Wilhelm Raabe
Das Horn von Wanza
Wilhelm Raabe

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Zwanzigstes Kapitel

Am folgenden Morgen setzte die gute Tante den Neffen von neuem dadurch in Verwunderung, daß sie das Ding höchst kühl und gleichgültig aufnahm.

»Das dumme Tuthorn hätte uns doch nur das ganze Nest mit in die Feierlichkeit hineingezogen«, sagte sie. »Nun bleiben wir jetzo ganz unter uns und begehen unsere Festivität in der Familie, du und ich. Und mit deinem Trübsals-Magistrate und Seifensiedereien bleibe mir gar vom Leibe! – Wenn der Mensch aus purer Bosheit über sich selber in solch 'ner Nacht wie die vergangene wieder einmal dazu gekommen ist, über sich selbst ein bißchen nachzudenken, so kann er bei der Gelegenheit auf gradeso einen kuriosen Einfall kommen wie Marten Marten, und vielleicht gradesogut wie er zum unsinnigsten Erstaunen von ganz Wanza an der Wipper. Jetzt kommen nur allein die, welche von Rechts wegen dazu gehören, und dich scheint der Himmel speziell dazu geschickt zu haben; – Dorsten aber wird diesmal nur im Frack eingelassen. Ich habe mich gestern abend wieder mal viel zu sehr über mich selber geärgert, um noch für anderes Ärgernis Platz in meiner Seele zu haben. Thekla Overhaus sitzt natürlich zuoberst bei Tische, und für die Nacht wenigstens muß sie Quartier in deines – seligen Onkels Hause nehmen, mein Sohn. Marten Marten nimmt unbedingt die fünfundzwanzig Taler, ohne sich grade viel dafür zu bedanken bei der Stadt Wanza. Seine Stunden ruft er auch ruhig bis Mitternacht in das neue Halbjahrhundert hinein – seinen Platz bei Thekla heben wir ihm auf, bis er um zwölf Uhr abgelöst wird. Na, und – das übrige wird sich ja auch wohl dazu finden und machen lassen. Dir, mein Sohn Bernhard, rate ich nur, mir die nächsten acht Tage hindurch so viel als möglich aus dem Wege zu gehen. Fürs erste bin ich mal tot für vieles, was mir sonst ziemlich interessant war, – je ja! wie Meister Marten Marten sagt.«

Nun war es in der Tat merkwürdig, wie »tot« die Tante Sophie die nächsten acht Tage durch für alle Interessen Wanzas war und wie lebendig in mysteriösester Weise sie sich nach den verschiedensten andern Richtungen hin erzeigte. Fast jegliche Tagesstunde fand sie einmal auf dem Wege durchs Teichtor zu Fräulein Thekla Overhaus, und von jeder dieser Visiten und Konferenzen kam sie munterer und erregter, aber auch zugleich heimtückisch- und hinterlistig-geheimnisvoller nach Hause. Was sie eigentlich vorhatte, erfuhr niemand in Wanza außer dem alten Mit-Jubelkinde, dem Meister Marten Marten. Dieser schien ganz gegen die Regel und Ordnung sofort ins Vertrauen gezogen worden zu sein, und – ganz in der Ordnung und Regel weder mit seinem Sinn noch seinem Verstand, seinem Gefühl und seiner Vernunft hinterlistig und heimtückisch hinter dem Ofen geblieben zu sein.

»Je ja, meine Herren«, grinste er mit kitzelndem Behagen, »wenn die Sache so ausfällt, wie sie sie sich anjetzo eingerichtet hat, dann weiß ich mir wirklich kein besser Jubiläum hier in Wanza zu wünschen. Sehen Sie mal, das eine kann ich Ihnen sagen: zwischen uns dreien hier an der Wipper seit fünfzig Jahren, ich meine zwischen mir und meinem Fräulein und der Frau Rittmeistern, ist das immer so gewesen, nämlich daß wir uns immer gegenseitig auf die richtigen Sprünge helfen. Sie verstehen doch, meine Herren?«

»Nicht im mindesten, grauer Isispriester«, brummte Dorsten.

»Ich ebensowenig, Marten!« rief der Student; und der Alte, die Mütze von einem Ohr aufs andere schiebend, gestattete sich zuerst noch einen langen grinsenden Blick von einem der beiden jungen Männer zum andern, um sodann, wie überwältigt von innerstem Behagen, es sich sogar zu erlauben, seinen Chef, den regierenden Bürgermeister der Stadt, ganz zärtlich auf den Rücken zu klopfen und dabei gegen den Neffen der Frau Rittmeisterin zu bemerken:

»Ja, dann ist das freilich eine böse Geschichte, und ich kann Ihnen fürs erste auch nur dasselbige anempfehlen, was Ihnen, Herr Grünhage, schon die liebe Frau Tante angeraten hat. Nämlich gehen Sie uns jetzo gefälligst so weit als möglich aus dem Wege und laufen Sie uns ja nicht immer vor die Füße; denn, weiß Gott, wir haben wirklich noch alle Hände voll zu tun, um unsere fünfzigjährige Ankunft hier im Amte und, was die Frau Rittmeistern angeht, in Wanza überhaupt anständig zu begehen, wo mein Horn nicht dabeisein kann und die Frau Rittmeistern mit uns ganz unter sich sein will!«

Eine vollständige Umkehr des Hauses am Marktplatz schien vor allem andern zuerst dazu zu gehören, um die erwünschte »Anständigkeit« der Feier des Einzuges der Frau Rittmeisterin in Wanza und des Amtsantritts des Wanzaer Nachtwächters vorzubereiten. Der Bürgermeister hub an, jedesmal, wenn er in den Dampf und Aufruhr die Nase hineinsteckte, Schillers Taucher zu zitieren und den befreundeten Jüngling, Bernhard Grünhage, schadenfroh auszufragen, wie es ihm auf des Meeres tiefunterstem Grunde gefalle und wie viele Salamander er bereits mit den Salamandern, Molchen, Waschlappen, Scheuerbürsten und dem sonstigen grausen Gemisch scheußlichen kalten und warmen Wassergeziefers gerieben habe.

»Sie ist glorreich auch in dieser ihrer Raserei!« stöhnte der Neffe und meinte mit dem Worte seine Tante Sophie, die in diesem Augenblicke mit einem Besen in der einen Hand und einer Bürste in der andern, und wiederum ohne im geringsten auf ihre weißen Strümpfe zu achten, sich von dem Treppenabsatz auf das Wogen, Wallen, Sieden und Zischen in dem untern Raume des Hauses niederbeugte und rief:

»Da stehen sie einem richtig schon wieder im Wege! Liebe Jungen, verlaßt euch drauf: zur rechten Stunde werdet ihr gerufen; jetzt aber schert euch auf der Stelle wieder zum Tempel hinaus.«

»Komm!« sagte Dorsten und fürs erste nichts weiter. Erst drei Gassen weiter weg meinte er ganz scheu:

»Ich kenne euere Alte nicht; aber Mathilde kenne ich, und – eine ist wie die andere darin! Zu dieser Kunst, uns Männern die Angst der Kreatur deutlich zu machen, scheinen sie allesamt schon neun Monate vor ihrer Geburt berufen zu werden – die Frauenzimmer nämlich! O Grüner, du hast nicht bloß Philologie, sondern auch einiges von der Geschichte studiert: sag mal, läßt es sich wirklich nicht historisch nachweisen, daß die Damen von Kaschmir noch am letzten Sonnabend vor der Sintflut haben scheuern lassen und aufgewaschen haben – all ihrer übrigen Unreinigkeit unbeschadet?... Halt dich nicht auf mit der Antwort – da kommt Tresewitz über den Weg – grad als ob uns die Welt noch nicht genug nach grüner Seife röche!«

Sie retteten sich in den Bären. Sie retteten sich sehr häufig während dieser schweren Tage in den Bären; und auch der Teichtorturm erwies sich jetzo für den Neffen mehrfach als derselbige gute und sichere Zufluchtsort wie vordem für den seligen, dann und wann auch aus seinem eigenen Hause gespülten Onkel Rittmeister. Wo es irgendein Asyl gab, kroch der Student unter in diesen unruhevollen Tagen. Er saß vor dem Teichtore bei Fräulein Thekla, hörte sie von dem Kandidaten Erdmann Dorsten und der Schlacht bei Leipzig erzählen; und was sonst die Mysterien von Wanza anbetraf, so weihte eine stille Stunde hier ihn tiefer in dieselben ein, als es ein jahrelanges Studium in dem Archive oder der Registratur der Stadt auf dem Rathause vermocht hätte. Auf dem Rathause brachte er dessenungeachtet doch auch manche stille Stunde hin, indem er mit Ausdauer Fliegen für den Laubfrosch des regierenden Bürgermeisters fing. Er überfütterte ihn – den Laubfrosch – vollständig, während die Tante weiterscheuerte und nebenan im Sitzungszimmer das Räderwerk des städtischen Verwaltungsmechanismus mit dem weisen Seneka an der Kurbel weiterknarrte.

»Es ist eine recht pläsierliche Kreatur, hier dem Herrn Burgemeister sein Frosch, Herr Studente; und ich sehe ihm auch manchmal ganz gerne auf seiner Leiter zu. Er ist uns immer eine angenehme Unterhaltung, wenn wir grade nichts anderes vorhaben, Herr Grünhage«, meinte Hujahn.

Am Vierundzwanzigsten, einem Freitage, brachte der »Bote an der Wipper« die Nachricht von dem Morde zu Pantin bei Paris in den Bären; aber der Neffe der Tante Sophie Grünhage war nunmehr allgemach so weit herunter, daß ihm die schauderhafte Tragödie vollständig einerlei war. Am Sonnabend regnete es noch tüchtig auf den Höhepunkt der Überschwemmung im Hause am Marktplatze hernieder; aber am Sonntag kam die Sonne durch und wurde es das wundervollste Herbstwetter. Der achtundzwanzigste September fiel auf einen Dienstag, da der siebenundzwanzigste auf den Montag gefallen war –

»Traupmann!... Zu Hülfe! Sie duckt uns unter!... Onkel Dietrich, zu Hülfe!« ächzte der Student aus dem beängstigendsten Traume seines Daseins in Wanza unter einer schüttelnden Hand und beschienen vom fröhlichsten Strahl der Morgensonne auf seinem gastlichen Lager im Hause des Onkels sich aufrecht setzend.

»Je ja, da ist es ja ein wahrer Segen, daß nur ich es bin; ich – Marten Marten, Herr Nevöh!... Sie müssen ja ganz erschrecklich geträumt haben! Na, besinnen Sie sich nur und sehen Sie mal diese Witterung. Je ja, hätten wir nur heute vor fünfzig Jahren solch ein Wetter gehabt!« sprach das eine Jubelkind des heutigen Tages, dem jungen Verwandten des Hauses die Stiefeln, ausnehmend blank geputzt, vor das Bett stellend. Mit Erlaubnis zu fragen, was hat Ihnen denn grade in dieser gesegneten Nacht in Ihrem Traum so abscheulich mitgespielt? Das muß ja gradeso wie bei mir Anno fünfzehn im Feldspital gewesen sein, wo ich alle Nacht von dem gottverdammten Sankt Amand und der gluhen Brandmauer auf mir träumen mußte, ob ich wollte oder nicht.«

»Sind Sie es wirklich, Marten?« stammelte der Student, noch immer ganz verwirrt und mit der Hand in dem feuchten gesträubten Haarwuchs. »Wovon ich geträumt habe?... Ja, warten Sie mal – von dem Mörder aus dem dummen Wipperboten, dem Mörder Traupmann, von dem Onkel Dietrich Grünhage, von der Tante großem Reinmachen, von der Jungfer Lunkenbein und – zuletzt – wieder von der Tante Sophie! Aber wie kommen Sie denn jetzt schon – so früh hier ins Haus, Marten?«

»Bitt ich Sie, bin ich denn nicht heute mit eine von den Hauptpersonen? Da habe ich mich denn diesmal nur um eine oder zwei Stunden früher ein bißchen nützlich gemacht. Nun, jetzt fahren Sie nur so rasch als möglich in die Stiefeln; unten im Hause ist alles abgetrocknet, und der Kuchen steht schon auf 'm Tische. Je ja, wer weiß, ob nicht heute um Mitternacht uns diesmal die liebe Sonne nicht grade noch so scheint wie jetzt, allen Ihren schlimmen Träumen zum Trotze?!«

»Die Tante hat nicht heizen lassen?«

»Heute nicht!« lachte der Alte. »Sie schwitzt auch schon ohne dieses vor Aufregung. Gehen Sie nur hinunter, Sie finden sie an ihrem Platze hinterm Kaffeetisch; aber noch eins, vergessen Sie es nicht, sich auch den alten Herrn, den Herrn Rittmeister, den Herrn Onkel meine ich, überm Sofa und über ihr zu betrachten. Mir sieht er nämlich heute ganz anders wie sonsten von der Wand.«

Der Student stand jetzt bereits im Hemde am Fenster des frühern Schmollwinkels der Frau Sophie Grünhage. Wahrlich, da lagen unter ihm die Dächer und Gärten im Sonnenschein; im Sonnenschein lag die bunte, grüne, hügelige Landschaft drüber weg und im blauesten Morgennebel die Thüringer Berge. Eine Viertelstunde später trat er überall im Hause auf (nach der Mode von achtzehnhundertneunzehn) frischgestreuten weißen Sand, und – da saß sie richtig unter dem Bildnis ihres Seligen, so früh schon in feierlicher schwarzer Seide, doch mit einer schneeweißen Küchenschürze über dem Festgewande nach der Mode von achtzehnhundertdreißig. Sehr herbstlich, aber doch auch sonnig mit einem netten Ausdrucke von Güte und Milde in dem alten hellen Gesichte, den er bis jetzt so noch nicht darauf bemerkt hatte, erhob sie sich halb von ihrem Sitze und reichte ihm die Hand. Sein Auge wanderte von ihr nach dem Porträt über ihr. Bekränzt hatte man dasselbige nicht; aber der Meister Marten hatte doch recht: der selige Herr Onkel stierte ihm heute morgen ganz anders entgegen wie sonst. Ob es die sonnige Beleuchtung machte oder etwas anderes: der Rittmeister sah, in diesem Augenblicke wenigstens, nicht aus, als ob er dem Beschauer eine Ohrfeige geben wolle, sondern als ob er sie ihm bereits versetzt habe und nunmehr mit erleichtertem Gefühl, ganz à son aise, die Gegenwirkung erwarte, in der gemütlichen Sicherheit, zu Fuß, zu Pferde und auch in Öl für alles bereit zu sein.

»Setze dich, mein Kind«, sagte seine greise Witwe gemütlich. »Mit unseren Vorbereitungen sind wir gottlob zu Ende. Unten in der Stube wird natürlich gegessen. Und was das übrige anbetrifft, so bin ich mit mir, Thekla und Marten Marten völlig einig: es ist besser, wir bleiben heute abend ganz unter uns in der Familie und lassen alle Philister der Welt draußen. Um elf Uhr kommt die letzte Post in Wanza an – eine ganze Stunde früher als vor fünfzig Jahren. Thekla wartet natürlich hier im Hause; aber ich, du und Dorsten, wir nehmen sie auf dem Posthofe in Empfang. Seit vorgestern habe ich ihren Brief in der Tasche – es ist wirklich eine große Freundlichkeit von deinem Papa und deinen Schwestern, daß sie kommen wollen, um heute nacht den Eintritt der Tante Sophie in die Familie und ihren Einzug in Wanza mitzufeiern. Wenn aber auch dieses mir nicht dazu hilft, um diesem ewigen Krakeel mit der Thekla über – deinen – verstorbenen Onkel Dietrich endlich ein Ende zu machen, so – weiß ich wirklich nichts weiter!«

Der Neffe der Tante Sophie sagte nichts, sondern ließ nur seine Tasse zu Boden fallen. Die Frau Rittmeisterin Grünhage schmunzelte nur:

»Noch ein paar nichtsnutzige Scherben mehr! Was hast du denn, mein lieber Junge? Tu mir doch nicht gradeso verwundert wie dein alter Papa in seinem Briefe! Bis jetzt ist mir nichts bei der ganzen Geschichte verquer gegangen, als daß uns Marten Marten diesmal nicht wie vor fünfzig Jahren auf seinem greulichen Tuthorn die Stunde, die es für uns in der Zeit ist, antuten soll.« – –

Wir sagen auch nichts weiter. Wir können es jetzt einfach nur elf Uhr abends werden lassen. Wenn wir aber nicht gleichfalls, äußerlich sehr kühl, innerlich vor Aufregung schwitzen, so ist das nur, weil wir an derlei Aufregungen schon seit lange und von mancher gar nicht übeln Berichterstattung über der Menschheit Haushaltsangelegenheiten auf dieser armen reichen Erde her gewöhnt sind. Kühl und gelassen bleiben wir jedenfalls um elf Uhr morgens, als auf dem Rathause von Wanza der Herr Bürgermeister Dorsten dem städtischen Nachtwächter Martin Marten seine fünfundzwanzig Taler »Gratifikation« übermacht und das schriftliche Belobigungsdiplom mit seinen eigenen Bemerkungen spickt. Wir nicken nur ganz zustimmend, als Hujahn brummt:

»Ne, so 'n Lumpenkerl mit so 'nem verdammten Glücke! Jawohl, mit einer Glückshaube ist der alte Schinderknecht und Pferdedieb freilich hier in Wanza zur Welt gekommen.«

Als es Dämmerung geworden war, stand aber Wanza auf den Zehen wie seit lange nicht:

»Wissen möchte ich es wohl, was die Rittmeistern Grünhage schon wieder mal vorhat!... Alle Fenster erleuchtet und kein Mensch aus der Stadt eingeladen!... Das mit ihrem fünfzigjährigen Jubiläum hier im Orte ist doch wohl nur eine Dummheit; aber wie man auch herumgefragt hat, keiner kann einem eine genauere Auskunft darüber geben – was meinen Sie denn, Frau Nachbarin?« ... »Ja, denken Sie, wissen Sie, was Marten Marten sagt? Vorhin begegne ich ihm bei Sankt Cyprian, und weil man seine Wißbegierde doch immer mit sich herumträgt, suche ich ihn wirklich ein bißchen auszuholen. Da greint er nur ganz heimtückisch: ›Der Frau Rittmeistern ihr Jubiläum? Ach, lassen Sie sich doch nichts einbilden, Frau Hangohr; meines wird gefeiert! Die Frau Rittmeistern hat sich auf heute abend, nur um mir ein Pläsier zu machen, die Gesellschaft aus der Fremde hergebeten. Wer aber eigentlich kommt, kann ich Ihnen selber noch nicht sagen.. Daß wir nachher vielleicht auch unser Testament machen, kann Wanza ganz einerlei sein.‹ – Nun, denken Sie mal, Frau Gevattern!«

Gut! War der Tag schön, so wurde der Abend womöglich noch schöner; aber daß die Gemüter in dem Hause am Marktplatze sich mit untergehender Sonne beruhigten, kann man nicht behaupten.

Kurz vor zehn Uhr trat der Mond ins letzte Viertel und der weise Seneka im Frack zu dem Neffen der Frau Rittmeisterin, packte ihn am Arm, führte ihn hinter die Fenstergardine, aus dem Lampenschein hinein in die unzulängliche Beleuchtung durch das bleiche Himmelslicht und seufzte ihn an:

»Mensch, scheint es mir nur so, oder bin ich in der Tat so gräßlich aus dieser abgeschmackten Körperbedeckung herausgequollen? Hat mich euere allgemeine Aufregung und meine innige Teilnahme dran so aufgeschwellt, oder bin ich wirklich aus Naturanlage und als Bürgermeister von Wanza so maßlos über einen anständigen Leibesumfang herausgewachsen, wie mir das augenblicklich vorkommt?! Ich bitte dich, Knabe, verkünde mir ehrlich, ob ich nicht zu lächerlich aussehe?! Guck nur die alte Halunkin, wie sie ihr Gaudium an mir hat! Und Mathilde hat natürlich auch längst Wind davon, daß etwas Ungeheueres sich vorbereitet. Sie hat sich mit ihrer intimsten Busenfeindin, Postmeisters Viktoriachen, versöhnt und auf heute abend eine Einladung zum Tee und auf das neueste Buch der Fräulein Marlitt angenommen. Aber das ist mir ganz einerlei, Grüner! Wissen will ich nur, ob ich nicht der übrigen Menschheit zu bodenlos lächerlich vorkommen werde – wenn – wir in einer Stunde deine lieben Angehörigen vom Posthofe abholen werden?! Deine gute Tante hat sie mir nämlich allesamt auf den Hals geladen – deine vier Schwestern! – ›Du nimmst dich wohl ein bißchen der jungen Damen an, liebster Ludwig!‹ hat sie mir vor fünf Minuten nochmals dringend auf die Seele gebunden, und – ›Du siehst ja gottlob ganz würdig und präsentabel aus!‹ hat sie auch gehohngrient, die alte Spitzbübin!«

»Hohngrienig« sah die Tante Grünhage um drei Viertel auf elf Uhr nicht mehr drein. Zum letztenmal an diesem Abend holte sie eine Uhr hervor (nicht die, welche ihr seliger Rittmeister aus Moskau mitgebracht hatte, denn die hatte sie der seligen Jungfrau Lunkenbein mit in die französische Julirevolution gegeben, d. h. sie ihr – der Jungfer – gelassen) und sprach mit großem Ernste:

»Kinder, wir müssen jetzt wohl gehen.«

Ein schriller Pfiff, der an seinem Ende in einen absonderlichen, gar nicht drangehörigen Triller auslief, klang von Sankt Cyprians Kirchhofe her.

»Die Glocke hat elf geschlagen! Elfe ist die Glock!« rief der Nachtwächter von Wanza an der Wipper die Stunde ab.

»Und da bläst Füllkorn grade auf die Minute unter dem Teichtor, Frau Rittmeistern«, sagte der Postmeister von Wanza, ein paar Minuten später hinzufügend: »Sieh, sieh, auch ein Beiwagen. Jaja, Wanza wird Weltstadt, und der Verkehr mehrt sich. Nun Leute, alle heran! Hierher! Leuchtet den Herrschaften zum Aussteigen! Viel Damengepäck! Na, Marten, dann kommen Sie nur und halten Sie Ihre Laterne mit her. Heute vor fünfzig Jahren sollen Sie ja auch wohl schon mit ihr dabeigewesen sein? Nun, an Ihrer Stelle läge ich denn doch lieber im warmen Bette, um mein Jubiläum und noch dazu auf solch 'nem Ruheposten wie der Ihrige zu feiern.«

»Ist dies Wanza?« fragte aus dem jetzt auf dem Posthofe haltenden gelben Wagen eine biedere, aber etwas heisere Männerstimme.

»Jawohl!« rief die Frau Rittmeisterin. »Macht doch Platz, ihr andern, und laßt mich heran! Du aber mach doch die Tür auf, Bernhard!«

Ein alter breitschulteriger, würdiger Herr mit einer Brille auf der Stirn haspelte sich zuerst aus dem Gefährt, blinzelnd vor dem Laternenlicht Martens und unterstützt von dem rasch zugreifenden jungen Gast der Frau Rittmeisterin Grünhage.

»Nun, Papa, möglich ist es, daß du es bist – und die Mädchen auch; aber –«

»Ist er es wirklich?« fragte jetzt die Tante Sophie im hellsten metallischen Ton. »Nun denn, das ist freilich ungemein freundlich von ihm. Schönen guten Abend, lieber Schwager! Ich bin nämlich die Rittmeisterin Grünhage in Wanza an der Wipper, und – wissen Sie wohl noch? Vor fünfzig Jahren auf meinem Hochzeitstanz in Halle an der Saale haben Sie mir die Schleppe abgetreten! Jetzt geben Sie mir die Hand, bester Bruder Doktor; und Sie, Marten Marten, halten Sie doch Ihre dumme Laterne ein bißchen höher, daß die zwei Grünhage von Anno neunzehn sich im Jahre neunundsechzig wiedererkennen können. Je ja, ein bißchen älter sind wir in der Zeit wohl geworden, Schwager; es war aber desto hübscher von Ihnen, daß Sie mir neulich Ihren Jungen schickten, um die alte gute Bekanntschaft durch das jüngere Volk aus der Familie wiederanzuknüpfen. Wo stecken denn aber die Mädchen?«

Drei von ihnen entwanden sich eben auch dem Hauptwagen, standen nun ebenfalls im Laternenlicht auf dem Wanzaer Posthofe, lächelnd, knicksend und ziemlich verlegen.

»Meine Marie! Meine Anna und meine Martha, verehrte Schwägerin!« zählte sie der Doktor aus Gifhorn ab und der Frau Rittmeistern von Wanza zu, und sie bekamen eben jede einen Kuß von der alten Frau, als der Bruder Bernhard plötzlich ganz kläglich und vorwurfsvoll dazwischenrief:

»Ja, aber unsere Alte?!... Wo steckt denn unsere Alte?... Na, das wäre freilich großartig, wenn ihr die Alte wieder mal als Aschenbrödel zu Hause gelassen hättet, um in euerer Abwesenheit es zu hüten und den Torfhandel der süßen Heimat zu überwachen.«

»Das wäre mir freilich auch nicht lieb!« sprach die Tante Grünhage, die jüngste Nichte eben aus den Armen freilassend; aber der Vater Grünhage brummte behaglich:

»Ne, ne, beruhige dich nur, lieber Sohn. Sie sitzt in dem Beiwagen, Frau Schwägerin. Bis zur vorletzten Station hat sie sich drin einer armen Person und Mitpassagierin mit drei Kindern und einem meines Erachtens ziemlich bedenklichen Husten erbarmt. Übrigens hat es freilich einige Mühe gekostet, sie auf so kurze Ordre hin, verehrte Frau Schwester, mit uns anderen auf diese Fahrt in die weite Welt zu bringen; und zuletzt tat sie es auch da nur aus Mitleid, da sie wußte, daß wir ohne sie auf keine Weise unterwegs fertig geworden wären.«

Es war der städtische Nachtwächter von Wanza, der mit dem unverkennbarsten Vergnügen seinem regierenden Bürgermeister mit seiner Laterne an dem Beiwagen das nötige Licht lieferte. Es war der Bürgermeister von Wanza, der unsere Alte aus dem Fuhrwerk hob und in seinem ominösen Examinationsfrack dergestalt eifrig sich dabei bewegte, daß ihm in der Tat eine Naht unterm Arm mit einem merkbaren Krach platzte. Daß in dem nämlichen Augenblick ein Fenster in der Privatwohnung des Herrn Postmeisters klirrend zugeschlagen wurde, erschütterte ihn wenigstens doch so weit in seinem Gewissen, daß er auf dem Heimwege nach dem Hause am Marktplatz seinem frühern Studiengenossen zuraunte:

»Du, das war Mathilde, die dem Postmeister eben eine Fensterscheibe schuldig wurde. Ich konnte nichts dafür. Ich war doch einfach nur so höflich, als es sich unbedingt schickte gegen unse– gegen deine Fräulein Schwester.«

Der Schlingel führte diese »Fräulein Schwester« dabei am Arme und sah in seinem lächerlichen Feiergewande fast ebenso schlaubehaglich wie unmenschlich dick aus.

Aber wir stehen ja immer noch auf dem Posthofe von Wanza, wo jetzt gottlob die Tante Sophie auch unser gutes altes Mädchen, unsere Käthe Grünhage, in den Arm genommen hat und sie von Marten Marten beleuchten läßt, sie abküßt wie die andern, aber dazu ruft:

»Also du bist es, die die Beste in unserer ganzen Familie sein soll! Und die Verständigste auch! Und die Vernünftigste dito! Und nicht wahr, du bist es auch gewesen, die zuerst auf den vernünftigen Einfall gekommen ist, den ganz anständigen und braven Jungen, eueren Bernhard, hierher nach Wanza zu schicken, um die Alte an der Wipper im – Vorbeigehen von euch mal zu grüßen?«

»Ja, liebe Tante!« sagte Käthe Grünhage treuherzig, aber doch auch durch ihre Tränen lachend. »Daß es aber so – so – schön ausfallen würde, habe ich mir nicht vorher gedacht!«

»Elf Uhr ist die Glock!« rief Marten Marten mit rauhester Amtsstimme, in Ermangelung des Hornes von achtzehnhundertneunzehn die Mark und Bein durchdringende Pfeife von achtzehnhundertneunundsechzig an den Mund setzend.

»Herr du meine Güte, und es ist gut halb zwölfe schon, und Thekla hat wahrhaftig alles Recht, allgemach wieder einmal ungeduldig zu werden!« rief die Frau Rittmeisterin, gleich allen übrigen vor dem unvermuteten Amtsgetöse ihres alten Freundes zusammenfahrend. »Jetzt kommt nach Hause! Wissen Sie wohl noch – heute vor fünfzig Jahren, Marten?«

»Alles noch wie von gestern in meinem Gedächtnis, Frau Rittmeistern«, erwiderte Marten Marten ehrbar. »Mit dem Horn und dem Spieß kann ich heute Ihnen und den übrigen Herrschaften nicht mehr aufwarten; aber mit meiner Laterne leuchte ich Ihnen gerne noch heute so wie damals. Und wenn der Mond auch noch so voll im Kalender und am Himmelsgezelt stünde, sie müßte doch dabeisein, und das von Rechts wegen.«

»Dann gehen Sie mit ihr nur vorauf; und ihr andern kommt. Sie geben mir wohl Ihren Arm, lieber Schwager.«

Sie – Fräulein Thekla Overhaus – saß mit ihren erblindeten Augen freilich ganz allein in der großen Stube linker Hand im untern Stock des Grünhageschen Hauses am Marktplatz, wo der Tisch für die erwarteten Gäste und Verwandten gedeckt war; aber sie wartete mit großer Geduld. In dem alten Potpourri stand vor ihr ein großer Strauß frischer, aber letzter Herbstblumen, die sie nicht sah, über die sie aber von Zeit zu Zeit mit der Hand fuhr wie über ein liebes bekanntes Gesicht. Und als das Festgewühl dieses sonderbaren Jubiläums nunmehr in das vor fünfzig Jahren so wüste Festgemach drang und ihr die Verwandten des Hauses Grünhage aus der Lüneburger Heide nacheinander vorgestellt wurden, fuhr sie auch ihnen über die Gesichter mit der Hand (den Doktor nicht ausgeschlossen); und als sie damit fertig war (Fräulein Katharina Grünhage war die letzte), sagte sie nichts weiter als:

»Dies ist der vernünftigste Streich, den Fiekchen, ihre Frau Schwägerin meine ich, Herr Doktor, je in ihrem Leben ausgeheckt hat –«

»Halt den Mund, alte Kriegskameradin, oder lobe dich selber!« rief die Tante und Rittmeisterin Sophie Grünhage.

Sie sollten aber allesamt noch einmal zusammenfahren, und diesmal heftiger denn zuvor.

»Tut – Tuuut!« erscholl es in der Tür des Festgemaches, und da stand Marten Marten, nachdem er für diese Nacht sein Amt an seinen Kollegen abgegeben hatte, und blies das Horn von Wanza nicht als städtischer Nachtwächter, sondern als ganz einfacher Privatmusikante.

»Mit gütiger Erlaubnis, meine Herrschaften und Sie, Herr Burgemeister!« sagte er. »Unsere übrige Verabredung wissen Sie ja, Herr Burgemeister.«

»Da bei Fräulein Thekla sitzen Sie, Marten!« rief die Frau Rittmeisterin über den Tisch weg. »Nachteulen sind wir diese Nacht alle, und es wird ein wahres Glück sein, daß wir wiederum den Nachtwächter von Wanza zur Hand haben, um uns von ihm mit oder ohne sein Horn die Stunde ansagen zu lassen. Punkto ein Uhr gehen wir zu Bette. Für jetzt: Willkommen in Wanza die Familie Grünhage!... Es ist wirklich ein vernünftiger Streich, den Thekla Overhaus, Marten Marten und ich ausgeheckt haben. Punkto ein Uhr zu Bett: denn ich freue mich zu sehr darauf, euch alle mir morgen früh bei der lieben hellen Sonne erst noch viel genauer besehen zu können.«

»Ich auch!« sprach der weise Seneka und zur Zeit sich selber noch allein regierende Bürgermeister von Wanza an der Wipper. Es berechtigte immerhin zu einigen Hoffnungen für ihn, daß er in diesem Augenblicke weder Mathildens gedachte noch den Calvisius Sabinus herzitierte.


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