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Herr Schwenkerle

In Bezug auf Standeswahl gleichen manche Menschen der Schicksalskugel im Roulettespiel, indem sie, bald hier, bald dort in eine Bahn geworfen, einige Male den üblichen Rundlauf machen, bei irgendeiner Lücke dann ermüdet herausfallen und – anstatt für sich eine bleibende Bestimmung zu erreichen – nur für andere, die ruhig einen Einsatz gemacht habe, rouge oder noir anzeigen.

Emeran Schwenkerle gehörte wenigstens bis in sein dreißigstes Jahr zu diesen seltsam hin und her fahrenden Menschen, und man darf wohl sagen, dass er nach und nach einem Dutzend Lebensbestimmungen seine Aufwartung machte, ohne sich einer derselben auf Tod und Leben hinzugeben.

Hätte freilich der Vater Emerans, ein handfester Baumeister, länger gelebt, er würde seinem Söhnchen schon, solange es noch Zeit war, einen Genickfang zugedacht und ihn wo hin postiert haben, wo ihm das Ausreißen vergangen wäre; so aber starb der Vater, bevor der einzige Sprosse noch siebzehn Jahre zählte, und die Mutter, die sonst mit Blicken und guten Worten viel über den Knaben vermochte, war sogar schon früher aus der Welt gegangen; also stand unser Emeran Schwenkerle schon mit siebzehn Jahren allein im Leben da und hatte seine Meinungen zum alleinigen Führer und ein hübsches Kapitälchen zum Knotenstock, um, wohin er immer wollte, ohne Schwierigkeit von der Stelle zu kommen.

Schwenkerles erste Standesliebe war, wie sich fast erwarten ließ, die Poesie

Zu ihr, wie zu jeder anderen Beschäftigung, hatte er einige Anlage, und weil poetische Werke auf ihn Eindruck machten, so glaubte er der Poesie selber habhaft zu sein, wie etwa ein Kind den Vollmond zu fassen meint, weil es dessen Schimmerbild zwischen den Fingern betrachtet.

Es wurde also darauf los gedichtet in gefühlvollen Strophen: »An Sie, an die Sterne, an Heideröslein rot und Vergissmeinnicht blau, an den unvermeidlichen Abend, und was sich etwa zwei Wacholderbeere erzählen«; aber da zu seiner Zeit auch die poetischen Bilder des Wüstenlebens starke Wirkung taten, so ermangelte Emeran nicht, auch in dieser Richtung seine Phantasie als Wüstenross in Trab zu setzen.

Eine halbe Million »Fersche« waren auf diese Weise in die Welt gesetzt, und eben wurde daran gedacht, sie zu ordnen und durch ein Eilleitungsgedicht vermehrt dem Publikum errötend darzubieten, als in der Theaterwelt eine Tragödie Aufsehen machte und unseren Schwenkerle auf den Gedanken brachte, dass sein Genie eigentlich nicht bloß angetan sei, das Publikum mit dem spanischen Röhrchen artiger Verse, sondern mit Keulenschlägen tragischer Schöpfungen zu treffen.

Sofort wurde denn auch die Welt durch glückliche Beseitigung der Kinder seiner ersten Poetenlaune bestraft, und Emeran Schwenkerle machte sich daran, das Material zum Baue einer hochnotpeinlichen Griechentragödie zusammen zu schleppen.

Die Idee eines Gedankens zum Entwurf einer ersten und letzten Szene, von Götternamen und vielen ausführlichen Sitten und Gebräuchen jenes schönen Landes, Volkes, Klimas und Zeitalters wimmelnd, stand auch wirklich bereits in lebhaften Farben vor seiner Phantasie – unter anderem durfte eine immer effektvollere, mehrspännige Wolkenfahrt Apollos nicht fehlen, und die durch Schiller sehr beliebt gewordenen Kraniche des Ibicus konnten leicht an unsichtbaren Drähten täuschend vorübergeführt werden, wie denn überhaupt sich die Intendanzen sofort bereit erklärten, griechisches Feuer nicht zu schonen und Herrn Dawison und Fräulein Seebach gelegentlich der ersten Aufführung zu Gastrollen einzuladen; – so weit war nämlich Schwenkerle in seiner Phantasie bereits mit der Arbeit vorgeschritten; als in einer anderen Gegend Deutschlands eine andere Tragödie ganz anderen Stoffs plötzlich noch bei Weitem mehr Aufsehen machte!

Diese Tragödie spielte in Rom und hatte das Schicksal einer berühmten germanischen Mutter zum Stoffe, die in Rom gefangen saß und schließlich aus ganz guten patriotischen Gründen ihren Sohn und sich selbst ums Leben brachte.

Schwenkerle stutzte nicht wenig, die Stimmung des Publikums so plötzlich von Griechenland nach Rom überspringen zu sehen, ließ also den ganzen Apparat zur hohen Griechentragödie mit seltener Behändigkeit wieder im Stiche und stellte es seinem Spartanerhelden frei, die zum Teil bereits fertigen, sehr langen Monologe an den Ufern des Styx zum Privatvergnügen hin und her zu deklamieren.

Statt des griechischen Apparates aber wurden nun römische Tyrannen von exquisiter Grausamkeit, Neronische Feuersbrünste und Triumphzüge ergriffen, um sie als schauerlichen Hintergrund für den Glanz altgermanischer Tapferkeit und Sitte hinzustellen; und man muss gestehen, dass die Phantasie Herrn Schwenkerles bereits allerlei brauchbare Anfänge von Ideen zu dem neuen Stücke zwischen den Requisiten hin und her laufen ließ, wie etwa rührige Motten altes Pelzwerk beleben; – als leider abermals in einer anderen Gegend Deutschlands eine andere Tragödie ganz anderen Stoffes Aufsehen erregte, wenn auch nicht so bedeutend wie die obige.

Der Stoff dieser Tragödie war aus der französischen Geschichte genommen und spielte um die Mitte des 18. Jahrhunderts am Hofe Ludwigs XV. Die berüchtigte Maitresse des großen königlichen Unheilbringers, der Fluch des unglücklichen Frankreich, war die eine Hauptperson des Stücks und ihre »erste Flamme« aus den Tagen der Jugend die andere Hälfte.

Diese beiden Hälften flohen und fanden sich eines schönen Morgens wieder und ginge darüber beide zu Grunde – denn das Schicksal der Tragödie will es so.

Das Stück war nun den Schauspielern noch lieber als dem Publikum, und ein praktischer Bühnenstückaktor konnte daraus keine bessere Lehre ziehen, sich Publikum und dramatische Künstler warm zu verbinden, als wenn er auch solche Stücke von auch solchem Inhalt am Hofe »Lousquators des fünfzehnten« schrieb.

Herr Emeran Schwenkerle ließ sich denn von den vielen, im Geiste sichtbar aufgehobenen Händen nicht lange bitten, seinem Talente auch einen so dankbaren Stoff auszusuchen – mit einem Satze stand er plötzlich zwischen den goldenen Rädern der großen Intrigenfabrik des französischen Hofes.

Zum Glücke hatte er sich längst eine Sammlung alter und neuer Gedanken und Witze angelegt, die nun ohne Gnade und Barmherzigkeit in Dialogen und Monologen angebracht werden sollten, der vielen Memoirenauszüge nicht zu gedenken, welche aufgehäuft wurden, um der Szene und Sprache die rechte historische Treue anzuschminken; – allein das Unglück wollte es, dass das Publikum jetzt seinen ganzen Enthusiasmus unerwartet für eine »Grille« erklärte und sich in Süd und Nord, in Ost und West in der Tat wie ein unbeständiges Heupferdchen gebärdete.

Aufrichtig gestanden, blieb Herr Schwenkerle diesmal ein wenig unschlüssig, was er tun solle; die rastlose Hetze von Griechenland nach Rom, vom Rom der Cäsaren nach dem Paris der Ludwige, hatte seiner Phantasie bereits Milzstechen verursacht, und es war kein geringerer Entschluss, vom Paris der Ludwige auf einmal wieder mitten in die Gegenwart hereinzuspringen und ein sogenanntes Volksstück grillenhaften Genres zu schreiben.

Allein – »wer nie sein Brot mit Tränen aß« – der weiß nicht, was ein Künstler oder Poet zu leiden hat, der nur darauf ausgeht, der Laune des Publikums aufzulauern, ihr alleruntergebenst nachzuschwanken und um jeden Preis ich, nur ihr und immer nur ihr allein gefällig zu sein!

Schwenkerle kam auch jetzt zu dem Entschlusse, dem Drang der Verhältnisse nachzugeben und wirklich auch ein solches Stück von auch noch so einem Inhalte wie die »Grille« zu schreiben.

Er suchte daher die Literatur aus dem Volksleben fleißig hin und wieder durch und hatte endlich einen Stoff gefunden, der ihm brauchbar schien – als in verschiedenen Teilen Deutschlands verschiedene Bühnenerfolge es höchst zweifelhaft machten, nach welcher Richtung jetzt das Zünglein des öffentlichen Geschmacks sich neige.

Denn wenn auch der Ohrfeigen-Essex aller Orten besonders glücklich debutierte, so war doch sicherlich nicht zu übersehen, dass der griechische Tempelteyismus auch starke Chancen hatte und der römische Sophonibsismus wenigstens in Frankfurt a. M. die Bühne »beherrschte«.

Die Situation musste allermindestens zum Abwarten einladen, um dem Prozess einer bestimmten Geschmacksabsonderung beim Publikum Zeit zu lassen; Emeran Schwenkerle entschloss sich also auch zur vorläufigen Neutralität und benutzte seine Zeit vorwiegend dazu, eine Sammlung brauchbarer historischer Stoffe aus allen Jahrhunderten und Nationen anzulegen, um künftig für alle Fälle zu raschem Vorgehen gerüstet zu sein.

Während dieser Interimsperiode geschah es denn, dass Herr Schwenkerle zu einem Stoffe hingezogen wurde, der stets von Neuem seine poetische Anziehungskraft zu üben pflegt – zu der Geschichte der unglücklichen Agnes Bernauerin.

Diesen Stoff begann Herr Schwenkerle wirklich schon jetzt ausführlich zu exzerpieren und dramatisch zu appretieren – ja er geriet dabei sogar mehr und mehr in schöpferische Glühhitze, und zwar schließlich so stark, dass er eines Tages von der Frühgeburt eines fertigen halben Aktes selbst überrascht wurde; – allein wer beschreibt das Gefühl unterbrochener Vater- und Mutterfreuden, als zu gleicher Zeit die Nachricht eintraf, ein Wiener und ein Münchener Dichter wären ihm zuvorgekommen und hätten soeben wie auf ein gegebenes Zeichen zu gleicher Zeit und höchst geschickt die arme Agnes ins Wasser geworfen!

Das war nun wirklich kein bloßer Schlag ins Wasser und hätte eine stärkere Natur erschüttern müssen als die unseres fleißigen Emeran.

Zum ersten Male stieg ihm der melancholische Gedanke auf, ob es denn wirklich der Mühe wert sei, als poetisierendes Windspiel der Laune des Theaterpublikums nachzulaufen und schließlich an einer Lungensucht des Talentes zu sterben.

»Sind denn keine anderen Gebiete der Dichtkunst vorhanden«, rief er aus, »Gebiete, wo ein Autor weniger dem Wandel des Urteils und Geschmacks ausgesetzt ist und wo doch immer mit Zuversicht auf eine Halbe- oder Drittelkartoffelernte der Ehre gerechnet werden kann?«

Diese Frage erhielt auf einmal dadurch eine entscheidende Bedeutung, dass soeben ein Roman aus dem Kaufmannsleben neuester Zeit die Lesewelt sehr zu beschäftigen anfing, und Herr Schwenkerle beschloss alsbald, diesem epischen Genre seine Kraft und Muße zu widmen, umso mehr, als er selbst von Seiten seines Großvaters, eines Käsehändlers en gros, aus dem Kaufmannsstande stammte.

Sofort wurde nun für ausgiebiges Material Sorge getragen und fleißig alles studiert, was näher oder ferner mit Handel und Industrie zusammenhing; und so las er denn aufmerksam über Volkswirtschaft im Allgemeinen und im Besonderen, dann natürlich auch über Teilung der Arbeit und über Teilnehmergewinn, ferner über Donaudampf- und Donauschleppschifffahrt, über Zollverein und Aufhebung der Innungen, über Gewerbevereine, Wuchergesetze, Agio und Zuckerraffinerien, über Tabakmonopol und Stempelgesetz, Zweig- und Zwergeisenbahnen, Spinnereien, Webereien, Zinsengarantie und Kartoffelbrennereinen, Eigenschaften des Düngers, Verlags- und Wechselrecht, Kohlengruben und Ministerverantwortlichkeit, über Kleider, die wir tragen, das Wasser, das wir trinken, die Luft, die wir atmen, die Kohlen, die wir brennen – kurz über Stoffwechsel und Wechselstoffe aller Art; dazwischen wurde auch nicht versäumt, mit offenen Augen sich fleißig umzusehen, wo, wie und wann sich brauchbare Erscheinungen zur Schilderung aus dem Geschäfts-, Geld- und Fabrikleben finden ließen.

Binnen Vierteljahresfrist hatte Herr Schwenkerle eine Vorrat von Büchern, Exzerpten, Anschauungen, Sprichwörtern und Anekdoten beisammen, dass das Talent des Autors einigermaßen selbst davor erschauderte und im Fett des Stoffes zu ersticken drohte.

Schwenkerle ließ es also vor der Hand mit weiteren Stoffsammlungen sein Bewenden haben und beschloss vorläufig, an die Verarbeitung des vorliegenden Materials selbst zu gehen; – allein da geschah es, dass er vor lauter Bäumen den Wald nicht sah und mit dem ganzen en-gros-Geschäft seines Romanentwurfs durchaus nichts anzufangen wusste.

Um sich daher einigermaßen in besseren Schwung zu versetzen und den Appetit seiner Phantasie zu reizen, begann er nach allen möglichen »Vorbildern« zu greifen und las eine Zeit lang gar nichts als Geschichten aus dem Industrie- und Kaufmannsleben; – allein auch diese Mittel, seine Erfindung mit Zwangskurs in Umlauf zu setzen, wollte nicht verfangen, bei jeder neuen Geschichte hatte er den immer stärker hervortretenden Gedanken, dass ihm die besten Ideen bereits von andern weggenommen seien – und um nicht zu dem furchtbaren Selbstgeständnis gedrängt zu werden, dass er durchaus unfähig sei, im Genre des Romans etwa Erkleckliches zu leisten, behauptete er endlich in einem an sich merkwürdigen Monologe, dass er nur das Unglück habe, Epigone zu sein, der alle Gebiete schon allzu bebaut und die besten Stoffe vorweggenommen finde!

Er warf daher das ganze Magazin für seinen beabsichtigten Roman in einen versteckten Winkel der Bodenkammer und beruhigte sich schließlich mit dem Gedanken, dass am Ende die Poesie des Krämerlebens doch keine große Zukunft haben werde.

Was nun aber beginnen?

»Haben und lieben muss der Mensch etwas, oder er wird morden und brennen!« heißt's in Schillers Lager.

Zum Glücke stellte zu rechter Zeit ein Wort sich ein, und zwar aus Goethes erhabenem Munde:

»Du kannst auch groß in kleinen Dingen sein!«

Groß in kleinen Dingen – das ließ sich hören; groß in kleinen Dingen – ohne Massenstudium, ohne übermenschliche Anstrengung, groß durch ein wenig Talent und geringe Apparate – das war etwas, auf diesem Wege musste Schwenkerles wahre Größe liegen!

Es handelte sich also nur darum, wo und wie die geringen Gegenstände zu finden seien, an denen sich Schwenkerles Größe empor ringen konnte?

Aber sehr bald wurde Ra; – die Dorfgeschichte – richtig – die hatte sich zwei Jahrzehnte tapfer gegen Sturm und Wetter gewehrt und in der Gunst des Publikums erhalten – warum sollte Schwenkerle dem einfachen Stoff des Volkslebens nicht auch kleine Aquarellbilder, Ripperzählungen abgewinnen und sich einer gewissen Ewigkeit versichern?

Frisch zugegriffen, der Gedanke war gut – jetzt nur geschwind das Volk beobachtet, was ja reine Unterhaltung ist, alles ohne viel Federlesen kunstlos hingestellt, so konnte es an gutem Erfolg nicht fehlen!

Es war gerade Wind und Wetter günstig, also die Segel geschwellt und dem Gebirge zugerudert, wo ja Sitten und Gebräuche wie Kieselsteine auf der Straße liegen und die Ulis, Lorles, Vrones, Tonis, Seppls und Steffls als leibhaftige Lebensbilder herumgehen!

Unserem Emeran Schwenkerle war, als er das schöne Gebirge betrat, nicht anders zu Mute, als besäße er Bäume, Häuser, Steine, Menschen und Tiere schon als ideales Eigentum, das er nur in das Kataster seiner Schreibmappe eintragen und geruhsam mit nach Hause zu nehmen brauche.

Aber – zwischen Denken und Wünschen und Sollen und Haben ist eben ein recht fataler Unterschied, und Herr Schwenkerle musste die betrübende Erfahrung machen, dass ihm sein Spaziergang durchs Gebirge außer frischer Luft und gutem Brunnenwasser wenig Nutzen und Vergnügen für seinen Zweck abwarf.

Denn das verfluchte Schlafen auf Heuböden oder Strohschütten, das ewige Essen der schrecklichen Knödel und Käsenudel, die verdorbene deutsche Sprache voll unvollständiger Bestandteile, das unbeschreibliche Schuhwerk und die grobe Wäsche der Leute an Wochentagen – über all dies noch die Zurückhaltung oder derbe Zufahrigkeit der Männer, die Scheu oder rohe Rüstigkeit der Weiber, die spitzige Kürze oder gar spöttische Abweisung der Mädchen, wenn er in wohlbedachten Gesprächen ihr innerstes Sein und Wesen auf die Zunge locken wollte; – das alles wirkte höchst beschwerlich auf Kopf und Magen unseres guten Wanderers.

Nachdem er sich endlich einen ganzen Monat fürchterlich gelangweilt hatte im Gebirge, ohne mehr zu erbeuten als zwei Verse eines Volkslieds, erkleckliche Rippenstöße bei Tänzen und Kirchgängen, einen zweifelhafte Eingang in eine Sage, deren Ausgang ihm verborgen blieb, gab er den Versuch auf, »der Schönheit und Heiligkeit des modernen Volkslebens« weiter nachzuspüren, und beschloss den Rückzug anzutreten, so einsam als Napoleon aus Russland, nachdem er auch mit einer Armee von Millionen Hoffnungen angekommen war.

Leider musste er bei seinem Abschiede noch den Schmerz erleben, von der einzigen Person, die er während seines Aufenthaltes zu lieben angefangen, schwer verletzt zu werden.

Die Tochter des Bauernhofes, wo er während seines Aufenthaltes sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, war ihm nämlich durch ihre heitere Weise aufgefallen und schien sich nicht ungern mit seinem »sulprigen Geschwätz« zu befassen, das immer vom Hundertsten ins Tausendste ging.

Vielleicht trug die sonstige Langeweile und der Verdruss über die misslungene Absicht der Reise viel dazu bei, dass ihm Mone Frey als einziger Trost besonders anziehend vorkam und in seinem erstaunlich leeren Herzen ohne alle schickliche Überlegung Platz nahm.

Nun hätte er freilich bei weniger umnebelten Sinnen bald herausfinden können, dass es wenigstens zweifelhaft war, ob Mone auch wirklich gesonnen sei, von dem offenen Schauplatz seines Herzens mit oder ohne Vorbehalt Besitz zu ergreifen; allein er bedurfte eben durchaus einer teilnehmenden Seele, und so wollte er um jeden Preis festhalten, was er zu halten glaubte – und der Glaube macht bekanntlich selig!

Erst beim Abschied, wo man ja stets ein wenig wärmer und weicher gestimmt ist, sollten hm die Augen vollends aufgetan werden.

Jetzt oder nie wollte er von ihr erfahren, inwieweit sie seine glimmende Neigung zu erwidern geneigt sei. Im vollen Reiseanzug, ein Ränzlein umgehangen, Reisesack und Stock in der Hand, in Tirolerjoppe und Steirerhut stellte er die Mone Frey nicht weit von der Stalltüre mit bekümmerter Stimme zur Rede, ob sie seiner auch noch gedenken werde, wenn er nicht mehr sein – d. h. wenn er nicht mehr bei ihr sein werde.

»Warum nicht«, sagte Mone absichtlich missverstehend – »Ich will nach euerm Absterben ein Vaterunser für euch beten!«

»Nicht so, mein schönes Kind«, sagte Schwenkerle – »ich hoffe noch lange zu leben – zu deiner und meiner Freude zu leben; – aber ich meine, wenn ich nun fort sein werde von hier, wenn ich dir nicht mehr in dein schönes Auge sehen, dir nicht mehr werde sagen können, wie sehr ich dir hold bin – sage mir: Wirst du auch dann mich noch lieben?«

»Ihr werdet mir immer mit ausgespannten Armen im Herzen herumgehen«, sagte Mone und riss lachend aus; – leider hatte sich das Gesinde des Hofes horchend hinter der Stalltüre aufgestellt und schlug jetzt ebenfalls ein helles Gelächter auf!

Das war ein Donnerschlag, wie man selten einen selbst bei Gebirgswettern zu hören bekommt, er brummte dem guten Emeran noch in den Ohren, als er bereits wieder daheim war und überlegte, was nun zu tun sei.

Das Ergebnis eines langen, langen Überlegens war endlich, dass Schwenkerle von der poetischen Produktion – zu Kritik der Produktion überzugehen beschloss.

Ja, zur Kritik, deren Wert und Wichtigkeit ihm auf einmal nicht hoch genug anzuschlagen war.

Die Kritik war ihm ja nichts anderes als die auf der Höhe der Zeit stehende Windmühle des Geschmacks, um den Weizen des Schönen von der Spreu des Hässlichen und Hohlen zu sondern; die Kritik war ihm das tapfere Christenschwert, welches verheerend durch die Sarazenenhorden falscher Größe zu mähen bestimmt ist, der wolkenhohe Leuchtturm am Strande, um allen auf der hohen See kämpfenden Talenten mehr oder weniger »heimzuleuchten«.

Und so beschloss denn Schwenkerle, als Windmühle des Echten, als Rächerschwert des Guten und als Leuchtturm der Geschmacksherberg am Fuße des Parnasses seine Wirksamkeit zu eröffnen.

Er trat mit einem Blatte in Verbindung, welches nur unhonorierte Artikel – diese aber auch sehr gern – aufnahm, und nun begann eine Tätigkeit, die aller Ehren wert war und ihr Honorar in sich selber fand.

Als Motto hätte man über Emerans Artikel treffend die Bibelworte setzen können: »Die Berge werden zu Tälern, die Täler zu Bergen werden«, denn was bis zu jener Stunde als bedeutend und groß anerkannt war, das musste ohne Gnade und Barmherzigkeit niedergestreckt, was aber bis zur Stunde tief unter dem Bemerkbaren stand, das musste vor aller Augen hochgegipfelt werden!

Die galt aber nur von den Epigonentalenten unserer Zeit; denn die Klassiker mussten natürlich unberührt bleiben und durften nur dazu dienen, neue Talente unter der Wucht ihrer Namen zu erdrücken.

Wurde z. B. eine harmlose Idylle der Neuzeit besprochen, so wurden Homer, Vergil, Dante, Ariost, Milton, Klopstock und Goethe als niederschmetternde Muster der Epik dagegen ins Feld geführt; war ein neueres Stück zu besprechen, das dem Publikum gefiel, so mussten sofort ein Äschylos, Sophokles, Euripides, Shakespeare, Corneille, Lessing, Goethe und Schiller in blanken Waffen dagegen ausrücken; und wie bei der Beurteilung poetischer Werke wurde auch bei der Würdigung anderer Kunstleistungen verfahren.

Da geschah es denn stets, dass, anstatt Idee und Ausführung eines Gemäldes nach eigenem Urteil verständig klar zu machen, immer nur die Rede war von den Urteilen berühmter Ästhetiker über alte und ältere florentinische, römische, lombardische, venetianische, deutsche, niederländische, holländische, französische, spanische und englische Schulen mit ihren hervorragenden Vertretern. Nur in einem Falle wurde von der strengen Konsequenz dieser Verfahrensweise abgesehen: wenn es sich nämlich um ein sogenanntes unglückliches Genie handelte.

Ein Maler mit phantastisch durchlöchertem Mantel und Zottelhaar, der immer nur noch nach Rom wollte, um an seine Vollkommenheit die letzte Hand zu legen (der aber noch nicht korrekt zeichnen konnte); ein Musiker, der die Werke der Alten viel, aber nicht genug, in der neuen genug, aber nicht viel erblickte und seinen Generalbass hauptsächlich mit dem brummenden Magen studierte; ferner ein Poet, der sich immer nur mit großen Ideen trug (ohne die kleinste ausführen zu können) und manchmal unterm Tisch der Kneipe sein ärmliches Lager aufschlagen musste; diese und ähnliche Genies erregten in Emeran Schwenkerle stets die Teilnahme eines barmherzigen Samariters und wurden als »künftige« Muster Männern vorgeritten, die sich bereits mit Ehren auf eine Reihe vortrefflicher Werke berufen konnten, Ihnen zunächst wurden etwa noch jene Talente einiger Beachtung gewürdigt, welche alles in der Welt so ziemlich auf die Spitze stellten und in krassen Übertreibungen sogenannte Effekte erzielten. Dass sie Erde und Himmel schwarz und ihre herum schwadronierenden Menschlein rot anstrichen, einen Bauern wie König Priamus und einen Perikles (der Natürlichkeit wegen) wie einen Bauern sprechen ließen, das imponierte und musste also wahr sein.

Damit war aber auch Emerans kritische Geduld zu Ende, und was über diesen Grenzpfahl hinausging, musste die ganze Schwere seiner Antipathie empfinden.

Infolge dieser Wirksamkeit konnte es nicht ausbleiben, dass die Lage unseres Emeran nach und nach unbehaglich genug wurde.

Die paar Freunde, welche dachten wie er, waren im Grunde ganz ungenießbare Gesellen, voll verbissener Lebensanschauung und grauer Theorie; die unglücklichen Genies dagegen, die ihren anonymen Verfechter bald nach Namen, Stand und Vermögen ausfindig gemacht hatten, bezeigte ihm ihren Dank und ihre Anerkennung besonders dadurch, dass sie hm den ganzen Tag auf dem Halse lagen, durch genauere Zergliederung ihrer weitaussehenden Intentionen beinahe um den Versand brachten und ihm schließlich die rühmenswerte Freundschaft erwiesen, sein kleines Einkommen redlich mit ihm zu teilen.

Doch blieben die häuslichen Landplagen nicht die einzigen.

Denn hatte Herr Schwenkerle zur guten Stunde einmal seiner treuen Besucher sich entledigt und wollte durch einen Gang im Freien sich erholen, so bemerkte er gewöhnlich, dass vor dem Haustore, mit zweideutigen Balancierstangen bewaffnet, schon wieder andere gute Freunde auf ihn warteten, die gar große Lust bezeigten, mit oder ohne seine Erlaubnis ihm hinter die Vorstadtgärten zu folgen und ihm dort allerlei Eindringliches mitzuteilen.

Diese Freunde bestanden durchweg aus Schauspielern, Malern, Dichtern, Musikern, Bildhauern, Kunstreitern und Günstlingen von Tänzerinnen, welche Grund zu haben glaubten, sich mit gewissen Beizartikeln nicht ganz zufrieden geben zu dürfen. Emern sah sich augenscheinlicher Lebensgefahr halber nicht selten genötigt, zu einer eigentlich für seinen Roman erfundenen Strickleiter seine Zuflucht zu nehmen, die ihn aus dem hintern Fenster einer Milchkammer unbemerkt in einen Hof und von da ins Freie gelangen ließ.

Hier nun müssen wir ausdrücklich bekennen, dass Emeran Schwenkerle von Haus aus eine herzensgute, stundenweise sogar weiche Natur war und also nicht hindern konnte, dass ihm seine Lage unbeschadet seiner Heldenschaft in dieser Skizze manchmal wirklich stark zu Herzen ging.

In stiller Mitternacht, allein mit sich und dem Gedanken an seine frühverstorbene Mutter, rief er manchmal aus:

»O Mütterlein, lebtest du nur noch – alles, alles wäre anders!«

Aber wenn er sodann morgens wieder erwachte und die Weltlage um sich her ins Auge fasste, so ermannte er sich wieder und dachte:

»Jeder ist seines Schicksals Kupferschmied, du hast dir diese Ketten gehämmert, trage sie mit Anstand schon des hohen Grundsatzes wegen, welchen du vertrittst!«

Und was war der hohe Grundsatz seiner kritischen Wirksamkeit?

Er hatte sich in dem Streite über Idealismus und Realismus in Kunst und Poesie für den nacktesten Realismus erklärt und suchte ihn nun mit jener Grausamkeit durchzuführen, die zeitweise gerade weichen Gemütsmenschen eigen sein kann. Nach Schwenkerles Theorie mussten Statistiker, Untersuchungsrichter und Lichtbilderzeuger die einzig wahrheitsgetreuen Darsteller der künstlerischen und poetischen Wahrheit sein.

Eines Tages, als gerade wieder ein herber Angriff Schwenkerles gegen einen durch seine lyrischen und dramatischen Arbeiten aufgezeichneten Schriftsteller in dem oben erwähnten Blatte stand, hatte Emeran schon vormittags eine unbezwingbare Sehnsucht nach einem Spaziergang ins Freie verspürt und benutzte, da er gerade keine auf- und abwandelnde Gestalt vor dem Hause gewahrte, diesmal das offene Haustor, um auf die Straße zu gelangen.

Wirklich stieß er auch weiter die Straße hinab auf kein Gesicht, das ihn wie sonst gewöhnlich »aufs Korn nahm« – und schon glaubte er auch, sich vollends einer angenehmen Sicherheit hingeben zu dürfen – als dort um die Ecke einer Nebenstraße ein Mann von etwa vierzig Jahren hervortrat und, behäbig wandernd, gerade auf ihn zukam.

Emeran erkannte auf den ersten Blick in ihm den eben heute so barbarisch mitgenommenen Poeten, der auch sonst in der Gesellschaft eine würdige Stellung einnahm – und es fehlte nicht viel, dass unser kritischer Tyrann wie Geßler vor Tell an die nächstbeste Wand hinsank; – allein wie Tell den in Unordnung geratenen Zustand seines Gegners schnell gewahrend und milde gesinnt wie Tell, trat der beleidigte Autor bescheidentlich zu Emeran hin und sagte:

»Ich bin's, Herr Landvogt – heißt: mein lieber Herr Schwenkerle. Mich freut es, Sie so wohl und zwecklos herumwandern zu sehen; kommen Sie – Könige und Dichter, heißt es, sollen miteinander gehen, auch Kritiker und Autoren sollten es nicht verschmähen, Arm in Arm miteinander sich des Lebens zu erfreuen!«

Und ihm seinen Arm bietend, schien der Autor den Zustand seines Gegners nicht zu gewahren, führte harmlos, erst von gleichgültigen Dingen redend, das Wort allein, bis Herr Schwenkerle sich auch wieder disponibel fühlte, worauf sich der Inhalt des Gesprächs immer ernster gestaltete und im Ganzen eine seltene Übereinstimmung von Kunstansichten herausstellte.

Nur in Bezug auf Realismus und Idealismus in Kunst und Poesie wollten die Ansichten nicht recht näher rücken, weil der Autor im Gegensatz zur Ausschließlichkeit des einen oder anderen ruhig behauptete, dass die Hauptaufgabe künstlerischer und poetischer Werke gerade in der richtigen Verschmelzung des Realen und Idealen zu suchen sei, was allein durch die richtige Form geschehen könne. Wahr oder wenigstens möglich müsse der Inhalt eines aus dem Leben genommenen Stoffes sein, aber damit diese Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit auch schöner sei als die nackte Wirklichkeit, dafür müsse sie in eine ideale, bleibende Form gegossen werden. Wer daher für die Darstellung eines passenden Gegenstandes oder Ereignisses die beste Form finde, Reales und Ideales im Stoffe auf die richtigste Weise zum harmonischen Ganzen verbinde, sodass jeder Versuch einer Änderung nur eine Verletzung des einen oder anderen, eine Zerstörung des Ganzen wäre – der sei der rechte Mann und der sei der rechte Meister!

Emeran hätte auch hier nicht gern mehr widersprochen. Ihm war jetzt so wohl, so weh; es drückte ihn im Herzen, im Halse, im Kopf; – so viel Güte für so viel zugefügte Beleidigung; so viel natürliche Grundsätze gegenüber der schwankenden Übertreibung der Seinigen, so viel Lebensart gegenüber den pöbelhaften Unwürdigkeiten, die er heute erst wieder öffentlich gegen den Autor losgelassen!

Der Autor sollte aber auch in seinen Augen lesen, wie ihm zu Mute sei, ein Tropfen in seinen Wimpern sollte ihm viel, sollte ihm alles sagen; – aber für die Aufrechterhaltung seiner Grundsätze dachte unser Emeran, wenn auch schüchtern genug, doch noch etwas wagen zu müssen! Er entwickelte also ziemlich zusammenhängend, was er haltbar an seiner Theorie erachtete, worauf ihm der Autor lächelnd erwiderte:

»Ich will Ihnen statt aller Entgegnung ein Beispiel aus dem täglichen Leben zum Nachdenken geben. Sehen Sie – die Kaffeebohne z. B. und das reine Brunnenwasser sind gewiss Naturprodukte an sich, und sie müssten in der Art, wie sie die Natur hervorbringt, allein und vorzugsweise für uns Wert haben. Aber ich möchte doch den sehen, der sich zum Frühstück ein Glas kalten Brunnenwassers und eine Tasse ungebrannter Kaffeebohnen gefallen ließe! Brennt und reibt man aber die Bohnen, kocht man das Wasser und gießt es über das im Sieb befindliche Kaffeemehl, so gibt das, mit Zucker und etwas Rahm vereinigt, ein so duftiges, höheres Drittes, dass sich täglich Millionen daran erfreuen! So auch sind die Gegenstände der Natur, die Erlebnisse der Menschen nie ganz in dem rohen Zustande zu gebrauchen, wie wir ihnen auf Weg und Steg begegnen, sie müssen in Kunst und Poesie eine neue, von entsprechenden Ideen durchgeistigte, schöner, aber nichtsdestoweniger natürlich scheinende Gestalt annehmen!«

Emeran Schwenkerle sagte nichts mehr, reichte dem scheidenden Autor nur schweigend die Hand und hörte bewegt die Einladung desselben, ihn ja bald und öfter zu besuchen, da es ja immer gut und für beide Teile nützlich sei, sich kennen und verstehen zu lernen, um auch in den Gedanken des Andersdenkenden das Richtige nicht absichtlich zu übersehen.

Schwenkerle hielt es nicht lange mehr im Freien aus, er eilte nach Hause, und das erste, was er hier tat, war die Abfassung eines Billets an die Redaktion des von ihm bisher benutzten Blattes, worin er riet, statt seiner künftig einen anderen Kritiker zu gewinnen, da er sich auf der literarischen Öffentlichkeit in klösterliches Privatleben zurückziehen wolle. Ein zweites Schreiben war an den eben verlassenen Autor gerichtet, worin er mit den herzlichsten Worten ein offenes Bekenntnis über seine Unarten ablegte und gestand, dass das Hauptmotiv seiner ätzenden Artikel im Verdruss über sein Leben voll verfehlter Versuche zu finden sei.

»Gelingen muss dem strebsamen Menschen etwas, und zwar erst zum Selbstgenügen des Strebenden und dann aber auch zum Genügen der Mitwelt«, hieß es am Schlusse des Schreibens, »denn die Öffentlichkeit ist für Kunst und Poesie das, was der Resonanzboden für die Violine ist. Dieselben Saiten über ein Brett gespannt und noch so gut gespielt, machen nicht einmal dem Spieler ein Vergnügen, über den Resonanzboden einer Violine gespannt, erquicken sie Spieler und Tausende von Hörern!«

Einige wohlwollende Zeilen aus der Feder des Autors belohnten unseren Emeran schon am folgenden Morgen für seine Aufrichtigkeit, und von nun an verging keine Woche, ohne dass Herr Schwenkerle bei dem neuen Freunde vorsprach und sich dessen Umgangs herzlich erfreute, eine sanfte, gebildete Hausfrau und muntere, zutuliche Kinder vollendeten nun erst das Behagen des neuen Besuchers.

Die Lehren, welche Emeran Schwenkerle jetzt aus der kritikübenden Periode seines Lebens zog, waren ihm wichtig genug, um sie in seinem Tagebuche niederzuschreiben; es hieß darin unter anderem:

»Die Kritik kann vor den Blicken des Talentes wie ein frischer Morgenwind die Nebel zerreißen und ihnen klar zeigen, was bis dahin nur glückliche Anlage erraten ließ; die Kritik aber, selbst unklar oder unredlich, kann auch den klaren Blick des Künstlers wie feuchter Abendwind umnebeln und auf beklagenswerte Abwege führen.«

»Die Kritik täte wahrscheinlich besser, die öffentliche Meinung erst ganz frei gewähren zu lassen und sie dann unter bescheidener Form zu korrigieren, als keck und ohne Auftrag sich auf den Markt zu stellen und anderen ihre Einzelmeinung vorweg aufzudrängen.«

»Mit der Person eines Autors sollte sich die Kritik nur dann tadelnd beschäftigen, wenn sie sich selbst mit ihrem »Ich« vorwitzig in dem Werke vordrängt; die Meinung über ein Werk sollte immer so vorgetragen werden, als ob sie der Kritiker dem Autor in Gegenwart einer gewählten Gesellschaft mündlich ausdrückte; da würde denn die Wahrheit unbehelligt gesagt werden können, ohne dass der Anstand in der Form des Vortrags etwas Rohes oder Beleidigendes zuließe; auch würde der Takt des guten Gesellschafters nie zugeben, dass nur die Schatten- und nicht die Lichtseiten eines Werkes hervorgehoben würden.«

»Es ist ein großer Übelstand, dass man angefangen hat, Besprechungen über Kunst und Literatur wie pikante Unterhaltungsliteratur auszustatten; den anstatt einfach referierend an das Kunstwerk anzuschließen, sein Für und Wider klar und offen darzulegen und immer das besprochene Werk als Hauptsache vor Augen zu behalten, sieht man die Besprechung meistens so mit gewürzten, unwürdigen und persönlichen Zutaten vermengt, dass sie eigentlich eine produktive Arbeit für sich, Hauptsache, Unterhaltungsvortrag wird, die das beurteilte Werk schließlich wie kaum zur Sache gehörig beiseitelässt; Heines Manier hat leider auch an dieser Unart einen großen Teil der Schuld zu verantworten.«

»Tadel, und zwar scharfen Tadel soll und muss es geben; er darf und soll aber nur dann angewendet werden, wenn eine moralische oder ästhetisch falsche Richtung durch große Talente verfolgt wird, sodass sie über kurz oder lang allgemein schädlich werden müsste; von Persönlichkeiten sollte auch hierin abgesehen werden.«

»Sonderbar; wenn die Artikel eines Krämers, Handwerkers oder Fabrikanten öffentlich angegriffen werden, da entsteht ein Wehgeschrei, ein Prozess-an-den-Hals-werfen, ein Insmittellegen der Nachbarschaft, der Innung, schließlich sogar der Polizei, um den Erwerb und Kredit des Mannes nicht ins Stocken geraten zu lassen; denn, so heißt es: Der Geschäftsmann hat Frau und Kinder, ernährt vielleicht Verwandte, zahlt öffentliche Abgaben und hilft das materielle Wohl der Gesellschaft fördern; – wenn aber ein Künstler oder Autor, der bei jeder neuen Arbeit mehr als einer auf das Spiel setzt, dessen Wohl und Wehe mehr als bei jemand auf die gute Meinung angewiesen ist, unwürdig behandelt, vielleicht aus leichtfertigen Motiven jahraus, jahrein öffentlich herabgesetzt wird, da regt sich keine Hand, tut sich über die Straße kein Mund auf, höchstens die ordinäre Schadenfreude hält ihre Ernte daheim und an öffentlichen Orten; – und doch – hat er meist nicht auch Frau und Kinder, die mit Liebe an ihm hängen, seine Ehre für ihre Ehre ansehen, sein Wohl und Wehe als das Ihre empfinden? Beschäftigt ein Künstler und Autor nicht Geschäftsleute, Kunst- und Buchhändler, Setzer und Drucker, Krämer mit Farben und Werkzeugen mancher Art, zahlt er nicht auch Abgaben dem Staat und der Gemeinde und ist er nicht oft des Schneiders und Bäckers eifrigster Kunde?«

»Gute, aber getadelte Werke bleiben fort und fort in den Händen des Publikums, die tadelnden Zeilen eines Tagblattes aber liegen schon morgen beiseite, das ist manchmal ein Trost im augenblicklichen Untrost ...«

Wieder, wie schon so oft, war nun Emeran Schwenkerle bei der Frage angekommen: Was nun? Welche Tätigkeit soll ich ergreifen?

Zwischen seinem Talent und der Literatur sah er ein für allemal die Brücke abgebrochen, er war stark genug, sich jedes weiteren Versuchs, mit ihr in Verbindung zu kommen, ehrlich zu enthalten.

Aber etwas musste doch ergriffen werden, ohne Arbeit kann der Mensch einmal nicht leben, selbst wenn er durch Kupons vor Mangel hinlänglich geschützt wäre.

In einer sehr melancholischen Stunde beschloss Herr Schwenkerle also, nach allerlei anderen Versuchen mit einem Materialwaren-Geschäft in Verbindung zu treten, um auf diese Weise wenigstens die Interessen seines Vermögens zu erhöhen; er konnte so ein Jahreseinkommen erzielen, das für einen behaglichen Familienherd ausreichte, und – eine Heirat war es wirklich, die ihm jetzt im Sinne lag.

»Heirate du«, sagte ihm eine innere Bassstimme, »hierin kannst du es am ersten allen großen Männern gleichtun!«

So war denn auch in Kurzem ein »Verhältnis« eingeleitet und ein »Versprechen hinterm Herde« abgeschlossen.

Aber in dem Maße, als seine Liebe wuchs und die Stunde heranrückte, welche aus Zweien Eins machen sollte, wuchs auch Emerans stille Verzweiflung, dass seine Künftige an ihm nichts, gar nichts haben sollte als einen gewöhnlichen Materialwaren-Geschäftsassoziè, der aß, trank, schlief, liebte, Geld zählte und abends aus dem »Anker« seine fünf Seidel Bier nach Hause trug!

Wie hatte er einst von seinem Ruhme phantasiert, wie ging er in Gedanken mit seiner Zukünftigen durch die Straßen, gegrüßt und angestaunt von aller Welt als der und der! Ach – wenn er auch jetzt in Gottes Namen für sich auf allen Ruhm verzichtet hatte – seiner lieben, bevorstehenden Hälfte hätte er gar zu gern ein schimmerndes Stück Berühmtheit mit ins Haus gebracht!

In solchen Ach- und Wehgedanken stand er eines Tages am Fenster seiner Wohnung und blickte gramgrimmig in das Weite.

Da, auf einmal erblasste und errötete er plötzlich, und ein Gedanke, groß und leuchtend wie ein Meteor, schoss vor seinem inneren Blick vorüber.

»Wie?« dachte er, »wenn der Dichter ein Buch, der Maler ein Bild, der Plastiker eine Statue, der Fabrikant einen neuen Stoff fertig hat – wem gedenken Sie Buch, Bild, Statue und Stoff vorzuführen, damit sie öffentliche Weihe und Zuspruch erhalten? Dem Publikum! Wenn ein Fürst den Thron besteigt, ein Feldherr nach bedeutenden Siegen in die Heimat zurückkehrt, für wen sind diese endlosen und kostbaren Feierlichkeiten alle berechnet? Für das Publikum! Heißt das nicht mit einfachen Worten so viel als, das Publikum ist ein Erhabenes, Heiliges, ein geschworener Gerichtshof, aus dessen Händen gern Künstler und Feldherrn und Fürsten den weihevollen Wahrspruch empfangen? Nun, in der Tat, wenn das Publikum im Großen und Ganzen etwas so Bedeutendes ist, kann da ich, als ein Teil dieses Bedeutenden, ganz ohne Wert und Wichtigkeit sein? Wie – wenn ich's dahin brächte, hier, wo ich lebe – mich zur Seele dieses Publikums zu machen? Wenn ich vor, während und nach jedem Ereignisse rastlos dahin strebte, nach bestem Wissen und Gewissen das Gute zu fördern, dem Schönen Eingang und Anerkennung zu verschaffen? Das Publikum kommt selten vorbereitet zu Kunstgenuss und Urteil; jeder hat eben sein Werkzeug fallen lassen, seine Bude geschlossen und läuft den Versammlungen zu – hier könnte für vorbereitende Stimmung gesorgt werden! Das Publikum sitzt im Theater, ist erbaut und ergriffen, regt sich aber nicht, weil es an mutigen Händen fehlt, die den Applaus beginnen – sollten da meine zwei Hände nicht helfen können? Das Publikum wird von frechen Zumutungen aller Art das ganze Jahr hindurch bestürmt und missbraucht, durch rege, frische Gegenwehr ließe sich dem Unheil meistens steuern – sollte sich diese Gegenwehr nicht organisieren lassen? Ah, hier blickt mir eine Aufgabe entgegen, die herrlich und ruhmreich zugleich ist! Wenn ich einer poetischen Schöpfung, einem Werke der Kunst, einer erhabenen Tat die gute Stimmung, den warmen Beifall des Publikums zutreibe – geht nicht wie von selbst ein Teil des Ruhmes auf mich über? Kann ich als Kenner, Förderer und Liebhaber alles Trefflichen unbekannt bleiben? Ha, ich will's – will dies Aufgabe ergreifen, und ich denke, auf meinem Sterbebette sagen zu können, dass ich eine wahre Bestimmung erfülle!«

Vor allem wurde nun wirklich geheiratet, um nach Beseitigung dieses Nebengeschäftes in seiner Hauptaufgabe nicht mehr gestört zu sein; und dann ging es wirklich mit bewundernswerter Regsamkeit, Ausdauer und Liebe an die keineswegs leichte Aufgabe.

Erschien von jetzt an ein gutes, neues Buch, sollte ein Bild ausgestellt, eine Oper oder ein Stück zum ersten Male gegeben werden, so wusste sich Emeran vor allem Einsicht und Urteil zu verschaffen und war das Letztere einmal als günstig festgestellt, so sah ihn sein Materialwaren- Geschäftsbüro so lange mit keinem Auge, bis er zu Gunsten des Werks seine Gänge gemacht, seine selbstbezahlten Inserate verfasst und überhaupt die ganze Stadt in Rumor gebracht hatte.

Da nahm man gewiss am entscheidenden Tage kein Blatt in die Hand, ohne unter dem Strich desselben aus Schwenkerles Feder den Lebenslauf des Werkes, die günstige Aufnahme desselben anderwärts und die Stimulation zu lesen:

»Dass sich hoffen lasse, unsere Vaterstadt, die immer so viel Kunstsinn und Geschmack gezeigt, werde hinter anderen Städten (von zweideutiger Urteilskraft) zurück bleiben!«

Unterschrieben stand gewöhnlich, obwohl Herr Schwenkerle der Alleinwissende war: »Einige, die es ehrlich meinen!«

Das Publikum setzte dieser Agitation einige Zeit die übliche Schwerblütigkeit entgegen, gab auch wohl bald einige Zeichen der Unbehaglichkeit zu erkennen, da es sich nicht gern gar zu warm zusetzen lässt; als es aber merkte, dass die »Einigen, die es ehrlich meinen« sehr oft recht behielten, wirkliche Erfolge zu Wege brachten und von ehrlicher Gesinnung beseelt waren, so kam eine gewisse Folgsamkeit in Trab, die niemand eingestehen wollte und doch jedermann übte; Schwenkerle war so glücklich, wie jeder Agitator bald eine kleine, aber verwegene Partei um sich zu haben, die ihn wärmer unterstützte, als es manchmal rätlich war.

Natürlich konnte die »neue Seele der öffentlichen Kunstmeinung« in der Stadt nicht lange verborgen bleiben, und wenn es auch nun Witze und Herbheiten auf den jungen Materialwaren-Assoziemäzen niederregnete, so schadetet das doch im Ganzen der Wirksamkeit und dem Einfluss desselben nicht, ja man gewöhnte sich nach und nach daran, vor jeder neuen Erscheinung »Einige, die es ehrlich meinen« sprechen zu hören.

Zu Schwenkerles Ruhme muss gesagt werden, dass seine Vaterstadt im Laufe einiger Jahre den Ruf eines freien, immer trefflich urteilenden Publikums erhielt und dass nicht leicht ein fahrender Künstler den Beifall derselben zu umgehen sich entschloss.

Und so hatte ja unser Emeran endlich eine feste Stellung in der öffentlichen Meinung erreicht, fühlte sich überaus glücklich in derselben und erlebte die Auszeichnung, von Künstlern und Autoren als ein einflussreicher, wohlwollender und gediegen urteilender Mann persönlich aufgesucht zu werden ...

Große Männer sollen es im Durchschnitt nicht zu hohen Jahren bringen (obwohl Goethe und Humboldt doppelte Philisterleben überaltern) und so darf es uns im Grunde nicht überraschen, wenn auch schmerzen, dass Schwenkerle noch bei ziemlich jungen Jahren von dem Schauplatze seiner Wirksamkeit abtreten musste.

Das Schicksal setzt den Hobel an
Und hobelt alles gleich!

Der Hobel war das Nervenfieber, das bekanntlich mit unerbittlicher Schärfe durch die Menge fährt.

Schwenkerles Tod fiel leider in eine Zeit, wo man seines würdigen Urteils am meisten bedurft hätte. Die Frage über Zukunftsmusik fing nämlich eben an, auch in Emerans Vaterstadt eine brennende zu werden, und das Publikum hätte gar zu gern vor Aufführung der ersten Pièce seinen »Einige, die es ehrlich meinen« sprechen gehört.

Aber dieser »Mehrere« konnte nicht mehr sprechen, und so brach denn bald wie überall nach Schwenkerles Tod auch in seiner Vaterstadt derselbe Meinungszwiespalt aus; nur in einem waren jetzt sehr viele einig, dass dem rühmlichen Toten ein unvermeidliches Denkmal gesetzt werden müsse.

Die Subskription wurde denn auch eröffnet und ergab alsbald eine reichliche Summe, so dass nach Jahr und Tag bereits Emerans Ruhestätte eine schöne Ehrensäule trug – über deren Inschrift die Gelehrten sich hoffentlich bald einigen werden!

Ende des ersten Teils.

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