Wilhelm Raabe
Pfisters Mühle
Wilhelm Raabe

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Fünftes Blatt

Hinter dem Beutelkasten und unter den Kastanien

Wie wunderlich das für mich heute ist, mit dem lieben jungen Weib und der alten Christine in unserer alten Küche und unserm wohlgegründeten behaglichen Heim in der großen Stadt in diesen abgezählten Sommertagen von der guten alten Zeit in Pfisters Mühle zu träumen und zu schreiben! Wie sind trotz der sonnigen, hoffnungsreichen Gegenwart jene anderen, gleichfalls zu- und abgezählten Tage und Stunden in dem muffigen, dunkeln Winkel nach hinten hinaus gleichfalls zur »guten alten Zeit« für mich geworden!

Von dem Latein, das mir darin, wie mein gelehrter Freund Asche das nannte, »verzapft« wurde, werde ich reden müssen. Ich weiß heute noch nicht, wie eigentlich meine Begabung dafür ist, aber das weiß ich genau, daß wir uns damals in dieser Hinsicht auf das Notwendigste beschränkt haben.

»Es ist Ihr Junge, Vater Pfister, und so haben Sie gewissermaßen die Berechtigung, mit ihm anzufangen, was Sie wollen. Mensa bringe ich ihm schon bei; was er nachher auf den Tisch zu stellen hat, ist Ihre und seine Sache«, sagte Studiosus Asche. »Was mich anbetrifft, so wissen Sie, daß mein Alter insolvent starb und Schönfärber war.«

»Und daß von meines guten Freundes, Ihres Vaters, Kunst, Wissenschaft und Sinnesart vielleicht grade das auf Sie übergegangen ist, was Sie brauchen und was andern Leuten bei Gelegenheit auch wieder nützlich werden kann. Auf einmal kann man selten das Beste zugleich haben, so zum Beispiel den Verstand in der Welt und das Glück in ihr. Sie ständen sich selber im Lichte, wenn Sie von Ihrem seligen Vater mit der geringsten Despektion reden wollten, Herr Asche.«

»Bei den unsterblichen Göttern!« ist die ruhige, gewissenssichere Antwort gewesen. »Was würde aus mir armen Waisenknaben geworden sein und werden, wenn nicht wenigstens ein Bruchteil vom Talent des Alten, die Dinge in der Weit schönzufärben, auf mich übergegangen wäre? Sie wissen, Vater Pfister, es ist so ziemlich das einzige, auf was die Gläubiger beim Ausschütten der Masse keinen Anspruch erhoben.« –

Das ist wahr. Ich habe nicht einen zweiten Menschen kennengelernt, der mit gleicher Fähigkeit, den Beschwerden dieser Erde eine angenehme Färbung zu geben, versehen gewesen wäre, wie mein erster, über den Dorfkantor hinausreichender Lehrmeister in unserm Hinterstübchen. Auch die unvermutete, »aus dem blauesten Himmel hereinbrechende« Störung seiner »Wald-, Feld-, Wiesen- und Pfistersmühlen-Faulheit« überwand er, und die Stunden, während welcher mein Vater uns beide hinter Schloß und Riegel hielt, gingen viel glatter und behaglicher vorbei, als wir es uns beim Beginn der ersten vorgestellt hatten. Es sitzt mehr als eine grammatikalische Regel wahrscheinlich nur deshalb heute noch bei mir fest, weil ich zugleich mit ihr noch das entfernte fröhliche Getön des Gartens und das nahe Rauschen der Mühlräder im Ohre habe.

»Drei Viertel auf fünf! Noch fünfzehn Minuten, und das Elend liegt wieder einmal hinter uns. Also noch einmal den Kopf zwischen beide Fäuste und drücke dreist etwas fester am Gehirn, Knabe! Siehst du, da haben wir das Gewürm schon draußen, und zwar wie gewöhnlich zum Teil durch die Nase mit: der schwarze Rabe – corvus niger; der angenehme Garten (es sind heute die Teutonen, die sich da den Hals abbrüllen und die kleinen Mädchen anrenommieren!) – hortus amoenus; das schwere Geschäft – negotium difficile. Der Eierkuchen mit Schnittlauch, der uns für später in Aussicht gestellt wurde, ist auch nicht gänzlich zu verachten. Noch einmal mit der Nase in den Schoß der Weisheit! Drücke – drücke fest: der gierige Bauch?«

»Alvus a-vi-dus, Herr Asche.«

»Avida, Esel! Keine Regel ohne Ausnahmen, mein Sohn. Die große Futterschwinge?«

»Vannus magna«!

»So machst du mir Freude. Und nun zum Schluß für heute den ganzen Quark noch mal poetisch: Er ir ur us sind –?«

»... Mascula,
um steht allein als Neutrum da.«

»Schön. Solltest du die nichtsnutzigen Ausnahmen auch noch in dieser zum Herzen sprechenden Weise angeben können, würdest du mir eine ebenso kindliche Freude bereiten wie dir selber. Leiere ab, jugendlicher Kitharoede; aber bedenke, daß ich dich immer noch vor Schluß der Stunde lebendig zu schinden imstande bin. Die Städt und Bäume –«

Und während Studiosus A. A. Asche am Tischrande die Faust im Kreise dreht, als drehe er den Griff einer Straßenorgel, leiere ich her.

»Die Städt und Bäume auf ein us
Man weiblich nur gebrauchen muß.
Von andern Wörtern merke man
Sich alvus, colus, humus, vannus an.
Die Wörter virus, pelagus
Sind einzig Neutra auf ein us,
Und vulgus ist daneben auch
Als Neutrum meistens im Gebrauch. –«

»Hurra! Wieder hinein in das Vulgus, und zwar als möglichst komplettes Neutrum!«

Es ist Freund Asche, der das nicht ruft, sondern mit merkwürdig tonloser Stimme seufzt, als riefe ihn des Dorfes Abendglocke nicht aus der tödlichsten Langeweile, sondern aus der innigsten Versunkenheit in alle Freuden der Pädagogik ab. Und es ist mein lieber, verstorbener Vater, der sein kluges, friedliches, lächelndes Gesicht in die Tür steckt und ruft:

»Nun, Kinder? Hübsch fleißig gewesen? Brav was gelernt?«

»Sehr brav – alle zwei, Vater Pfister.«

»Na, dann seien Sie bedankt, Herr Asche, und kommt heraus. Es ist wirklich ein recht amöner Abend und der Garten draußen voll bis zum Platzen. Bis in die Hecken sitzen sie mir. Bringe auch noch euere Stühle hier im Studio mit hinaus, Junge; bis ans Wasser haben sie mir die letzten aus dem Hause hingerückt, und Ihre Herren Kollegen, Herr Adam, haben die ihrigen schon lange höflich an die Damen abgetreten und behelfen sich mit den leeren Fässern und ein paar Brettern drüberhin. Hält diese Witterung so an, so bleibt uns nichts anderes übrig, als daß wir noch ein zweites Stockwerk über dem Pläsier etablieren, nämlich in den Baumästen. Einige von den Herren sitzen schon drin und lassen sich das Getränk in die Höhe reichen.« – – –

Es ist alles vor allen meinen fünf Sinnen.

Es ist kein Zweifel mehr, es ist ein heißer Tag geworden; je mehr die Sonne dem Mittage entgegengestiegen ist, durch desto wolkenloseres Blau schwimmt sie, und die Grillen auf den Wiesen jenseits des Baches hat sie allgemach vollständig berauscht; immer vielstimmiger und schriller dringt deren Lust an mein Ohr herüber. Die Enten rudern leise gegenüber im Schilfrohr; als der Schatten eines großen Raubvogels, der mit schwerfälligem Flügelschlag einem fernen Gehölz zuzieht, auf das Land fällt, hebt der letzte Gast in dem einst so lebendigen, jetzt so verlassenen, stillen Garten von Pfisters Mühle unwillkürlich die Hand und sieht sich erschreckt um: Welch ein wunderlich Mittagsgespenst in der schwülen, grünen, goldenen Einsamkeit von Pfisters Mühlengarten! Welch ein bunter, fröhlicher und doch dem letzten Stammgast so sehr das Herz beklemmender Abendzauber jetzt – jetzt zwischen elf und zwölf Uhr, um die Mitte des Tages!...

Der Garten voll bis zum Überquellen! Ist es nicht, als habe sich die halbe Stadt ein Stelldichein in Pfisters Mühle gegeben? Alt und jung bis zu den Allerjüngsten in der Wagenburg von mehr oder weniger eleganten Kinderwagen! Männlein und Fräulein, und die letztern in den zierlichsten, duftigsten Sommergewändern! Lehrstand, Wehrstand und Nährstand! Die Herren Studenten von allen Farben, und einige von ihnen – den Herren Studierenden – wirklich bereits auf den bequemeren Baumästen, wahrscheinlich um von denselben die Sonne bequemer untergehen zu sehen und einen objektiveren Überblick über das Philisterium im ganzen, die hübschen Mädchen und die Mütter der letztern im einzelnen zu haben.

»Vater Pfister! Vater Pfister! Was soll denn das heißen, Samse, daß sich kein Mensch von euch in dieser Region blicken läßt!«

»Es wird eben frisch angestochen, meine Herren«, brummt Samse – unser Samse, ein Drittel Mühlknappe, ein Drittel Ackerknecht, ein Drittel Dorf- und Gartenkellner, und also ganz und gar von der Zipfelkappe bis zu den Nägelschuhen, mit Mehlstaubjacke und Serviette, in Griff und Tritt und Ton vollkommen, unverbesserlich, gar nicht anders zu denken und zu wünschen – Pfisters Mühle! Doktor Asche hat ihn heute in Berlin als alten, behäbigen, weißköpfigen Herrn, hat ihm statt der Müllerjacke einen langen, behaglichen, dunkelgrünen Rock, im Winter mit Pelzkragen ankomplimentiert, ihm einen Lehnstuhl in eine gemütliche Wachtstube neben der großen Eingangspforte hingestellt und gesagt: »Sie halten die Augen wohl ein wenig offen, Samse, und passen mir hübsch auf alles, was ein und aus geht, alter Knabe. Cave canem! Ist der Junge aus den Windeln, so passen Sie mir auch auf den wohl ein bißchen mit, lieber Freund.«

»Wie in Pfisters Mühle, Herr Asche«, hat Samse erwidert, und es ist ganz gut so. Wie würde er uns verkümmert sein bei den gestellten Rädern und zwischen den leeren Tischen und Bänken von Pfisters Mühle! Wie schlecht hätte er sich, auch in meiner Gesellschaft, an einem Morgen wie der heutige auf dieser Bank, an diesem Tisch gegen das zu wehren vermocht, was vorbei war und niemals wiederkommen konnte! Der alte Grobian und getreue Knecht hatte sich eben nur unter den Menschen und nicht auch unter den Büchern umgetrieben. Er hätte nicht seine Gefühle zu Papier gebracht; höchstens würde man ihn nach längerm Suchen und Rufen aus dem Bach aufgefischt oder von einem Strick in einem dunkeln Winkel von Pfisters Anwesen abgeschnitten haben.

»Ich habe eine Vorahnung, daß dich nichts so sehr gegen deine zukünftigen Erlebnisse abhärten wird als eine regelrechte Beschäftigung mit den Wissenschaften, mein Junge«, sagte mein Vater, und – es ist immer in diesem Augenblick noch Sommerabend und Pfisters Mühle in ihrer Glorie ohne Schaden für Leib und Leben in meiner abgehärteten Phantasie. Wie freilich meine Stimmung sein würde ohne Emmys Arbeitskörbchen auf dem Tische und ihr Taschentuch auf der Bank neben mir und ohne die Gewißheit ihres Vorhandenseins in dem stillen Hause unter den Kastanien und Linden hinter mir, soll trotz aller Bücher und Wissenschaften in der Welt eine offene Frage bleiben.

»Geh mir nicht so weit weg, daß ich dich nicht abrufen kann«, ruft eben das süße Herz im weißen Küchenschürzchen von meines Vaters verkauftem Hause her; ich aber habe wahrlich nicht die Absicht und Neigung, jetzt weit wegzugehen.

Das Wasser rauschet neben mir hin,
Als wüßt es, was ich fühle,
Und nimmermehr will aus dem Sinn
Mir die verlassne Mühle;

es wäre auch ein wirkliches und dazu höchst jämmerliches Wunder, wenn das trotz allem, was ich auf und vor Schulbänken und Kathedern zur Abhärtung des »bessern Bewußtseins« in Erfahrung brachte, möglich sein könnte.

Wie viele der Stimmen, die mich damals von allen Seiten her riefen, können mich heute nicht mehr abrufen! Wie groß die Gefahr für meines Vaters Sohn, sich in Stadtkuchen an Dutzenden von Tischen aus Handtaschen und dem Papier der gestrigen Zeitung zu überfressen! Und doch gehe ich den geputzten, feinen Stadtdamen und den kleinen Fräuleins so gern aus dem Wege und ziehe am liebsten in grinsender Dorfblödigkeit den Ärmel unter der Nase her, wenn man mir zuwinkt und zulacht und das Behagen und Wohlgefallen an Vater Pfister auch auf seinen Sprößling überträgt. Am liebsten halte ich mich jetzt bereits so dicht als möglich hinter meinem vor kurzem noch so sehr gefürchteten, gelehrten lateinischen Freund aus dem Hinterstübchen, und es ist möglich, daß ich auch wie er die Hände in die Hosentaschen geschoben halte und dasselbe Stück ihm nachsumme oder zwischen den Zähnen pfeife, wie wir uns zwischen den Tischen hinschieben und die heutigen Gäste von Pfisters Mühle einer mehr oder weniger gemütlichen Betrachtung unterwerfen.

Wahrlich, ich habe nicht bloß die Grundlagen meiner Kenntnis der Römersprache von meinem für einen Strich durch sein Kneipkonto, fernerweitige gute Verköstigung und ein Taschengeld allmonatlich angeworbenen, eigentümlichen Mentor! Freilich ist es in damals erst kommenden Jahren, wo ich vollkommen einsehen lerne, was alles man in Pfisters Mühle und Garten sehen, lernen, in die Erfahrung bringen kann.

In den Tagen, von welchen jetzt die Rede ist, schiebt der gelehrte Freund gewöhnlich so rasch als möglich irgendwo einen krassen Fuchs vom Stuhl, schickt ihn, ganz gegen die Naturgeschichte, gleichfalls am Baum in die Höhe auf den nächsten bequemen Ast und proklamiert das riesigste Bedürfnis, mindestens sechs von den nächsten wiederkäuenden Kamelen abzuschlachten und sie auf den Keller in ihrem Innern zu prüfen.

An diesen Tischen, hinter diesen Stühlen und Bänken hielt ich mich am liebsten auf, und Emmy meinte gestern: »Wenn ich bedenke, unter welchen Gefahren und Verlockungen du hier von Kindesbeinen an aufgewachsen bist, so habe ich meinem Herrgott eigentlich tagtäglich dafür auf den Knieen zu danken, daß ich noch so ziemlich gut davongekommen bin. Dies ist ja gräßlich! Und ein wahres Glück, daß ich bis heute keine Ahnung hiervon gehabt habe und Papa und meine liebe selige Mama ebenfalls nicht! Na freilich, Papa sein Gesicht und seine vergnügte Freundlichkeit hinter seiner Pfeife sind vielleicht auch nicht besser und moralischer, als sie von Gottes und Rechts wegen sein sollten; aber was meine arme selige Mama betrifft, so sollte ich es jetzt wirklich für einen Segen halten, daß sie leider Gottes nicht uns hierher nach deiner entsetzlichen Mühle begleiten konnte und ihre Vorgeschichte gehört hat.«

»Beruhige dich, Kind. Wenn die Rede zu eingehend auf euch süße Herzen, Trösterinnen im Erdenleben, kurz, bessere Hälfte des Menschengeschlechts – Kalypso und ihre Schwestern gar nicht zu erwähnen – geriet, wurde Telemachos vom Mentor stets mit einer Bestellung ins Haus geschickt oder kurz und bündig aufgefordert, sich weiterwegzuscheren.«

»Ich danke«, sagte Emmy, leider in einigem Zweifel, ob sie den Trost wirklich als ein Kompliment aufzufassen habe.

»Und dann – manchmal wurde es ja auch unserm Freund Asche zu arg, und er nahm mich am Arm und verzog sich selber mit mir aus der Brüder wildem Reihen.«

»In den Frieden der Natur!« zitierte Emmy eine der mannigfachen Redensarten ihres Freundes A. A. Asche.


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