Wilhelm Raabe
Wunnigel
Wilhelm Raabe

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Zehntes Kapitel

Und der Winter kam heuer früh ins Land. Aus den vereinzelten Flocken wurde bereits acht Tage später das lustige, wimmelnde Gestöber. Und durch den wirklichen ersten Schneefall des abnehmenden Jahres schritt vom Riedhorn ein junger Wandersmann der Stadt zu, der noch nie in seinem Leben in solcher Gemüts- und Seelenstimmung durch solch ein erstes Schneien geschritten war wie diesmal. Das war ein junger Mann, der Kalmüseln und den Daus nicht ohne die gegründetsten Gründe zu Hause gelassen hatte, zu Fuße nach dem Riedhorn hinausgegangen war und zu Fuße nunmehr zurücklief.

Erhobenen Hauptes, freudigen Auges, mit dem Wind um die Nase und in den »Locken« kann man auch im Einspänner den Weg zu einem der wichtigsten Ereignisse des Lebens hin und her zurücklegen; aber besser macht sich doch die Geschichte zu Fuß.

Anselma Wunnigel hatte heute den Doktor Weyland zum allerersten Male bei seinem Taufnamen genannt. Anselma hatte ihm – einen Kuß gegeben (natürlich nicht zuerst!), Anselma hatte geweint und gelacht und gänzlich fassungslos sich mit beiden Armen am Doktor gehalten und gemurmelt:

»O, wer hätte es denken können, daß das so kommen sollte?! O du Guter – du Guter!«

»Wer hätte das gedacht?« hatte auch der junge Doktor gemurmelt. »Aber dir wie mir kommt es doch nun so vor, als wäre es von Anfang an so bestimmt gewesen. Nicht, nicht wahr? Nicht wahr, Anselma, mein Herz, mein Kind, meine süße Braut?«

»Jaja, alles, wie du willst, Heinrich!« hatte die süße Braut geschluchzt, während drunten in der Honoratiorenstube eben die Stammgäste sagten:

»Es ist eigentlich ein ganz unanständiges Verhältnis, diese Geschichte mit dem Doktor Weyland, dem Mädchen und dem Alten da oben! Nun sitzt der Weyland schon wieder gute zwei Stunden mit dem Fräulein allein, und der Alte hat sich, wie es scheint, um dem Dinge freien Lauf zu lassen, in der Stadt bei dem Doktor fest einquartiert. Natürlich, Schlimmes will ich von den beiden jungen Leuten nicht gesagt haben; aber was den alten Rüpel, diesen Re–gie–rungsrat – Wunnigel anbetrifft, so können wir ja nur froh sein, daß wir ihn in diesem Genre hier aus der Gemütlichkeit los sind. Meine Töchter sollten mir aber mal so kommen! Es ist ein Zustand, den sich unsereiner gar nicht vorstellen kann!«

Mit den zwei Stunden hatte es in der Tat heute seine Richtigkeit gehabt; aber jetzt war der Arzt mit seiner Krankenvisite doch zu Ende gekommen. Er hatte das Haus verlassen, ohne noch einmal in der Stube der Stammgäste vorzugucken: wir aber fanden ihn auf dem Wege heimwärts und begleiten ihn auf dem Wege. Es hat immer seine Reize, kühl und verständig neben solch einem närrischen Hans im Glück zu gehen und gutmütig seinen seligen Bericht anzuhören, wie es kam, daß er vom Pferd auf den Esel kam.

»Was ist denn nun eigentlich geschehen? Wie machte es sich? Wundervoll! – Dieser Schnee ist wundervoll – welch ein taumelndes Behagen die Welt füllt, und – wie anders, wie ganz anders ist diese Welt auf einmal geworden! Nur zu – nur immer zu! Wie das aus der Dämmerung und dort vor dem schwarzen Walde niederrieselt und sich weiß und weißer und immer weißer und weißer über die Felder legt! O, sie ist zu gut, zu himmlisch! Und dann der alte Herr! Welch ein amüsanter, gutmütiger, drolliger, behaglicher alter Kauz! – Wie wird er sich wundern, wenn ich nach Hause komme und ihm das Geschehene mitteile! – Hm, gespannt bin ich ein wenig auf das Gesicht, das er machen wird – und die Jungfer Männe! Und Kalmüsel! Ei, freilich ist die ganze Welt urplötzlich eine ganz andere geworden; aber wahrhaftig keine schlechtere – hurra!«

Er hatte noch in seinem ganzen Leben nicht auf dieser Chaussee zwischen dem Riedhorn und der Stadt hurra geschrieen. Jetzt benutzte er den günstigen Augenblick dazu; ob derselbe noch einmal wiederkam, war ja auch jedenfalls ein wenig fraglich.

»Hurra!« schrie er und stand still und verwunderte sich ein wenig über den Klang seines Rufes im Schneegestöber. Aus der Ferne vor ihm blitzten nun schon die Lichter der Stadt her, und er atmete tief und voll, während er von neuem weiterschritt. In seiner Phantasie malte sich sein altes Haus mit dem Papa Wunnigel, mit der Jungfer Männe und mit Kalmüsel; und plötzlich hatte die Vorstellung, sein junges Glück dahin zuerst tragen zu müssen, gar nichts Entzückendes oder nur Behagliches mehr an sich.

»Ah!« rief er aber plötzlich und fing an zu traben. Er wußte es ganz genau, wem er seine Seligkeit als froher Bote zuerst vor allen anderen Erdenbewohnern persönlich ins Haus trug. Nicht einmal einen Einfall konnte man das nennen. Es war viel zu selbstverständlich dazu.

Noch zehn Minuten durch die Nacht und den Schneefall, und da war das Untertor mit der hellen Laterne in der finstern Wölbung! Da war das Häuschen am Untertor mit dem matten Lichtschimmer aus den beschlagenen Fensterscheiben! Da war das alte Herrchen, der Herr Rottmeister, in seinem Lehnstuhl am Ofen sänftiglich im friedlichen Schlummer des hohen Greisenalters.

Das bald neunzigjährige Köpfchen hing schwer herab auf die Brust, und der junge Doktor trat leise an den Schläfer heran und zögerte doch einen Augenblick, ehe er ihn weckte seines jungen Glückes wegen. Eine gewisse Scheu überkam ihn, war aber freilich noch recht weit von der Vorstellung entfernt, daß die Sache doch möglicherweise wohl Zeit bis morgen haben könne.

»Guten Abend, Vater Brüggemann«, sprach Heinrich Weyland, und der Rottmeister fuhr auf, starrte einen Moment in das Lampenlicht und auf den abendlichen Besucher, rieb sich die Äuglein und rief:

»Ei, Herr Heinrich! Sind Sie es denn wirklich, oder träume ich nur weiter? Wahrhaftig, ich habe eben von Ihnen geträumt.«

»Wirklich, Vater Wenzel?«

»Ja, wahrhaftig, he, he! Warten Sie nur! – Eh, nun kann ich es doch nicht mehr zurechtbringen! – Warten Sie; – Läuse bedeuten Geld; – und Liebe! Oder war es das nicht? Aber – Feuer war im Spiel, und das hat auch seine Bedeutung. Und Sie und ich hantierten an einer Spritze. Wir hatten einen mächtigen Brand zu löschen. Lassen Sie doch mal die Jungfer Männe in ihrem Traumbuche nachschlagen, was Feuer und ein mächtiger Brand vorbedeuten.«

»Liebe, Verlobung, Polterabend und Hochzeit bedeutet es!« rief der Doktor lachend, fröhlich und dazu ein wenig verlegen.

Er legte dem Greise sanft die Hände auf beide Schultern und sagte leise und zärtlich:

»Ja, Vater Wenzel, Sie sollen diesmal nicht umsonst in Ihrem alten Beruf als städtischer Rottmeister geträumt haben. Sie sind selbstverständlich der erste, den ich hiermit feierlich zur Hochzeit lade!«

»Hurra!« zirpte schrill das Herrchen, die weiße Zipfelkappe in die Luft schwingend. »Um Gottes willen aber setzen Sie sich nicht da auf den Stuhl; er ist noch warm von der Jungfer Männe, die vor einer Viertelstunde noch auf demselbigen saß und ihrem Lamento über das, was Sie mir da eben sagen, kein Ende finden konnte. Hurra und kein Ende! Seit vierzehn Tagen hat sie schier jeden Abend da gesessen und ihrem Herzen über das drohende Unheil Luft gemacht. Hurra, und es ist eingetroffen! Vivat die junge Herrin des alten Hauses am Schloßberge! Jetzt kann ich mich ruhig begraben lassen, sagte der Kaiser Karolus der Fünfte, als er endlich wenigstens zwei von seinen halbhundert Uhren in gleichen Gang gebracht hatte. Aber bis zur Hochzeit warte ich nicht, um sie persönlich kennenzulernen. Wann bringen Sie sie mir, Heinrich? Hübscher als der Herr Papa ist sie wohl?«

»Ein wenig!« rief der Doktor. »O, sie ist ein Engel an Güte und Lieblichkeit und Herzigkeit. O, Sie sollten sie nur lachen hören, Papa Wenzel.«

»Kann mir alles vorstellen bis auf das Lachen. Hat sie das Familienlachen? Lacht sie ebenso wie der Herr Regierungsrat?«

»Sie sind ein ganz verruchter Schelm, Rottmeister«, sagte der Doktor. »Wie man Ihnen je die Aufrechterhaltung der Ordnung bei öffentlichen Fährlichkeiten anvertrauen konnte, das begreife ein anderer. Freilich lacht sie anders als der Papa! Verlangt dieser schnöde alte Sünder hier, daß ihm ein eben selig Verlobter seine Braut und seinen Schwiegervater in ein und demselben Atem, Ton und Ausdruck lobe! Sie kennen ihn ja, den Herrn Regierungsrat! – Den kriegen wir zu; sind Sie nun zufrieden?«

»Vollkommen, Herr Heinrich; he, he! Sie wissen, wie ich zu dem alten Hause da oben stehe und wie es mir mit allem drin und dran ans Herz gewachsen ist; aber bringen Sie mir nur eine junge Frau herein, und es soll mich wenig kümmern, wer sonst noch Luft und Licht hereinläßt und auf welche Weise er's anstellt. Das ist ja aber alles dummes Zeug, Doktor! Habe ich Sie nicht aufwachsen sehen, habe ich Sie nicht mit erzogen, ja habe ich nicht das Beste zu Ihrer Erziehung getan, und weiß ich deshalb nicht ganz genau, daß Sie, wo man Sie frei gewähren läßt, meistens das Rechte treffen? Und was mir Kalmüsel und die Jungfer Männe in ihrem Kummer und Verdruß anvertraut haben, spricht auch dafür. Vivat die Richtige! Erzählen Sie mir von Ihrem Mädchen, Heinrich.«

Noch nie war der Herr des Hauses am Schloßberge so gern wie hier von einem Thema zum andern übergegangen.

Solch ein Frauenzimmer, solch ein Wesen wie diese Anselma Wunnigel hatte es selbstverständlich noch niemals in der Welt gegeben. Daß sie die Beste, die Einzigste war, das verstand sich natürlich von selber; aber auch die Klügste, die Einfachste, die Wonnigste, die Süßeste war sie.

»Ich gebe auch viel auf kleine Füße«, meinte das Rottmeisterchen. »Hoffentlich tritt sie nicht mit den Hacken zuerst auf wie ein Jude oder so wie der Herr Papa, der Herr Regierungsrat. Ich würde vieles mit in den Kauf nehmen, wenn ich einen leichten Schritt und Schwebegang in das alte Haus da oben schaffen könnte. Ihre Mutter und noch mehr Ihre Großmutter, selbst in ihren höheren Jahren, behuben sich auf den Treppen und in Saal und Kammer, wie man es gern sieht und hört, Heinrich. Eine Bachstelze, die über die Kiesel im Bach trippelt, wußte sich nicht zierlicher zu beheben als Ihre selige Frau Großmama.«

Wir schweigen. Wir sehen nur den Doktor Heinrich Weyland an. Er saß da und hatte die Hände zwischen den Knieen gefaltet und sah den Herrn Rottmeister Brüggemann an und lächelte – lächelte so zerstreut, so geistesabwesend, so – auf-dem-Riedhorn-anwesend, daß auch das alte Herrchen schwieg und seinen selig vertieften Abendgast ansah.

»Ah!« seufzen wir nachher alle drei, tief Atem holend; und dann rief aufspringend, in der Stube umherspringend, mit den Händen in den Lüften der Doktor:

»Ich werde sie Ihnen zeigen! Ich werde sie Ihnen zuführen. Sie sollen sehen, Sie sollen urteilen, Brüggemann. Ich bin der Glücklichste der Sterblichen mit und ohne Schwiegervater. Ja, sie hat auch einen kleinen Fuß und einen leichten Schritt, und jetzt wird es die höchste Zeit, daß ich nach Hause laufe und dem – dem Regierungsrat mitteile – was – heute – auf dem – Riedhorn in seiner Abwesenheit vorgefallen ist. O, schlafen Sie gut, alter, alter, bester Freund und Papa! Träumen Sie wieder von Läusen – von Feuer – von Feuer und Flamme. Fürs erste bin ich nichts als ein Salamander, der im Feuer lebt und selig ist.«

»Und ich bin ein alter Uhrmacher, Heinrich, und ungemein gespannt auf deine liebe, junge Braut. Nimm es nicht verquer, daß ich dich wieder einmal du nenne. Als ich noch dein Hofmechanikus war und dir deine Weihnachtsgärten, Hampelmänner, Wind- und Wassermühlen baute, da steckten wir in ähnlichem Jubilieren die Köpfe zusammen wie heut abend, und so ist das Du wohl wirklich wieder am Platz. Und sehr freundlich ist es von dir, daß du jetzt als ein so gelehrter, erwachsener, stadtbekannter Mann immer noch mit deinem zerbrochenen oder deinem neuen Spielzeug mir in die Werkstatt gelaufen kommst. Na, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf dein Bräutchen freue. He, he, und hör: grüße auch die Jungfer Männe von mir und sage ihr, ich ließe ihr sagen, ich wäre immer noch bereit, sie aufzufangen, wenn das alte Haus mit ihr den Berg herunterkäme.«


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