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Anhang
Geschichten armer Leute

I.
Peter der Raugraf.

1.

Eines kalten Dezembermorgens 1850, während es schneite, was nur vom Himmel fallen konnte, ging ein riesiger Arbeiter mit einer Holzsäge über der Schulter und einer Axt in der Hand die Wiener Vorstadt Mariahilf herunter, um über das Glacis nach der inneren Stadt zu gelangen und daselbst seine gewöhnlichen Geschäfte zu verrichten.

Damals stand es, nach Beseitigung polizeilicher Aufruhrakte, jedermänniglich wieder frei, mit seinem Naturwuchs um Kinn und Backen wieder anzufangen, was man wollte, ihn von der Wurzel weg zu mähen mit der Rasiersense oder stehen und lustig gedeihen zu lassen wie das Rohr am Teiche; deshalb hatte auch Peter der Raugraf, wie der Arbeiter von seinen Kameraden genannt wurde, in Ermangelung anderer Menschenrechte von dieser Freiheit Gebrauch gemacht und eine wahre Barturwildnis um Wangen, Nase und Kinn aufsprossen lassen.

Ohnehin war Peter in der Stadt seiner Manieren wegen arg verschrien, und so fand man es natürlich, dass er eine Art finsteren Bartbanners im Gesicht aufsteckte, um bei seinem Anblick niemand im Zweifel zu lassen, wessen man sich unter Umständen zu versehen habe; das er überdies den unförmigen Schlapphut tief über die Stirne zu drücken pflegte, wodurch das dunkle Auge noch geheimnisvoll-düsterer erschien, das war nur ein Zug mehr im System eines konsequent durchgeführten Bärencharakters.

Peter der Raugraf schritt also an jenem Wintermorgen schweigsam und finster wie immer der inneren Stadt zu, ging durch das Franzenstor nach der Freiung und lehnte sich hier an eine Ecke, um geruhsam abzuwarten, wer etwa kommen und ihn zum Sägen und Spalten von Küchenholz rufen würde.

Er stand nicht lange da, als ein Herrschaftsdiener im Pelzüberrock und Schal erschien und ihm zurief, nachzufolgen und seiner Herrschaft Holz zu spalten, aber schnelle, denn die Kälte sei gar zu grimmig, und es schneie, als habe das Unterbett des Himmels einen meilenweiten Schlitz erhalten!

Peter widmete dem verzärtelten Diener nur einen finsteren Blick unter dem Schirm seines Hutes, blieb ruhig stehen, antwortete nichts, folgte auch nicht, ließ den »Treppenjunker« noch eine Weile rufen und zappeln, bis es ihm zu bunt wurde, so dass er brummend davon lief, um einen gefälligeren Menschen zum Sägen des herrschaftlichen Holzes zu finden.

Nicht lange, so kam ein zweiter Mann daher, welcher für sein Haus einen Holzfäller suchte und froh schien, den Raugraf dort an der Ecke zu entdecken.

Peter erkannte ihn wohl, es war ein seltsamer Mann, ein gar wunderlicher Kauz, Besitzer eines schönen, großen, sehr einträglichen Hauses, der den Grundsatz zu haben schien, zu leben, nicht aber leben zu lassen; denn er sparte an Arbeitskräften, was er sparen konnte, er lief selber, was er laufen konnte, um einen Diener zu ersparen, er ließ sich die schmalste Kost aus dem Gasthaus kommen, um eine Köchin zu ersparen, kurz er lief sich unentgeltlich müde, und aus lauter Sorgen ums Leben darbte er mitten im Überflusse seines Lebens.

Peter der Raugraf sah ihn auf sich zukommen und dachte:

»Du kommst mir wohl gelegen!«

Der sparsame Hausherr rief denn auch und winkte schon von Weitem, dass ihm Peter folgen möchte, und zwar schnelle, schnelle, denn bei solcher Kälte möge wohl ein dienender Geist, aber kein Hausherr lange in der scharfen Morgenluft verweilen!

Peter ließ ihn eine Weile winken und stampfen, dann hob er seine Säge und Axt auf, als habe er die Absicht zu folgen – er folgte auch wirklich dem heimwärts trabenden Hausherrn einige Schritte – allein bei der nächsten Straßenecke blieb er stehen, wendete um und wanderte ganz gelassen wieder zu seinem früheren Eckstein zurück, ohne sich zu kümmern, was aus dem Hausherrn geworden.

Wieder eine Weile – und es erschien ein Frauenzimmer in leichtem Gewande und mit einem Tuch um den Kopf; es bat fast stehend, ihm zu folgen und für seine Herrschaft Holz zu spalten; es zitterte dabei vor Kälte, und die Zähne klapperten bei jedem Worte.

Peter konnte weder sehen, ob das Wesen jung oder alt, noch ob es schön oder hässlich sei; es war ihm genug, zu sehen, dass es nicht viel aufzustecken habe, dass es für die Kälte viel zu leicht gekleidet – kurz dass es arm sei und friere; – alsogleich griff er nach Axt und Säge, rief: »Ja, ja, nur voran, mein Kind!« und folgte der Eilenden mit großen Schritten.

Sie gingen über den Hof nach dem Graben und von da in eine Seitenstraße, wo sie vor einem Hause abgeladenes Holz vorfanden; hier waren sie auch am Ziele ihrer Wanderung.

Peter der Raugraf stürzte sich nun ohne Verweilen in die Schlacht seiner Arbeit, fasste seine hölzernen Feinde Mann für Mann, sägte sie erbarmungslos mitten entzwei und spaltete ihnen sodann die Köpfe wie ein wackerer Ritter und Kämpe der Vorzeit.

Er hatte bereits, ein zweiter Bayard, die Hälfte der feindlichen Heerschar gemäht und gespalten, als ihn ein seltsames Wimmern und Ächzen, ähnlich dem leisen Weinen eines Kindes, aufmerksam machte.

Er ließ die Arbeit ruhen, blickte hin und her, erforsche mit den Augen, woher das Wimmern komme – und siehe da! – ein großer Korb stand dort an dem Tore, und im Korb lag – ein Bettlein, und im Bettlein lag –

Eine schöne Bescherung, eine gar possierliche Bescherung – ein kleines, ganz kleines, fast neugeborenes fremdes Wickelkind!

Peter trat hin und besah sich den seltsamen Fund eines Näheren – erschrak, erstaunte, lächelte und sagte zu sich selber:

»Eine schöne Bescherung!«

Aber was tun?

Peter trat in das Haus, klopfte an die Türe der Leute, deren Holz er sägte, und deutete an, man könne da, wen man wolle, auf die schönste Art zu einem Kindlein kommen, schön in ein Bettlein gewickelt und schön in einen Korb gelegt; – aber Eile tue not, denn die Kälte sei keines Erwachsenen, viel weniger eines hilflosen Kindes Freund!

Er sprach auch wirklich nicht zu tauben Ohren.

Es war ein gutes, bejahrtes Ehepaar, dem Peter die Nachricht brachte, dasselbe steckte sich schnell in dichte Kleidung und machte sich unter Rufen der Verwunderung und des Bedauerns auf die Kindesschau vor der Türe.

Da stand er in der Tat, der kleine Korb, und im Korbe lag – wirklich, das weiche Bettlein – im Bettlein aber, siehe, da lag es unbestritten, das kleine, fremde Wickelkind!

Letzteres hatte aufgehört zu wimmern, und schien zu schlafen; vor Kälte war das Gesicht des armen Würmleins ganz rot und blau geworden!

Herr und Frau Rintler, das bejahrte Ehepaar, welches ein artiges Vermögen und keine Kinder besaß, wurden von dem Anblick des verlassenen Wesens einerseits von Mitleid und andererseits von allerlei Gedanken ergriffen.

»Wie«, meinte der fromme alte Herr nach einer Pause, »wenn wir uns des Würmleins wirklich gleichwie eines eigenen bemächtigen, wenn wir den Segen unseres Glückes mit einem Kindlein steilen wollten, dessen Herz uns noch ein unerwarteter Schatz, dessen Arme noch eine Stütze im hohen Alter werden könnten?«

»Ja und wie«, bemerkte die gute alte Rintler gleich dazu, wenn es nicht bloß Zufall – wenn es ein Wink der Vorsehung wäre, dass gerade vor unsere Schwelle dies kleine, liebe, herzige Ebenbild Gottes gelegt worden ist? Wenn wir in unseren alten Tagen uns noch eine schöne Stufe in den Himmel bauen könnten durch diese Handlung der Menschenliebe, der christlichen Milde, der Nächstenhilfe? Heißt es nicht in dem Neuen Testamente: Was ihr dem Geringsten eurer Nebenmenschen tut, das ist so viel, als hättet ihr's mir getan?«

»Ha«, fuhr der alte Herr noch wärmer fort, »wenn in dem armen Würmlein nun gar etwas ganz Besonderes steckte, wenn es einmal Talente entwickelte zum Erstaunen der Welt, und es hieße: Siehe! Vor frommer Leute Haus ist das arme Würmlein gefunden worden an einem kalten Dezembermorgen, hilflos, fast erfroren, dem Verkommen nahe – und da hat es sich gezeigt, dass es noch immer gute Herzen gibt auf der Welt; denn das gute Ehepaar hat sich schnell und ergeben in den Willen des Allmächtigen, der ja die Schicksale im Himmel und auf Erden lenkt, mit freudiger Seele entschlossen, das Kindlein dem Tode zu entreißen und wie ein eigenes zu erziehen zur Ehre Gottes und zum Heile der Welt; und so ist dies Wunderkind nun aufgewachsen in guten, sorgsamen Händen, wohl gepflegt und fromm erzogen und mit Sorgfalt gelenkt und mit allen Opfern wackerer Pflegeeltern im Guten unterwiesen!«

»Wie«, überlegte die gute alte Frau mit Beben, »wenn es nun ein Knäblein ist, das arme Würmchen, soll es nicht gleich dem Priestertum gewidmet, den Werken des Himmels geweiht werden, um einst die Wege des Erlösers auf Erden zu wandeln und uns die Wege des ewigen Heils zu erleichtern? Und wenn es ein Mägdlein ist – ah, wem soll es dann zum Unterricht vertrauet werden? Soll es der Welt oder der Kirche geleitet oder mit Marias gnadenreicher Hilfe ein fleckenloses Muster ihres Geschlechtes auf Erden werden?«

»Das alles wird sich wohl erwägen und entscheiden lassen«, sagte Rintler mit der Miene frommer Entschlossenheit, »die Hauptsache ist, dass wir mit Gottes Hilfe und durch Glücksumstände die nötigen Mittel erworben haben für uns du unser Kind; es mag nun ein Knäblein sein oder ein Mägdlein, so sind wir im Stande, es vor Sorgen zu bewahren und in Gottesfurcht und christlicher Liebe einer echten, rechten Bestimmung zuzuführen!«

So, bald in fromm getragener, bald in einfach wohlmeinender Sprache redend und beratend, war das alte Ehepaar aus der freien Luft in die wärmere Vorhalle und von da in das geheizte Zimmer zurückgekehrt und hatte vor lauter salbungsvollen Plänen und Entschließungen anzuordnen vergessen was mit dem Kindlein draußen geschehen solle, dem inzwischen gerade mit Muße zu erfrieren Zeit gelassen war. Als man nun, das Versehen gut zu machen, wieder vor die Türe eilte –

Da war das Kindlein mit dem Bett und Korbe fort – und nirgends mehr zu finden!

Peter der Raugraf stand nicht weit vom Hause in seine Arbeit vertieft und ein lustig Liedlein pfeifend; nach dem Kinde befragt, sagte er, von demselben nichts zu wissen, er habe es lange schon in den guten Händen der Suchenden gedacht!

Dabei brauste der Novemberwind, und es fiel der Schnee in Massen …

2.

In der kleinen Torstube eines Hausmeisters waren zwei Stunden später einige Erwachsene und einige Kinder versammelt, welche neugierig um eine Wiege standen, in welcher ein gar liebes kleines Kindlein lag und mit wunderholden blauen Augen bald nach der Zimmerdecke und bald nach den umstehenden Menschen blickte.

Die Hausmeisterin erzählte, das Kind sei am frühen Morgen ausgesetzt und von Peter dem Raugraf gefunden worden, der es ihr nur so lange zum Wärmen und Pflegen übergeben habe, bis er in der Nachbarschaft mit seiner Arbeit fertig sei; er wolle das kleine Wesen dann mit in seine Vorstadt nehmen und als eigenes Kindlein gelten lassen.

Man betrachtete nun das freundliche Wesen in der Wiege mit erneuerter Teilnahme, untersuchte den Korb und das Bettlein im Korbe, ob nicht Gold für den Finder oder ein Name mit Familienzeichen zu entdecken sei, und als sich ganz und gar von allem dem nichts finden wollte, enthielt man sich bald einer scharfen Beurteilung einer so unseligen, herzlosen, verdammenswerten Tat, wie das Aussetzen eines Kindes sei, nicht ferner.

Einige schwere Schritte vor der Türe, das kräftige An-die-Wand-Lehnen einer schweren Axt und ein gewaltiges Räuspern draußen störte das mundfertige Beurteilen der unbekannten Mutter des Kindes; man erschrak vor dem Gedanken, Peter der Raugraf könne kommen und die unberufene Versammlung nicht eben liebevoll begrüßen; man beeilte sich daher, rechtzeitig zu entschlüpfen, und es hieß von allen Seiten nun:

»Ade, Frau Nachbarin, und dank' schön für das schöne Muster von dem Kleid und schönen Dank für die Auskunft über meinen Vetter Spengler, und ich werd's schon gut und auch noch quitt machen, liebe Frau Nachbarin, Ihr wisst von wegen des Geschenkes gestern – also kommt bald, ade und ade – ach, lieber Himmel, was es Schnee schneit heute und was es rackerkalt ist – Winter, o Winter! Guten Morgen, Nachbarin!«

Und schon trat Peter der Raugraf herein.

Die Säge hatte er vergessen draußen zu lassen, und es schien ihm auch nicht einzufallen, den breitschirmigen Hut, den eine Schneelast wie einen Fichtenast senkte, grüßend abzunehmen.

Peters erster Blick fiel auf die Wiege, in welcher das Kindlein lag; sein erstes Wort war:

»Umgeladen?«

Die Frau Hausmeisterin erwiderte »Ja« und erklärte, dass nur so in der Wiege das kleine Wesen zu wärmen und wieder recht zu beleben gewesen sei.

Es habe auch ein wenig geschlafen und artig warme Milch getrunken, fügte sie hinzu; jetzt sei es frisch und gesund, ein Kindlein wahrhaft zum Herzen, ein schönes Kind, ein liebes, gutes, friedsames Kind; ein sanftes, artiges, höchst gescheites Kind, gewiss von einem tannengraden Vater und von einer seelenguten, schönen Mutter –

»Ich sag' euch, Peter, ein Kind ist's, sag' ich euch« –

»Lobt's nicht so, ich will euch's ja nicht schenken«, unterbrach sie der Raugraf – »keinen Zeitverlust, muss ich bitten, emballiert mir das liebe, tugendsame Tierchen wieder in den guten, gescheiten Herrn Elternkorb, ich will's von dannen führen!«

Und als das Kindlein wieder wohl umwickelt und verwahrt in dem Korbe ruhte, nahm er's auf in seinen mächtigen Arm und schritt davon, ohne zu danken für die Guttat an dem Kinde, noch auch einen »Guten Morgen« bietend.

Es schneite noch immer maßlos, die Kälte aber hatte nachgelassen.

Peter kam im Schneegestöber unbeachtet bis zu seiner Vorstadtwohnung, klopfte da ein altes Weib ans Fenster und sagte:

»Ein neues Möbel für meine Stube, Frau, ist angekommen, folgt mir, kommt herüber!«

Und die Alte kam heraus und folgte ihm, und als sie beide in die Stube traten, stellte Letzterer den Korb auf seinen Tisch und sagte:

»Gewächs vom Donauweibchen, einer seelenguten, braven, wunderschönen Mutter und von ihrem Manne, einem tannengraden, wahrscheinlich auch sehr braven, lieben, guten, edlen, süßen, unsichtbaren Vater – aber was da! Das Kind ist jetzt mein, verstanden? Ihr fragt nicht weiter, hört ihr? Da ist Geld, dort Holz, macht Feuer an, tut Milch in die Pfanne und sorgt mir für das Würmlein!«

Er lehnte Axt und Säge an die Wand, legte den Hut bei Seite, ging einige Male durch die kleine Stube, fuhr sich mit den zehn Fingern beider Hände durch den Bart und durch das wirre Haupthaar, worauf er vor den Tisch hintrat und ernst-nachdenklich auf das Kind im Korbe blickte.

Verdrießlich lächelnd, sagte er nach einer Weile:

»Gelt, gelt … Was das für Ach und Weh ist, wie da gesonnen und überlegt, beraten und geächzt wird, wen so zwei alten, guten, frommen, reichen Christen eine Guttat schnell passieren soll! Du armes Würmlein hättest können recht bequem erfrieren, bis sie einig waren, ob es gut sei, dich unter ihr schönes Dach zu nehmen; sie haben erst überlegen müssen, ob sie durch eine solche Tat in diesem Leben Nutzen, in jenem Leben Gottes Lohn erwerben – das hab' ich nicht ertragen, ich hab' dich weggeführt, wie ein Dieb mit mir genommen, aus Zorn und diesen guten Leuten zum Verdrusse! Jetzt – nun jetzt hast du zum Mindesten das Leben, sollst bei mir nicht frieren, auch nicht hungern, auch nicht in Lumpen gehen – Kannst dich drauf verlassen! Damit Basta!«

Er ging hinweg und in Gedanken wieder einige Male auf und nieder.

Als er eben die Axt und Säge wieder ergreifen und gehen wollte, um seine Tagesarbeit fortzusetzen, regte sich das Kind im Korbe, das bisher geschlafen, es erwachte weinend.

Peter blickte nach der Türe, ob die Wärterin, die um Milch gelaufen, noch nicht wieder komme, um das Kind zu nehmen, allein sie kam nicht, und so blieb nichts übrig, als dass er selbst hintrat, den Korb mitsamt dem Kindlein aufhob und in seinen Armen wiegte.

Das tat er nicht, ohne heiter vor sich hin zu lächeln und zu denken:

»Erste Vaterpflicht! So wird sich eines aus dem andern wickeln!«

Das Kindlein schwieg zwar alsbald wieder, allein Peter wagte es doch nicht, es gleich wieder auf den Tisch zu legen; er setzte sich auf einen Stuhl neben dem kleinen Fenster, stellte den Korb auf seinen Schoß und schwenkte lebhaft mit dem Kleinen. Auch ein verrostet Kinderlied fand er hervor und brummte es lächelnd vor sich hin; dann schwieg er und betrachtete das Kind.

»Hm; – so kleine, so unbeholfen, so hilfsbedürftig fängt ein Menschenwesen an«, dachte er, »es braucht nur, dass man's hinlegt, wo es niemand sieht und hört – und es weint und wehrt sich eine Weile, wird dann stille, stille, atemstille, schließt die Äuglein – hm, die lieben, blauen Äuglein – streckt sich sachte – stirbt und ist nicht mehr!«

Er beugte sich über das Angesicht des Kindes und sah mit Rührung in die engelholden, frischen Augen; erst nach einer Weile kam er aus Gedanken, Erinnerungen und wundersamen Schauern zu sich selbst und sagte lächelnd und bewegt:

»Nein, nein, du armes Würmlein, nein! Nicht weinen sollst du, wo dich niemand hört und sieht; nicht stille sollst du werden – sterben – und die lieben Äuglein schließen; du bist mein, sollst leben, leben! – und auch wohlergehen soll es dir auf Erden!«

Wie dieses Kind, so klein und hilfebedürftig, hatte auch er einst zu einem Mutterangesicht empor gesehen hatte die liebevollen Klänge einer Mutterstimme über sich vernommen, die er noch im Ohr zu haben meinte; das zarte Blau in diesem Kindesauge war ihm auch im Leben schon begegnet, hatte ihn erfreut, bezaubert, um sich dann von ihm zu wenden; wie süß, wie weh! – wie Leben gebend und tödlich! … Doch dahin. War alles jetzt doch überstanden, nur noch ferne treffend!

Mutterauge – Auge der Geliebten – wie suchte Peter in den morgenfrischen Kindesaugen eure fernen, fernen Zauber wieder auf und glaubte sie zu finden, zu beleben, fest zu halten!

Fort mit allem, was ihn quälte, stieß, verwundete im Leben! Fort mit Seufzen, Klagen über all die Rippenstöße eines armen und geplagten Lebens – zwei blaue Freundessterne, Kindesäuglein, hatte er gefunden, welche alles weckten, was einst süß für ihn gewesen – Wonne eines Mutterauges, eines Auges der Geliebten – stille, stille … Hier strömen alle jene Seligkeiten wieder aus den Augen eines Kindes!

Peter lüftete dem Kinde, das sich streckte, jetzt die Arme, und siehe da, mit den – Peter lachte hellauf über diese Fingerchen – ja mit den winzig kleine, süßen, zarten Fingerchen – zu goldig, nein zu goldig, auch schon Näglein waren dran! – und zehn gespreizten Fingerchen griff's spielend nach den Augen Peters, wühlte ihm im Bart herum und tat so lustig und vertraut, als hätte es das beste Väterchen der Welt vor sich …

Indessen hatte die Wärterin die Milch gebracht, hatte eingeheizt, war einige Male die Stube ein- und ausgegangen, war sogar einmal hinter Peter den Raugraf getreten, ohne dass sich dieser stören ließ oder auch nur hörte, was da vorging; erst als die Wärterin zu reden, zu fragen, zu rufen begann, hob Peter das Haupt, wie auf einem Traum erwachend, und sagte etwa wirr:

»Nun, was da? Was gibt's? Ihr seid es? So. Soso – versorgt mir ja das Kind, versorgt mir's wohl! Und ich will arbeiten, will schaffen. – Seht mir auf das Kindlein, Frau! Jetzt geh' ich wieder, alarmiert mir keine Neugier in dem Viertel – sorgt mir für das Kind; 's ist mein, ihr sollt mir's nicht umsonst versorgen!«

Er stand auf, nahm die Axt und Säge wieder, griff nach dem Hut, und indem er sich den Schirm desselben in die Augen bog, entfernte er sich ohne aufzublicken.

Draußen fuhr er sich, wie seine Stirne trocknend, einmal übers Angesicht und befreite nebenher die Wimpern von zwei schweren Tropfen …

Der Schrecken manches Kindes auf der Straße, die Scheuche für manches ängstliches Auge, ging er dann als »Peter der Raugraf« seiner Wege, unerkannt in seinem Innern, unerraten in der tiefen Rührung, die das Äuglein eines Kindes ihm erregt.«

3.

Am folgenden Morgen stand Peter der Raugraf mit Axt und Säge wieder an der Straßenecke und wartete, wer zum Sägen und Spalten von Holz ihn rufen würde.

Und siehe da! Er erste, welcher kam, war wieder ein Herrschaftsdiener in Schal und Mantel.

Er schien Peter schon von früheren Begegnungen zu kennen und machte keine Miene, sich mit einer Bitte jetzt an ihn zu wenden.

Aber, o Wunder über Wunder! Indem der Diener mit gesenkten Blicken und flüchtigen Schritten an ihm vorüber wollte, hörte er sich mit anständigem Tone rufen, und als er aufblickte, sah er den Raugrafen auf sich zukommen, mit der artigen Frage, ob er vorüberwolle, um einen Arbeiter zu suchen; ob er nicht gleich ihn mit sich nehmen wolle.

Der Diener hielt an, bedachte sich – und bejahrte dann beide Fragen mit einem zweideutigen Blick auf Peter. Er ließ sich der peinlichen Kälte halber die neue Freundschaft des verwünschten Zottelbären gefallen. Eiligen Schrittes trabte er also voran, und Peter stieg mit langen Schritten dem süßen »Teekurier Ihrer Gnaden der gnädigen Frau, Frau von und zu Gnadenhausen« nach.

»Warum nicht?« dachte er, »wer Kinder zu ernähren hat, der greift zu, wo sich Arbeit findet! Früher habe ich diesen Ofenhockern ein Bein gestellt, in Gottes Namen sollen sie nun sehen, wie ich in der Arbeit gewohnt bin, meinen Mann zu stellen!«

Denselben Morgen sägte und spaltete Peter der Raugraf noch mehreren »adeligen Vettern«, wie er scherzend seines Spitznamens dachte, ihr Heiz- und Küchenholz und ergriff überhaupt von nun an wie im Rappel jede Gelegenheit zu arbeiten und »für seine Familie« zu verdienen.

Man musste ihn dann sehen, sein verdientes Geld einstecken und, wenn es Abend wurde, heimwärts seiner Wohnung in der Vorstadt zuschreiten!

Ein Sieger kehrt mit keinem größeren Blicke aus der Feldschlacht heim, als Peter nach vollbrachtem Tagewerk zu den »Seinen«, d. h. zum holden Kindlein heimkehrte, das sein ganzes Herz gewonnen hatte, seitdem er wusste, dass es ein Knabe sei.

Er mochte noch so müde heimkommen; er nahm das Kindlein aus der neuen Wiege, hob es auf den Arm, trug es die Stube kreuz und quer und wiegte und schwenkte es unter Singen und Pfeifen auf und ab und hin und wieder.

Lachte nun gar das kleine Wesen und streckte die Händchen nach ihm aus, griff nach den Augen, nach seinem Bart, da wurde er selber zum Kinde, herzte und drückte es unter Jubelrufen und nannte es seinen Herrn Sohn, seinen Hauptstaatskerl, an dem er sich ein »Exempel« ätzen wolle!

Wäre sein Söhnlein nur schon groß gewesen! Wie hätte er mit ihm ein neues, glückliches Leben begonnen!

Wie hätte er ihn, ihn allein unter all den kalten, jämmerlichen, eigennützigen, herzlosen Mensch zum Vertrauten seiner Klage, seiner Erfahrungen, seiner Lehren, seiner Tränen und Bannflüche gemacht!

»Trau keinem – o Sohn, o Sohn! – trau keinem schönen Auge, keinem schönen Mund, keinem guten Worte, keiner Schmeichelei eines weiblichen Wesens«, hätte er gesagt, »ich kann dir's raten und rate dir's als Freund, als Vater, als dein bittender Vater! Trau keinem Mann als Freund, und wenn er mit dir aufgewachsen, dir ans Herz gewachsen ist! Trau keinem, sag' ich dir, mein Sohn! Das erste Weib wendet dir ihn ab, du glaubst ihn noch zu haben, und er ist ihr; du glaubst sie noch zu haben, und sie ist sein! O Sohn, o Sohn! Erwarte von der ganzen Welt nicht viel, am besten nichts, o gar nichts; lass dir Haar und Nägel wachsen, kleide dich in Schreckbehäng, auf das sie von dir weichen wie die Sperlinge von Scheuchen. Denn was soll die Welt, die Erde, die Menschen und das Leben, wenn Freundschaft und die Liebe nicht mehr Wort und Treue halten? Lieber, wie ich, ein Schrecknis sein für alle, lieber trocken Brot in einer Höhle essen als Braten auf lackiertem Tisch mit schönen Kleidern und falscher Liebe an der Seite!« …

Einst gegen Abend kehrte Peter wieder aus der Stadt nach seiner Wohnung in der Vorstadt heim und war in einer Stimmung, von der man nicht gut sagen konnte, wer sie heiter oder trüb; eine stille Wehmut lag auf seinem Herzen.

Peter hatte den ganzen Tag über wieder manche Erinnerung an vergangene Tage im Herzen und manche Klänge einst so lieber Menschen im Ohre gehabt und sehnte sich n seine warme Zelle zu seinem Sohne heim, an dem er eigentlich den einzigen Vertrauten und treuen Freund jetzt hatte, den er nicht selten schon unter Liedern und Scherzen manche Lebensweisheit mit Ernst und Nachdruck lehrte.

Weinte der Kleine zufällig nach empfangener Mitteilung, so ergriff ihn das nicht wenig, und die Augen gingen ihm über; – lachte der Kleine aber, dann fuhr es Peter wie ein Schwert durch die Seele, und er rief:

»Ja, ja! Du hast die Sache recht begriffen, hast recht, hast recht – o jedes Kind kann die Geschichte ja begreifen! Nein, nicht weinen soll man, nicht zittern und beben vor Zorn – lachen, lachen soll man, dass die Wände zittern – lachen – o mein Söhnlein – wachse, nehme zu an Jahren und Einsicht, du sollst noch alles hören, eins ums andere, zusammenhängend sollst du alles wissen!«

Als Peter an jenem Abend in die Nähe seiner Wohnung kam, sich den Schnee von Hut und Jacke schüttelte, die Säge von der Schulter nahm und die großen, schweren Stiefel an die Wand stieß, um sie von Schnee und Eis zu befreien – horch, da hörte er in seiner Zelle einen Ruf des Schreckens, und gleich darauf sah er eine verhüllte Weibsgestalt über Hals und Kopf aus seiner Türe stürzen und durch den dunklen Gang des Hauses nach der nächsten Straße fliehen.

Peter hatte kaum Zeit gehabt, einen Argwohn zu fassen, als die flüchtige Unbekannte schon verschwunden und schwerlich mehr einzuholen war.

Umso heißer und gewaltiger schoss ihm jetzt der Gedanke durch die Seele, dass es sich hier um Besitz und Nichtbesitz seines geliebten Kindes handeln – dass die Fliehende möglicherweise die Mutter des Kindes sein könnte, die demselben auf die Spur gekommen, die es zu entführen Anstalt machte – ah! – Peter ließ Axt und Säge fallen, sprang mit ausgebreiteten Armen vor seine Zellentüre, als wolle er jede weitere Flucht aus seiner Stube hindern; – als aber niemand weiter herauskam, stieß er die Türe weit auf, rief: »Wer da? Was soll das heißen?« und trat ein.

Die alte Wärterin stand mitten in der Stube da, hatte das Kindlein auf den Armen und war ein Zittern an den Gliedern, eine Glut der Verlegenheit im Gesicht.

Der Raugraf, in diesem Augenblicke wirklich eine furchtbare Erscheinung, stand eine Weile mit durchbohrenden Blicken vor der Wärterin und sagte dann mit donnerähnlicher Stimme:

»Was gab's da? Wer ist 'naus zum Tempel? Wer visitiert mir Haus und Kind? Beim Gott im Himmel! Beim allwissenden Gott da droben – Nachbarin, wenn mir in meinem Haus da, wenn mir in meinem Haus da, wenn mir an dem Kindlein ein Übel geschähe, wenn mir – Nachbarin, Nachbarin, seid gewarnt, seid auf eurer Hut – was ich tät', wenn meinem Kindlein was geschähe – ich kann es noch nicht sagen!«

Und noch eh' die alte Wärterin die Fassung zu reden fand, hatte ihr Peter das Kind entzogen und hielt es auf- und niedergehend, weich und vorsichtig an der Brust in seinen Armen.

Die Wärterin erklärte nun mit zitternder Stimme, es sei ja niemand da gewesen als eine liebe, brave Bekannte aus der Nachbarschaft, ihr habe sie das Kindlein nur gezeigt, nur so ein wenig hingezeigt, und habe ihr aber nicht vertraut, woher das Kindlein stamme, sondern nur, dass es Peters Kind sei, sein Kind wahrhaftig und von einer rechtschaffenen, soliden Frau, die nur jetzt gehindert sei, bei Mann und Kind zu sein – und während sie das so erzählt, wahrhaft so erzählt, wären auf einmal Peters Schritte und Räuspern hörbar geworden, und sie sei »gottvoll« – nein »gottlos« – nein »beim wahrhaftigen Gott« zum Tod erschrocken und habe einen Schrei ausgestoßen, und die liebe Freundin der Türe zu – und habe geschrien: »Fort! Mach fort! Scher' dich hinaus! Mach, dass du weiter kommst! Verschwind! Er kommt, er ist schon da!« Und leider Gottes sei im Augenblicke Peter wirklich da gewesen und habe sie, die Freundin, noch erblickt und leider – leider auch noch laufen seh'n!

Peter hatte den Schluss dieser langen Erklärung ganz überhört, indem er das Kind nur immer von einem Arm in den andern nahm, um sich ja zu überzeugen, dass er es habe, dass er es leibhaftig halte, dass er es noch im rechen Augenblick vor einer Entführung gerettet habe!

Ruhiger, aber noch bebend vor Argwohn, sagte er dann zur Wärterin:

»Schürt den Ofen, seht nach Speis' und Trank für meinen Sohn da; ein Gedenkblatt will ich euch später noch geben; geht – ich hab mit meinem Sohn zu reden!«

Die Wärterin ging; Peter setzte sich mit seinem Söhnlein zum Ofen, wiegte es auf seinem Schoß, sang und pfiff ihm vor und sagte ihm dann mit gesenktem Kopfe wie ins Ohr:

»Sohn, ich trau' den Leuten da herum nicht mehr; morgen verändern wir die Wohnung; ich lass mir's nicht mehr nehmen, man schmiedet einen Anschlag – du sollst – man will dich wegstibitzen – drum heißt's vorgesehen – meinst du nicht? Was denkst du? Sprich12

Der Kleine krabbelte mit beiden Händen dem Ziehpapa im Bart, blickte ihn erst mit großen, dann mit lächelnden Augen an und schien zu sagen:

»Hm. Soso. Aha. Wie du meinst, Papa – lächerlich, dass ich nicht soll Ruhe und Sicherheit im Quartier da finden – gut; so wollen wir die Stellung ändern!«

4.

Ander Tages wurde also das zwischen Sohn und Vater wohlerwogenen Geheimnis ausgeführt; man bezog eine Wohnung in einem der verstecktesten und wunderlichsten Winkel einer andern Vorstadt.

Mancher Vater wäre so vor der Hand über die Sicherheit seines Kindes beruhigt gewesen; Peter der Raugraf aber, trotzdem er in der neuen Wohnung wirklich als unbestrittener Vater galt und eine treffliche Wärterin gefunden hatte, konnte von behaglichem Friede nicht mehr sagen, denn der Argwohn, dass sich über kurz oder lang fremde Menschen wieder zwischen ihn und seinen Sohn drängen, ihm sein einziges und letztes Verhältnis zärtlicher Freundschaft hinterlistig, mit kalter Grausamkeit stören könnten – dieser Argwohn regte sich leiser oder stärker.

Wie tröstlich hatte er sich seine Tage unter Arbeit, im Angedenken an ein liebes, treues Kind, seine Abende an der Seite seines ihm mit morgenfrischer Seele ergebenes Söhnlein gedacht! Wie sollte da sich an der reinen, treuen Seele des Kindes sein verwildertes, verbittertes Wesen wieder beleben, erfrischen, versüßen! – Waren doch schon liebe, artige Stunden verlebt, verplaudert, unter Spiel und Gesang lustig genossen – aber siehe da! – es hatte sich der erste Vorposten unberufener Menschen bereits gezeigt – es konnte bald der Vortrab, bald ein ganzes Armeekorps, bald die ganze feindliche Masse zum Vorschein kommen – und dahin war der erste Keim und Ansatz eines neuen Lebens, das erste Veilchen eines neuen Seelenfrühlings!

Denn das sah Peter en und hatte ja hierin seine erschütternden Erfahrungen gemacht! Wenn er mit den Reizen der Welt und mit den Lockungen der Menschen um den ferneren Besitz des Knäbleins ringen musste, dann war die Kleinod, dies einzige und letzte Kleinod seines Lebens dahin, er konnte es weder mit Gewalt noch durch Güte noch durch irgendeinen Aufwand von Glanz, Genüssen und Hoffnungen für die Zukunft behaupten.

Besaß er nicht einst auch einen Schatz, den er nicht um alles Gold der Welt dahingegeben hätte – und wo war er nun?

Hing dieser Schatz – o dass es ihn fort und fort gemahnen musste, dass er sein Hannchen nimmer, trotz aller Treulosigkeit immer noch nicht vergessen konnte! – Hing dieser Schatz, dieses sein Hannchen einst nicht auch an ihm wie mit Klammern von Stahl? Hatte es nicht den Schein, dass alle Zangen und Hebel der Welt, alle Reichtümer und Reize der Erde sie nicht von seinem Herzen reißen könnten?

Und doch – wo war sie nun? Wem gehörte sie nun?

Ein Freund, ein falscher Freund, kaum etwas hübscher als Peter, kaum etwas wohlhabender als er, kaum freundlicher in Manieren, kaum im Stande, einen Tanz etwas feiner und flinker auszuführen als er – ah! Wie schoss ihm der Zorn wieder glühend durch die Seele – dieser Freund – war er nicht im Stande gewesen, das unmöglich Scheinende zu tun, ihm den Schatz von der Brust zu reißen? Verließ ihn seine Hanne nicht freiwillig um dieses kaum schöneren, kaum reicheren, kaum flinkeren Freundes willen?

O, es gingt so viel schönere Menschen, Menschen mit Haufen von Gold und Edelsteinen, Menschen, die Vergnügungen in Scharen bieten können – es gibt so viele Reize und Gewalten im Leben – wenn nun diese anrücken und winken, und an sich reißen – ein unerfahren Kind abwendig machen wollen –

O! Peter sah wohl ein, dass er seinen Knaben, seine zukünftigen Freund, noch nicht so ganz besaß!

Jetzt freilich – jetzt konnte er noch sagen, er habe, er besitze ihn – hat er doch kaum noch die lieben, blauen Äuglein aufgetan, kaum sich umgesehen und gefragt: Was ist schön und schöner von zwei und mehreren Dingen? Jetzt freilich konnte es nicht fehlen, dass ihm Peter unter allen Männern der beste, der liebste, der schönste scheinen musste; hatte er doch kaum noch einen andern gesehen! Aber einst – einst …

Peter ging mit solcherlei Gedanken eines Tages durch eine der belebtesten Straßen der Stadt und kam zufällig an einem großen Spiegelgewölbe vorbei; ein am Eingange des Gewölbes hängender, großer Spiegel zeigte urplötzlich seine ganze Gestalt von Kopf bis zu den Füßen – und Peter erwehrte sich eines Schreckens, einer tiefen Betrübnis nicht.

Wie sah er aus in diesem abgenützten, elenden Schlapphut! Mit diesem Urwald von hangendem Haar und Bart! In diesem Jammeraufzug eines Menschen!

Er zuckte in sich selbst zusammen, blieb einen Augenblick durchschauert stehen, sah fast scheu auf die Menge vorübereilender Menschen, die alle so schmuck, so sorgfältig gekleidet durch die Gasse eilen.

»Wenn dich dein Söhnlein«, dachte er, »also unter diesen schönen, geputzten, reichen Menschen sieht, dann, Peter, dann sag' ihm nur Lebewohl, denn er wird mit Schrecken sich von dir wenden.«

Eine Träne trat in sein Auge, er ging dem nächsten Haarschneideladen zu und ließ unter Kamm und Schere Flocke um Flocke seines Bartes und Haares zu Boden wallen.

Leichter an Haupt und im Herzen, trat er wieder auf die Straße und vor den großen Spiegel, der sein Angesicht nun lichter und freundlicher zeigte.

Lächelnd kam er jenes Tages heim und zeigte sich dem Söhnlein so erheitert und versöhnt. Zufällig war auch das Knäblein bestens aufgeräumt und griff ihm glücklich nach Bart und Wangen.

Nun verklärte sich Peters Angesicht im wahrsten Sinne. »Sieg! Sieg!« dachte er: »Ich gefalle meinem Sohne! Noch kann alles werden!«

Von nun an schnitt er selber fleißig an Bart und Haar, arbeitete noch eifriger als sonst und erschwang sich einen neuen Hut und gewandete sich nach und nach von Kopf bis zu den Füßen.

Einst stand er wieder an einer Straßenecke und wartete auf Arbeit; es war ein milder, sonniger Wintertag, und die Menschen gingen langsamer durch die Straßen.

Ein kleines Schulkind, ein Mädchen, ging an Peter vorbei und hatte sein Schreibheft aufgetan und blätterte darin und las bald hier, bald dort.

Peter hatte, seitdem er selber Vater war, ein aufmerksames Auge auf das Tun und Treiben der Kinder und bemerkte auch dieses kleine, eifrige Schulkind, lächelte ihm zu und sagte in wahrhaft sanftem Tone:

»Nun, liebe Kleine? Was hast du da? Du liesest schon Geschriebenes? Schreibst wohl selber auch schon? Ei komm! Komm her! Lass sehen!«

Das Mädchen war nicht blöde und trat zu ihm und zeigte ihm das Heft – und wirklich schrieb und las die Kleine zum Verwundern gut!

Peter nahm das Kind gar sänftiglich beim Kopf und lobte und munterte es auf und wollte eben sagen: »Ich habe auch ein Söhnlein, es geht noch nicht in die Schule, allen ich hoff' …« In diesem Augenbicke flog ihm ein Gedanke durch das Herz, der ihm die Rede unvollendet von den Lippen nahm; er sagte nur noch geschwinde: »Geh mit Gott, mein Kind, die Schule könnte schon beginnen – ich hoff', ich seh' dich wieder!«

Und siehe da! Eine neue Sorge bewegte sein väterliches Herz.

Wie? Wenn sein Knäblein einst die ersten Schreib- und Leseproben halten – wenn es dann von Zeit zu Zeit daheim den Vater fragen sollte: Wie nun, wie hab' ich das zu machen? – das – und wieder das? – Wie sollte er dem Kleinen raten, er, der von Druck und Schrift so viel als nichts mehr wusste? Ah! Der erste, beste Nachbar, der erste, beste Mensch auf der Straße konnte dann seinem Söhnlein Auskunft geben – und er, der Vater, sozusagen der eigene Vater stand wie ein Holzblock da und wusste nicht ja, noch nein, nicht vor und nicht zurück? Nein, nein! Das durfte nicht so kommen! Dem musste vorgebeugt werden! Von der Achtung des Söhnleins durfte ihm nichts an andere verschleppt, verzettelt werden. Peter beschloss, von nun an jeden Sonntag Schreib- und Leseübungen zu halten und es dahin zu bringen, dass er seinem Söhnlein künftig wenigstens ein – zwei Schritte voraus sein konnte.

Mit diesem festen Vorsatz ging er heim, um –

Was zu finden? Sein Söhnlein zu finden? Seinen künftigen Schüler und Freund?

Dann war's nur schade – denn er war nicht mehr zu finden – er war gestohlen, geraubt – kurz, war dahin!

Die Wärterin kam ihm laut jammernd entgegen, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, flehte um Gottes Barmherzigkeit willen, nicht ihr die Schuld dieses Unglücks beizumessen; denn sie habe zum Besten des Kindleins, ja wahrhaftig und Gott, zum Besten des armen, süßen geraubten Mäusleins nur einen Sprung über die Gasse getan, nur um eine Semmel für die Milch des Würmleins zu holen – da sei's indessen geschehen, sei in zwei Minuten das Kindlein geraubt, gestohlen, entführt gewesen – hinweg, hinweg, zu ihrem Jammer und Entsetzen hinweg! …

5.

Peter stand da – die Axt fiel ihm aus den Händen; – er stand bewegungslos, mit offenen Lippen da – die Säge gleitete ihm von seiner Schulter; er stand da am ganzen Körper zitternd, mit stieren, blutunterlaufenen Augen auf die schreiende Wärterin starrend; seine Arme hoben, seine Hände ballten sich – die bei dem Lärm zusammen gelaufenen Männer und Weiber wollten ihm in die Arme fallen, um ihn von einer blutigen Raserei gegen die Wärterin abzuhalten; – aber er hatte eine solche Raserei nicht im Sinne; er hob nur allmählich die geballten Fäuste gegen seine Stirne, als wollte er da einen Überfall machen, sein Gehirn an die Schwelle pochen und wütend fragen, wo es denn seine Gedanken hatte, dass es mit der Welt, dem Besitz eines Kindleins, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft – o Gott! o Gott! – dass es sich nochmals, nochmals mit Träumen und Phantasien von einem süßeren Erdenlose, abgeben konnte – aber er war auch zu dieser Gewalttat gegen sich selbst nicht mehr mächtig – seine Finger trennten, seine Hände lösten sich und glitten von der Stirn herab über seine Augen und bedeckten sie … Er bog und beugte sich und sank und fiel dahin, und statt einer Donnerstimme, welche Rechenschaft forderte, wurde ein Schluchzen hörbar, so weh- und peinvoll, dass es alle Umstehenden aufs Tiefste und bis zu Tränen rührte.

Man hob den Unglücklichen auf und führte ihn nach seiner Stube. Allein nicht lange, so schoss ihm wieder alle Empörung und aller wütende Schmerz über den Verlust seines Kindes durch die Glieder, er sprang auf, blicke wild und mit forschenden Augen um sich, ob er etwa unter den Anwesenden einen Schuldigen entdecken könnte; – dann mit einem Male, wie von einem mächtigen Gedanken ergriffen, drückte er mit rascher Faust die Zuschauermenge rechts und links auseinander und eilte davon; – Niemand ahnte, wohin er eile.

Umso besser wusste das Peter der Raugraf.

Auf dem kürzesten Wege, mit bloßem Haupte, des glatten Eisbodens und der Kälte nicht achtend, stürmte er der Vorstadt zu, in welcher er zuvor mit seinem Söhnlein gewohnt hatte.

Dort hatte er das erste Mal Verdacht geschöpft, dass ihm das Kindlein geraubt werden könnte; dort wohnte die erste Wärterin noch, welche er schon einmal im Verdacht gehabt, dass sie ein Komplott zum Behufe des Kindesraubes unterstütze; – sie – sie musste auch jetzt von allem wissen, sie musste ihm Auskunft geben, wohin das Kind entführt worden – oder sie sollte erfahren, dass er im Stande war, Dinge zu tun – Dinge …

In erstaunlich kurzer Zeit hatte er die Vorstadt, die Straße seiner früheren Wohnung erreicht und war auch dieser auf zwanzig Schritte nahe gekommen, als er vor der Schwelle des Hauses seien frühere Aufwärterin stehen und unruhig hin und wieder blicken sah.

»Ah, dort ist sie!« dachte Peter. »Hat sie Kohlen im Gewissen? Hält sie Ausguck, ob ich komme? Woher ich komme? Ja, ja, hier bin ich, es ließ sich denken, dass ich kommen werde!«

Die letzten Worte hatte er laut vor sich hin gesprochen, so dass sie ans Ohr der Wärterin drangen; diese blickte um, stieß einen Schrei aus, sprang ins Haus zurück, schlug die Türe hinter sich zu und verriegelte sie von innen.

Nach einigen Sätzen stand auch Pete schon an der Türe und fiel wütend an das Schloss.

Wahrscheinlich hätte er sich den Eingang bald genug erstürmt, wäre es nicht sogleich zu Erklärungen zwischen der Wärterin und ihm gekommen.

Die Wärterin rief mit Angst und Beben drinnen:

»Peter, Peter, warum kommst du so wüst und feuerloh daher? Was willst du? Was hast du? So bist du ja zum Schrecken und Entsetzen – wie soll man da nicht vor dir fliehen!«

Peter trommelte an der Türe und erwiderte dann:

»Was ich will? Zu was ich komme? Fragst du noch, alte Mauerschelle? Auf, auf, sag' ich! Und reden sollst du, sagen sollst du …«

»Was, Peter, was? Was willst du wissen? Du sollst ja alles hören, wenn du nur fragen und hören willst …«

»Alsdann«, sagte Peter, vom Stürmen lassend: »Sag mir an: Wo ist mein Kindlein? Mein Kind – es ist geraubt, geraubt sag' ich – du musst wohl davon wissen, du weißt davon – und sagst du mir nicht gleich …«

»Peter! Peter!«

»Heraus mit der Wahrheit! Heraus damit! Sonst will ich an dies Tor da trommeln, dass das ewige Gericht …«

»Peter! Peter!«

»Rede! Sag!«

»So sei nur ruhig, sei nur still – willst du denn gar nicht ruhig hören?«

»Kurz! Mit eins! Was ist's? Wo ist mein Kind?«

»Peter – das Kindlein ist bei seiner Mutter – dort magst du's wieder suchen – Peter, wo du es gefunden und entführt hast, in derselben Straße, in demselben Haus, bei jenen alten Eheleuten …«

»Was?«

»Bei jenen alten Eheleuten ist die Mutter in dem Dienst; – sie hätten es damals, weißt du – damals an dem Morgen finden und aufnehmen sollen – du hast es aber damals gefunden und aufgenommen – jetzt hat dir die Mutter das Kindlein wieder entführt – geh hin – jene alten Leute haben es aufgenommen – geh hin, ob du es wieder nehmen und entführen kannst! – Das ist es, was ich weiß, jetzt weißt du alles!«

Nach diesem Berichte war die Alte still und horchte, was von draußen für eine Antwort kommen würde; sie horchte ziemlich lange und wieder, aber keine Antwort ließ sich hören.

Da sie auch kein Geräusche mehr hörte, so machte sie endlich die Türe allmählich auf – und siehe da! – Peter war fort, war auf und davon –

»So ist er also hin, der Arme«, dachte die Alte, »wirklich hin – was wird der Schelm für Augen machen … Nun, die Mutter, die Mutter jenes Kindes – wie wird er diese Mutter sich betrachten … Nun, er hat es haben wollen, so mag er es auch haben!«

Und in der Tat, Peter der Raugraf eilte, flog der inneren Stadt, der Brennerstraße, dem Numero des Hauses zu, wo jene alten Eheleute wohnten, wo sein Kind zu finden sein sollte.

Schon hatte er das Tor des Hauses vor Augen, sah sich im Geiste schon die Eingangsstufen am Tore empor stürmen, sah sich ohne Meldung in eines der Zimmer der Alten dringen, hörte sich die Herausgabe des Kindes mit donnerndem Ungestüm verlangen – »Die Alten hätten das erste Mal ihre christliche Liebe sollen besser in Eifer bringen, sie hätten ein Kindlein, das im Schneegestöber und Kälte zum Erbarmen der Menschen hingestellt war, nicht erst sollen erfrieren lassen, um es dann zu retten – jetzt, jetzt …«, so hörte er sich im Voraus aufbegehren – »jetzt, wo das Kindlein seinen Vater, seine Pflege, sein Dach und Fach bereits gefunden habe, jetzt sei es ein- für allemal zu spät mit Kinderaufnahm', jetzt sei es Kindesraub, nicht Kindes-Christenliebe« – hörte er sich sagen –

Allein – was ist's? – Warum stand er plötzlich wie angewurzelt vor dem Hause und starrte sprachlos, betäubt, unsäglich erschüttert die drei Stufen empor?

Was sah er? Was benahm ihm die Kraft des Schrittes, die Flamme des Blickes, die donnernden Worte der Lippen?

Ein junges Frauenzimmer stand vor ihm, blass und wehmütig, ein Tuch um den Kopf, der sie schmerzte, die Augen von Tränen feucht, die Hände kraftlos hängen lassend, als wollte es sagen:

»Wenn du mich siehst und du kannst deinem Zorne doch nicht wehren und du willst den Frieden des Hauses dennoch stören, mein Kindlein wieder haben – o, du siehst, hier steh ich wehrlos – dann komm' und drücke mich mit Leichtigkeit hinweg, ich weiß dich nicht zu hemmen und nicht zu halten!« –

Ah! – Freilich – freilich – das hatte er nicht erwartet, von einem solchen Widerstand an dieser Schwelle hatte er nicht geträumt – sein Hannchen, seine frühere Geliebte, seine später treulos gewordene Geliebte hatte er nicht in diesem Hause geahnt – und dass sie gestehen würde, sie sei die Mutter des Kindes, das von einer Hand in die andere gewandert – wie hätte ihm das nur im Entferntesten zu Sinne kommen sollen?

War es ihm doch jetzt, wo das alles unableugbar vor ihm stand, wo er die Gestalt der Geliebten sah und ihre Stimme hörte, noch immer traumhaft wie ein Wunder, das ihn unbereitet überfiel, wie einen Fieberphantasierenden bewegte.

Und dennoch, Hannchen, einst sein Hannchen stand vor ihm – und ließ voll Schmerz und Weh ihr Auge auf ihm ruhen und konnte lange nicht sprechen; endlich sagte sie:

»Bist du kommen, Peter, mir mein Kindlein wieder zu nehmen, da wo es jetzt von reichen Leuten aufgenommen ist, wo es wohl gepflegt wird von den besten Leuten und versorgt ist all' sein Tag? … Ich kann dir nichts verwehren, du hast es einmal schon gerettet, hast es lieb gehabt und gut gehalten – aber, Peter, was das Kindlein worden wäre, das bedenk' und lass mich bitten: vergiss, o Peter, und vergib – ich weiß es wohl, weiß wohl, Peter, dass ich Schweres auf dem Herzen habe gegen dich – ich hab' nicht wenig drum gelitten und leide noch …«

Und nun erzählte sie einfach und voll Wehmut, wie sie Peters Bekannten (seinen Freund wagte sie ihn nicht zu nennen) wirklich geheiratet habe, wie sie beide bald darauf nach Wien gezogen und sich hier seitdem mit allem Fleiß ernähret hätten. Endlich sei das Kind zur Welt gekommen, Hannchen habe darum den ersten Dienst verloren, habe lange darauf nicht wieder einen finden können, und als sie einen fand, sei ihr Mann zum größten Unglück bald erkrankt. Lange sei es ihnen schlimm gegangen, das Kind in fremden Händen gegen bare Zahlung hätte ihnen Kummer über Kummer gemacht, Verdienst sei schlecht gewesen, und manchmal sei es schwarz geworden vor den Augen – es war die Sorge um Speis und Trank, um Leib und Leben. Da habe sich's gefügt, dass Hannchen zu den alten Eheleuten in den Dienst gekommen sei und liebgewonnen wurde. Oft hörte sie die Alten klagen, dass sie auch nicht ein geliebtes Kind vom Himmel hätten, und oft hätte Hannchen mit Seufzen gedacht, wär' das Meine euer – das heißt in Pfleg' und Schutz – wie gern, wie gern säh' ich's in euern Händen, von euern Gütern wohlgekleidet und genährt! Solche Gedanken hätte endlich Hannchen zum Entschluss gebracht, ihr Kind den Alten vor die Tür zu stellen, weil sie sicher dachte, dass es aufgenommen werde. An jenem Morgen nun, an welchem Peter Holz zu spalten kam, sei's unternommen worden – und auch ganz missglückt. Peter, den sie in seiner Haar- und Bartverwilderung damals nicht erkannt, Peter habe statt der Alten das Kind an sich genommen – o zu welcher Pein der Mutter, welche lange keine Spur auffinden konnte … Jetzt sei das Kind nun wieder in der Mutter Händen, in Schutz und Pflege reicher Leute, und es frage sich, ob Peter trotzdem das Kind an sich zu reißen und die Mutter in den größten Jammer stürzen wolle. Die Alten seien der Meinung, fuhr Hannchen fort, Peter selber habe das Kindlein ihnen wieder zugeschickt und bitten lassen, es in Güte aufzunehmen. Käme nun Peter und widerrufe das und wollte das Kindlein wieder haben und sagte alles aus – dann freilich, freilich, sage Hanne schluchzend – dann könne Peter eine Rache finden über alle Maßen, weil sie ihm nicht treu geblieben; Hanne würde auch den Dienst verlieren – die Alten würden ein so sehr bestrittenes Kind nicht länger halten wollen – Elend über Elend wäre da – und freilich Peter könne dann mit seiner Rache wohl zufrieden sein!

»Dann, komm herein«, schloss Hannchen ihren traurigen Bericht: »Du bist der Stärkere, du schiebst mich leichtlich ja bei Seite – komm denn und nimm mein Kind – mich aber wird man finden, sagen kann ich Dir nicht wo …«

*

Einige Wochen später, an einem kalten Januarmorgen ging aus einer der hochgelegenen Vorstädte Wiens wieder ein Arbeiter mit Axt und Säge nach der inneren Stadt, einen alten, kläglich abgenützten Schlapphut tief im Angesicht, man sah es seinem Bart und Haare sehr wohl an, dass er sie wachsen ließ ganz nach Belieben und von jeder Sorgfalt ganz entwöhnt.

Es war Peter der Raugraf. Er war blässer als sonst geworden, düsterer als je.

Von Kälte schien er nichts zu fühlen; desto mehr schien er vom Ernste trauriger Gedanken heimgesucht, und jenes stille Schüttern, welches von Zeit zu Zeit ihn sichtbarlich erfasste, kam davon.

Peter hatte seine alte Wohnung in der Vorstadt wieder bezogen, hatte sein Leben wieder auf das Mindeste beschränkt, ließ seine alte Unart wieder wirken, nur denen zu arbeiten, welche ihm von Angesicht zu Angesicht gefielen – kurz – wer von seinem jüngst Erlebten nichts erfahren hatte – der sah ihn eben wieder als den Alten, schroff und widerwärtig, abschreckend und verahrlost.

Und doch – doch!

Er war verwandelt.

Wer hatte ihn je zuvor still für sich weinen sehen? Er weinte jetzt.

Wer hatte ihn je zuvor an Kindlein, die zur Schule oder sonst vorübergingen, kleine Geschenke geben sehen? Das tat er jetzt.

Wer? … Allein genug, genug …

Peters Erlebnis wissen wir – seine Wehmut begreifen wir – seine Liebe zu den Kindlein können wir verstehen – sieh! – dort lehnt er wieder mitten in Kälte und Schneegestöber an der Straßenecke – die Vorübergehenden meinen, er sehe weg und wolle nur den Mann dort, jenen Geizhals nicht erblicken, der vorübergeht – nein! Nein! – sein Hannchen geht vorüber, hat ihn flehentlich betrachtet – er sieht nun weg und – weint – und denkt ihrer und ist betrübt bis in den Tod.

Die Leuten denken wohl: »Der Raugraf dort! Wie sieht er aus! Wie ist er doch zu nichts zu bringen!«

Wir aber denken:

»Armer Mensch – beklagenswertes Wesen – wie kann doch mancher gar um alles kommen, was das Leben schön und wertvoll macht!«


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