Wilhelm Raabe
Das Horn von Wanza
Wilhelm Raabe

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Neuntes Kapitel

Das Wetter schien sich in der Tat ändern zu wollen. Im Schornstein löste sich der Ruß und rasselte hinter der Ofenwand nieder. Der feuchte Nordwestwind aber, der sich plötzlich erhoben hatte, trug nochmals von einer entferntem Straßenecke den Pfiff und Stundenruf des Nachtwächters Marten Marten herüber. Auf ihren Rheumatismus nahm die Tante Grünhage keinen Bezug mehr, aber ins Erzählen kam sie und hörte fürs erste damit nicht auf. Die beiden jungen Männer hüteten sich wohl, sie zu unterbrechen; nur mit dem Knie stieß dann und wann der Bürgermeister den Freund von neuem unter dem Tische an.

»Der gute alte Kerl!« seufzte die Frau Rittmeisterin. »Fünfzig Jahre merke ich nun allnächtlich auf seine Stimme, und je mehr mir mit den Jahren der Schlaf abhanden gekommen ist, desto genauer passe ich ihr auf. Ich kann mir die Stadt Wanza ohne ihre Glocken, aber nimmer ohne seinen Wächterruf vorstellen, und das hat seine guten Gründe. Wir sind jetzt einmal in das Schwatzen hineingekommen; du, Neffe Bernhard, hast mir von dir und deinen Angehörigen viel Nettes und Behagliches erzählt, und Dorsten hat schon lange gedacht: ›Was hat denn die Alte, daß sie nicht schon längst dazwischengefahren ist und ihren Senf dreingegeben hat?‹ Da will ich dir denn in der Kürze und unaufgefordert zu wissen tun, wie ich eigentlich in eben euere nette Familie hineingeraten und zu meinem Namen und Titel gelangt bin. Es ist sehr verständig von deinem Vater gewesen, daß er dir wenig oder gar nichts darüber mitgeteilt hat, sondern dich auf gut Glück die Verwandtschaft an der Wipper hat ansprechen lassen. Und ehrlich gesprochen, es lüstet mich wirklich einmal, vor euch jungem Volk diese alte verquollene Schublade aufzuziehen; Kinder und Enkel habe ich ja nicht, die mir meine Lebensschicksale so bei kleinem abschmeicheln und hinterm Rücken wegtragen konnten. Aber Respekt bitte ich mir aus, und keine Zitate und Studentereien, Ludwig. Ruft Marten die Elfe, so gehen wir wirklich zu Bett, und der Junge aus der Heide hier unter dem Dache seines Onkels Grünhage. Kurios ist es, und 'ne Ahnung habe ich bis heute morgen wahrhaftig nicht davon gehabt! – Achtzehnhundertneunundsechzig schreiben wir heute. Da hat auch die jüngere Menschheit in Deutschland den Krieg ziemlich nahe gesehen, und die Kanonen von Langensalza wollen einige sogar hier in Wanza vernommen haben; andere sagen freilich, es sei nur die Aufregung gewesen, und das glaube ich auch, denn ich habe nichts gehört und verstehe mich doch noch aus meinen Kinderjahren darauf ganz gut. Nämlich mit meinen Kinderjahren reiche ich, wie ihr wißt, noch ziemlich in die Zeiten zurück, wo das Kanonieren um einen her eigentlich gar nie aufhörte, bis die Schlacht bei Waterloo endlich fürs erstemal Stille in der Welt machte. Ja, das will ich meinen, das war damals für die Menschheit nicht so ein rascher Übergang, wie es bis jetzt für euch gewesen ist: heute Frieden, morgen Krieg und übermorgen wieder Frieden. Ne, ne, wer damals in den Tumult hineingeboren worden war, der wurde wenig gefragt, ob ihm die Musik gefalle oder nicht; und ich habe das als klein Mädchen in meiner Eltern Hause ebensogut in Erfahrung gebracht wie mein verstorbener Mann, der freilich noch ein wenig mehr aus der Tiefe in dem Wirbel und Trubel der Zeit in die Höhe kam. Achtzehn Jahre war ich alt, als er mich Anno neunzehn freite, das heißt mich aus meiner Eltern Hause wegnahm und hierher brachte; und das will ich euch vor allem sagen, daß er von Anno sechs an bei allem Weltlärm und Blutvergießen und Gepolter mitgeholfen hat und, wie er sagte, das Fell dazu hatte, was kein Wunder war. Sein Fell war der Kriegsrock, und der war ihm von Jungensbeinen an auf dem Leibe festgewachsen, und als preußischer Junker ist er von Auerstedt aus dem Oberst Blücher, der damals noch nicht Generalfeldmarschall war, nach Lübeck nachmarschiert und hat tapfer da geholfen gegen die Franzosen, hat aber auch mit kapitulieren müssen. Dann ist er übergeben worden mit allen Provinzen und Menschen an das Königreich Westfalen und den König Hieronymus und hat dem König seinen Eid geleistet und hat zuerst in Spanien gestanden unter dem Chevalier Winckler, aber dann im zweiten Kürassierregiment unter dem Oberst Bastineller, und mit dem ist er in Rußland gewesen und überhaupt in seinem Esse und Vergnügen, denn ihr müßt euch ja nicht einbilden, daß jeder es zu jeder Zeit gleich fertigbringt, ein guter deutscher Patriot zu sein, zumal damals, wenn man von Natur aus nichts weiter war und sein konnte als ein guter Soldat und Kriegsknecht wie mein verstorbener Mann, der kein größer Pläsier kannte, als wenn er heute in Hispanien halb gebraten wurde und morgen an der Beresina zu drei Vierteln verfror. Der König Hieronymus hat ihn sehr gut behandelt, und so hat er ihm den Eid gehalten, den er als sein Reitersmann und Offizier geschworen hatte. Und als es Anno dreizehn mit dem Königreich Westfalen schiefging, hat er ausgehalten beim Jerome und ist mit ihm nach Frankreich gegangen und hat noch bei Quatrebras und Waterloo gegen uns gestanden und sich bis an seinen Tod niemals was Böses oder Schlechtes dabei gedacht. Ja, das kommt euch heute nun wohl wunderlich vor, daß es damals auch solche Leute gegeben hat? Aber es gab ihrer, und gar nicht wenige. Sie waren eben nur Soldaten, und in ihrer Art hielten sie auf ihre Ehre und ertrugen das Ihrige darum ebenso tapfer und grimmig, als das nur ein deutscher Patriot auf seine Weise und Ansicht tun konnte. Aber für die alten Napoleonssoldaten ist damals auch in Frankreich eine unangenehme Zeit gewesen, und so ist denn der Herr Rittmeister Grünhage im Jahre sechzehn hierher nach Wanza gekommen und hat sich in dieses Haus wie in einen Waldwinkel und wie als wilder Einsiedler hingesetzt und seinen Spaß mit dem Orte getrieben. Ja, seinen Spaß! Denn mit freundlichen Augen haben ihn die Leute des Ortes, von denen manche doch auch einen Sohn oder sonst Verwandten gegen ihn verloren und überhaupt viel Drangsale erduldet hatten, nicht angesehen. Er aber pfiff auf sie – in seiner Weise, wie ich für mein Teil nachher als seine Frau mit erfahren mußte. Wahrhaftig, er kümmerte sich nur zu seinem Pläsier um Wanza. Wer ihn biß, den biß er wieder, aber so höhnisch, daß es doppelt weh tat. Und zuletzt wartete er auch gar nicht einmal auf den andern, sondern biß zuerst. Hätten sie nicht Furcht vor ihm gehabt, so hätte er es gar nicht ausgehalten! Keinen Pfennig konnte er ausgeben, ohne daß es hieß: ›Wo hat der französische Räuber ihn gestohlen?‹ Und hierzu sprach der Neid wohl viel mit; denn die meisten in Deutschland hatten damals wirklich nicht viel einzubrocken. O so mag niemals wieder eine junge deutsche Frau zu Markte gehen mit ihrem Korbe wie ich damals; aber auch dabei hat mir Marten Marten geholfen und mir nicht bloß den Korb nach Hause getragen.

Nun werdet ihr fragen: ›Tante Grünhage, wie kamst du denn eigentlich dazu, daß du deines verstorbenen Mannes Frau wurdest und hier jetzo in seinem Hause als altes Weiblein und seine Witwe auf dem Sofa sitzest?‹ Dabei bin ich nunmehr bei meinem heutigen Schubladenaufräumen angelangt. Nämlich mein seliger Vater ist ein guter Bekannter von meinem verstorbenen Mann von Kassel her gewesen; wenn er auch wohl an die zehn Jahre älter sein mochte. Und er ist ein geschickter Musikant erst am Kurfürstlichen und sodann am Königlichen Theater in der Hofkapelle gewesen. Und weil er auch dem Jerome gegeigt hatte, hat er nach der Befreiung seine Stelle verloren, obgleich er seinesteils immer ein guter Deutscher und Patriot und Kurhesse gewesen ist, trotz seiner Freundschaft mit dem Leutnant Grünhage vom Zweiten Kürassierregiment Oberst von Bastineller. Wir sind also mit wenigem Hausrat und sonst gar keinem Vermögen auf einem Leiterwagen im Frühjahr vierzehn von Kassel nach Halle an der Saale verzogen, meine Eltern mit mir und mit einem Bruder von mir, der aber im Jahre siebenzehn verstorben ist. Da haben wir kümmerlich gelebt in Halle. Jeder Student, der die Flöte oder Geige lernen wollte – und was die Flöte angeht, so wollten das damals freilich viele (es war einmal Mode) –, ist uns als ein Trost willkommen gewesen; aber die Bezahlung war schlecht, und auch sonst hat die edle Kunst Musika meinem armen Vater nicht viel abgeworfen. Aber damals ist mein Verhältnis mit meinem verstorbenen Mann angegangen. Ich war noch ein ganz kleines Mädchen und lag mit meinem Bruder in der Kammer neben der Wohnstube im Bett, und in der Stube saßen durch manche liebe lange Nacht mein seliger Vater und der Herr Rittmeister Grünhage aus Wanza und rauchten und sprachen, oder mein Vater mußte dem Gast bis nach Mitternacht auf der Violine vorspielen. Und auf alles habe ich oft, wachend mit angstvollem und verwundertem schlaflosem Herzen, horchen müssen; denn wie der Rittmeister Grünhage konnten wohl wenige erzählen aus ihrem Leben, daß man nicht wußte, ob man lachen oder weinen, sich ärgern oder sich graueln sollte. Und wie ich mich meistens auch grauelte, lieb war es mir doch nicht, wenn meine selige Mutter vom Tische aufstand und sagte: ›Die Kinder können euch hören!‹ und kam und die Kammertür zumachte. Ich könnte nun auch noch viel und viel ausführlicher hiervon erzählen; aber – wozu?! Ich könnte noch anderes erzählen aus den Jahren von fünfzehn bis neunzehn, wenn ich deine älteste Schwester heute abend an deiner Statt mir hier gegenüber hätte, Bernhard; aber euch zwei jungen Mannsleuten wäre doch nicht viel damit gedient. Kurz, ich bin während dieser Zeit aus einem zwölfjährigen Kind ein achtzehnjährig jung Mädchen und quickes Ding geworden, worüber ich mir von euch zwei Narren jetzt alles Räuspern und Stuhlrücken verbitte. Keiner von euch säße so fett und wohlgenährt da, wenn er sein lebelang sich mit der Kost in meines Vaters Hause hätte begnügen müssen. Von Jahr zu Jahre ging es kümmerlicher drin zu, und meine selige Mutter hatte immer kummervolle, rotverweinte Augen, und mein seliger Vater ging nur einher wie einer, der nicht ein und aus weiß. Nur wenn der Herr Rittmeister auf Besuch kam, lebten wir für einige Zeit auf, und so sah jeder seinem Kommen entgegen und wartete auf ihn, und ich auch, denn auch ich wurde dann satter als sonst. Wie er meinem Vater unter die Arme griff als richtiger Freund, weiß ich heute. Daß ich ihm meines Wohlbehagens wegen dankbar war, weiß ich auch; aber wie ich mich damals sonst gegen ihn verhielt, das weiß ich auch heute noch nicht. Ich hatte Furcht vor ihm und – junges Volk, ich erzähle euch ernst von meinen Lebensnöten und Tränen! – manchmal auch einen Ekel; aber ich sah ihn gern!... Daß er mich zu täppisch neckte und ärgerte, vergalt ich ihm durch Grobheit, und er lachte, wie ein Landsknecht von dreißig Jahren lacht, wenn er mit einem Konfirmandenmädchen sich einen unschädlichen Spaß im Vorbeigehen machen will. Wenn ich mich vor ihm in einem Winkel des Hauses verkroch, so kam ich doch immer wieder zum Vorschein, ohne daß ich viel gerufen wurde; und so kam auch die Zeit, wo ich nicht mehr abends dem Herrn Rittmeister von meinem Bettchen aus zuhörte, sondern mit am Tische blieb und die Aufwartung besorgte, wenigstens bis gegen zwölf Uhr. Hätten wir nur weniger Kummer um das tägliche Brot gehabt! Und dazu hatten wir, wie ich euch schon erzählt habe, im Jahre siebenzehn meines Bruders Begräbnis zu besorgen, und auch dazu hat mein verstorbener Mann meinem Vater das Geld geborgt und hat keinen Schuldschein dafür annehmen wollen. Nach dieser Zeit ist er immer häufiger in Halle gewesen, und nun ist mir zuerst aufgefallen, daß die beiden Männer durch ihren Tabaksrauch oft verstohlen auf mich sahen; und auch auf die Blicke meiner seligen Mutter habe ich allgemach mehr achtgeben müssen. Sie hielt mich oft angstvoll im Auge, und dann hatte jedesmal der Herr Rittmeister sich mit seiner Rede an mich gewendet und auch wohl seinen Arm auf meine Stuhllehne gelehnt oder mir über das Haar gestrichen. Mein Vater blinkte dazu nur von Zeit zu Zeit kurz auf; und dann sah er nach meiner Mutter hin, wenn die einen Seufzer ausstieß. In den Tagen ist auch meine Freundschaft mit deiner Großmutter Tewes, der vornehmen Professorentochter unserm Hause gegenüber, angegangen, Dorsten. Wenn wir in der Schule uns nicht viel umeinander bekümmert hatten, so fingen wir nunmehr einen Verkehr über die Gasse miteinander an. Sie hatten einen Kranz für den toten Bruder geschickt, und ich bedankte mich dafür eines Sonntags auf dem Wege von der Kirche nach Hause; und von da an haben wir als gute Freundinnen unsere Mädchenangelegenheiten zusammen getragen und miteinander viel verstohlenen Rat gehalten. Aber weder hat sie mich noch ich sie von einem unserer Lebensschicksale am Rock zurückgehalten. Sie ist nur sehr böse geworden und hat geschluchzt und mit dem Fuße aufgestampft, als ich ihr zu Pfingsten achtzehnhundertneunzehn die Nachricht hinübertrug, meine Mutter habe mich zwischen ihre Kniee genommen und mit dem Kopfe auf meiner Schulter mir gesagt, der Herr Rittmeister Grünhage habe gestern abend, nachdem ich zu Bett geschickt worden sei, bei dem Vater und ihr angefragt, ob sie mich ihm zur Frau geben wollten, er wolle gut für mich in meinem Leben sorgen!... Meine Mutter hat geschluchzt, Lucie Tewes hat geschluchzt; aber mein Vater hat gar nichts gesagt, und das war das schlimmste, denn er redete am deutlichsten mit jedem seiner Schritte durch die Stube, und wie er nach den Stubengeräten tastete in seiner Unruhe. Ich aber habe gemußt! Und das Müssen ist mir wie im Traum gekommen, aber mein ganzes Leben lang eine Wirklichkeit gewesen. In der Nacht nach Pfingsten neunzehn bin ich eine Braut geworden durch meines Vaters Geige! Er hat mich in jener Nacht und der einzigen Bedenkzeit, die mir vergönnt war, in mein ehelich Leben hineingespielt. Ich konnte das aus seiner Kammer her über meinem Kopfe nicht anhören und aushalten!... Wir konnten alle nichts dafür, daß es so sein mußte; und, liebe Jungen, was hat es denn auch viel geschadet heute? Daß ich nicht zugrunde gegangen bin durch unsern Hunger und die Zuneigung meines verstorbenen Mannes und des Vaters Geigenspiel in der Pfingstnacht und der Mutter Wehmut am Hochzeitsmorgen, das habt ihr ja heute abend, wie ich hier auf dem Sofa mit meinem Strickzeug sitze, vor euch! Es hat wohl schon eher ein achtzehnjährig jung Mädchen einen tapfern Soldaten und halbwilden Menschen von dreißig Jahren gefreit und ist mit dem Leben davon- und in ein hohes Alter gekommen. Und daß ich mir halb wie ein Opferlamm vorkam, tat damals gradesoviel wie heute noch in der Mädchen Gemüte zu einem weinerlichen Ja! Ich habe ja gesagt und den einzigen treuen Helfer unseres Hauses geheiratet und habe mich von meinem Mann hierher nach Wanza bringen lassen; und – Neffe Bernhard, dein Herr Vater hat mir auf der Hochzeit den Kleidersaum abgetreten als blutjunger Scholare; wiedergesehen aber habe ich ihn nicht, und mein verstorbener Mann, sein Bruder, ist nur einmal lachend aus dem Bären nach Hause gekommen und hat gesagt: ›Das hat der edle deutsche Narr und Sammetrock nun davon! Sie haben ihn mit den übrigen Pinseln fest, und er mag sich nun nach seinem Belieben das deutsche Vaterland hinter Schloß und Riegel in seiner Kasematte schwarz-rot-gold an die Wand malen.‹ – Auf meiner Hochzeit ist er leider Gottes schon zu Tränen gebracht, und eine herbstliche Hochzeit ist's, weiß Gott, gegen Michaelis neunzehn geworden in Halle. Es war eigentlich nur eine Männerhochzeit, und die paar Frauen, die dabei waren, und ich mit, zählten sozusagen gar nicht. Mein Mann war unbändig vergnügt und mein seliger Vater recht lustig, aber vergnügt, glaube ich, war er nicht. Um Mitternacht mußten wir in den Wagen, denn Eisenbahnen gab es damals noch nicht; und jetzt noch sehe ich meine Mutter, wie sie beim Schein der Laternen mit vor der Posthalterei stand und mir nachblickte, kümmerlich alt geworden, bleich, aber ohne Tränen; denn die hatte sie vorher ausgeweint. – ›Hast du auch warm, mein Kind?‹ das ist das letzte Wort, was ich von ihr vernommen habe. Bei ihrem Sterbebett habe ich nicht zugegen sein können. – – Da ich drin bin, muß ich euch auch wohl von dieser Reise von Halle nach Wanza Bericht geben. Lieber Bernhard, ich will das aber doch lieber keiner von deinen Schwestern wünschen, daß sie einmal so als dummes, junges weichlich Kind mit einem fremden Mann und harten Kriegsmann in die Herbstnacht hineinfahren muß. Mein verstorbener Mann hatte mit dem Postillon gesprochen, und der hatte gelacht und schlug auf die Pferde, und wir fuhren wie Lenore bei Bürger. Heute höre ich noch den Wind in den Pappelbäumen, und meinen Mann singen! Französisch und spanisch und italienisch, und wer weiß was sonst noch! Er hielt mich dazu fest im Arm, und das war recht gut; denn ich war wie in einem Schwindel, und immer war's mir, als jagte was neben dem Wagen – Reiter oder Gespenster – wie bei Bürger. Und jeder Postknecht sagte dem andern, was für ein lustig Paar er in dieser Nacht zu fahren habe, und mein Mann sah auch immer aus dem Wagenfenster und sprach zu ihnen, und jedesmal fuhren wir dann schneller, und der Postillon fing an, auf seinem Bock in sein Horn zu blasen, vorzüglich durch jedes nachtschlafende Dorf, in dem nun alle Hunde wach wurden und sich gern in den Speichen verbissen hätten, doch mehr aus Ärgernis als aus unbändigem Spaß. Die Wege damals waren auch nicht zu vergleichen mit den Chausseen, die euch jetzt zu langweilig und beschwerlich sind. Mit der körperlichen Not, Drangsal und der geistigen Bedrängnis aber kam ich allgemach in solch einen Taumel und Traum, daß mir alles zuletzt ganz gleichgültig wurde und als ob's mich gar nichts angehe. Wir stiegen auch aus unterwegs und übernachteten ein paar Male. So kamen wir über Querfurt und Artern; und bei Frankenhausen unter dem Kyffhäuser brach uns einmal das Rad, und wir wurden in den Graben geworfen. Mein Mann zog mich halb ohnmächtig aus dem Schlamm; oh, ich könnte ihn malen, wie er dann lachend auf dem Grabenrand stand und mir das Blut von der Stirn wischte; denn ein Glassplitter von dem zerbrochenen Wagenfenster hatte mich zu allem übrigen tüchtig geritzt. ›Vive l'empereur!‹ rief er über das Feld hinaus. ›Kümmere dich nicht drum, Mädchen!‹ schrie er. ›Die Kürassiere der großen Armee und ihre Weiber müssen was ausstehen können. Vive l'empereur!‹ – Glaubt aber ja nicht etwa, ihr deutschen Studenten, daß er den alten Barbarossa in seinem herbstlich vernebelten Zauberberge mit dem Kaiser meinte, den er hochleben ließ. Aber der Raben flatterten freilich genug über uns, als wir an dem dunkeln Nachmittage da an dem Grabenrande standen. Bei Sondershausen sah ich die Wipper zum erstenmal und hätte auch in ihr, nämlich bei Großen-Furra, ein zweites kaltes Bad genommen, es ging aber diesmal noch glücklich ab; aber mit meinen Kräften war ich allmählich so völlig fertig geworden, daß ich wie eine Tote in meiner Wagenecke lag und nichts mehr von dem hörte, was mir mein Mann zusprach. Als er mich endlich doch wieder aufschüttelte, hielten wir wieder still, und zwar hier in Wanza auf dem Posthofe. Sie leuchteten mir wieder mit der Laterne ins Gesicht, und es regnete leise. – ›Wir sind zu Hause, junge Frau!‹ rief mein verstorbener Mann; aber ich war nicht imstande, etwas zu antworten. Da hörte ich zum erstenmal das Horn und die Stimme Marten Martens. Er rief die zwölfte Stunde, und zwar in der Nacht vom achtundzwanzigsten auf den neunundzwanzigsten September achtzehnhundertneunzehn. Und, horcht, er ruft eben jetzt wieder. Wie spät ist es denn eigentlich in der heutigen Nacht, liebe Jungen?«


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