Wilhelm Raabe
Das Horn von Wanza
Wilhelm Raabe

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Zweites Kapitel

O schöne Zeit, wo der Mensch dem falschen Pathos weder im Leben noch in der Literatur aus dem Wege geht, wundervolle Zeit, wo er, der Mensch, nicht einmal eine Ahnung davon hat, daß etwas, was er selber später falsches Pathos nennen wird (dies Tier war noch nicht unter denen, welchen Adam einst Namen gab), überhaupt in der Welt existiert!

O bittere Zeit, wo der Mensch auf der abwärtssteigenden Bahn seines Lebens ganz genau anzugeben weiß, wo in ihm und um ihn das falsche Pathos anfängt!

Bittere Zeit? Wohl, dann und wann recht bitter oder zum wenigsten sehr sauersüß! Aber doch auch nicht ohne ihre Vorzüge der andern gegenüber – sagt der weise Seneka – der Lucius Annäus aus Corduba nämlich –, der uns aber an dieser Stelle nicht das geringste kümmert und der sich dazu sein falsches Pathos seinerzeit ebenfalls recht wohl hat bekommen lassen.

Wir steigen mit dem Studenten durch die schöne Natur seinem weisen Seneka zu. Der alte Senior der Caninefatia imponiert ihm mit vollem Recht immer noch riesig, wenn auch mehr aus den Erzählungen der ältesten Leute in der Verbindung als eigenem längern Verkehr mit ihm. Persönlich wirft die einstige große Leuchte der Caninefaten ihr Licht nur in sein erstes Fuchssemester; aber die alte Tante läuft nichtsdestoweniger wirklich nur beiläufig so mit in seinen Gedanken, wie das in dieser Welt mit den besten Dingen leider so häufig der Fall ist.

Am Nachmittage des andern Tages, nachdem er von den herzynischen Bergen niedergestiegen war, stiegen die Türme seines Wanderzieles vor ihm empor. In der Tat, das Städtchen richtete mehr als eine Nase zum Himmel auf. Sein Kirchenturm war nicht die einzige. Eine mittelalterliche Warte hatte sich wohl erhalten durch die Jahrhunderte. Ein stattlich Amtsgebäude zeigte desgleichen einen hochragenden, schiefergedeckten Uhrturm. Manche große Stadt hätte viel darum geben können, wenn sie eben solch ein Gesicht aufzuweisen gehabt hätte, wie es die winzige ackerbürgerliche Schwester dem Wanderer von ferne her über das Hügelland, die Wiesen und Ackerfelder und dann und wann auch über den Wald zeigte oder besser emporhob.

Es war ein heißer, wolkenloser Spätsommernachmittag. Eine gute Meile Weges lag noch unbedingt zwischen Wanza, dem gegenwärtig in Wanza regierenden Bürgermeister, der Tante Sophie Grünhage und dem Studenten der Philologie Bernhard Grünhage. Und ein Dorf lag gleichfalls noch zwischen ihnen und ihm. Der Weg des Studenten führte aber nicht etwa vorsichtig um dieses Dorf herum, sondern grade durch. Der Bauernkrug aber war am äußersten Ende des Dorfes gelegen, und zwar der Stadt zu, – anlockend daneben ein Bauerngarten voll Stockrosen und Sonnenblumen; Tisch und Bank unter dichtbelaubtem Baume vor der Pforte und über der Pforte die angenehme Inschrift:

Witwe Wetterkopf.
Ausspann, Restauration und Speisewirtschaft!

»Was sieht mein Auge?« sprach dumpf nicht etwa von der Bank in dem wohligen Lindenschatten aus, sondern hervor unter dem emporgeschobenen Fenster der Schenkstube eine Stimme, die den Studenten zum augenblicklichsten Anhalten im Marschschritte brachte. »Täuscht mich ein Traum oder sehe ich recht durch des Philisteriums öden Nebel?... Die alten Farben!... Wohin wandert dieser Knabe aufs Geratewohl?... Hierher, junger Mensch!«

»Dorsten?!« rief der Student, und aus der Gaststube des Bauernkruges scholl es zurück:

»Ja, Dorsten! Ganz derselbige! Nun, bei dem Buche de tranquillitate animi – über die Gemütlichkeit –, wenn das nicht gemütlich ist!... Tritt heran! Reiche deine Rechte! Beim Zeus, das Phantom löst sich nicht auf im Dunste der Heerstraße. Es hat Fleisch und Knochen. Alle Teufel, nicht so innig, Sohn der nahrhaften Erde! Und vor allen Dingen komm jetzt mal rein in die Bude, nenne mir deinen Namen und laß dich genauer besehen!«

Mit beiden Händen hatte der Student die ihm aus dem Fenster dargereichte weichliche Hand des einstigen Seniors der Caninefaten und jetzigen Bürgermeisters von – von – nun, den Namen des Nestes haben wir doch schon einige Male hingeschrieben – von Wanza an der Wipper gefaßt:

»Dorsten! Ist das wirklich Ihr – dein Name?« rief er noch einmal, und der andere sprach:

»Das ist unbedingt mein Name. Wie gesagt, komm herein, fabelhaftes Landstraßenphänomen, und erhole dich lieber hier in der Kühle von deinem nicht ungerechtfertigten Erstaunen.«

Rückwärts in die Stube gewendet, rief er:

»Junge Frau, es kommt wahrhaftig noch ein Mensch!«

»Ach Herrje, Herr Burgemeister, nun reden Sie doch nur nicht so! So schlimm bestellt ist das doch nicht mit dem Verkehr bei der Witwe Wetterkopf, wie Sie auch wohl recht gut wissen, Herr Burgemeister.«

»Quellnymphe, kippen Sie gefälligst mal Ihre Urne um, das heißt, junge Frau, stellen Sie diesem Jüngling einen Frischen hin und – mir auch! Du aber, mein Sohn, komm noch einmal, und zwar jetzt ganz in meine Arme und sodann auf die Bank hier mir gegenüber. Menschenkind, das ist ja ein ganz verrückter, ein ganz glorreicher Einfall von dir, da auf der Chaussee so mir nichts dir nichts mit den alten Farben daherzuwandeln. Steigt dir ein Halber! Und nun – wie kommst du denn eigentlich auf diese wahnsinnige Idee und, noch einmal, wer bist du eigentlich, enthusiastische jugendliche Kreatur?«

»Man hat mich geschickt, und da ich dich hier sitzend wußte, so bin ich halb und halb von selber gekommen. Sonst aber falle ich leider nur in dein letztes Semester, und mein Name ist Grünhage.«

»Dafür kommt dir der Rest!« sprach der weise Seneka würdig gerührt. »Witwe, legen Sie Ihren Strickstrumpf noch einmal für einen Moment nieder.«

Die Witwe tat das, ohne daß die Aufforderung im Grunde nötig gewesen wäre. Als sie mit den beiden gefüllten Krügen wiederkam, seufzte der Bürgermeister von Wanza:

»Ein wenig lak; aber doch von zarter Hand kredenzt.« Und zu dem Kommilitonen hinüberblinzelnd, zitierte er:

»Du bist das schönste Weib auf dieser Erde.«

Ärgerlich lachend aber versetzte die Witwe:

»Herr Burgemeister, das hat mir noch kein Mensche gesagt! Sie aber, junger Herr, wenn Ihnen der Herr Burgemeister wirklich schon von länger her bekannt ist, so wissen Sie auch wohl, wie man sich mit ihm in acht nehmen und mit ihm Geduld haben muß.«

»Geduld, Geduld! wer sollte sie nicht haben?
Hat doch der Himmel selbst Geduld!«

zitierte der Weise von neuem, wenn auch das Seinige hinzugebend. »Übrigens, liebliche Witib, kannst du itzo für einen gewissen unbestimmten Ausschnitt der Ewigkeit deinen Strumpf dreist wiederaufnehmen und noch dreister hier auf der Bank näher rücken; wir reden jetzt nur von Familiengeschichten. Und nun rücke auch du heraus, heiterer Knabe, und teile uns mit, wie du grade heute auf den korrupten Einfall fällst, zu Fuß deinen Leichnam durch den Sonnenbrand gen Wanza zu tragen. Wahrlich, du dämmerst mir von Moment zu Moment mehr aus dem Sonnenuntergangsrot meiner bessern Tage auf! Ohne Flausen, Grünhage! Du pilgerst daher, und ich wünsche nunmehr Verstand in diese deine Pilgerschaft zu bringen.«

Die Witwe Wetterkopf rückte mit ihrem Strickzeug (»Geben Sie dreist um die Wade noch einige Maschen zu!« sagte der Bürgermeister) wirklich näher; doch setzte sie sich jetzt lieber auf die Bank des Studenten, als daß sie auf der des Bürgermeisters von Wanza an der Wipper mit Platz genommen hätte. Der Philologe aber hatte vor keinem von den beiden Geheimnisse. Er erzählte einfach, wie sich die Sache gemacht habe, gab ziemlich ausführlichen Bericht über seine Zustände zu Hause, und als er geendet hatte, bemerkte der weise Seneka ebenso einfach:

»Einen gloriosen Einfall nenne ich dieses also nicht mehr, wohl aber eine höchst behagliche Verkettung der menschlichen Schicksale. Würde die Witwe mitreiben, so würde ich dir den Vorschlag machen, sofort einen Salamander auf deinen Alten, deine vier Schwestern und vor allem auf jene unter ihnen, die du Katharina nennst und nicht ohne Grund zu loben scheinst, zu reiben. So aber trinke ich nur andächtig einen Ganzen auf ihr Wohl. Ländliche Schöne, lege das für deine verführerischen musculi peronei bestimmte Gespinste noch einmal hin –«

»Wenn Sie noch einen Schoppen haben wollen, bitte, so sagen Sie es deutsch!« sagte die Wirtin ein wenig sehr spitzig.

»Denn auf deine Tante Sophie trinke ich speziell noch einen Halben!« brachte der Herr Bürgermeister seine Rede zu Ende, ohne sich stören zu lassen.

»Du kennst sie also, liebster Dorsten?« fragte der Student.

»Kennen? Noch lange nicht genug! Aber jedenfalls habe ich sie im gegründetsten Verdachte, daß sie mich ganz genau kennt und – weiß, was Wanza an mir haben konnte und – jetzo wirklich hat. Wenn einer was dazu getan hat, daß ich das Konsulat dort, die Liktoren und Faszes erlangte, so ist's die Frau Rittmeistern. ›Jetzt blamiere du mich nur nicht zu arg, lieber Ludewig‹, hat sie mir wenigstens oft genug vorgehalten, mich, nachdem die Regierung meine Wahl bestätigt hatte, am Ohr nehmend. ›Hätte deine selige Mutter dich mir nicht so sehr auf die Seele gebunden, so hätte ich mir doch vielleicht einen noch etwas mehr zur Vernunft gekommenen und zu sonst nichts zu gebrauchenden Auskultator ausgesucht.‹ Jaja, außer mir ist sie, deine brave Tante Grünhage nämlich, die einzige anständige Person in dein Neste dort.«

»Dies hätte nun mal wieder unsere Kegelgesellschaft vernehmen sollen, Herr Burgemeister!« lachte die Witwe Wetterkopf.

»Siehst du, Bruder«, seufzte der weise Seneka. »So weiß selbst dieses einfache Weib in der hiesigen Welt- und Kulturgeschichte Bescheid! Aber die Sonne sinket, Neffe Grünhage; wie ist's, sollen wir den Mondenaufgang abwarten oder der Hähne widerwärtig Gekrähe wie – schon sonst mehrere Male? Oder sollen wir gehen? Willst du im rötlichen Abendgold Arm in Arm mit mir in Wanza einwandern, oder wünschest du dich lieber allein einzuschleichen, sowohl in die Stadt wie auch in der Tante Testament? Vier Schwestern! Reizende Besen selbstverständlich allesamt; aber auch allesamt mit einem unergründlichen Backfischappetit begabt und auch sonst etwas kostspielig zu erhalten für einen weißhaarigen Erzeuger! Als mein Alter mich in die Welt gesetzt hatte, muß ich wohl alle seine Wünsche in dieser Hinsicht befriedigt haben. Jedenfalls hat der verdrießliche alte Hahn an mir vollkommen genug gehabt, und ich bin – unser Einzigstes geblieben. Dessenohngeachtet aber kann ich mich vollständig in deine Situation hineinversetzen, Knabe. Vier Schwestern! So ungleich verteilt das Glück seine Gaben. Ich habe Augenblicke, wo ich viel für eine einzige von so vielen geben würde.«

»Holen Sie sich doch eine davon!« sprach die Witwe Wetterkopf. »Übrigens, junger Herr, habe ich es schon gesagt, Sie kennen den Herrn Burgemeister; aber glauben Sie nur ja nicht, daß er immer so ist und spricht wie hier bei mir, wenn er so einmal einen Nachmittag bei mir allein sitzt. Und was die Frau Rittmeistern betrifft, so läßt keiner in Wanza und Umgegend was auf sie kommen.«

»Mach deine Rechnung mit – dem Konsul von Wanza, Wirtin!« brummte der Bürgermeister von Wanza. »Und du, Grüner, zahle auch und leihe mir deinen Arm. Wir wandern leise, bedachtsam und langsam durch jene Pappelallee unserm fernern Geschicke entgegen. Bist ein famoser Kerl geworden, Grüner, und jetzt erinnere ich mich deutlich daran, daß ein sympathisches Etwas mich durch alle Biernebel einer schönern Vergangenheit zu dir hinzog und mir ins Ohr raunte: dies Kind wird noch einmal dein Trost in einer Zeit, von der du heute abend und hier auf der Kneipe noch nicht die blasseste Ahnung hast, liebster Ludwig!«


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