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II.
Menschenhilfe.

Der alte Landdoktor zu Egelheim ging verdrießlich wie immer und die Hände mit dem Schnupftuch überm Rücken in seinem Zimmer auf und nieder.

Sah er eine Fliege an der Wand, so schlug er ihr Arm und Bein entzwei und kurierte sie so in aller Geschwindigkeit von allen Leiden dieses Lebens; trat er an ein Fenster, um hinauszusehen, so ließ er die Linke mit dem Schnupftuch überm Rücken und trommelte seien Brummgedanken mit der Rechten Generalmarsch auf den Fensterscheiben.

So lebte und strebte er bereits eine Stunde zwischen seinen vier Wänden hin und wieder, als er plötzlich, eben sein Trommeln auf einer Scheibe wieder beginnend, einen bejahrten, sehr herabgekommenen Mann über den Brunnenplatz des Marktes gegen sein Haus her schreiten sah.

Den alten Mann sehen, das Getrommel sein lassen, das Fenster aufreißen und mit dem Kopf wie ein Wüterich hinausfahren, das war das Werk eines Augenblicks.

»Seid Ihr schon wieder da?« rief er: »Wollt Ihr mit Gewalt mein Haus einrennen? – Braucht's Nämliche – s' Nämliche, sag' ich, und geht in Gottes Namen!«

Er zog nach diesen Worten den Kopf wieder in die Stube zurück, schlug die Fensterflügel zu, würgte unter den Fliegen der Wand womöglich schlimmer als zuvor und knurrte vor sich hin:

»Das Volk! Das Bettelvolk! Je weniger man von den Strohsäcken hat, desto mehr überlaufen sie einen! Das ganze Jahr keinen roten Heller für die Müh' und doch immer alle Hände voll zu tun mit ihnen!«

Der alte, kümmerliche Mann draußen schien an dem ärztlichen Donner vor der Hand genug zu haben, blieb stehen, wankte und hielt sich an das nahe Brunnengitter, indem er sein kaum aufblickendes Antlitz wieder stille und ergeben sinken ließ.

»Er will uns nicht mehr helfen«, sagte er mit kraftloser Stimme für sich hin: »Ich kann ja nichts mehr zahlen!«

Es zuckte um den Mund und über das Gesicht des Mannes, wie es sich vor bitterem Schluchzen einzustellen pflegt, aber es kam kein Nass in seine Augen; vielleicht hatte er keine Tränen mehr.

Er raffte sich auf und wanderte den Marktplatz hinüber der Dreimohrenapotheke zu.

An der Ecke des Nachbarhauses blieb er stehen und suchte das alte Rezept hervor, welches schon oft seine Dienste geleistet hatte; er fand es endlich in einer erschreckend großen, gänzlich leeren Brustbrieftasche.

Weil er aber durch die Glastüre Leute in der Apotheke sah, blieb er so lange draußen stehen, bis sich jene nach und nach entfernten.

Als er endlich hineintrat, um sein Rezept zu zeigen, fand er niemanden da, der ihn bedienen wollte.

Den Hut in der Hand und das Rezept über den Schirm gebreitet, blieb er ruhig stehen, bis ihn jemand fragen würde, was er wolle.

Es dauerte lange, sehr lange; es war auch kein Wunder, da man ihn durch die Glastüre bereits entdeckt und förmlich gemieden hatte. Weil aber endlich andere Leute mit Rezepten kamen, so musste man doch erscheinen, fertigte rund herum alles nach einander ab – und fragte ganz zuletzt verdrießlich:

»Deimer, Ihr bringt uns wohl die alte Rechnung heute?«

Dieser schluckte einmal, als ob er ein Gedränge aufsteigenden Wehs zurückwehren wollte und sagte dann:

»Nein, das Rezept da hab' ich wieder da!«

»So, so. Ja nun hört, mein lieber Deimer, das hat nun alles so sein Ende, denn kurz und gut …«

Es wurde in einem entfernen Zimmer geschellt, und der Apotheker verschwand, als hätte er niemanden weiter zu bedienen.

Den Hut in Händen, das Rezept über dem Schirm, blieb der alte Deimer wieder stehen und wartete, wie in einem unglückseligen Traumesdämmer wankend, ob es möglich sei, dass er ohne Heilestropfen zum kranken Weib und Kind nach Hause kehren solle.

Nachdem er nun lange so dagestanden und wieder viele Leute um ihn her bedient worden waren, nahm ihm endlich der Apotheker im Vorübergehen ingrimmig das Rezept aus den Händen, warf es auf den großen Bedienungstisch vor sich, stellte ein Fläschchen darauf und sagte:

»Deimer, da kann's liegen, Platz ist genug dafür – schafft aber Geld, zum Wenigsten für diesmal, sonst ist's umsonst, ich sag' Euch, ganz umsonst, dass Ihr so dasteht und auf Hilfe wartet!«

Und damit fort ins Nebenzimmer – der Deimer blieb allein zurück.

Das Zucken um den Mund und ein leises Erröten um die Augen deuteten auf ein inneres, schweres Schluchzen, allein die Tränenquelle war vertrocknet, nur wie eine Nebeltrübung lag es über beiden Augensternen Deimers – und das war geweint, stiller und unsäglich schmerzlicher geweint, als Ströme von Tränen es vermögen.

Er ging …

Der Michael Drehwieder saß eben am Ecktisch seiner Stube und sah die ausstehenden Posten durch, von welchen bis Ende dieses die Interessen fällig wurden. Er blickte oft empor und glotzte vor sich hin, indem er zählend die Lippen leise bewegte, rechnete sich was Erfreuliches hier und dort zusammen, so ging sein Dahinstarren in ein leichtes Lächeln über, gab es aber Bedenken über die Zahlungsfähigkeit eines oder des anderen Schuldners, da wurde die Feder wie der Säbel eines Husaren quer in den Mund genommen, der Kopf in beide Hände gelegt oder die alte Samtmütze unruhig von einem Ohr zum anderen geschoben.

Plötzlich, als er eben wieder zählend vor sich hinstarrte, fiel sein Blick unwillkürlich auf die Straße vor seinem Haus, und wie einer, der von einem Messer gestochen wird, sprang er auf, ließ die Feder fallen, rief:

»Weib, Weib, ich bin fort, bin nicht daheim«, rannte durch die Stube nach der Kammer und schlug die Türe hinter sich zu.

Einer von seinen Pantoffeln war auf der Flucht mitten in der Stube auf dem Platze geblieben.

Die Drehwieserin wusste zwar noch nicht, wen ihr Mann auf der Straße gesehen habe, aber sie war solche Ausreißereien ihres Mannes gewohnt, bei denen sie mit einem gewissen Geschick die zweite Rolle zu spielen wusste.

Sie schob daher mit großer Ruhe den eben umgewendeten Kalbsbraten in den Ofen zurück, legte das Stück Leinwand, welches zum Anfassen des heißen Geschirres diente, weg und trat durch die Stubentüre in die Vorflur hinaus, um, wer es auch sei, mit dem Auftrage zu begrüßen, den ihr Mann gegeben hatte.

Deimer war es, den sie kommen sah.

Wie einer, dessen Kummer alles Fühlen und Denken wie gejagtes Wild in einen engen Kreis der Verzweiflung zusammengetrieben hat, kam Deimer dem Hause Drehwiesers näher.

Er blickte erst an der Haustüre ein wenig auf, da einige Steinstufen zur Vorflur empor führten, und als er bei dieser Gelegenheit die Drehwieserin wie in Gedanken herum geschäfteln sah, blieb er stehen, schob seinen großen, dreieckigen Hut ein wenig in die Höhe und wollte nach einer Weile schwach sagen: »Drehwieserin, seid so gut – ist Euer Mann daheim?« Aber diese kam seiner Frage zuvor und sagte aufblickend, als entdecke sie ihn erst jetzt:

»Ihr sucht gewiss meinen Mann, Deimer; schade, schade, er ist nicht daheim, müsst schon ein andermal kommen!«

Sie sagte das sehr laut, fast schreiend, da der Deimer mit halb offenen Lippen, tiefliegenden, umschleierten Augen dastand und einem Schwerhörigen gar nicht unähnlich sah; sie mochte auch wünschen, sich dem Manne schnell und auf einmal verständlich zu machen, um seines Anblicks, der unmöglich gleichgültig lassen konnte, so schnell als möglich wieder los zu werden.

Der Deimer sagte nun nichts mehr, ließ das Haupt wieder sinken, stützte sich mit beiden Händen auf einen vor wenigen Augenblicken erst aufgehobenen Weidenstab und ging dann schweigsam weiter.

Auf der Straße saßen einige Kinder, welche während des Spieles schöne Stücke Weißbrot verzehrten. Der Deimer blieb stehen und fragte, wo der Herr Rappold jetzt wohne.

Die Kinder schauten verwundert auf und zeigten die Straße nach dem Markte hinab.

Sie hatten recht, sich zu verwundern, denn der reiche Rappold war jedermann bekannt genug und besaß das schönste Haus im Ort.

Der Deimer hatte auch nur gefragt, um die schönen Stücke Weißbrot, welche die Kinder verzehrten, einige Augenblicke betrachten zu können.

Dann ging er den Markt hinunter.

Vor dem Hause des Herrn Rappold stand ein hübscher Einspänner, in welchen, als der Deimer auf zwanzig Schritte nahe kam, eben Herr Rappold mit seiner Frau und noch einer Dame einstieg und heiter davonfuhr, so dass der Deimer gerade recht kam, den dreieckigen Hut zu ziehen und den Abfahrenden nachzusehen.

Damit war die Reihe der Menschen, von welchen der Deimer in Egelheim Hilfe erwarten konnte, zu Ende, denn wo man ihn sonst noch kannte, hatte man ihm schon früher einigen Beistand geleistet, und es war die Hoffnung, dass ihm von daher noch Hilfe zuteilwerden würde, umso weniger, als sein Häuschen, der kleine Garten, die Kuh und die zwei Obstbäume vor dem Haus den Gläubigern so gut als ganz gehörten.

Also ging Deimer über den Markt wieder herauf bis in die Nähe der Mohrenapotheke, wo er abseits der Straße matt und tiefsinnig stehen blieb und die Last seines Leides uns seiner Seele auf den Weidenstock stemmte.

Die Apothekerin, welche im oberen Stock am Fenster saß und ein Rosakleidchen für ihr Mädchen nähte, blickte jetzt durch das Fenster und fragte ihren Mann, der eben aus dem Nebenzimmer einige Gläser holte, was denn das für ein Greis sei, der da drüben so kümmerlich dastehe und zu Boden sehe.

»Wer?« fragte der Apotheker und trat ans Fenster.

Seine Frau wies auf den Deimer, dessen Gesicht man nicht sehen konnte.

»Ja so«, rief er: »Der da? Nun ja, das glaub' ich wohl, dass er seine Gedanken haben mag. Es ist eben ein Kreuz mit diesen Leuten, sie sind zu bedauern, aber wer kann allen helfen, wer kann ihnen beim besten Willen immer helfen? Der Unglücksmann da drüben weiß vielleicht selbst nicht, wie groß seine Rechnung bei mir aufgelaufen ist, was soll ich tun? Sollich fortfahren und geben und immer aufs Neue geben? Den völlig Armen kann man ihn nicht zuzählen, die Armenkasse reicht ohnehin nicht aus, und was er besitzt, glaube ich, hat seinen Herrn schon gefunden – ich hab's nun satt, glaube ich, ich kann nichts mehr geben!«

»Wer ist denn krank in seinem Hause?« fragte seine Frau.

»Leider Gottes«, erwiderte der Apotheker, »Weib und Kind zu gleicher Zeit und seit vollen acht Monaten!«

Damit eilte er der Türe zu und entfernte sich.

Der Deimer machte sich nach einer Weile auf und wankte die Straße nach dem Markte noch einmal zurück; es waren ihm einige Leute eingefallen, die vielleicht doch noch etwas für ihn tun wollten. Und da war es nun erschütternd zu sehen, wie ihn Angst und Verzweiflung antrieben, mit dem Aufwande seiner letzten Kraft die Schritte zu beschleunigen, da es allmählich Abend wurde und Weib und Kind daheim mit Schmerzen seiner warteten.

Er ging zum Bolzer Johann, der war aber gar nicht zu Huse; er trabte zum Silbinger Franz, der hatte aber eben Besuch und wollte, da man ihm sagte, der Deimer sei draußen, gar nicht erscheinen, er beschied nur hinaus, der Deimer möchte ein andermal kommen; er hastete zum Peter Sandler herab, der schob aber die Mütze immer hin und her und lächelte verwundersam, wie der Deimer zu ihm kommen könne, da sie doch sonst nie viel mit einander verkehrt und von einander niemals Nutzen gehabt hätten – er sagte aber nur: »Nun, mein lieber Deimer – hm – ja mein lieber Deimer, achja – seht Ihr denn nicht ein, was es unter Leuten so Art und Sitte ist, mein lieber Deimer? Man kann eben nicht immer, wenn man auch wollte, man ist Handelsmann, man braucht sein Tag für Tag bar Geld, und so kann es nicht verwundern, wenn man absagt, wie gefragt, als Handelsmann beim besten Willen!«

Der Deimer hatte Stimme und Sprache verloren, er wankte fort, und die hohl klingenden Stiefel ließen erraten, dass es magere Füße sein müssen, welche in der weite, schweren Lederrüstung weiter tappten. Der griesgrämige Doktor hatte schon wieder die Fensterflügel in Händen, um hinaus zu brüllen, als er den Deimer daherkommen sah, aber nicht sein Haus war Deimers Ziel, es war überhaupt kein bestimmtes Haus mehr dessen Ziel, so dass es auch nur Zufall war, der den kraft- und atemlosen Deimer an Drehwiesers Fenstern vorüberführte, der denn richtig wieder mit Sack und Pack nach der Kammer floh.

In solchem Verzweiflungstaumel wäre der sinnesirre Deimer beinahe auch an der Apotheke vorüber gelaufen, ohne nach der ersehnten Medizin zu fragen, als die Apothekertüre aufgeschnellt wurde, der Prinzipal zornhitzig herausfuhr, dem Deimer das Medizinfläschchen hinhielt und sagte:

»Da, da, Deimer! Und somit en für alle Mal Amen! Von heut an nichts wieder ohne Geld, ich sag' Euch, nichts wieder! Amen! Geht! Verdankt es für heute – Amen, sag' ich, von heut an nichts wieder ohne Geld!«

Er eilte durch die Glastüre zurück.

Der Deimer hielt mitten im Lauf, wie durch ein Wunder versteinert, an.

Da hatte er auf einmal in Händen, was er eben durch die Hilfe einiger Menschen erreichen wollte und nicht erreichte; er konnte heimkehren mit den Heilestropfen zu Weib und Kind und brauchte ihnen noch nicht zu sagen, alle Menschenhilfe sei zu Ende, und schon im Augenblicke gebe es keine Hoffnung und kein Erbarmen mehr.

Bier und zwanzig Stunden waren gewonnen, so lange war auch noch etwas Nahrung für die Kranken im Haus; also heim, heim, mit diesem Wundertroste heim!

So regte sich's in Deimers erschütterter Seele, und er ging zum Städtchen hinaus, der offenen Landstraße zu, nachdem er einen brechenden Dankesblick nach dem Apothekerhause gesendet hatte.

Eine halbe Stunde von Egelheim, nicht weit von der Landstraße, stand ein kleines, einsames Haus, beschattet von zwei Obstbäumen vor der Türe und umgeben von einem kleinen Obst- und Gemüsegärtlein.

Hier war der Deimer daheim.

In der Stube lag sein krankes Weib, in der Kammer sein krankes Kind.

Sein Weib hob nur, als er eintrat, leise das Haupt und ließ es wieder kraftlos sinken; das war gegrüßt.

Der Deimer setzte sich hin, gab der Armen aus dem Fläschchen einige Tropfen mit dem Löffel, dann sprach er mit ihr, matt und heiser, aber so freundlich als möglich.

Die Kranke schien ihm dankbar zuzuhören.

Hierauf ging er nach der Kammer zu seinem Kinde.

Dieses, ein fünfzehnjähriges Mädchen, regte sich nicht in seiner Lage, nur die eine Hand streckte es ihm entgegen aus Hunger oder Sehnsucht nach den erwarteten Heilstropfen.

Der Deimer strengte hier wieder seine Stimme, soweit es ging, zu Trostworten an, gab nun aus demselben Fläschchen dem Kinde einige Tropfen, obwohl es eine ganz andere Krankheit als die Mutter hatte – und nach solcher Pflichterfüllung und solchem Liebesdienste ging er nach der Küche, um für die Seinen etwas Milch zu sieden, aß selber etwas, worauf er die Kuh im Stalle mit Futter versorgte.

Es war der Abend herangekommen, die Kranken schliefen ein, der Deimer, der vor neuerwachten Sorgen noch nicht schlafen konnte, nahm seine uralte, seit Jahr und Tag nicht mehr gebrauchte Pfeife hervor, rauchte sie kalt, weil er keinen Tabak mehr hatte, ging hinaus unter die zwei Bäume, ging ums Haus herum, erweiterte den Kreis seiner Wanderung in Gedanken immer mehr, bis er unter eine fernstehende Linde hinsank, um auszuruhen – allein er saß nicht lange da, so schlief er übermüdet ein.

Indem er schlief, geschah etwas, wofür die Sprache keinen Jammerausdruck hat, groß und schmerzensvoll genug!

Deimers Haus geriet in Flammen, er verbrannte das kranke Weib in der Stube, es verbrannte das kranke Kind in der Kammer; Hab' und Gut, die einzige Kuh im Stalle, selbst die zwei Obstbäume vor dem Hause waren in weniger als einer Stunde ein Raub der Flammen!

Als man in der Ferne den Brand entdeckte und von allen Seiten zu Hilfe herbeieilte, was es bereits zu spät, um noch etwas Rettenswertes der Gefahr zu entreißen; und da man weder von Deimer, noch von Weib und Kind eine Spur entdeckte, so beklagte man mit schmerzlichem Entsetzen die ganze Familie als Opfer der Flamme …

Noch glimmte aus den Trümmern der Brandstätte so viel düsterer grauenvoller Schimmer, dass man die hin und her wogenden Menschen sehen und erkennen konnte, als nach der Richtung der Linde hin ein seltsames, dumpfes Schweigen und Erstarren an die Stelle des Tumultes trat und alles mit stieren Blicken und bleichen Wangen um eine Gruppe Männer zusammendrängte, welche sich der Brandstätte näherte.

Der Deimer war schlafend gefunden worden unter der Linde; man hatte ihn geweckt und aufgehoben, hatte ihm, der wie ein furchtbar Träumender dreinstierte, von dem Unglücke gesagt und ihm die Brandstätte gezeigt; man frage ihn jetzt nach seinem kranken Weib und Kind – und führte ihn näher zur Unglücksstelle, wo er sich von der ganzen Grässlichkeit des Unheils augenscheinlich überzeugen konnte.

Der Deimer schloss bald die Augen wie ein Sterbender und wurde mehr getragen als geführt, bald starrten seine Augen so groß und furchtbar uns stützten ihn seine Füße so kräftig, dass er dastand wie zum Unternehmen einer Gewalttat – bis er wieder wankte und sank und den Männern ohnmächtig in die Arme fiel.

Man riet nun, den Unglücklichen lieber vom Schauplatz des Jammers wegzubringen und alles anzuwenden, um sein Gemüt auf jede Weise wenigstens für Augenblicke von den Gedanken an den unermesslichen Jammer abzulenken.

Der reicht Rappold war mit seinem Einspänner zur Brandstätte gekommen, er bot sogleich mit größter Bereitwilligkeit seinen Wagen dar, um den Armen nach Egelheim zu führen.

Der brummige Doktor von Egelheim war gleichfalls unter den Zuschauern und gutwilligen Rettern, er setzte sich, ohne aufgefordert zu sein, dem Unglücklichen zur Seite in den Wagen und tat alles, um durch Trostzusprüche und ärztliche Anordnungen demselben Freundesdienste zu erweisen.

Der Apotheker hatte in Eile eine Handapotheke zur Brandstätte gebracht mit allerlei stärkenden Geistern und wohltätigen Salben für etwaige Brandwunden und andere Verletzungen, er stellte alles dem Arzte zur Verfügung in den Wagen und bat, da der Bejammernswerte wahrscheinlich einige Tage ärztliche Behandlung und gute Pflege brauchen werde – ihn in seinem Hause unter Dach zu bringen!

Und so geschah es auch.

Der Deimer wurde im Apothekerhause abgeladen und wirklich vortrefflich untergebracht. Er schwebte die Nacht und den ganzen folgenden Tag zwischen Leben und Tod. Erst am zweiten Tage fing er an, sich nach und nach zu erholen und zu fassen, was um ihn her vorging.

Er sah sich im schönen Apothekerhause, in einem Bette, so fein und weich, wie er noch keines gesehen hatte; er sah die reichsten Leute von Egelheim an seinem Bette mit wahrer Teilnahme und mit Trostsprüchen erscheinen, und ihre Frauen sendeten die feinste und kräftigste Krankenkost; der Apotheker und seine Frau, der alte Doktor, der Fliegenmörder und Schnaubwolf für arme Kranke – alle wetteiferten in menschlicher Aufmerksamkeit und Fürsorge.

Sogar der Drehwieser erschien am zweiten Tage und meldete dem Unglücksmanne, dass er in seinem Buche Deimers Schuld mitsamt den Interessen gestrichen habe, während andere, welche Deimer kürzlich vergebens um Hilfe angegangen hatte, kleine Geldgeschenke und Mundvorräte sammelten, reichlich genug, um den unglücklichen Mann für lange Zeit von aller äußeren Not zu befreien.

Und so gab es wirklich von allen Seiten ein Eifern und Beisteuern der Nächsten- und Menschenliebe, die ebenso rührend als erhebend gewesen wäre – wenn sie nicht so spät, erst nach sichtbarem und entsetzlichem Unglücke fließig, tätig geworden wäre!

Darum war auch die Wirkung all' dieser späten Menschenhilfe auf Deimers Herz von geringer oder keiner Wirkung.

Stumm, tiefliegenden, umschleierten Auges und starr dieser sonderbaren, unbekannten Welt voll Liebe ins Angesicht schauend, lag er da und regte sich nicht, weder dankend noch sich freuend.

Was galt ihm dies noch alles?

Waren doch sein liebes Weib und Kind in Jammerqual und Elend dahingegangen!

Was waren ihm jetzt der freundliche Rat des Arztes, die unentgeltlichen Heilestropfen des Apothekers, die feine und kräftige Krankenkost der gutmütigen Frauen?

Als er diese Dinge für Weib und Kind gewünscht hatte, waren sie ihm nicht zuteilgeworden.

Jetzt waren seine Leiben tot, sein liebes, krankes Weib und sein liebes, krankes Kind waren in Jammerqual und Elend dahingegangen!

Uns so wie einst die Menschen marmorkalt und starr dastanden, als sie Deimer mit heißer Bitte in den Augen, mit abgehetzten Schritten flehend umkreiste, so verblieb nun er, da die Menschen in zu später Sorgfalt und Liebe sein Lager umeilten und trösteten, starr, kalt, unempfindlich mitten in dem Liebestumult und konnte sich weder freuen noch erholen, konnte weder lächeln noch danken – und wenn er am vierten Tage doch in ein Weinen verfiel, so stille und wehvoll, so heiß und unsäglich erschütternd, so geschah es nicht aus Rührung über die späten Freundlichkeiten der Menschen; – es geschah im endlich schmelzenden Jammer um Weib und Kind – waren sie doch in Jammerqual so elend, elend dahingegangen! …

Es gibt Zustände des Unglücks im Leben, welche ihr Spuren oft kaum sichtbar auf dem Angesichte oder in der ganzen Erscheinung abdrücken, an denen die bewegte, glückliche Welt vorübereilt wie an Unbekanntem und Gleichgültigem; und doch darf man behaupten, dass derlei Zustände, wenn sie äußerlich sich zeigen könnten – wie Feuer, Hagelschlag und überschwemmende Wasserflut, das Auge und die Hilfe der Menschen herbeiziehen müssten!

Darum, o Leser, wenn du ein gebrochenes, stilles Augen siehst, wenn ein bleicher Mund vor dir verstummt, wenn dir des klagelosen Kummers bleiche Wange erscheint und wenn des kränklichen Alters unsteter Fuß an dir vorüberwankt, sei nicht bequem und flüchtig, nicht allzu lebensklug und unempfindsam; – vielmehr, o lieber Leser, halte prüfend an und betrachte dir diese Spuren genauer.

Vielleicht kummert hier eine Seele nicht minder schmerzensvoll als nach den Zerstörungen alles Lieben und Werten durch Feuer, Hagel und Wasserflut, vielleicht hilft im Augenblicke ein Geringes – und vielleicht ist in einer Stunde keine Hilfe mehr groß genug, dem Unglücklichen einen unermesslichen Schaden zu ersetzen!


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