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III.
Die Auswanderer und ihr Kind.

1.

Am 22. Mai 1849, im ersten Abenddunkel, ging eine Auswandererfamilie leisen Schrittes und mit Zeichen der Neugierde um die Paulskirche zu Frankfurt am Main und besah sich die Mauern und den Turm derselben mit stiller Andacht.

Der Vater der Familie führte an der Hand einen blonden Knaben, die Mutter ein Mädchen; zwei größere Knaben gingen einige Schritte voraus und blickten immer fragend, was der Vater dazu sagen werde, auf diesen zurück, sooft sie etwas Merkenswertes zu entdecken glaubten.

Bis auf den jüngsten Knaben sahen die Kinder frisch und gesund aus, im Gesichte der Eltern aber saßen tiefe Kummerfurchen. Alle waren in die Tracht jenes Teils des Schwarzwaldes gekleidet, zu welchem die reizende Berg- und Hügelkette um Herrenalb gerechnet wird.

Die Familie war auf dem Wege nach Amerika und hatte sich vorgenommen, in Frankfurt am Main einmal Nachtquartier zu nehmen, um die Paulskirche zu sehen, welche seit einem Jahre wohl so oft genannt worden war als die Peterskirche zu Rom, seitdem in Deutschland Christen wohnen.

Unter dem Gedränge von Hoffnungen und Wünschen, welche vierzig Millionen Deutsch bei Eröffnung des Parlamentes hinter sechshundert Abgeordneten her in die Räume der Paulskirche schoben, hatte auch diese Familie ihr bescheidenes Herzklopfen gemengt, als müsste binnen wenigen Wochen so viel Segen aus dem Parlamente dringen, dass er auch sie in ihren stillen Wäldern überkäme und ihnen ihr Leben leichter, ihr Verbleiben im Vaterlande möglich mache.

Nichts wollte sich jedoch erfüllen; Monate vergingen unter Lärm und Täuschungen, unter Abfall vom Volke, Teilungsplänen deutscher Erde, Kauf und Verkauf der Meinungen; – das Leben und Verbleiben im Vaterlande wurde beschwerlicher und bitterer.

Jetzt ging ein Schrei der Verzweiflung durch das Herz der Eltern, daheim war nicht mehr zu verweilen.

Eines Tages, als gerade ein Gewitter über dem Schwarzwald losbrach, der Sturm die Bäume beugte, Blitze das Firmament zerspalteten und Donnerschläge Menschen und Tiere entsetzten, da traten Vater und Mutter zusammen und besprachen im Vertrauen, was zu tun sei.

Es war, als hätten sie dem Wetter das Toben ihres Schmerzes überlassen; mit stillem Weh beschlossen sie, die Heimat zu verlassen und eine neue Heimat in Amerika zu suchen.

Als das Gewitter vorüber war und die Sonne hinter dem Rhein mit stillem Glanze unterging, legten sie ihre Kinder zum ersten Male mit dem unsäglichen Weh zu Bette, dass sie nur wenige Nächte noch auf deutscher Erde schlafen würden.

Am 24. Mai verließen sie ihr Dorf, sie wollten vom Schwarzwald aus nach Mainz und da zu Schiffe ihres Weges weiter nach der neuen Welt.

Da in Mainz die Abfahrt sich verzögerte, so beschlossen sie, in Frankfurt die Paulskirche und das Parlament zu sehen, und kamen gegen Abend, wie wir sahen, daselbst an. Leider war die Kirche geschlossen, und so prüften sie vorerst mit stiller Andacht ihre Mauern.

Es war da drinnen ein Jahr hindurch so viel gesprochen worden, dass es dünken mochte, als müsse jedes Steinchen in den Mauern seine Zunge haben und zum Prediger der Hoffnung werden. Die Wanderer beschlossen, morgen einer Sitzung beizuwohnen, um ihr letztes Hoffen, das noch immer unwillkürlich um den Tempel der Erwartung schlich, schmerzlich-gewaltsam mit sich fort und hinüber nach der neuen Welt zu führen.

Der Morgen graute kaum, als sie nächsten Tages erwartend auf den Stufen des südlichen Eingangs in der Kirche saßen.

Der kränkliche Knabe, welcher die Nacht hindurch unruhig geschlafen hatte, ruhte schlummernd auf dem Schoß der Mutter und lehnte den Kopf an ihr besorgtes Herz.

»Ich weiß nicht«, sagte die Mutter, tief bekümmert auf das Angesicht des Kindes schauend, »mir scheint, als, wir bringen das Kind nicht lebend nach Amerika, das Heimweh bringt es zum Verkümmern.«

Der Vater, der in ernsthaften Gedanken vor sich hin gesehen, blickte auf, sah den Knaben eine Weile an, nickte leise und betrübt, worauf er wieder den Gedanken nachhing.

So wurde es neun Uhr; die Türen der Paulskirche wurden aufgetan, um Einlass auf die Galerien zu gestatten.

Es war schon einer jener Tage, an welchen wohl die Galerien sich noch füllten, aber die Sitze der Abgeordneten mehr und mehr verlassen wurden.

Der Rückzug, welcher auf den Ruf des Donau-Regiments die Reihen der Österreicher gelichtet hatte, war auch verheerend geworden für die Reihen der Preußen, Sachsen und Baiern bei dem Rufe ihres heimischen Regiments, und es blieb denjenigen, die noch auf dem Platze waren, nur die Wahl zwischen zwei verzweiflungsvollen Beschlüssen: sie mussten verzagend jede Hoffnung aufgeben oder in der außerordentlichen Lage des Vaterlandes einen letzten Versuch der Rettung wagen.

Das Letztere drang durch; man beschloss ins Schwabenland zu ziehen und zu versuchen, was noch möglich sei. Die Lebhaftigkeit, mit welcher sich am 30. Mai nach der Sitzung das Volk wieder vor den Türen der Paulskirche drängte, gab Zeugnis, wie manches Herz noch einmal frische Hoffnung fasste.

Unter denjenigen, die am 30. Mai den Platz vor der Paulskirche zuletzt verließen, was unsere Auswandererfamilie aus dem Schwarzwald.

Um die Mutter zusammengedrängt folgten die Kinder ihrem Vater durch die Stadt nach der Brücke, welche über den Main nach Sachsenhausen führt, und sahen mit großen Augen die bunten Kaufläden an, während sie abgebrochene Fragen an die Mutter richteten über das, was sie eben in der Paulskirche gesehen.

Das Ganze war ihnen wie ein Wundertraum erschienen.

Die Mutter half sich dadurch, dass sie sagte:

»Es ist eben Gottesdienst gewesen, und als der zehnte Mann von Schwaben, Pfalz und drunten (in Österreich) und droben (nach Norden zeigend) ist da gewesen; es gehöret eben alles zum deutschen Reich. Und jetzt wollen sie Kirche halten in unserem Stuckert.«

Es liefen ihr zwei Tränen über die Wangen, als sie die letzten Worte sagte.

Indessen ging der Vater mit über den Rücken gelegten Armen einige Schritte voran, sah sehr angegriffen und nachdenklich aus und schien nichts um sich zu sehen und zu hören. Als er in sein Wirtshausquartier zu Sachsenhausen zurückkam, verlangte er Tinte, Feder und Papier, setzte sich einsam in eine Ecke uns schrieb an seinen Bruder Leonhard Gruber in einem Dorfe bei Herrenalb.

»Mein lieber Bruder«, schrieb er, »ich grüße dich viel tausendmal unverhofft aus Frankfurt am Main, und wenn mir heut alles durcheinander rennt, so kann ich nicht dafür, mit gehen die Augen über. O lieber Lenhard, warum hab' ich acht Tage zu früh mein Schwabenland verlassen und hab' mich nach Amerika begeben; das hätt ich jetzt in unserem Schwaben noch gern gesehen und mein Weib und meine Kinder, wir wären mit euch allen am bestimmten Tag nach Stuckert, wosie kommen werden; denk' die ganze Paulskirch' geht nach Stuckert. Wir sind heut' im Parlament gewesen; o das ist herrlich gewesen, so schön schwatzen können ist prächtig, wir haben weinen müssen, dass es uns einen Herzstoß um den andern geben hat. Alles im deutschen Reich kommt jetzt zum Wandern: Freischaren wandern, Soldaten wandern, wir wandern nach Amerika, das Parlament ist in Frankfurt nicht mehr sicher, die Preußen stehen wie eine Mauer um Frankfurt herum, nur die Eisenbahn rennt hier und dort noch durch; deshalb will sich das Parlament nach Stuckert wenden. O lieber Lenhard, was ist das heute gewesen, wie ist mir geworden, wie ich da munter gesehen hab' und hab' sie sitzen sehen, lauter Reichslandsleut aus Österreich heraus, aus Baiern herüber, aus Schwaben herauf, aus Preußen herunter! Blutjunge und eisgraue Männer durcheinander, von allerlei Stand und Würden, aber sie wollen lieber zu Grund gehen als vom Volk lassen. O Lenhard, die Leute haben Köpf auf den Schultern, Herzen im Leib, es stürzen einem die Schweißtropfen auf die Stirn vor Staunen, wenn sie einen auf die Kanzel schicken, Zunge wie die Schwerter. Sie schütteln einem das Herz durcheinander, dass man geschwollene Augen mit nach Hause nimmt. So kanzeln hab' ich keinen Pfarrer noch gehört. Wie ich da einen jungen, rundstämmigen Menschen, aber nicht groß und dick, wie ein Sonntagsbursch einen Blumenstrauß im Knopfloch, auf die Kanzel rennen seh', denk' ich, der ist ihnen auskommen, den sehen sie wegen seiner Jugend nicht gern da droben – hab' aber nicht Zeit noch mehr zu denken, da geht seine Red' schon los und sprengt mit verhängten Zügeln herum, dass sie kaum einzuholen ist. Eine Stimme hat er, als hätt er hinter jede Säule eine Schildwach gestellt, die ihm schreien helfe. Und Einfälle hat er, dass kein Mensch daran denken würde, bis er sie gesagt hat, und hat er sie gesagt, so ist einem, dass man denken muss, das hättest du sagen müssen, wenn du etwas hättest sagen wollen. Er bringt einem die Hände in Händel, dass sie von Patschen wie Polster auflaufen. Wenn er gradaus vor sich hin wettert, da sieht man eine Straß' durch Dick und Dünn brechen, er spricht einen Berg übern Haufen. Ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat, aber er hat in allem wütend recht gehabt. Er hat das Ding aufgedeckt, warum das Parlament jetzt hinten 'naus über die Gartenmauer nach Stuckert muss. Mir ganz allein ist ein Freudenschrei auskommen, wie der junge Abgeordnete sagt: Ich hoff' guten Gruß und freundliche Aufnahm' im Schwabenland zu finden, und im Notfall sterb' ich dort am liebsten! Vor ihm und nachher haben sich einige freilich erzbitterlich abgemüht, als ging' es doch noch in Frankfurt weiter, es sein nichts mit Stuckert; aber da ist zuletzt der rechte Gewaltmensch noch kommen, der hat die ganze Sach' ohne Weiteres bei Kinnbacken angefasst und ihr den Kopf in die Höh' gerichtet. O Bruder, hast du den jungen Löwen damals vor sechs Jahren in Stuckert auch gesehen? So sieht der Abgeordnete aus. Die Haar nach hinten bis in den Hals hinunter. Donnerkeile! dacht' ich, was bringt das Reich für Kerle hervor, wer gegen den aufsteht, wird mit aller Ruh wieder auf seinen Sitz niedergesprochen. Richtig; wie er fertig gewesen ist, war die Sach auch schon gewonnen. O Bruder Lenhard, ich reis' noch heut' von Frankfurt weiter, ich bitte dich, schreib mir, wie die Sach in Stuckert weiter geht, du weißt, wo mich dein Brief antreffen wird. O ich – dass ich von Euch scheiden muss, leb' wohl und grüß uns alle von Herzen. Mein Severle ist krank und macht uns vielen Kummer. Dein Bruder Joseph Gruber …«

Als er nun den Brief zusammenlegen und siegeln wollte, klopfte ihn eine Hand leise auf die Schulter.

Er blickte auf.

Sein Weib stand hinter ihm und sagte blass und bekümmert:

»Komm herüber auf die Stühle; ich weiß nicht, was es mit dem Büble ist; das gefällt mir nicht.«

Gruber stand erschrocken auf und ging hinüber.

Der Knabe lag bewegungslos auf dem Bette und starrte mit umschleierten Augen in die Luft.

Sein Atem ging langsam und schwer, sein Gesicht war lang und seine Nase spitz geworden.

Der Vater trat hin, beugte sich über den Knaben und sprach zärtliche Worte zu demselben, der seinerseits ein flüchtiges Lächeln zu versuchen schien, dann aber die Augenlider sachte sinken ließ.

Gruber trat leise hinweg und sagte:

»Er schläft ein; wir wollen einen Doktor kommen lassen.«

Die Mutter, welche weinend auf einem Stuhle im Winkel saß, erwiderte schluchzend:

»Ich habe schon geschickt, der Doktor wird gleich kommen.«

Der Doktor trat herein, und als er sich dem Bette näherte – starb der Knabe.

»Was denket ihr, Herr Doktor?« fragte die Mutter, ehrfurchtsvoll in einiger Entfernung bleibend.

Der Doktor drückte dem Knaben sanft die Augen zu und sagte:

»Ich denk', er hat das Schlimmste überstanden. Seid gefasst, und tragt es mit Geduld – der Knabe ist bereits gestorben.«

Lautlos stürzte die Mutter über die Leiche ihres Kindes hin – gut, dass der Arzt zugegen war, denn man musste sie aus einer tiefen Ohnmacht wecken …

2.

Der Jammer war groß, und wer es jemals erlebt oder gesehen hat, weiß, was es sagen will, wenn einer Mutter in der Fremde auf der Reise ein liebes Kind hinstirbt.

Nach zwei Tagen war das Begräbnis und Joseph Gruber, der den Brief an seinen Bruder noch nicht abgeschickt hatte, setzte am Schlusse nebst der Schilderung dieses Trauerfalles noch hinzu:

»Und jetzt kann ich mein Weib zu keiner Weiterreis' mehr bringen; sie verbleibt den ganzen Tag auf dem Kirchhof bei dem Grabe unsers Büble und pflanzt Blumen darauf und weint und betet und sagt, sie könne jetzt nimmer fort vom deutschen Land, es habe heraufgelangt und ihr Liebstes hinuntergezogen, und sie gehe nimmer übers Meer, und wenn es mit dem Parlament gut werde, so wolle sie wieder heim nach Schwaben.«

Aber Tage und Wochen vergingen …

Am 21. Juni stand vor dem Tore des Friedhofes zu Sachsenhausen ein Mann, dessen Mienen und Betragen auffallend genug waren, um das Auge des Vorübergehenden auf sich zu ziehen.

Ein tiefes Weh schien ihn zu drücken, während er verstohlen durch das Gittertor des Friedhofes blickte, um eine Gruppe Menschen zu beobachten, welche damit beschäftigt war, ein kleines, neues Grab mit Blumen zu schmücken, dabei zu beten und von Zeit zu Zeit ein leises Gespräch zu führen.

Der Mann, welcher so vor dem Friedhofstore stand, war der Joseph Gruber aus dem Schwarzwalde; die Gruppe drinnen bestand aus seinem Weibe uns seinen Kindern; im neuen Grabe, das mit Blumen geschmückt und durch Gebete gesegnet wurde, lag sein Knabe begraben.

Gruber hatte heute wieder, während die Seinen an Severles Grabe saßen, seine Forscherwanderung durch die Stadt angetreten, um gute Neuigkeiten über die Dinge des Parlamentes zu vernehmen, fand aber heut nur dumpfe, unglückliche Gerüchte, bis endlich die Zeitungen die Nachricht brachten, das Parlament sei gesprengt, die Abgeordneten desselben des Landes verwiesen.

Hatte diese Nachricht den Vater Gruber betäubt und gebrochen, so war es jetzt der schwerste Gang seines Lebens, die Trauernachricht den Seinigen zu bringen.

Denn diese Nachricht den Seinigen bringen, hieß nicht weniger als sie auffordern, von Severles Grabe zu scheiden, der Heimat für ewig Lebewohl zu sagen, sich von deutscher Vaterlandserde für immer zu trennen.

Gruber wankte mehr aus der Stadt, als er aufrecht ging; und als er an das Friedhofstor gelangte, lehnte er sich halb versteckt an die Mauer, um von den Seinen nicht zu früh entdeckt und ausgefragt zu werden.

Als ihn aber jetzt einer der Knaben doch entdeckte und nach ihm zeigte, trat Gruber schnell hervor, und alle Fassung zusammensuchend, die ihm möglich war, näherte er sich den Seinigen, als ob er eben aus der Stadt gekommen wäre.

Die Mutter saß neben dem Grabe, stützte ihre Arme auf die Knie und bedeckte ihr niedersinkendes Gesicht mit beiden Händen.

Sie blickte nur einmal flüchtig auf, als sie ihren Mann kommen hörte, dann verharrte sie wieder n ihrer vorigen Stellung.

Gruber erbebte vor dem Augenblicke, wo er mit der Nachricht aus Schwaben herausrücken musste.

So viel sah er gleich: am Grabe des Kindes durfte er die Wahrheit nicht schnell und offen preisgeben; er wollte daher allerlei hin- und herreden, dann und wann etwas zum Erraten durchblicken lassen, hierauf Weib und Kinder zur Rückkehr in die Stadt bewegen, während der Heimkehr wieder mit der Wahrheit etwas klarer herausrücken und endlich zu Hause mit der Sache nicht mehr zurückhalten.

Deshalb sagte er:

»Da bin ich wieder. Viel Neues bring' ich nicht, aber was für Dinge vorgeh'n unter den Menschen, das ist oft mörderisch traurig. Wenn ich noch lange um Neuigkeiten ausmuss, am Ende werd' ich selber trüb davon. Da hört man heute allweg von einer Geschichte sagen, ein Rabenvater habe sein eigen Kind aus dem Fenster geworfen, weiß Gott warum. Es ist doch Sach' im Überfluss im Haus gewesen, von Sorgen brauchte keine Rede sein, aber der räudige Teufel fährt wie die Pestilenz herum und macht Wildfäng aus den Leuten. Eine andere Geschichte geht den Leuten heute auch zu Herzen. Ich mag sie fast nicht erzählen. Aber auf dem Heimweg will ich's tun; ich bitt' euch, es ist gegen Abend, geh'n wir heim.«

Die Neugierde mache die Kinder sogleich wanderfertig; bei der Mutter schien es schwerer zu halten, doch stand sie endlich auf, schlug ein Kreuz über das Grab ihres Kindes und ging.

Ein Seufzer aus der Tiefe der Brust schien ihr Herz noch im rechten Augenblicke zu erleichtern, eh' es sprang.

Als Gruber die Dinge so weit gediehen sah, zog er noch schnell einmal den Hut und sprach mit Kummer ein stilles Gebet am Grabe Severles, denn er wusste wohl, er sei das letzte Mal an dieser Stelle. Dann brach er eilig auf; er meinte Zentnerlasten an den Füßen zu schleppen. Die Mutter folgte blass und mit sonderbarem Lächeln.

Auf dem Heimwege erzählte Gruber nun abermals eine traurige Geschichte, die er gehört haben wollte; bei dem Stadttore aber sagte er plötzlich, ohne Zusammenhang mit dem Vorhergehenden:

»Auch soll's in Stuckert nicht zum Besten stehen; wer deshalb in Sorgen ist, dem wird es schwer zu Herzen gehen.«

Es lief ihm durch alle Glieder, als er dieses sagte.

»Etwas ist heraus«, dachte er und blickte vor sich hin, um die Wirkung auf dem Gesichte seines Weibes nicht zu sehen.

Die Gruber ging ruhig neben ihrem Manne her, und es schien, dass sie die Worte überhört oder nicht verstanden habe.

»Für jetzt ist genug gesagt«, dachte Gruber wieder, »das andere muss warten bis daheim.«

In der Sachsenhauser Schenke, wo er mit den Seinen einquartiert war, ließ der Vater Weib und Kinder in eine Ecke der Stube zusammensitzen und sagte, er habe jetzt ein Geschäft mit einem Manne abzumachen und werde gleich wieder erscheinen.

Er ging fort, und als er nach einer Weile wieder in die Stube trat, um Weib und Kinder in sein Geheimnis vollends einzuweihen, erstaunte und erschrak er nicht wenig; denn er traf alle bereits beschäftigt, einzupacken und sich reisefertig zu machen.

Keines sprach ein Wort.

Gruber setzte sich hin, sah eine Weile zu und sagte endlich:

»Nun, was macht ihr da?«

Die Mutter lächelte und sagte:

»Komm her, ich will dir's sagen«, und als er aufstand und sich näherte, fiel sie ihm, alles liegen lassend, weinend um den Hals und rief:

»Leute auf dem Kirchhof haben vorhin einander erzählt, in Schwaben ist alles aus, und wie ich das gehört habe, ist mir auch das letzte Hoffen vergangen, und ich hab' Abschied genommen vom Severle und vom deutschen Land und von allem und hab' gedacht, für uns ist jetzt auch alles, alles aus! … So komm nun, hilf und lass uns weiter machen!«

Gruber drückte mit Heftigkeit sein Weib ans Herz. und keines konnte ein Wort weiter sagen.

Sie halfen dann schweigend zusammen, ihre wenigen Sachen in Ordnung zu bringen, und als das geschehen war, setzten sie sich hin und fanden ihre Sprache wieder.

Sie sprachen lange miteinander, viel Erschütterndes und dann und wann so leise, dass die Kinder selbst es nicht verstehen konnten …

Es war schon spät in der Nacht, als sie schlafen gingen.

Am folgenden Morgen reisten Vater, Mutter und Kinder mit rotgeweinten Augen von Frankfurt ab, nachdem sie noch einmal an der Paulskirche vorübergegangen und wohl hundert Male nach der Richtung des Kirchhofes geblickt hatten, wo Severle begraben lag …

Also weinenden Auges ist um jene Zeit auch die Hoffnung Deutschlands ausgewandert, um – wir glauben nicht zu irren – eines Tages, und zwar nicht so ferne, heiteren Auges wieder heimzukehren und daselbst bis ans Ende aller Tage zu bleiben!


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