Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Unter den Bäumen im Garten war's an diesem Abend natürlich zu feucht für uns. Die Mühlstube war schon vollgepfropft mit Handwerksgerät; in der Gaststube hatte, wie berichtet, der Architekt seine Pläne ausgebreitet liegen, und – ich kann nicht sagen, daß ich nicht gewußt hätte, wie es zuging, daß es sich grade jetzt mit schärfster Deutlichkeit in die Erinnerung drängte, wie Doktor Felix Lippoldes da gelegen hatte; – es war das beste, daß wir uns wieder an unser Stübchen im Oberstock hielten und nur die laue Luft und, wieder einmal, das Wetterleuchten von ferne zu uns ließen durch die weit offenen Fenster.

Ich hielt meine alte, melancholische Pflegerin in diesen unsern letzten Tagen und Nächten in Pfisters Mühle so viel als möglich in meiner Nähe. Sie saß also auch jetzt am Tisch mit ihrem Strickzeug. Ich und mein Weibchen lagen wieder Seite an Seite im Fenster und atmeten den wohligen Duft der Nacht ein.

Es war, als rauschte der kleine Fluß munterer denn je, und auch Emmy fand das und stieß mich an und sagte: »Hör nur, wie lebhaft dein Bach diesen Abend ist! Es muß im Gebirge wohl noch stärker als hier im flachen Lande gegossen haben.«

»Das müßte dort gestern oder vorige Nacht gewesen sein«, meinte Christine. »So lange dauert es wohl an, ehe so ein Wolkenbruch aus den Bergen bei Pfisters Mühle anlangt.«

»Die Zeitung heute abend weiß schon davon«, sagte ich.

»Ja die Zeitung, die Zeitung«, murmelte die Alte am Tische. »Was wissen die Zeitungen alles! Wie schnell oder wie viel zu spät wissen sie alles und schreiben über alles, was sie wissen und nicht wissen. Erinnerst du dich wohl noch, Ebert, wie sie damals nach geschehenem Unglück über den armen Papa von Frau Albertine redeten? Dein seliger Vater las es uns vor, und uns allen standen die Tränen in den Augen, die blutigen Reuetränen, daß wir ihn in der Welt so wenig ästimiert hatten, da er es doch so sehr verdiente. Selber ich in meiner armen, dummen Seele mußte mit in Wehmut in das Gefühl einstimmen, daß wir alle so sehr zu der schlechten, unverständigen, undankbaren Welt gehörten, die keinen großmächtigen, berühmten Menschen zu taxieren wüßte.«

»Was sagten denn diese dummen Zeitungen, Christine?« fragte Emmy, lächelnd sich umwendend.

»Nun, im Grunde wuschen sie nachträglich sich nur selber die Hände in Unschuld und schoben alles auf uns, die schlechte, unvernünftige Welt, daß er bei Pfisters Mühle aus dem Wasser gezogen worden sei.«

»Barmherziger Himmel – Ebert?!« stammelte die arme Kleine. »Aus unserm hübschen Bache da? Hier aus dem Wasser? Oh das mußt du mir auf der Stelle ganz genau erzählen. Das ist ja zu schrecklich interessant! Mein Gott, dann hat er aber auch wohl hier in eurer Mühle auf dem Stroh gelegen? Ich habe bei Berlin auch einmal ein junges Ding von Mädchen auf dem Stroh liegen sehen. Ich hatte den Papa endlich auch einmal von seinem Kirchhofe weggekriegt, und wir hatten eine Pfingsttour nach Pichelswerder gemacht, und ich vergesse das in meinem ganzen Leben nicht!«

Ich hatte doch wohl die Nerven der Großstädterin und der lieben Weiberchen überhaupt ein wenig zu sehr unterschätzt, da ich ihr wie alle andern den unheimlichen Spuk von Pfisters Mühle verheimlichte. Nun durfte ich schon mit ziemlichem Gleichmut sagen: »Es hängt mit dem übrigen zusammen, Liebste, – ganz genau mit der Geschichte von Adam Asche und Albertine, und da Christine und du einmal daran gerührt habt, so kann ich die Tragödie Felix Lippoldes' wohl auch zu Ende erzählen, ohne dich zum Gruseln zu bringen in den letzten Nächten auf meines Vaters Erbe.«

»Na, na, Närrchen! Bist du nicht bei mir? Etwas andres wäre es wohl, wenn ich hier ganz allein säße mit deinen Gespenstern. Und dann, erinnere dich nur, Papa hat mich doch lange genug auf seinem lächerlichen Kirchhofe spazieren geführt, als daß ich nicht mit den Geistern auf dem besten Fuße und du und du stehen sollte. Und noch dazu als geborene vernünftige Berlinerin!«

Sie nahm meine Hand von der Fensterbank auf, hob sie zu ihrem Munde und ließ ihren lieblichen, warmen, lebendigen Atem drüberwehen und lächelte:

»Erzähle nur dreist zu. Grade weil es unsere letzten Stunden hier bei euch sind, paßt es um so besser drein, Und erzähle im einzelnen – halte mich nicht für zu dumm in euern Wissenschafts- und Literaturgeschichten; im großen ganzen wußte ich ja auch schon ohne dich und die Christine davon. Papa las ja auch die Zeitungen und manchmal ein Stück laut, und ich gab darauf hin und wieder acht, wenn ich damals auch nur ein albernes Schulkind war und an andere Dinge zu denken hatte. Nur daß es grade eure Mühle war, die durch Frau Albertinens armen Papa so romantisch und interessant werden sollte, wußte ich nicht.« – –

Ich weiß nicht, ob die Geschichte vom armen Felix Lippoldes so romantisch gewesen ist wie die des jungen Mädchens bei Pichelswerder; jedenfalls erzählte ich sehr gelassen weiter, und auch mir selber rede ich hier auf diesen Blättern noch einmal davon. –

Ich hatte in Berlin die ersten Semester meiner Studienzeit zugebracht, und ich war auf andern Universitäten Studierens halber gewesen. Nun saß ich wiederum ernstlicher über den Büchern in Berlin und verkehrte wieder mit meinem frühern Mentor A. A. Asche. Und wie früher verschwand er auch jetzt dann und wann aus der Mitte seines energischen Tun und Treibens, wenn auch auf kürzere Zeit. Aber er verschwand nicht mehr in die weite Welt, sondern ich wußte stets genau, wohin er ging, nämlich nach Pfisters Mühle.

Ich habe es nachher mit tiefer Rührung sehr eingehend erfahren, wie die beiden, der Vater und der Freund, nicht nur ihre klugen Köpfe, sondern auch ihre braven Herzen zusammengelegt haben, und zwar nicht bloß zum Besten des großen Prozesses Pfisters Mühle contra Krickerode. Letztern betrieb Doktor Riechei von Instanz zu Instanz mit wechselndem Erfolg, und es ging wieder einmal gegen Weihnachten, als wir vor der letzten standen und ihn gewannen, ohne daß das Abendrot über Pfisters vordem so fröhlicher Mühle dadurch eine Stunde länger am Himmel hätte festgehalten werden können.

Es war ein Nachmittag, wie ich schon einmal beschrieben habe in diesem Sommerferienheft: Schnee in der Luft, Wind in den Gassen, die Gedanken in der Ferne und mancherlei unbestimmt Bangen und allerlei übler Geruch nahebei und umher. Wie damals meine Schuljahre, so lag jetzt meine Studentenzeit so ziemlich hinter mir. Am Fenster saß ich wieder, wenn auch nicht das Kinn auf beide Fäuste stützend und an den Schulrat Pottgießer in Verbindung mit all den vergangenen lustigen Christbäumen von Pfisters Mühle denkend. Aber an Pfisters Mühle, Vater Pfister und seine fröhlichen Weihnachtstannen dachte ich, und – wieder – wie damals – kam ein Schritt die Treppe herauf, und jemand klopfte an meine Tür – und beinahe hätte ich im Zwischenlichtshalbtraum wieder gerufen:

»Alle Wetter, das ist ja der Alte! Was will denn der Alte heute noch und so spät am Tage in der Stadt?«

»Ich bin's, mein Junge«, sagte Doktor A. A. Asche, und er legte mir seine Hand fast so schwer auf die Schulter wie damals mein verdrußgequälter, sorgen- und kummervoller Vater. »Eberhard Pfister, du bist ein belesener junger Mensch, Philologe noch dazu, – erinnerst du dich vielleicht eines der kleinern Meisterwerke erzählender deutscher Dichtung, welches beginnt: Ein Knabe aß, wie viele Knaben, die Datteln für sein Leben gern –«

»Und um der Datteln viel zu haben,
Pflanzt er sich einen Dattelkern«,

stammelte ich.

»Ganz richtig, Telemachos, oder so ungefähr. Nun denn, jener Knabe war ich, aber wenn auch nicht ethisch aufgepusteter, so doch um ein erkleckliches schlauer, als mir der Fabulist in seinen Reimen nachsagte.«

»Du redest wahrlich in Rätseln, Adam.«

»Keineswegs für den nur mit einigem Weltverständnis Begabten. Wer nicht seiner Palmen Keime in ein Mistbeet pflanzt, wird sehr selten Datteln davon in seine eigene Tasche, für sein eigen Maul herunterholen. Non olet, wie der römische Allezeitmehrer sagte. Ich werde es durchsetzen, und wie Mr. François Marie Arouet, genannt de Voltaire, werde ich Geld machen, um meine Meinung und jedem Lumpen das, was er wert ist, sagen zu können. Im nächsten Frühjahr legen wir den Grundstein zu A. A. Asches eigenem Erdenlappenlumpenundfetzenreinigungsinstitut am Ufer der grauen Spree. Du reisest morgen nach Hause, und ich fahre mit dir und feiere noch einmal, mit gewaschenen Händen, mit euch Weihnachten in Pfisters Mühle.«

Ich tat einen jauchzenden Schrei:

»Asche, das ist ja wundervoll!«

»Durchaus nicht«, seufzte der Freund und Exmentor. »Mir ist ziemlich öde und katzenjämmerlich zumute.« – –

Man kann nicht immer auf den Ellenbogen in der Fensterbank liegen, wenn die Nacht draußen auch noch so schön und duftig ist. So traten wir in den Lichtkreis von Christinens kleiner Lampe zurück; aber wir saßen nicht nieder am Tisch, wir saßen auf unsern Reisekoffern einander gegenüber und verplauderten so den Rest des Abends.


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