Wilhelm Raabe
Wunnigel
Wilhelm Raabe

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Fünfzehntes Kapitel

Der verehrte Leser wird nunmehr gebeten, in seinem Bekanntschafts- und Freundschafts-Album nachzublättern und sich auf den unangenehmsten, widerlichsten, den »einem am meisten auf die Nerven fallenden« Patron (einerlei von welchem Geschlecht!) drin zu besinnen, und sodann darüber nachzudenken, wann diese Kreatur am schwersten zu ertragen ist und wann das Zusammensein oder gar Zusammenleben mit ihr am unwiderstehlichsten an den Rand der Verzweiflung drängt.

Natürlich dann, wenn der Alp, der Haus-, Familien- oder Freundschafts-Unhold, elegisch wird, d. h. wenn ihn irgendein, sei es verschuldetes oder unverschuldetes Schicksal duckt und dermaßen zurichtet, daß er da anfängt zu wimmern und zu pimpeln, wo er sonst schnarrte, knarrte und als des Satans rechter Vetter sich zu Tische setzte oder davon aufstand! –

Nun wollen wir durchaus nicht sagen, daß der Regierungsrat Wunnigel zu den unleidlichsten Kostgängern des Herrgotts auf dieser Erde gehörte, dazu war er viel zu fideler und quecksilberiger Natur; allein daß er allerlei an sich hatte, worein seine Umgebung mit Aufgeben von viel eigener Behaglichkeit sich finden mußte, unterlag keinem Zweifel. Wir wissen, daß er imstande war, der Welt allerhand Rätsel zum Knacken zwischen die Zähne zu zwängen; jedoch das unheimlichste legte er jetzo nicht nur der Tochter, sondern auch dem Sohne hin, jetzo, wo er gleichfalls elegisch gestimmt aus Italien zurückgekehrt war.

Acht Tage lang verließ er das Zimmerchen, welches von der Blutbuche verdunkelt wurde, gar nicht. Dann schlich er wieder hervor, aber mit einem sonderbaren Frösteln und Schauder in allen Gliedern. Er, der sonst ein Mensch des frischesten und freiesten Luftzuges war, fand es nunmehr nirgends warm genug. Offene Fenster waren ihm ein unausstehbarer Greuel, und eine offene Tür verschloß er nicht nur, sondern verriegelte sie auch. Auf seinen Wegen im Hause und im Garten trug er den Kragen seines Rockes und Überrockes stets so hoch als möglich aufgeklappt. Den breitrandigen Filzhut zog er dagegen so tief als möglich über die Nase herab; und was das schlimmste war, diese Nase erschien spitz, während sie sonst sich mehr dem Kloben näherte, und angsthaft blau, während sie früher ins Rötliche spielte. Auch stand sie ihm selten geradeaus. Vogelschnabelartig beweglich bohrte sie jetzt unablässig nach rechts, nach links – immer über die Schulter; und die Augen folgten ihr oder liefen ihr vielmehr voraus gleich denen eines am Verfolgungswahnsinn Leidenden. –

»Kannst du denn gar nicht herausbekommen, was ihn bedrückt, Heinrich?« fragte Anselma mit zuckenden Lippen.

»Daß ich mir die größte Mühe gebe, wirst du bemerken, Schatz; aber ich bin fest überzeugt, er hat noch nie in seinem Leben etwas so fest gehalten wie jetzt seinen Kummer oder seine – fixe Idee! Meine psychiatrischen Kenntnisse langen da nicht zu, Selmchen. Ich weiß weiter keinen Rat, als daß wir geduldig die Zeit walten lassen und eine gute offenherzige Viertelstunde abwarten. Ihn mit Fragen zu quälen, hilft zu nichts, wie wir zur Genüge erfahren haben. Wahrscheinlich – hoffentlich – voraussichtlich wird er dir, mein Kind, doch endlich einmal ganz unvermutet sein Herz öffnen.«

»O, du bist doch immer nur sein Sohn geworden; ich aber, ich bin seine Tochter, sein einziges Kind, und ich kann, ich kann ihn nicht mehr so umherhuschen sehen! Achte doch nur auf ihn. Ist es nicht, als fürchte er sich sogar, aus dem Fenster zu gucken? Und dann, was hat er mit dem Bahnhof? Er beklagt sich, daß das Pfeifen der Lokomotiven so schrill hier herüberdringe. Er – er beklagt sich darüber, er, welchem dieser entsetzliche Ton sonst die liebste Musik in der Welt war! Und dann wieder, was studiert er stundenlang, tagelang die Fahrpläne im Kursbuche? Ich löse das Rätsel nicht.«

»Für alle, die ihn früher gekannt haben, muß die Sache seltsam sein. Nun, ich wiederhole dir, die Zeit wird wohl alles zutage fördern, und du sollst sehen, wir lachen noch herzlich, wenn wir nach geknackter Angstnuß ihm unsere Meinung über sein gegenwärtiges unkomfortables Wesen mitgeteilt haben werden.«

Dies sagte der Doktor laut und tröstend zu seinem Weibe; im Grunde aber dachte er:

»Das Gebaren des alten Sünders fällt in der Tat unter die Äußerungen des Verfolgungswahnsinns. Ich darf es dem Kinde nicht sagen; aber es wird allgemach meine feste Überzeugung, der Papa leidet wirklich und wahrhaftig an dieser Form psychischer Störung.« –

Nun ist's eine alte, aber nie genug beherzigte Wahrheit, daß die Herrschaften nur eine Treppe tiefer zu steigen und in die Stuben ihrer Dienerschaft zu horchen brauchen, um in manchen Dingen, über die sie sich den Kopf vergeblich zerbrechen, sofort das Richtige zu erfahren.

In dem Gemache der Jungfer Männe sagte Kalmüsel:

»Was? Er hat geschrieben, daß er von italienischen Räubern und Banditen angefallen und beraubt worden sei? Daß er das gelogen hat, hat er ja allbereits schon selber gestanden; aber soll ich Ihnen nun meine Ansicht sagen, Jungfer?«

Die Jungfer zitterte mit Händen und Füßen danach, und Kalmüsel sprach, mit einer Hand auf dem Herzen und die andere nach der Stubendecke emporstreckend:

»Ich will einen körperlichen Eid darauf ableisten, daß, wenn einer einen angefallen, ausgeplündert und ermordet hat, er – er selber es gewesen ist und kein anderer, der's verübte.«

»Jesus Christus! Kalmüsel!«

»Und jetzt kommt das Gewissen!« sprach Kalmüsel dumpf. »Sie haben eins, Jungfer, und ich habe eins, und so wissen wir gottlob, was es darum ist. Das Gewissen, das böse Gewissen plagt ihn; und nachher hat er keine Ruhe bei Tage und verkriecht sich doch immer wieder im Loch; und des Nachts reißt er am Klingelzug, weil's ihm so scheußlich träumt. Und dann – merken Sie es nun, Jungfer, weshalb er die Eisenbahnpfeife nicht hören kann? Das ist ja klar wie die liebe Sonne; – jeden Augenblick muß er sich ja gewiß sein, daß sie ihn hier bei uns ausfindig gemacht haben und von seiten des Papstes und des italienischen Königs und ihrer Gerichte ankommen und ihn abholen.«

»Und das ist wirklich und, so wahr Sie das Leben haben, Ihre aufrichtige Meinung, Kalmüsel?«

»So wahr ich lebe und Kutscher und Hausmann hier im Hause bin und schon beim seligen Herrn gewesen bin!«

»Dann will ich Ihnen auch was sagen, Kalmüsel! Was ich zum besten geben will, weiß ich noch nicht, aber verlassen Sie sich darauf, zum besten gebe ich was an dem Tage, an welchem die italienischen Gendarmen kommen und wo man ihn auch nach unserem Gesetzbuche an den richtigen Ort, wo er hingehört, hinbringt; und was ich dazu tun kann, das wird sicherlich geschehen! Und wie ich von heute ab dem alten Barbaren auf seine Schliche passen werde und beim Bettmachen und in den Winkeln vigilieren werde, das soll für jedweden Polizeisergeanten eine Freude sein.«

»Aber die Frau Doktorn?« fragte an diesem Wendepunkt der Unterhaltung Kalmüsel plötzlich sich, halb erschreckt und in Wahrheit mit einem Anflug von Gewissen.

»O ja – ja! Ei ja, die Frau!« sagte auch die Jungfer gedehnt. »O freilich, es ist ja leider richtig, daß er doch immer ihr Vater bleibt! – Wissen Sie, Kalmüsel, ich gäbe ein gutes Teil von meinen Ersparnissen ab, wenn es sich dafür dahin auswiese, daß er auch sie in ihrer Jugend gestohlen habe und sie jetzt nur niederträchtigerweise und fälschlich für sein Kind und seine Tochter ausgäbe!« –

Es war ein ungemein sonniger, warmer Herbst. Die Tage blieben sommerhaft bis weit über die Mitte des Oktobers hinaus.

Wenn das so fortgeht, so kriegen wir endlich einmal einen Winter, in dem man nicht zu heizen braucht, sagten die Leute; der Regierungsrat Wunnigel in seiner Klausur jedoch ließ jetzt schon, im September, heizen.

»Und ich finde dabei nicht ein einziges Fiebersymptom – körperlich an ihm«, sprach kopfschüttelnd Doktor Weyland. »Ich suche ihm täglich wenigstens einmal den Puls zu fühlen, und das gelingt mir auch dann und wann; aber von Fieber keine Spur!«

Man tat das möglichste, den Alten zu bewegen, doch einmal wieder unter Menschen zu gehen.

»Unter Menschen?« fragte er verstört hohnlachend zurück. »Ha, ha?! Unter Menschen? Ne, nicht über den Garten hinaus! Ich habe genug von der Welt jenseits der Mauer, genug von dem, was ihr unbegreiflicherweise immer noch ›Menschen‹ nennt.«

Man führte ihn im Hausgarten spazieren. Er hatte es nötig, gestützt zu werden. Er! – Man suchte ihn auf alle mögliche Art aufzuheitern. Ihn! Er verbat es sich – er nahm es übel; und als man gar seinen Geburtstag, der auf den ersten Oktober fiel, feiern wollte, wurde er grob und drohte ganz ernstlich mit seinem Vaterfluch.

Da blieb denn freilich nichts anderes übrig, als ihn ganz sich selber zu überlassen, und damit schien man in der Tat das Richtige getroffen zu haben.

Eines Tages erkundigte sich Anselma:

»Wo ist denn der Papa? Ist er auf seinem Zimmer?«

Nein. In seinem Zimmer befand er sich nicht.

Man sah im Garten nach; aber auch hier fand sich der Herr Regierungsrat nicht anwesend.

Jetzt fing man an, im Hause zu suchen, jedoch vergeblich. Man wurde ängstlich und rief nach ihm. Nur das Echo der alten Korridore, Winkel und Ecken hallte seinen Namen nach; er selbst antwortete nicht.

Glücklicherweise kam gerade in diesem Moment, wo man sich fragte, ob nicht die Hülfe der Sicherheitsbehörde anzurufen sei und eine Leiter in den Hofbrunnen hinuntergelassen werden müsse, Kalmüsel von einem Wege in die Stadt zurück und verkündete ganz außer sich:

»Herr Jesus, ich bin fast zu Tode erschrocken! Soeben sind mir der Herr Schwiegerpapa, der Herr Regierungsrat, in der Stadt begegnet.«

»In der Stadt? Wie? Wo? Ist es die Möglichkeit?!«

»Ja – Sie schlichen freilich dicht an den Häusern hin und immer im Schatten, und den Mantelkragen hatten Sie auch hoch aufgeschlagen, wie auf den Bildern, wo einer aber immer auch noch einen Dolch in der gedruckten Geschichte dabei drunter hat, aber gewesen sind Sie es doch, oder ich will nicht Kalmüsel heißen.«

»Und du bist ihm nicht nachgegangen? Du weißt nicht, wohin er gegangen ist?« fragte der Doktor. Da grinste der gute Knecht verschämt schlau:

»O doch, Herr Heinrich.«

Anselma faßte zitternd seinen Arm:

»So martern Sie uns doch nicht länger, Kalmüsel. Sie sehen doch, wie das ganze Haus sich wegen des Papas ängstigt.«

»Zum alten Rottmeister Brüggemann am Untertor hat er sich geschlichen, Frau Doktorin«, sagte Kalmüsel; und der Tochter und dem Sohne fiel wirklich ein Stein vom Herzen. Die Jungfer Männe dagegen drehte sich um und ging stumm in ihre Küche. Fünf Minuten nachher stand sie noch und sah enttäuscht in das flackernde Herdfeuer. Sie hatte die Hoffnung gehegt, daß der Herr Regierungsrat ganz wo anders sich hinverfügt habe als zum Rottmeister Wenzel Brüggemann, und einen warmen Ort und ein flackernd Bratenfeuer für ihn kannte sie auch. Es war nicht zum Verwundern, daß Kalmüsel sie nachher an diesem Abend ›extraordinär vergrillt‹ fand.


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