Wilhelm Raabe
Wunnigel
Wilhelm Raabe

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Siebentes Kapitel

An diesem andern Morgen sah die Welt noch geradeso aus wie gestern, wenigstens was das Wetter anbetraf. Letzteres war nebelig, regnerisch geblieben, und so ward wieder ein Tag, der nur den Verliebten nach Rosen und Veilchen duften konnte, für alle aber im normalen Werkeltagszustande befindlichen Nasen einen ausgesprochenen Geruch von moderigem Stroh an sich hatte. Wer den Schnupfen hatte – und nicht wenige geplagte Menschenkinder hatten ihn – roch gar nichts. Als der Doktor vom Schloßberge auf die Praxis ausging, verspürte er wenigstens einen Ansatz von Schnupfen, schob dieses auf das »dumme Aufsitzenbleiben bis spät in die Nacht hinein« und ging ziemlich verdrossen seine Wege.

Diese Wege führten ihn hierhin und dahin durch die Stadt, von einem Krankenbett zum anderen, von einem Diwan oder Sofa zum anderen, von einem Ofenwinkel zum anderen. Da er noch ein junger Arzt war, so wurde er keineswegs allein zu den Reichen und Angesehenen und den Müttern von mannbaren Töchtern gerufen, keineswegs bloß in die luftigsten Räume der Stadt, an die weichsten Betten und sonstigen Lagerstätten, zu den reinlichsten Patienten und zu den, wenigstens äußerlich, liebenswürdigsten Angehörigen dieser Patienten. Er hatte herumzukriechen, er hatte auf wackeligen Treppen zu klimmen, und er kam in die abgelegensten, verrufensten Stadtteile an dem nebeligen, dunklen Tage, in die dunkelsten Gemächer und Kämmerchen. Ihm hätte es häufig, selbst durch den ärgsten, giftigsten Schnupfen hindurch, dreist nach moderigem Stroh riechen können, ohne daß er sich darob gewundert haben würde.

Ein Wunder aber war es dagegen bei genauerer Betrachtung für ihn selber, daß er die Traumgespinste der Nacht nie vollständig an diesem Morgen aus der Seele los wurde. Vielleicht hatte das seinen Grund darin, daß er sich fest vorgenommen hatte, am Nachmittage wieder nach dem Riedhorn hinauszufahren, um nachzusehen, wie das gestern aufgeschriebene Rezept auf seine junge Patientin gewirkt habe.

Und einmal ging ihm durch den Nebel in einer der abgelegensten Gassen der Stadt in einer Entfernung von fünfzig Schritten ein Mann über den Weg, der ihm eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Herrn Regierungsrat, dem Gast des Riedhorns, zu haben schien.

»Das ist ja der Mensch von gestern!« rief der Doktor und schritt schneller zu, ohne auch diesen Schatten im Dunst zu fassen.

»Möglicherweise befindet er sich wieder auf der Jagd und sammelt alte Töpfe und Türbeschläge. Daß eine Stadt wie diese einen Menschen gleich ihm reizen kann, ist sicher. Und das Kind läßt er in der Kneipe allein! Auch das sieht ihm ganz ähnlich. Ich werde meine Meinung darüber ihm heute nachmittag nicht vorenthalten; – macht den Kerl doppelt, haut ihn in Sandstein aus und laßt ihn einen angerauchten Balkon von Anno Tobak tragen, dazu paßt der antiquarische Wüterich und Rabenvater vorzüglich. Wunnigel! – Wunnigel?! – Da frage ich doch einen jeden, ob dieser ungetümliche Witwer, Vater und höhere Staatsbeamte irgendwie anders heißen könnte?! – Unmöglich! Mein Haus aber möchte ich ihm doch gern auch einmal zeigen; das würde ein Fressen für ihn sein. Wenn ich ihn fasse, fordere ich ihn auf, es sich anzusehen, – seiner Tochter wegen.«

Den letzten Beisatz sprach Herr Heinrich Weyland nicht laut aus und dachte ihn auch nur sehr unbestimmt. Übrigens faßte er den Regierungsrat an diesem Morgen auch nicht; dagegen fand er in seiner nächsten ärmlichen Krankenstube in der Tat neben dem Strohsack einer fiebernden Enkelin ein uralt Großmütterchen, das drei Taler in seiner Handfläche überblickte und von Zeit zu Zeit einen Blick nach einem viereckigen hellen Fleck an der dunklen Wand warf. Was daselbst gehangen haben mochte, vergaß jedoch der Doktor Weyland diesmal zu erkunden, denn das Enkelkind war sehr übel auf, und er hatte als Arzt rasch andere Fragen an das kümmerliche, bekümmerte Mütterchen zu stellen, und die drei Taler schob dasselbe auch gar verstohlen, rasch und betreten in die Tasche unter dem Rocke.

Am Nachmittag fuhr er wieder nach dem Riedhorn hinaus und fand in der Honoratiorenstube die städtischen Stammgäste allesamt wieder vorhanden, und diesmal jeden in seiner ganzen Behaglichkeit auf seinem angestammten Erbsitze. Die Sofaecke hatte ihren rechtskräftigen Okkupanten in ihre Kissen aufgenommen, jeglicher Stuhl um den runden Tisch den seinigen. Als sich der Doktor beim Wirt nach dem Herrn Regierungsrat erkundigte, vernahm er von Nolte:

»O, der ist schon am frühen Morgen nach der Stadt gelaufen und wird auch wohl daselbst zu Mittag gespeist haben. Das ist ein ganz barbarischer Läufer, Herr Doktor; lernen Sie ihn nur auch mal von dieser Seite kennen und sehen Sie ihn da die Allee hinabmarschieren! Und wann er nach Hause kommen wird, ist auch niemals sicher, und wenn er's vorher noch so fest angekündigt hat. Dem braucht man nichts warm zu stellen! Na, die verehrten anderen Herren kennen ihn bereits von mehreren Seiten.«

»Und das Fräulein? – Seine Tochter! – Das kranke Fräulein?«

Auf diese Frage zuckte Nolte mit einem verdrießlichen Seufzer die Schultern.

»Ja, das liegt noch da oben allein. Das muß ich sagen, da verdient sich meine Frau ausnahmsweise einen Gottessegen an der armen jungen Dame. Ich für mein Teil kann das geduldige Gesicht gar nicht mehr ansehen. Gehen Sie nur hinauf, Herr Doktor, und unterhalten Sie sie ein bißchen. Ihre Medizin hat ihr meine Frau richtig alle zwei Stunden eingelöffelt; und sie meint auch, daß dieselbe von recht guter Wirkung gewesen ist. Zugenommen hat das Fieber nicht, sagt meine Alte. Gehen Sie nur hinauf; den Weg wissen Sie ja jetzt, und auf den Herrn Regierungsrat brauchen Sie nicht zu warten.«

»Ihre Frau sitzt bei dem Fräulein, Nolte?«

»O nein. Den ganzen Tag über geht das doch nicht bei unserem Geschäft. Sie treffen die junge Dame allein; gehen Sie nur gefälligst ruhig hinauf.«

Der Doktor ging hinauf, daß er aber ruhig hinaufging, konnte man eigentlich nicht sagen.

»Ruhig, Weyland, ärgere dich nicht über einen Kerl, der dich weiter nichts angeht!« sprach er zu sich auf der letzten Stufe der Treppe. Der »Kerl« war wahrscheinlich der Herr Regierungsrat außer Dienst Wunnigel, der ein so guter Fußgänger war und heute mittag nicht im Riedhorn, sondern drüben in der Stadt gegessen hatte.

Er klopfte an und wurde gebeten, einzutreten; wir aber wissen von dieser Zusammenkunft nichts weiter mitzuteilen, als daß der Doktor, da er eine Viertelstunde später in die Honoratiorenstube trat und von einem Stammgast gefragt wurde: »Na, Weyland, was macht denn Ihr kleines Fräulein da oben?« zerstreut antwortete:

»O, es geht besser.«

Nachher fuhr er in Gedanken und im Herbstnebel nach der Stadt zurück und sah den Regierungsrat Wunnigel unterwegs auf dem Heimwege nach dem Riedhorn. Mit vollgepfropften, weit abstehenden Taschen und einem in graues Packpapier geschnürten umfangreicheren Gegenstande unterm Arm schritt der Wackere wacker zu, stand aber still, als ob ihm der Einspänner vom Schloßberge nicht unbekannt erschiene.

»Holla!« rief er. »Doktor, heda!«

Doch Kalmüsel auf dem Bocke tat nicht, als ob ihm und seinem Herrn der Ruf gelte. Er hatte den Mantelkragen über die Ohren geklappt, und da ihn sein Herr nicht ersuchte anzuhalten, so brauchte er es ja auch nicht. Daß der Doktor gleichfalls tat, als ob er nicht hören könne, zeugte freilich nicht bloß von dem Drange, rasch nach Hause zu kommen, sondern von einer gewissen Eingenommenheit gegen den Herrn Regierungsrat außer Dienst Wunnigel. Wenn wir sagen würden: zeugte von einer gewissen Verstimmung gegen ihn usw., so würden wir damit nicht ganz das Richtige treffen. Eingenommenheit ist das bessere Wort, wenn es sich um einen zukünftigen Schwiegervater handelt. –

Wir haben es wohl schon gesagt, daß das Untertor nebst einem Stück anhängender Mauer einen Rest der mittelalterlichen Befestigung der Stadt bildet. Das Tor ist der Spitzhaue und dem Brecheisen nur deshalb entgangen, weil es wirklich ein außerordentlich prächtiges Stück Mittelalter ist und den Verkehr in keiner Weise hindert. Der Mauerrest würde freilich längst vom Erdboden verschwunden sein, wenn er nicht durch ein vorgebaut Häuschen, das sich mit der einen Seite auch an den Torturm lehnt, geschützt würde. Das ist das Haus am Tor, von dem ebenfalls bereits die Rede gewesen ist. Die lange Allee vom Riedhorn her führt bis an das Untertor, und nie fährt der junge Doktor Weyland an dem kleinen Hause vorbei, ohne sich vorzubeugen und einen Blick, dann und wann auch einen Gruß mit der Hand nach ihm hinzuschicken. Am Nachmittage nach dem zweiten Krankenbesuch auf dem Riedhorn besuchte er in dem Häuschen weniger einen Patienten als einen alten Freund – einen sehr alten Freund, den Herrn Rottmeister Wenzel Brüggemann; und wir würden in mehr als einer Beziehung vieles versäumen, wenn wir den Besuch nicht mitmachten.

Daß Herr Heinrich Weyland den Regierungsrat Wunnigel bei dem Herrn Rottmeister findet, ist das Nebensächliche; die Hauptsache ist jedenfalls zuerst der Rottmeister Brüggemann selber. Neunzig Jahre alt wird nicht ein jeder, und noch weniger hält sich jeder, der's einmal ausnahmsweise wird, so munter dabei wie der Alte am Tor.

Wie jung ist immer ein Artefakt, und sei es tausend Jahre alt, gegen einen lebendigen Menschen, der nur neunzig oder etwas darüber zählt. Und doch wieder, wie jung erschien immer dem Besitzer und Erbherrn des Hauses am Schloßberge der neunzigjährige Freund und Besitzer des Hauses am Untertor! Und – – wie alt erschien er ihm dazu! – –

Da hockt es, ein weißköpfiges Herrchen, entweder am Fliesenofen, mit dem ganzen alten Testamente in blau und weiß auf holländischen Kacheln, im Winterlehnstuhl; oder im Sommerlehnstuhl am offenen Fenster mit der Aussicht auf alle das Untertor ein- und auspassierenden Bekannte, Freunde und Fremde.

Der Bekannten und Freunde aber sind fast mehr als der Fremden. Jedenfalls rechnet es sich die ganze Stadt zur Ehre an, von dem Herrn Rottmeister gegrüßt zu werden. Es sind sogar manche, die es ganz genau wiesen wollen, daß der Torturm, trotz seiner Unschädlichkeit fürs allgemeine Beste, doch nur dem Häuschen am Tor und dem Rottmeister zuliebe stehengeblieben ist und jedenfalls fallen wird, wenn der »alte Brüggemann« fällt. Gott erhalte uns beide, trotzdem daß sie beide der Vergangenheit angehören und beide – der Turm wie der Rottmeister – dem städtischen Gemeinwesen weder zu Trutz noch zu Schutz mehr vonnöten sind. Sie hatten aber beide ihre Zeit, wo dieses der Fall war, und mit dem letzten Torturm der Stadt sinkt in der Tat ganz folgerichtig der letzte Rottmeister derselben.

Das kleine Herrchen am Ofen oder Fenster war vor vierzig bis fünfzig Jahren der geschickteste Uhrmacher der Stadt, weitberühmt wegen seiner Kunst und hochgeachtet wegen seines Charakters und Vermögenszustandes. Nur aber einem Ehrenmanne wurde das hohe Ehrenamt eines städtischen Rottmeisters anvertraut; Gehalt bezog niemand dafür. Bei Aufruhr, Feuersbrünsten, Wassersnöten und dergleichen Fährlichkeiten und Vergadderungen, wo die Polizei mit ihren Kräften nicht ausreichte, sondern die der Bürgerschaft nötig hatte, trat die Auctoritas des Rottmeisters in Geltung. Mit Vollgewalt schritt er an der Seite der Polizei ein. Wo er auftrat, wurde es von Gemeinde wegen still; was er sagte, fand Gehör; und man mußte es dem Herrn Rottmeister Brüggemann lassen, er hatte bei manchem Land- und Stadtschrecken das Amt mit Würde und Energie begleitet, bis – es selber ihn verließ.

Die Zeiten waren andere geworden. Die Gilden waren dahingesunken und hatten ihre Gewerkstruhen, Becher, Schilder, Fahnen und sonstigen Insignien versilbert oder an die Kunstkammern abgeliefert oder an Liebhaber verhandelt. Gewerbefreiheit herrschte, die städtische Polizei war an die Regierung übergegangen, der städtische Rottmeister war zu einem Anachronismus geworden. Die Stadt hatte sich vergrößert; aber das Geschäft und Vermögen des Meisters Brüggemann war nicht im Verhältnis mit ihr gewachsen. Im Gegenteil, sie hatten sich verringert, und daran war einesteils freilich wohl die allgewaltige Zeit, aber größtenteils doch der Meister Wenzel selber schuld. Aus dem geschicktesten Uhrmacher der Stadt wurde der Herr Rottmeister nämlich nach und nach der größte Tausendkünstler derselben, und was das besagen will, das hat schon mehr als ein geschickter Mann an seinem Leibe und an seinem Geldbeutel in Erfahrung genommen.

Auf die Erfindung des Perpetuum mobile legte sich der Meister Brüggemann zwar gerade nicht; allein einen Wagen, der sich ohne Pferde und Dampfkraft bewege, hätte er doch gar zu gern fertiggebracht. Einmal hatte er's bereits auch wirklich fertiggebracht! In einer stillen Nacht wurden die Anwohner verschiedener Straßen durch ein gräßliches Gepolter aus dem Schlafe aufgeschreckt.

»Der Herr Rottmeister hat seinen Wunderwagen probiert, und beinahe wär's gegangen!« berichtete am anderen Morgen der Nachtwächter. – »Beinahe?« fragte man.

»Ei, jawohl! Es war ein Vergnügen zu sehen – das Spektakel natürlich abgerechnet. Aus dem Hoftor kam er glücklich mit der Maschinehrieh glücklich heraus und dann quer über die Kuhstraße mit aller Gewalt gegen den Brunnen vor Pannemanns Hause. Wir halfen ihn abschieben, und dann ging's wirklich, nur wenig im Zickzack, bis auf den Grünmarkt, da richteten wir ihn zum erstenmal mit auf; aber der Herr Rottmeister hatte gottlob keinen Schaden genommen, als wir ihn unter der Last vorzogen. Nur außer Atem war er ein wenig. Nachher versuchten wir's nochmals um die Marktecke in die Gertraudengasse 'rein, aber da kam uns das Untier zum zweitenmal zum Fall, und nachher brachte einer von uns den Herrn Rottmeister nach Hause, und zwei andere und ich haben eine gute Stunde lang gearbeitet, das mechanische Beest wieder an Ort und Stelle auf des Herrn Rottmeisters Hof zu rollen. Eine recht feine Erfindung ist es wohl; aber hantieren Sie mal mit dem Räderwerk, ohne sich den Fuß zu verrenken und die Schulter auszusetzen, wie der Herr Rottmeister, der doch am genauesten damit Bescheid wissen muß! Nehmen Sie nur mal an, sieben Räder habe ich allein dran gezählt, und dann vergarantiert Ihnen noch lange keiner, wohin Sie damit kommen, wenn Sie das Ding in Gang bringen und es glücklich vom Hofe auf die Straße haben, ohne daß Sie an den Torpfosten hängengeblieben sind.«

Die städtischen Kunden hatten allgemach doch ein wenig zu lange auf die Reparaturen an ihren Uhren zu warten. Andere geschickte Leute ließen sich nach und nach im Gemeinwesen nieder, Leute, die keine Tausendkünstler waren, sondern sich auf ihr Handwerk oder ihre Kunst beschränkten. Es war zuletzt ein Glück, daß das Ehrenamt des Rottmeisters aufgehoben wurde; einen insolventen Bürger durfte man doch nicht damit betrauen. Das stattliche Haus in der Kuhstraße kam unter den Hammer; allein der Herr Rottmeister außer Dienst, Wenzel Brüggemann, baute gerade an einer Wunderburg mit »beweglichen Figuren«, Rittern und Damen und springenden Wassern, für den kleinen Heinrich Weyland am Schloßberge; und da er bei dem Kinderspiel »ganz neue Prinzipien« in Anwendung brachte, so störte ihn und ergrimmte ihn bei der dummen Geschichte eigentlich nichts weiter als die »alberne Schererei« bei dem Umzug in das Häuschen am Tore. Zu Weihnachten aber in jenem Jahre herrschte großer Jubel über die künstliche, diesmal wirklich fertig gewordene Burg in dem Hause Weyland am Schloßberge. Das zu Recht bestehende Verhältnis zwischen den beiden Häusern aber haben wir hiermit wohl schon zur Genüge angedeutet.

Der alte Uhrmacher und der junge Arzt waren Freunde in der vollsten Bedeutung des Wortes, und das alte Haus am Berge mit seiner Fülle von Raritäten war im Grunde von den Bewohnern der Stadt gar nicht zu denken ohne den Meister Wenzel. Er, Kalmüsel und die Jungfer Männe gehörten geradesogut dazu wie die beiden Römer an der Tür, die Drachenköpfe an den Dachrinnen und die Familie Weyland selber.

Tag für Tag trippelte das alte Kind aus dem Hause am Untertor die steilen Pfade des Schloßberges hinauf und hinab, gegrüßt von jedermann und von jedermann sozusagen zärtlich belächelt. Und es ist erst ein Jahr her, daß der Herr Rottmeister zu dem jungen Freunde wehmütig sagte:

»Herr Heinrich, man wird alt! Ich prästiere es nicht mehr! – – Was Sie jetzo von Reparaturen nötig haben werden, das müssen Sie mir doch wohl herunterschicken. Es ist betrübt; aber – die verfluchten Treppen! – – Fünfundachtzig Jahre machen den Besten mürb – wenigstens in den Beinen. Na, es muß ja alles mal sein Ende haben; was sollte auch aus uns Uhrmachern werden, wenn die stärksten Federn nicht nachließen?! Ich sage Ihnen, Kind, seit dem letzten Glatteis merke ich es deutlich, daß ich die fünfundachtzig durch nicht auf Rubinen gelaufen bin. Es schleift sich alles aus, Doktorchen; jeglich Getriebe hat seine Zeit! Eins aber tust du mir zuliebe, Heinz: wenn du merkst, daß die Kette reißen will, so sagst du es mir vierzehn Tage vorher. Diesmal und in diesem Fall bist du der Mechanikus, Doktor; und das wäre mir der letzte Spaß, ganz genau zu wissen, wie solch ein menschlich Uhrwerk sich hat in seinem letzten Ablaufen.«

»Fürs erste hat's gottlob damit noch keine Not, Papa«, hatte der Doktor erwidert. »Wir rücken Ihnen einen Lehnstuhl ans Fenster, und da sollen Sie noch manch braves Jahr sitzen und die Welt sich vorbeiquälen sehen. Die Zeitungen bringt Ihnen Kalmüsel jeden Tag; und daß ich nicht ohne Sie fertig werden kann, wissen Sie ja. Was sollte aus dem Neste und aus uns werden, wenn Sie die Ohren hängen lassen wollten, Rottmeister!«

»Dummes Zeug! Ohren hängen lassen!« brummte der Alte heiter. »Wer redet denn davon? Wissen Sie aber, Herr Heinrich, die Zeitung allein tut es nicht. Wenn Sie mich wirklich gern noch so'n zehn bis zwanzig Jährchen auf den Füßen haben wollen, so tun Sie mir jetzt die Liebe an und schaffen sich eine junge Frau ins Haus. Wissen Sie, ich habe da eine Idee – Ideen, o, ich sage Ihnen, ich mache damit eine Kinderstube vor Pläsier toll, aber – aber in den blauen Dunst hinein möchte ich mich doch nicht gern so spät am Tage ans Werk machen!«

Der Herr Heinrich Weyland hatte damals gelacht, und heute war der Herr Rottmeister nahe an die neunzig Jahre alt, ohne daß eine junge Frau in das Haus am Schloßberge eingezogen war und der alte Tausendkünstler seine nie dagewesene wundervolle Kinderstubenidee zur Darstellung gebracht hatte. – –

»Herein! Treten Sie ein, Herr Heinrich; können Sie sich das Anklopfen gar nicht abgewöhnen?«

»Der – Herr – Regierungsrat!« stammelte der Doktor Weyland auf der Türschwelle.

»Richtig, Doktor!« sprach der Herr Regierungsrat Wunnigel gravitätisch. »Kommen Sie nur weiter ins Zimmer und schließen Sie gefälligst so rasch als möglich die Pforte gegen die kalte Luft von draußen.«

»He, he, he«, kicherte das kleine Herrchen im Lehnstuhl am Ofen. »Sie kennen also den Herrn auch schon, Herr Heinrich? Das ist ja sehr schön! Jawohl, der Herr Regierungsrat haben mich auch allbereits schon ausfindig gemacht. Sehen Sie wohl, Herr Heinrich, Sie sagen es nicht ohne Begründung, daß ich einen Ruf in der Welt hätte! Der Herr Regierungsrat haben mich auf dem Riedhorn kennengelernt. Die Herren dort sind so gütig gewesen, mich ihm anzupreisen. Wüßte freilich nicht, wodurch ich dieses so sehr verdient haben sollte.«

Der Doktor begrüßte den Regierungsrat, und dieser drückte ihm die Hand nach seiner Weise, das heißt, er packte sie und schüttelte sie, wie man seine eigene nach dem Waschen schüttelt. Dann ließ er sie fallen oder warf sie vielmehr von sich und schnarrte:

»Freilich hat er einen Ruf, der Herr – Rottmeister! Aber bei mir ist es Instinkt, Doktor, die Leute zu finden, die man brauchen kann. Brauche nicht erst von anderen Philistern drauf aufmerksam gemacht zu werden! Drei Stunden Aufenthalt an irgendeinem Lokal genügen, um mir nicht nur Ortskenntnis zu verschaffen, sondern auch Personenkenntnis bis ins möglichst einzelne. Hab ich Sie mir nicht herausgeholt, Doktor Weyland, he? Meine Tochter ist Ihnen ungemein dankbar für Ihren gestrigen Besuch –«

»O«, murmelte der Doktor und errötete, wie nicht viele junge Männer jetziger Ära in seinem Alter zu erröten vermögen, aber der Regierungsrat Wunnigel ließ sich nicht stören.

»Und ich sollte diesen alten Tausendsackermenter nicht kennengelernt haben? Einen Menschen, der noch so weit in das vorige Jahrhundert hinreicht, einen Mann, der den Titel Rottmeister führt! Ihm zuliebe möchte ich sogar für die nächsten acht Tage meinen Aufenthalt ganz in hiesiger Stadt nehmen, um ihn immer zur Hand zu haben.«

»He, he, he«, kicherte der alte Brüggemann, »ist der Herr nicht sehr freundlich, Herr Heinrich? Der Herr Regierungsrat hatten mir aber auch ein alt Uhrwerk, was Sie auf einem Dorfe da herum billig gefunden haben, zur Reparatur übergeben; – wollen sehen, wollen sehen.«

»Und Ihnen hab ich ein jung Uhrwerk zur Reparatur anvertraut, Doktorchen. Na, das Gehäuse ist, geputzt und blank gehalten, nicht übel, aber was sagen Sie zu dem Werke, mein Bester? He, auch wahrscheinlich nur: wollen sehen, wollen sehen! Ich aber sage Ihnen, stellen Sie mir das Mädel bald wieder auf die Füße; es wird wahrhaftig Zeit dazu.«

Der Herr Rottmeister legte die Hand hinter das Ohr, um besser vernehmen zu können, was da noch über das Mädel gesprochen wurde. Der Herr Regierungsrat Wunnigel wurde von Augenblick zu Augenblick dem Doktor Weyland mehr zu einem Greuel; aber um so weniger zum Verwundern war's gerade daher, daß er, der Doktor, dem Regierungsrat versprach, morgen bei guter Zeit wieder auf dem Riedhorn vorzusehen.


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