen Aufträge, in denen viel von ›gegenseitiger Toleranz‹ und ›Freiheit des Glaubens‹ die Rede ist, man tauscht außerdem zur gegenseitigen Sicherung Geiseln Das im Münsterer Stadtarchiv liegende Tagebuch eines Unbekannten nennt als einzige Quelle ihre Namen. Es waren ›vor giselere der erbaren und ersamen Herren Wilbrant Ploniess borgermester / Hermann Herden kemmer / Johann Kerckerinck upn Bispinckhove un Eber Ocken. De upn kerhove (Kirchhof) koren vor giselere Claess Stripe / Claess Snyder / Berndt Pickert un Ever Gestemer‹. aus. Als es aber erst soweit ist, ist es beschlossene Sache, was nun aus Münster für lange, lange Zeit werden soll. Ein Tummelplatz aller Reichsfalloten, ein Königreich der Unterwelt, eine Keimzelle des Wahnsinns und ein Brandherd für das ganze alte kaiserliche Reich.

Die Herren und Reisigen des Bischofs geben jedenfalls ihr Spiel verloren und reiten betrübt, und wenn man Kerssenbroch glauben darf, sogar unter Tränen davon, die dreitausend Bauern, deren Anwesenheit in solcher Masse wohl beiden Teilen gleich unheimlich war, fallen über das vom Rat freigebig gespendete Bier her, saufen sich toll und voll und marschieren wieder ab. Und um dieser Lösung nun auch den nötigen akustischen Ausdruck zu verleihen, feuert man auf beiden Seiten die geladenen Kanonen in die Luft ab, wovon in der ganzen Stadt die Scheiben geklirrt haben sollen. Kerssenbroch berichtete, Bischof Franz habe, als er von dem Ausgang gehört, Tränen vergossen, dann aber fluchend seinem Pferde die Sporen gegeben.

Was nun folgt, ist auf der täuferischen Seite eine Vorwegnahme der Carmagnolen von 1793, und hier wie dort in Paris sind es die Weiber, die die Orgie eröffnen. Kerssenbroch, hie und da in seiner lateinenen Chronik alle die Schwülstigkeiten des Barock vorwegnehmend, spricht in diesem Zusammenhange von ›Bacchantinnen, Thyaden, Mänaden, Mimalodinen, Adoniden und sogar von Tryateriden‹ und lädt mit diesem Aufmarsch wunderlicher Vergleiche in die Flinte ja wohl etwas allzuviel Pulver. Aber auch ohne diese vielleicht etwas allzu bilderreiche Sprache ist das, was hier geschieht, nachgerade toll genug. Mit offenen Haaren, mangelhaft und zum Teil trotz der winterlichen Jahreszeit überhaupt nicht bekleidet, kommen die Damen auf den Markt gelaufen, werfen sich in Kreuzform nieder, wälzen sich im winterlichen Straßenkot, weinen, lachen und schlagen sich an die Brust. ›Alle riefen sie freilich den Vater, keine aber den Sohn‹, berichtet Kerssenbroch und verweist damit auf die Präponderanz des Alten Testaments, die für die verwegene Theologie des Münsterschen Gottesstaates maßgebend war und nicht zuletzt den Ausgangspunkt bildet für alle die Exzesse, die die Stadt in den nächsten Monaten sehen wird. Aber auch schon jetzt wird hier das Menschenmögliche geleistet, und die Damen fühlen und sehen, wie Blut vom Himmel regnet, sehen dort blaue und gar schwarze Feuer lodern, sehen auf weißem Roß auch einen goldgekrönten Mann, der, das für die Gottlosen bereitgehaltene Schwert im Arm, munter über den Himmel galoppiert. Dies aber, ihr Damen, ist bereits ein Wunschtraum, und wir werden ja bald sehen, daß der Reiter, wenig himmlisch und geradezu verzweifelt fleischlich, nicht gar so lange auf sich warten ließ.

Demgemäß also, in ihrer heißen Sehnsucht nach einem Helden, rufen sie laut nach dem ›König von Zion‹, der vorerst aber nur irgendwo in einer Kneipe sitzt und auf seine Stunde wartet, und es ist im übrigen höchst interessant, wie ganz allmählich von dieser Stunde an das Wort ›König‹ langsam sich heranpürscht an die Hirne der Münsterer und vor allem an die ihrer Damen. Schließlich aber, als das Geschrei – ›Grunzen von tausend Schweinen‹ nennt es in seiner üblen Laune Kerssenbroch – nachgerade ekelhaft wird, findet ein angewidertes Mannsbild ein Mittel, um der Orgie ein Ende zu machen: er schießt nämlich mit seiner Büchse von einem der Markthäuser den güldenen Dachhahn herunter. Als der aber mit Donnergetöse auf das Pflaster prasselt, erwachen die Damen aus ihren frommen Räuschen, sehen vorerst keinen König von Zion mehr durch die Wolken traben und geruhen, nach Hause zu gehen und ihren Männern das Abendessen zu kochen.

Es geschieht in diesen Tagen, daß der Bürgermeister Tilbeck von dem lieben Rothmann sich taufen läßt, und es ist an diesem Tatbestande nicht zu rütteln, obwohl er selbst später, nach umgeschlagenem Wind, in einem an den Bischof gerichteten Briefe die Taufe brav ableugnet. Von Kerssenbrochs Kommilitonen aber halten es einige schon jetzt für ratsam, mit einem Stück Brot in der Tasche als Wegzehrung die Stadt zu verlassen, übrigens nicht, ohne daß der Torwächter über das mitgenommene Brot raunzt. Das Durchsuchen von Auswandernden auf Nahrungsmittel aber ist fortan an der Tagesordnung, und da die fortziehenden Frauen den Räucherspeck unter ihren Pelzröcken davontragen und der Mützenmacher Sündermann als aufrechter Zion-Patriot eine Frau – nach Kerssenbroch ›durch unanständiges Abtasten‹ – bei solchem Davonschleppen des geräucherten Nationalvermögens erwischt, entgeht auf höheren Befehl niemand mehr, der das Tor passieren will, solcher Leibesvisitation. Man sieht, daß der Gedanke an eine Belagerung und Aushungerung des werdenden Gottesreiches schon jetzt die Oberen beschäftigte.

So sehr weit hergeholt ist der Gedanke nicht. Schon auf den dreiundzwanzigsten Februar, als Zion, wie wir noch sehen werden, ausgiebig Fasching feiert, hat der Bischof nach Wolbeck die Ritterschaft in Wehr und Waffen entboten, er führt, da allzuviel aus Münster kommende Emigranten ihm mit ihren bitterlichen Klagen in den Ohren liegen, gegen Münster nichts Gutes im Schilde, er verhandelt schon jetzt über einen Beistand mit seinen mächtigen Nachbarn, die da Köln, Kleve, Lippe und Hessen heißen; Geld und Beistandsversprechen stehen ihm zur Verfügung, und so zieht denn ein Gewitter herauf über dem jungen Gottesstaate.

Von einer ›gegenseitigen Toleranz‹ ist in ihm übrigens nichts zu merken, und leider erfahren wir nicht, weswegen die Altgläubigen, die doch erstmalig ihre Gegner mit der Waffe in der Hand niedergehalten hatten, sich nicht zum zweiten Male auf diese Waffen und vor allem auf die Geiseln besannen. Schon die Wahl des neuen Rates, die in diesen Tagen nach städtischem Gesetz sich sowieso und auch ohne ausgebrochene Unruhen vollzogen hätte, erfolgt unter dem Druck des Terrors. Redeker, den wir als Unruhestifter schon kennengelernt hatten, hält unmittelbar vorher auf dem Markt eine Ansprache, fordert die Masse auf, ›nunmehr, nachdem der alte Rat im Gedanken an das Fleisch gearbeitet habe, einen neuen Rat in den Gedanken des Geistes zu wählen‹. Und während der Pöbel das Rathaus umlagert, zeitigt der erste Wahlgang zunächst vierundzwanzig Wahlmänner, und zwar ›homines non solum sceleratissimos, verum etiam abiectissimos et vix dignos, quibus senatus vel carcerum urbis vel equorum canumque custodia committeretur‹ ... verkommenes und verbrecherisches Gesindel also, das ›der Rat nicht einmal zur Wartung der städtischen Gefängnisse oder als Pferdeburschen oder Hundejungen angestellt hätte‹. Wie das in seinen gelegentlichen Anwandlungen eines patrizischen Hochmutes Kerssenbroch auszudrücken beliebt.

Was bei dieser Wahl sonst noch herauskommt, läßt sich ja wohl denken. An politisierten Schneidermeistern leidet Münster, da im Hintergrunde ja auch noch der Fachkollege Bockelson auf seine Stunde wartet, eigentlich keinen Mangel, und um die Präponderanz des ehrsamen Handwerks für die Zukunft noch mehr zu betonen, wählen wir als Bürgermeister Kibbenbrock und Knipperdolling, die ja nicht nur so etwas wie berufsmäßige Propheten und Halluzinatore, sondern auch Gewandschneider von Ruf und Ansehen sind.

Und inzwischen, während die Emigration der Altgläubigen immer rascher in Gang kommt, saugt Münster wie ein trockener Schwamm aus weiter und naher Umgebung alles an sich, was von der gleichen Psychose befallen ist. Siehe, es kommt allerlei Gesindel, und es erreichen unter allerlei Fährlichkeiten, wie etwa der Gograf Heinrich Krechting Der andere Krechting (Bernhard K.) ist schon 1533 in Münster als Prädikant nachweisbar., auch Männer von Stande den Berg Zions – es kommen fortgelaufene Landsknechte und Landstreicher, es kommt aber auch ehrbares Volk, und es kommen schöne und ehrbare Frauen, wie jene Hille Feicken, die aus Friesland zu uns herwandert und im Bischof Franz den großen Holofernes haßt und für sich selbst, nicht ohne Erfolg, wie wir sehen werden, die Rolle der heldischen Judith herbeisehnt. Aus nah und fern kommen sie und kommen nicht zuletzt aus den Niederlanden, mit leeren und mit gefüllten Taschen und mit Weib und Kind und vollgepackten Wagen, und ihr langer Zug ist ein schauriger Beweis für die brausende Flamme des Wahnsinns, der in dieser Nordwestecke Deutschlands nun wütet und, nach eben erst überstandener Bauernnot, nun zum zweitenmal dem alten schwarzgoldenen Reich der Salier und der Staufer Verderben droht.

Später, im Sommer, werden ihrer noch mehr kommen, und es werden unter ihnen wiederum Männer mit altangesehenen Namen, wie Scheiffert von Merode, sein, ›des jederman, der ine gekant, ein gross verwundern‹, schreibt über diesen täuferischen Edelmann ein klevischer Beamter. Die Zahl der Zugereisten aber ist bei weitem größer als die der Emigranten, und es ist ganz natürlich, daß wir für sie die leerstehenden Wohnungen dieser Emigranten und auch das gründlich von uns ausgeplünderte Niesing-Kloster in Anspruch nehmen, und schwer und frühzeitig lastet auf unserem Herzen nur eben eine andere Sorge ...

Ja, ihre Zahl überschreitet bei weitem die der Emigranten, und wie soll man sie wohl alle atzen können, diese unermeßlich vielen neuen Esser?

Noch ist in Münster jene Duliöhstimmung, die jeder Revolution folgt ... jene Euphorie, deren wir alle uns ja wohl noch aus dem Deutschland der Jahreswende von 1918 zu 1919 erinnern.

Und inzwischen steigt das Fieber, und es löst die alten Begriffe und die alte Zucht auf, und es lösen sich damit nicht zuletzt die Bande, die Eltern mit den Kindern, Geschwister und Gatten untereinander verbinden. Die Familie derer von der Recke zum Beispiel trägt doch sonst einen leidlich guten Namen, leidet aber eben unter dem Übelstande, daß es in ihr ein paar überspannte und verdrehte Frauenzimmer gibt und daß diese verdrehten Frauenzimmer sozusagen prima vista auf die Propheten Zions hineinfallen. Dergestalt nämlich, daß die eine dieser Damen, bislang Nonne in Überwasser, aus dem Kloster fortläuft, ihre daheim lebende Mutter und Schwester ebenfalls zur Taufe bestimmt und daß die drei Frauen sich in corpore in das Haus des lieben Rothmanns begeben. Als der Gatte und Vater Johann von der Recke sie dortselbst abholen will, schreien sie ihn an, er sei weder ihr Gatte noch ihr Vater mehr. Als er nach dem Niederbruche Zions seine drei leicht ramponierten Damen endlich in Empfang nehmen kann und beim Bischof eine hohe Kaution für sie und ihr künftiges Wohlverhalten erlegt, läuft die eine Tochter, die der Psychose rettungslos verfallen ist, erneut davon, um sich in einer der in Niederdeutschland noch fortvegetierenden Wiedertäufersekten für immer zu verlieren.

Inzwischen ist in Münster ja wohl auch Fastnacht herangerückt, und die neuen Herren der Stadt schicken sich an, sie gebührend zu feiern. Karnevalsgruppen, die den Bischof nebst seinen Kapitelherren darstellen, durchziehen auf Wagen die Stadt, ein baumlanger Kerl wird in Mönchskutte vor einen Pflug gespannt, und in Hiltrup, also etwa zwölf Kilometer vor der damaligen Stadtgrenze, trägt man, Psalmen plärrend und Kirchenfahnen schwenkend, unter Glockengeläute ein übelbeleumdetes Frauenzimmer um den Friedhof.

Daß es unter diesen Umständen in Münster zur Zerstörung der alten Kathedralen, dieser reinsten Manifestation des deutschen Geistes kommt, ist beinahe schon eine Selbstverständlichkeit – immer wird die Canaille das hassen, was ihrer Gorillastirn nicht eingeht, immer wird der einmal losgelassene Pöbel mit seinem Plattfuß das zertreten, was den eigenen plumpen Fingern nicht gelingen konnte. Schon um den dreiundzwanzigsten Februar hat es damit begonnen, daß man aus den unterschiedlichen Klosterkirchen die vorhandenen Kleinodien fortschleppt, die Meßgewänder an Straßendirnen verschenkt, die Wertpapiere (ganz wie 1789 in Frankreich) raubt und verbrennt. Verwüstet und verbrannt wird in diesen Tagen das außerhalb der Stadt gelegene St. Mauritius-Stift, ausgeplündert wird das Niesing-Kloster, und was wir auf diese Weise an Platz gewinnen, das diene zur Unterkunft für alle die Brüder, die uns von allenthalben aus der Ferne zuströmen.

Unter diesen Umständen ist die Bahn ja wohl auch frei für die Zerstörung des im Zentrum der Altstadt gelegenen Domes. Der Name des Helden, der diese Orgie inszeniert, ist überliefert: an der Spitze einer Horde von Strolchen bricht Bernhard Mumme in die Kathedrale ein, um innen nachgerade wie ein Aschantineger zu hausen. Das Allerheiligste wird nach den altbewährten Rezepten aller Einbrecher verunreinigt, die Glasfenster eingeschlagen, und auf die Uhr, auf deren kunstvollen Bau ein unbekannter Meister sein ganzes Leben verwendet hat, schlägt man mit Schmiedehämmern ein. Mit Menschenkot besudelt man die Dombibliothek, verbrannt wird in den nächsten Tagen auch die von Herrn Rudolph von Langen aus Italien zusammengetragene Inkunabeln- und Stichesammlung. Die von Meister Franke gemalten Altarbilder werden zu Abtrittbrettern zersägt, der romanische Taufstein zerbirst unter Hammerschlägen. Mit Hämmern und Äxten schlägt man auf Holz- und Steinplastiken ein, die Orgel wird sorgfältig Pfeife für Pfeife zerstört. Weint denn nun, ihr Heiligen, und rauft den Bart, ihr gotischen Könige, die ihr fromm um Christi Krippe standet: vorüber ist eure Zeit ...

Vorüber die Zeit der Dombaumeister, die stumm und namenlos zurücktraten hinter ihren gottgeweihten Werken, vorüber die Zeit, da man demütig auf ihre Grabplatten das hallende ›Gott gnade‹ schrieb. Vorüber ist die Zeit, da die Domglocken klangen, wenn auf geduldigen Ochsengespannen des Heiligen Reiches Kaiser durch klirrende Winternächte zogen, vorüber die christlich Unität, vorbei die Zeit, da dem kaiserlichen Herrn der sichtbaren Welt aufgegeben ward, in der Idee des alten Reiches und im Unsichtbaren die große heilige Formel der Versöhnung unter den Völkern und des Friedens auf Erden zu finden. Ach, wir wußten, daß es eine solche Formel nicht gab auf dieser blutbespritzten Erde, und wußten es und suchten sie dennoch, und aus diesem unserem Suchen, dem nie ein Finden beschert sein konnte, kamen uns die heiligen Gewölbe und jener ewige Kampf mit dem Engel und zum Schluß auf unseren Grabsteinen das fromme ›Got hat syn sel‹.

Der Bischof wird wohl von der Schändung seines Gotteshauses hören, er wird kommen mit Landsknechten und grobem Geschütz und Henkerstricken – glaubt deswegen nicht, ihr hölzernen Heiligen, daß es für euch noch einmal eine Urständ geben wird. Die Menschheit, ihr lieben stammelnden Kinder des mittelalterlichen Geistes, ist über Nacht anders geworden, sie ist nun gebissen von der Schlange der Vernünftelei und wird jahrhundertelang siechen in dem vergifteten Fieberwahn, der da Gleichheit aller Menschen heißt. Es wird Zeiten geben, da ihr nur mehr Museumsstücke sein werdet, ihr werdet Schacherobjekte sein, und niemand wird mehr wissen, wo ihr einst Gott wolltet dienen, und es wird die Zeit kommen, da wird der Metzgerbursche mit seinem Hintern sich auf den Thron der deutschen Kaiser setzen, wenn man ihn im Museum daran vorüberführt.

Einmal, nach Jahrhunderten, da werden die Menschen, wie die Renaissance sie gebar, erwachen aus dem vermessenen Traum, ohne Götter leben zu wollen, einmal wird zum zweiten Male Märtyrerblut spritzen, und zum zweiten Male wird der schlummernde Gott erwachen bei dem Wehgeschrei seiner Kinder ...

Ja, einmal mag es wieder so werden. Bis dahin aber werden zahllose Geschlechter kommen und gehen, und bis dahin werdet ihr auf Kornböden und in Remisen herumstehen, und der Menschen Hand wird damit beschäftigt sein, taube Eisenautomaten zu bauen und sie an eure Stelle zu setzen. Freut euch, wenn ihr der Raritätenkammer entgeht, preist euch glücklich, wenn nun in diesen Karnevalstagen euch der Hammer der Troglodyten zersplittert, und zerfliegt ruhig in Scherben und Rauch: es ist besser so. Gute Nacht, liebe alte fromme Welt, gute Nacht, altes heiliges Reich, gute Nacht, Welt der Gottsucher und Dombauer, gute Nacht, gute Nacht.

›Der Dom is also verwoestet, datter nu nich mer ein lovelich gotzhus dan ein ungestalt verdorben gebauw antosehn. Der gliken ale kerken, gotzhuser und cloister der Stadt erbarmlich spoliert und versturt, so dat nu gantz und gar Gotz wort und sacramente nedergelacht und dat wesen dar bynnen mer einen vehischen dan menschligen leven und wesen so vergliken‹, heißt es in einem an den westfälischen Landtag gehenden Bericht. Denn nach getaner Arbeit, muß man wissen, feiern unter den heiligen Gewölben die Herrschaften ausgiebig, fressen und saufen mit ihren Damen sich ausgiebig toll und voll, entleeren sich auf alten Grabplatten und benützen Weihwasserkessel als Nachtgeschirre und zerkratzen an der Wand die uralten Fresken ...

Und nur dem neuen Rat ist nicht gar so übermäßig wohl zumute dabei. Wenig wohl zumute war schon in den letzten Tagen ihres Regimes den beiden damaligen Bürgermeistern Judefeldt und Tilbeck, und sie haben wegen der eingerissenen Zustände sich brieflich beim Bischof entschuldigt, und Tilbeck, Muster aller Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit, hat den Bischof angelogen und die Nachricht von seiner inzwischen erfolgten Taufe tapfer dementiert.

Der Bischof aber, der sonst etwas weichmütige Herr, hat den Herren höchst reserviert geantwortet, und jetzt kommt dem neugewählten Rat gar eine Nachricht, die über die bischöflichen Absichten keine Zweifel mehr bestehen läßt: Syndikus Wieck wurde, als er sich aus der Stadt herausbegab, auf bischöflichen Befehl vom Amtmann Moring in Fürstenau festgenommen. Moring hat ihn zwar in der Haft eher als Gastfreund denn als Gefangenen behandelt, der Bischof aber hat mit dem Vollstreckungsbefehl den Scharfrichter gerade in dem Augenblick geschickt, als die beiden Herren, Häftling und Kerkermeister, nach dem Frühstück in aller Gemütsruhe beim Schach saßen. Und Wieck Wieck ist offenbar vom Typ des intellektuellen Räsonneurs gewesen. Er hat zur geistigen Zerrüttung Münsters viel beigetragen, hatte sich dann mit dem Neuen nicht befreunden können und verließ die Stadt. Als dann, in Gestalt des bischöflichen Scharfrichters, der Tod zu ihm kam, starb er unrühmlich genug. Er hat gejammert und geklagt und zuvor abgeschworen. ist unbarmherzig geköpft worden ...

Was aber ist gar mit unserem Prädikanten Roll geschehen, der doch als einer der Urväter des neuen Zion gelten kann? Den haben wir nämlich, weil wir seit dem Jahresende kriegerischen Unrat wittern, mit dem Auftrag ausgesandt, Truppen zu werben und Stimmung zu machen für die Stadt, just so, wie wir den Hufschmied Jacob als Propagandisten aussandten ins Jülicher Land.

Was also ist mit Roll geschehen? Zu Maastricht hat man Roll verhaftet und verbrannt! Und was unseren Meister Jacob angeht, so hat man ihn peinlich, sehr peinlich verhört, und nie werden wir auch ihn wiedersehen.

Werde dir also darüber klar, Stadt Münster, daß du in dem großen Meer, das da Heilig-Römisches Reich heißt, nur ein klein Inselchen bist, werde dir klar darüber, daß das Inselchen das große gewaltige Meer schwer herausgefordert hat, werde dir darüber klar, daß dieses große Reich mit seinem gewichtigen Apparat von kaiserlicher Gewalt und landesfürstlichem Geltungsbedürfnis grimmig sich wehren wird, wenn es sich einmal herausgefordert sieht durch eine kleine Schar von Häretikern, die hinterm Zaune geboren sind und mit denen der letzte kaiserliche Troßknecht sich nicht auf eine Bank setzte ...

Du bist, Stadt Münster, auf der deutschen Landkarte zwar nur ein kleiner, aber du bist ein recht wichtiger Fleck, und wer dich hat, der hat ganz Westfalen, und wer Westfalen hat – hat der nicht am Ende den ganzen niedersächsischen Kreis? Und wer den erst hat, bricht der nicht dem Kaiser einen hellen Edelstein aus der alten Krone?

Auf dich schauen nun alle die weltlichen und geistlichen Landesherren, der Kaiser selbst schaut auf dich, und es tuschelt und raunt in den holländischen Provinzen, in Oberdeutschland, in Frankreich und hinter der Ostsee selbst im kimmerischen Livland, wo die hellen Nächte des Sommers die Menschen sowieso in seltsame und käuzische Ideen hineintreiben. Glaubst du aber, daß du, die sich ausgesondert hat aus dem Reich der Deutschen und die du im stillen und auch laut allen Herren und Fürsten den Tod schwörst und alles gleichmachen willst vor deinem strengen und eifernden Gott: ja, glaubst du denn wirklich, daß du ungestraft deine Apostel im Lande herumschicken darfst und daß der Kaiser das Feuer unzertreten lassen wird, bis die Funken, die aus deiner Glut sprühen, zu Flammen werden und das ganze Haus der Deutschen verbrennen?

Höre, Stadt Münster: es wird der leidenschaftliche Gedanke über Nacht oft zum scharfen Schwert, es ist der leidenschaftlich gehegte Wunsch, wofern der Wünschende die Erfüllung mit dem Leben zu zahlen bereit ist, oft schon des Wunsches Erfüllung. Knapp zweihundert Jahre nach deinem Amoklauf wird es eine Handvoll Männer geben, die man Enzyklopädisten nennt und die mit ihren Gedanken ... lediglich mit diesen wispernden Gedanken den ganzen damals gültigen Weltbau von Barockkönigen und Theokratien und ständischen Institutionen zerstören wollen ...

Und es stehen diese acht oder zehn Männer dem König von Frankreich und dem Deutschen Kaiser und der großen Kirche Petri und Millionen und aber Millionen von Menschen gegenüber, für die aus dem Donner noch immer Gottes zürnende Stimme spricht und die den frommen Glauben noch nicht verloren haben, daß in der heiligen Christnacht Gottes Hand der stummen Kreatur die Zunge löst und daß in dieser Stunde auch ihr gegeben ist, mit der Menschen Stimme den Erlöser zu preisen.

Acht oder zehn Männer also werden dann gegen eine ganze mächtige Welt stehen und werden nur fünfzig Jahre benötigen, um mit ihren wispernden Gedanken die ganze mächtige Welt samt der Krone der französischen Könige in den Staub zu werfen und in St. Denis die Gebeine dieser Könige in alle Winde zu zerstreuen, in Reims ihre heilige Oriflamme zu verbrennen und auf den Altar unserer Lieben Frau von Paris, ganz nach deinem westfälischen Muster, eine nackte Hure an die Stelle der zerbrochenen Gnadenbilder zu setzen.

Der Gedanke, du Stadt der aufbegehrenden Visionen ... der also gehegte Gedanke ist eine beinahe unbrechbare Macht, und die Kriegsleute verachten ihn nur solange, bis sie zu spät einsehen, daß er ihre Heere erweichen, daß er ihre Waffen gegen die eigenen Träger richten kann.

Alles wagend, kannst du noch immer gewinnen, dein Haus sauber haltend, kannst du mit deiner häretischen Fackel die ganze aus der gotischen Enge sich befreiende Welt entflammen. Verzage also nicht vorzeitig und tue nur das eine nicht, daß du den Kopf in den Sand steckst. In Wolbeck, in Bevergern ersäufen und verbrennen sie deine externen Anhänger, der Bischof wirbt indessen Volk zu Roß und zu Fuß, der ergrimmte Bischof zahlt gut und hat scheinbar volle Goldtruhen und verteilt in seinen Kriegsartikeln deine zu plündernde Habe schon jetzt zwischen sich und seinen Regimentern.

Höre, Münster, Seine Gnaden hat nun die Unterstützung des Erzbischofs von Köln, des Herzogs von Kleve, der Grafen von Bentheim und Lippe, und der Landgraf von Hessen, der sich bisher immer um eine friedliche Vermittelung zwischen Protestanten und Katholiken bemühte, der ist auch dabei und schickt samt ›Kraut‹ und Belagerungsmaschinen die beiden großen Feuerschlünde, die da ›de duiwel‹ und ›sin mar‹ heißen.

Und wenn die freundlichen Nachbarn sich für ihre Hilfe auch hohe Gelder und für ihre Kanonen grimmige Leihgebühren zahlen lassen und wenn sie ins bischöfliche Lager auch ihre Kommissare schicken, ohne deren Zustimmung Seine Gnaden keine selbständige Handlung unternehmen darf – siehe, auch Stadt Deventer und Stadt Bielefeld und vor allem die Regentin Maria von Brabant ist dabei, und was du vor deinen Wällen, wenn du fein hinhorchst, rumoren hörst, das sind des Bischofs pochende Pulvermühlen.

Ja, er zahlt gut, der Bischof, er nimmt den Gemeinden ihre heiligen Kleinodien fort und zwingt sie, sie wieder zurückzukaufen, und von den also erzielten Schätzen zahlt er den Hauptleuten von Büren und Mengersen je einhundertundfünfzig Goldgulden im Monat, und Gerhard von Morien und Johann von Raesfeld werden ihn für achtmonatliche Feldherrndienste zusammen 1300 Gulden kosten, und was für den von der Recke, den Stedinck und Kuritzer und Iselmude und für alle die zahllosen anderen Führer und gar für die teuere Artillerie draufgeht: läßt es sich überhaupt ausdenken?

Du, Münster, bist's ihm wert, und mit seinen Landsknechten hat er schon vereinbart, daß sie deine Propheten und Prädikanten nach erfolgtem Sturm beileibe nicht töten, sondern beileibe lebend ihm ausliefern: warum wohl, du münsterverwüstendes Münster?

 

Und von der Osterwoche an war Münster samt seinem Zionsreich abgeschnitten von den wärmenden und nährenden Adern des übrigen Reiches.


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