Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor
Wilhelm Raabe

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Achtundzwanzigstes Kapitel

»Der Herr Oberst von Bullau?« fragte Lämmert, der soldatische Wirt des Grünen Baumes, als Hans, nüchternen Magens, ganz außer Atem vor ihm erschien, und sehr phlegmatisch wiederholte er:

»Ja, der Herr Oberst von Bullau!«

»Ist er nicht hiergewesen? Hat er keine Bestellung für mich hinterlassen?« rief Hans, der ebenso heiß erschien, als der Wirt kühl war.

»Sie sind der Herr Kandidat Unwirrsch und sind hier einmal mit dem Herrn Leutnant Götz eingekehrt?«

»Jawohl; – ich bitte Sie –«

»Wenn Sie der Herr Kandidat Unwirrsch sind, so sind Sie der Mann; allein, aber – der Herr Oberst von Bullau sind nicht mehr hier.«

»Aber er hat vielleicht eine Bestellung für mich hier zurückgelassen! Ich bin doch hierherbeschieden!«

Von neuem betrachtete Lämmert den Theologen vom Kopf bis zu den Füßen, verschlang das Wort: Putzig! und sagte mit Gelassenheit:

»Vielleicht wissen die Herren im Nest etwas davon, und wenn der Herr Kandidat heute abend zur bekannten Zeit einfliegen will, so wird es Ihm und den Herren angenehm sein.«

Hans Unwirrsch konnte trotz der Versicherung des Wirtes den Gedanken, heute abend die Gesellschaft der Neuntöter zu genießen, nicht so angenehm finden. Er sah befangen auf den Wirt, und der Wirt sah unbefangen auf ihn und meinte:

»Wenn der Herr Kandidate etwas Herz- und Magenstärkendes zu sich nehmen wollten, so würde das an diesem kalten Morgen und bei solcher Gesichtsfarbe nicht von Übel sein.«

»Ja, ich will kommen. Ich muß wohl. Es wird wohl nichts anderes übrigbleiben!« seufzte Hans, Lämmerts menschenfreundliche Anlockung überhörend. Er nahm Abschied von dem Wirt zum Grünen Baum, und wenn derselbe vorhin seinem Herzen nicht Luft gemacht hatte, so tat er es jetzt.

»Sehr putzig!« sagte er, dem Kandidaten Unwirrsch kopfschüttelnd nachblickend: »Solch ein Vogel fehlte uns grade noch.«

Er trat in sein Haus zurück, um irgendeinem nachlässigen Kellner an den Kopf zu fahren, und Hans Unwirrsch eilte, immer noch nüchtern, nach dem Park, der Parkstraße und dem Hause des Geheimen Rates Götz.

Da war es wieder, dieses Haus! Unverändert, frostig elegant, und scheu schlich Hans vorüber und sah nach dem Fenster des Zimmers, welches er selber bewohnt hatte, und sah nach einem andern Fenster. Die wahnsinnige Hoffnung durchfuhr ihn, es müsse jemand an die Scheibe klopfen, um ihn hereinzurufen; aber da es nicht geschah, sagte er sich, daß es nicht geschehen werde, und schlich vorüber, durchkreuzte den Park, kam wieder in die Stadt zurück und suchte die Expedition der meistgelesenen Zeitung auf, um ein Inserat abzugeben.

Er zeigte der Haupt- und Residenzstadt und – dem Fränzchen in dem Hause in der Parkstraße den Tod der Base Schlotterbeck und des Oheims Grünebaum an. Dann trank er in einer Konditorei Kaffee; dann aß er irgendwo mit dem dumpfen Gefühl, dreihundert Taler zu besitzen, zu Mittag, und dann ging er nach Haus und erwartete den Abend. Er war sehr müde und dachte nicht daran, das Manuskript des Hungerbuches von neuem zu beginnen. An die Toten dachte er und an das Fränzchen, und dann stieg er auf den Tisch, um einen Nagel in die Decke zu schlagen. An diesen Nagel hing er die Glaskugel, bei deren Schein sein Vater Schuhe und Gedichte gemacht hatte, in deren Schein seine Mutter saß und ihre Wiegenlieder sang, in deren Schein die Base Schlotterbeck auf ihrem niedrigen Schemel kauerte und ihre Märchen erzählte. Vieles hatte er als Kind, vieles als Jüngling in dem zerbrechlichen Dinge gesehen; nun saß er als Mann dabei und sann nach über das, was sich verändert hatte, und das, was geblieben war. Dann stand er auf und ging ruhiger nach dem Grünen Baum, um von irgendeinem der Neuntöter zu erfahren, was ihm der Oberst von Bullau zu sagen habe.

Er hatte seinen Weg einem heftigen Winde abzukämpfen; aber glücklich langte er zuletzt doch an seinem Bestimmungsorte an und stand in der Tür jenes Gemaches, in welchem man ihm einst so viele und so merkwürdige Geschichten erzählt hatte. Alles noch ganz so, wie es damals war; – der weise Heide Sokrates auf dem Ofen und der alte Schwede Lebrecht Blücher an der Wand! Tabaksdampf zur Genüge, anmutige Dünste von Punsch, Grog und andern heißen und kalten Erquickungen; – ein halb Dutzend Neuntöter um den runden, grinsenden Tisch und der einarmige Herr mit der »wackern« Geschichte von der Wütenden Neiße und dem ausgehungerten Bauernhaus auf dem Präsidentenstuhl!

»Der Herr Kandidatus Drumwisch!« rief Lämmert in den Qualm hinein, und wer dem hilflosen Hans den Rücken zuwandte, drehte sich um, wedelte den Rauch vor den Augen weg und stierte auf den Kandidaten.

»Holla«, rief der einarmige Herr, »eintreten! Tür zumachen! Abtreten, Lämmert – alles in der Ordnung. Hierher, Herr Pastore!«

Da war der Vogel, der bald rechts, bald links war; da war der joviale Vogel mit dem seltsamen Husten; da waren noch verschiedene andere Vögel, die der Kandidat Unwirrsch bis jetzt noch nicht kannte, denen er aber nunmehr vorgestellt wurde, und zwar als ein junger Mann, der imstande sei, mehr zu halten, als er verspreche, und der einmal einen recht brauchbaren Feldprediger abgeben werde.

Sie begrüßten ihn allesamt nach der Art der Neuntöter, und jeder sammelte feurige Kohlen nicht auf dem Haupte des Kandidaten, sondern unter seinen Füßen.

»Sie sind der Mann meines Herzens«, sagte der einarmige Herr. »Setzen Sie sich doch; ein Glas Grog sollen Sie auch haben. Setzen Sie sich; Sie sehen wahrhaftig aus, als ob Ihnen etwas Warmes sehr gut bekommen würde.«

»O Herr Hauptmann«, rief Hans. »Sie werden mir Nachricht von dem Herrn Oberst von Bullau und dem Herrn Leutnant Götz geben können! Ich bitte Sie, sagen Sie mir, was mir die beiden Herren sagen lassen. Ich habe so viel Böses und Trauriges in der letzten Zeit erlebt, daß ich kaum noch weiß, wie ich mich dagegen wehren soll. Es ist nicht etwas Warmes, was ich bedarf. Gestern abend bin ich aus meiner Geburtsstadt hierher zurückgekehrt; ich habe dort meine letzten Verwandten begraben; – ich bitte Sie, teilen Sie mir mit, was Sie mir zu sagen haben.«

»Aber mein Junge!« rief der einarmige Herr, »wahrhaftig, bei meiner Seele! Kommen Sie, setzen Sie sich. Sie sehen in der Tat jämmerlich aus, und da mag der Spaß aufhören. Was haben Sie denn? Was ist Ihnen begegnet? Ich für mein Teil habe Ihnen weiter nichts zu sagen, als daß Sie hinbeordert sind.«

»Hinbeordert?! Wohin?! Zu wem?!«

»Nun, alle Teufel, nach Grunzenow zum Kameraden Götz. Der Oberst wollte Sie auf der Stelle mit sich nehmen und hat nicht wenig räsoniert, als er Sie nicht in Ihrem Bau fand. Er hat mir aufgetragen, Sie ihm zu schicken; das ist aber auch alles, was ich Ihnen sagen kann. Sie tun vielleicht ein gutes Werk an dem Kameraden Götz, wenn Sie sich so bald als möglich auf die Beine machen; der arme Teufel scheint sehr festzusitzen und in großer Not zu sein wegen des kleinen Mädchens, seiner Nichte, die er vor einigen Jahren aus Paris holte. Sie werden die Verhältnisse besser kennen als ich oder irgend jemand hier im Nest. Da war das Fräulein in dem Hause des Geheimen Rates Götz, welches neulich mit dem Juden durch die Lappen ging, und noch manche anderen Dinge. Wir haben allerlei darüber gehört; aber wir halten es nicht für anständig, in den Familientopf der Kameraden zu schnüffeln, wenn das Ding ernst und nicht mit einem schlechten Witz abzumachen ist. Gehen Sie nach Grunzenow zu dem alten, braven Burschen; wer weiß, was für einen Trost er von Ihnen erwartet?«

»Morgen, morgen!« rief Hans, und der Hauptmann gab ihm die Hand, welche nicht nach der Schlacht an der Katzbach den Weg alles Nahrhaften und Delikaten gewandelt war.

»So ist's recht! Sie sind ein wackerer Knabe und gefallen mir ganz merkwürdig, und etwas Warmes sollen Sie trotz allem trinken, und dann rücken Sie heraus mit Ihrem eigenen Elend. Wir haben alle hier um den Tisch unser Teil Trübsal im Ranzen, und ich glaube, mehr als einer läßt manchmal innerlich das Maul hängen, wenn er mit Lachen auf den Tisch schlägt. Auf Ihr Wohl, Herr Kandidate, und nun geben Sie Ihr Ungemach von sich – Feuer!«

Hans sah ein, daß es vergeblich sein würde, sich gegen die gemütliche Teilnahme der Neuntöter zu wehren. Er erzählte deshalb in kurzen Worten von seiner Fahrt nach Neustadt und dem Tode der Base und des Oheims. Als er zu Ende war, tranken sämtliche anwesende Neuntöter auf das Wohl der Base und des Oheims und stießen ihnen zu Ehren die Gläser mit Gekrach auf den Tisch. Sie hatten auf diese Weise schon manchem Kameraden die »letzten Honneurs« gemacht; es blieb Hans nichts übrig, als sich im Namen der Base Schlotterbeck und des Oheims Grünebaum zu bedanken. Die Sache hatte nichts Lächerliches und Possenhaftes an sich; – der Kandidat Unwirrsch sprach seinen Dank für die Ehre mit Tränen in den Augen aus. –

»Na, Sie rücken sehr auf Ihrem Stuhle, junger Mann«, sagte der einarmige Hauptmann von der Wütenden Neiße. »Es wäre auch unrecht, Sie hier festhalten zu wollen; machen Sie, daß Sie fortkommen, und gehen Sie nach Grunzenow. Der Mensch kann gesund von manchem Schlachtfeld marschieren, und wenn er ein gut, treu Angedenken für die behält, welche darauf verfaulen müssen, so wird's ihm niemand übelnehmen, wenn er daneben an das kommende Quartier denkt, ob's trocken, behaglich und wohlverproviantiert sein wird. Bestes Glück für die Zukunft, Herr Kandidate, marschieren Sie auf Grunzenow und grüßen Sie die beiden alten Kameraden, Schwerenöter und Neuntöter dort – wir wären alleweil noch auf dem Zweig; aber der Kamerad Öchsler sei weggeblasen worden und wir hätten ihm vorgestern das Geleit gegeben.«

Um den Tisch ging Hans, und jeder Neuntöter schüttelte ihm die Hand. Lämmert gab ihm das Geleit bis zur Haustür, nachdem er ihm eigenhändig in den Überrock geholfen hatte.

»Es ist mich eine kuriose Ehre, Herr Pastore«, sagte er. »Ich werde mich freuen, Sie bei Kräften und bei besserer Witterung wiederzusehen. Meine gehorsamste Empfehlung an den Herrn Leutnant und den Herrn Oberst.«

Auch dem Herrn Wirt zum Grünen Baum drückte Hans die Hand und merkte erst zu Hause, welch ein schwerer Gegenstand ihm unterwegs fortwährend gegen den Schenkel geschlagen hatte. Eine wohlverpichte Flasche alten Rums war's, gewickelt in einen Bogen weißen Papiers mit dem Vermerk von Lämmerts Hand:

Zur Erquicklichkeit und Tröstung
unterwegens!

Nach Grunzenow! Nach Grunzenow! Alle Ermattung war verschwunden, alle Steifheit aus den Gliedern gewichen. Mit weiten Schritten durchmaß Hans Unwirrsch beim Schimmer der schwebenden Kugel sein Gemach und überlegte. Der Gedanke, mit dem Leutnant Rudolf Götz über das Fränzchen und über das Haus des Geheimen Rates zu reden, stand so hell in seiner Seele, daß alles übrige davor mehr oder weniger in die Dunkelheit zurückwich. Ja, das war das Rechte: nach Grunzenow, nach Grunzenow zu dem Leutnant Rudolf! Dort war Rat und Hilfe; von dort aus mußten sich alle diese Wirrnisse lösen. So leicht ums Herz wie in dieser Stunde war's dem Hungerpastor lange nicht gewesen!

Noch an demselben Abend wurde die taube Wirtin von der neuen Reise in Kenntnis gesetzt, und sie legte eine schickliche Verwunderung darob an den Tag. Hans Unwirrsch suchte von neuem sein Reisegepäck zusammen, und am folgenden Tage um Mittag folgte er bereits dem Rufe des Leutnants Rudolf Götz, nachdem er noch einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, den Geheimen Rat Theodor Götz zu sprechen. Schnöde wurde er von Jean, dem Bedienten, abgewiesen, unter dem Vorgeben, der Herr sei nicht zu Hause. Die Karte, die er zurückließ, gelangte ebenfalls nicht an den Ort ihrer Bestimmung, Jean steckte sie aus alter Anhänglichkeit an den früheren Hauslehrer an den Spiegel seiner eigenen Kammer, wo sie neben einer Pfauenfeder, sechs neuen schönen Liedern, gedruckt in diesem Jahr, und einem Billetdoux der Köchin ein verfehltes Dasein fristete.

Nordostwärts lag diesmal der Weg des Kandidaten Unwirrsch, und mit welcher Hast sich auch die Räder des Dampfwagens drehen mochten, sie rissen den hungrigen Hans doch nicht schnell genug vorwärts. Er sehnte sich allzusehr nach Grunzenow und dem alten gichtbrüchigen »Bettelleutnant«, der dort dem Oberst von Bullau »auf der Tasche« lag.

Seiner diesmaligen Reisegesellschaft wußte er sich später in keiner Weise zu entsinnen; nur das wußte er, daß sich die Leute mit dem Titi und dem Klapperschlangenkasten nicht darunter befanden und daß er den mürrischen Herrn von damals fest herbeiwünschte als Dämpfer seiner Aufregung.

Was hatte er alles dem Leutnant zu berichten? Was konnte der Leutnant zu diesem und jenem sagen? Wie mochte der Leutnant über sein Verhalten im Hause des Geheimen Rates denken?

Und dazwischen fuhren dann wieder die Gedanken an die beiden Särge und Gräber zu Neustadt, an den schweren Schlüssel, den er auf dem Kirchhof in der Hand gehalten hatte, an das alte Haus in der Kröppelstraße, das nun einem andern gehörte, trotzdem daß er darin geboren und daß seine ganze Verwandtschaft darin gestorben war.

Wahrlich, die Gedanken wirbelten schneller im Kreis, als sich die Räder um ihre Achse drehen konnten. Weder Kälte noch Hunger fühlte Hans auf dieser Fahrt, und die erquickliche und tröstliche Flasche des wackern Wirtes zum Grünen Baum hatte er in der Grinsegasse vergessen, ohne mehr an sie zu denken als an das Manuskript des Buches vom Hunger. Wohl aber dachte er viel an jenen Abend im Posthorn zu Windheim, wo er den Leutnant Götz und das Fränzchen zum erstenmal in seinem Leben sah, dann auch an die betrübten Tage in Kohlenau und jenen Tag, an dem er im Fichtengehölz saß, auf das gute Glück wartete und den Herrn Leutnant um die Waldecke traben sah. An jene Wanderung nach der großen Stadt dachte er, jene Wanderung, während welcher er zuerst ausführlich die Geschichte der drei Brüder Götz und des Fränzchens vernahm. Als die neue Nacht kam und die vor den Fenstern des Wagens vorübergleitende Landschaft sich den Blicken entzog, dachte er an jenen Hügel, auf dem er mit dem Leutnant Rudolf stand und bänglich hinabsah auf das feurige Leuchten und auf die Bewegung der Hunderttausende horchte.

In wie weiter Ferne das alles hinter ihm lag! Wie sich Menschen und Dinge, das eigene Ich und die Welt seitdem verändert hatten! Es kam in dieser Stunde über den hungrigen Kandidaten Johannes Unwirrsch gleich einem ernsten Vorwurf, wie er so oft scheu und gebrochen sich in sich selber zurückgezogen habe, wo er mutig und tapfer sich und sein Gefühl, das, was er für das Rechte, Gute, Schöne und Wahre hielt, vor aller Gegnerschaft hätte verteidigen müssen. Er mußte es sich gestehen, daß er nicht überall für seine Ansichten und Wünsche so selbstbewußt eingetreten sei, wie es sich von Rechts wegen gehört hätte. Er dachte an Moses Freudensteins unbesiegbaren Willen und ließ das Haupt sinken und schämte sich der eigenen Weichheit. Als der Zug hielt, war er ziemlich besorgt über den Empfang, den ihm der wackere Leutnant Rudolf in Grunzenow bereiten werde, und ängstliche Träume quälten ihn die Nacht hindurch in seinem ungemütlichen Gasthofzimmer. In diesen Träumen stellte der Leutnant ein scharfes Examen mit ihm, dem Kandidaten, an, und dieses Examen fiel nicht ganz zu seinen Gunsten aus.

Am folgenden Morgen verfiel der erwachte Träumer wieder der Post, und zwar sehr früh am Tage. Die Laternen auf dem Posthofe, die Laternen in den Händen der Schaffner, Stallknechte und Postillone hatte auch nichts von dem geheimen Reize, den wohl anderer Lichter- und Feuerschein haben kann. Der Wind auf dem Posthofe war widerlich zudringlich, und die Atmosphäre in der Passagierstube war widerlich ohne Beiwort. Es schwebten vereinzelte Schneeflocken in der Luft, und es waren, alles in allem genommen, Gründe genug für den reisenden Menschen vorhanden, sich unbehaglich zu finden; den Kandidaten Unwirrsch fror, aber er fühlte sich gehoben und bot männlich jeder Unverschämtheit der Menschen wie der Witterung Trotz. Er setzte sich fest auf seinem Sitze, als der schwerfällige Räderkasten aus dem Posthofe rumpelte. Viele verkümmerte, schmutzige Städtchen, Flecken und Dörfer sah er, und eine wechselnde Reisegesellschaft aus allen Ständen sah er auch. Langgelockte Männer in schwarzen Kaftans stiegen ein und aus unterwegs und dufteten nicht angenehm. Hans sprach hebräisch mit ihnen.

Lang war die Fahrt, und die Schneeflocken in der Luft mehrten sich, man blieb stellenweise im Schlamm stecken und arbeitete sich mit Energie wieder heraus. Auf polnisch und auf deutsch wurde arg geflucht und ein Jude von den Vorspannbauern durchgeprügelt. Auch Hans sollte durchgeprügelt werden, aber er war diesmal der Sachlage gewachsen. Er sprach lateinisch und griechisch mit den Lümmeln, die ihn am Kragen genommen hatten; da bekamen die rohen Gemüter Respekt, und ihre schmierigen Fäuste ließen den Kragen fahren.

Weiterarbeiteten sich die müden Gäule durch endlose Nadelholzwaldungen, bis gegen Mittag ein kleines Städtchen in öder, unfruchtbarer Heidegegend erreicht wurde. Bis hierher »ging die Post«, aber weiter ging sie nicht; die königliche Post- und Eisenbahndirektion wußte nichts von Grunzenow, dem Oberst von Bullau und dem Leutnant Götz.

Im kniehohen Schmutz versank der Kandidat Unwirrsch auf dem Forum dieses hochpreislichen Gemeinwesens, als er aus dem Postwagen stieg, und großes Aufsehen erregte seine Erscheinung sowohl unter den Eingeborenen, die einen Kreis um den Postwagen schlossen, als auch unter denen, welche die den Marktplatz umgebenden Häuser bewohnten.

Freudenstadt hieß der Ort; doch woher und weshalb er grade diesen Namen empfangen hatte, das hatte noch kein der vaterländischen Geschichte kundiger Mann enträtseln können. Selbst der Steuerinspektor, der am hiesigen Platze geboren und eine Autorität in allen Dingen, welche denselben betrafen, war, der Steuerinspektor von Freudenstadt, der seit mehr als zwanzig Jahren eine Abhandlung über den Götzen Triglaff herausgeben wollte, sah hierin nicht klar und gestand seufzend seiner Gattin, die nicht am Platze geboren war, zu, daß Freudenstadt jedenfalls kein Aufenthaltsort für gebildete Menschen und geistig strebende Naturen sei.

Aus der innabilis unda des Marktes rettete sich der Kandidat Unwirrsch mit Mühe und Gefahr auf eine höher gelegene Stelle, von welcher aus er sich nach dem Wege gen Grunzenow erkundigen konnte; und das versammelte Volk umdrängte ihn und öffnete die Mäuler, um ihm die gewünschte Auskunft zu geben. Aber das Schicksal, das dem Menschen nicht immer wohlwill, hatte es gefügt, daß die Frage nicht in dem rechten Augenblick gestellt worden war. Zwölf Uhr schlug's auf dem Kirchturm von Freudenstadt, und sämtliche anwesende Bewohner von Freudenstadt schlossen mit einem Ruck die zur Antwort geöffneten Kau- und Schluckorgane, drehten sich mit einem Ruck auf den Hacken und gingen davon – ohne Antwort, ein jeglicher zu seinem Mittagessen. Mit offenem Munde aber stand Hans Unwirrsch da und sah ihnen nach; der Eindruck, den diese Pünktlichkeit auf ihn machte, war wahrhaft überwältigend; und wenn die alten, schiefen Giebelhäuser sich ebenfalls umgedreht hätten und abmarschiert wären zum Essen, so würde das kaum noch seine Verwunderung erhöht haben.

Die alten, schiefen Häuser blieben jedoch an ihrem Platz und sahen den Kandidaten an. Er aber faßte sich und schritt um die Hälfte des Marktviertels vorsichtig durch den Schlamm auf ein Gebäude zu, welches, dem Schilde nach zu urteilen, ein Gasthof sein mußte und das sich als der Polnische Bock auswies. Er trat ein und fand auch hier jedermann am Werke. Sie aßen alle, und niemand hatte Zeit, dem Fremdling auch nur einen Blick zu schenken. Jener müde Wanderer, der in jene Stadt kam, deren sämtliche Bewohner durch ein Zauberwort zu Stein geworden waren, konnte sich nicht verlegener und verlorener fühlen als Hans in Freudenstadt um diese zwölfte Stunde des Tages. Um so merkwürdiger war's für ihn, als ihm der Zufall die magische Formel in den Mund legte, die den Bann, wenigstens für den Polnischen Bock, zerbrach.

Der Name des Oberst Bullau erlöste die Geister wenigstens für einen Augenblick aus den Banden der Materie und brachte den Mastikationsprozeß momentan zum Stillstande.

Der Hand des Wirtes zum Polnischen Bock entfiel bei diesem Namen der große Löffel, und mit offenem Munde sah er auf den Kandidaten, der dastand wie Aladin, nachdem er die Wunderlampe gerieben hatte und der Geist erschienen war, um zu fragen, was dem Herrn gefällig sei.

Von seinem Sitze in der Mitte seines Hausgesindes erhob sich der Wirt zum Polnischen Bock, ein Mann, der dem Oheim Grünebaum höchstwahrscheinlich sehr gut gefallen haben würde.

»Der Herr Oberst von Bullau? Ob ich den kenne? Jawohl kenne ich ihn. Sakerment! Da kann der Herr weit 'rumfragen in der Stadt, ehe er einen findet, der den Herrn Oberst von Bullau nicht kennt. Es ist in der ganzen Stadt kein Hund, welcher den nicht mit Achtung bewedelt. Solch ein höflicher, angenehmer und niederträchtiger Herr, ein nobler Herr! – kommt nicht selten in den Polnischen Bock. Ja, wenn der Herr zum Herrn Obersten von Bullau will, weshalb hat Er denn das nicht gleich gesagt? Toffel, Trine, Louis, dieser Herr ißt in der Honorationsstube zu Mittag, derenweilen angespannt wird! Wir haben unsern besondern Wein für den Herrn Oberst, und Sie sollen ihn kennenlernen.«

Fast gegen seinen Willen wurde Hans von den kräftigen Händen seines Wirtes in die Honoratiorenstube geschoben, wo bereits einige unverheiratete Freudenstädter aus den schreibenden Ständen ebenfalls die Hände zum leckerbereiteten Mahle erhoben und kaum aufsahen vom löblichen Werke. Über das, was man sprach, können wir, ohne uns an unserm Leser zu versündigen, fortschlüpfen; – um ein Uhr hielt ein offenes, bedenklich aussehendes Fuhrwerk vor der Tür, und um zehn Minuten nach eins fuhr Hans über ein noch bedenklicheres Pflaster durch die Hauptstraße von Freudenstadt dem Tore zu, das gen Grunzenow führte. Seine demütigsten Komplimente an den Herrn Obersten von Bullau hatte ihm der Wirt aus dem Polnischen Bock mitgegeben. –

Kahle Felder, steinige Heiden und Nadelholzwaldungen lösten sich wieder im anmutigsten Wechsel ab, aber des Kandidaten Unwirrsch Herz schlug hoch, und hoch trug er seine Nase in der Luft. Es kam ein Wehen von Norden her ihm entgegen, und der Freudenstädter Mann, der neben ihm saß und die beiden Gäule lenkte, sagte, das sei der Seewind und weiterhin werde man schon das Salz auf der Zunge merken.

Die See, die See!

Dem Meere fuhr Hans Unwirrsch entgegen, und wie nach so manchem andern Dinge hatte er sich nach dem Meere gesehnt.

Bezaubert war der Weg, und bezaubert waren die schrecklichen, verwahrlosten Dörfer am Wege. Ein gewisses unbeschreibliches Bangen erfüllte die Seele des Kandidaten, und dieses Bangen galt nicht allein dem grimmig-lustigen Obersten von Bullau und den Fragen, welche der Leutnant Rudolf Götz stellen mochte: die See trug auch ihre Schuld an diesem Schauern.

Nun wechselte Buchenwald mit den Tannenwäldern, viel gebrochenes, kahles Gezweig bedeckte den Boden, und der Fuhrmann fing an, von dem »großen Wind vor acht Tagen« zu sprechen. Durch kahles, hügeliges Land wand sich der Weg, und der Fuhrmann wies auf wunderlich aufgeschichtete Steinblöcke, die auf der Höhe dunkel sich gegen den grauen Himmel abhoben.

»Da sind in der Heidenzeit von den Riesen viele Menschen und Könige geschlachtet«, berichtete er.

Das Rauschen der Wälder verhallte im Rücken, leise zischte der Wind durch das trockene Heidekraut auf den Hügeln, unbekannte Vögel schwangen sich im Kreise in den Lüften, und der Fuhrmann nannte sie Möwen.

Der Fuhrmann stopfte sich eine Pfeife, aber Hans stellte sich aufrecht im Wagen, um sogleich durch einen Stoß desselben belehrt zu werden, daß er seine Gefühle beherrschen und sich jedenfalls wieder setzen müsse.

Wiederum eine kahle Höhe und darüber hinaus ein dumpfes Geräusch – nicht Wind und Wald, sondern die See, die Stimme der See!

»Wenn der Herr jetzt ausstiege, so würde Er ein gutes Werk an seinen gesunden Gliedern und meinen Pferden tun«, sagte der Fuhrmann. »Es geht ein gutes Stück jetzt durchs Moor, und der Sturm vor acht Tagen hat sein Teufelsspiel getrieben. Es geht gradaus nach der See, und der Herr kann nicht fehlen, wenn Er die Ohren offenhält, dort rechts auf dem Fußsteig, 's ist der gradeste Weg auf Grunzenow. Unsereins muß sehen, wie er durchkommt.«

Mit großer Bereitwilligkeit kam Hans dem Wunsche des Fuhrmannes nach und sprang aus dem Wagen. Er hatte doch nur mit Mühe stillgesessen, und es war viel besser, zu Fuße rasch diesem Rauschen und Brausen entgegenzueilen.

Eine Viertelstunde schritt er rasch auf dem angegebenen Fußpfade vorwärts, und lauter und lauter erklang die Stimme des Meeres. Einen letzten Hügel hatte er zu erklimmen; als er oben stand, keuchend, atemlos, da lag es vor ihm, das Meer, da breitete es sich in der fahlen Beleuchtung des Abends, und der Nebel verschlang den Horizont und rollte über die Wasser heran gegen den öden Strand, auf dem tiefer unten zur Rechten rötlich die Lichter aus den Hüttenfenstern von Grunzenow schimmerten.

So hatte sich Hans das Meer nicht vorgestellt. Unermeßlich im hellen Tage, blitzend im höchsten Glanz, den Irdisches geben konnte, war es ihm in seinen Träumen erschienen; – nun war auch das anders, ganz anders, aber er mußte doch die Hand aufs Herz drücken, und der Atem stockte in seiner Brust.


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