Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor
Wilhelm Raabe

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Sechzehntes Kapitel

Hans Unwirrsch stand noch längere Zeit betäubt in der Mitte des ihm angewiesenen Gemaches und sah auf die trübe Kerze, die Johannes auf den Tisch gestellt hatte, bis ihn ein großes Wassergeplätscher nebenan aus seiner Betäubung emporschreckte. Der Leutnant Götz schnaufte und schnob gleich einem Walfisch in seinem Waschnapf, und nun – wusch sich auch der Theologe. Eben war er mit der Toilette fertig, als auch schon sein Begleiter den Kopf in die Tür steckte:

»Angenehmer Ort, nicht wahr? – etwas schmal, niedrig und dunkel, aber – sehr angenehm, Kandidate. Lag hier nach der Schlacht bei Friedland vier Wochen in der Gesellschaft von Ratten, Mäusen, alten Besen und Stiefeln versteckt. Sehr duftig und sehr angenehm. Haben ein wenig gelüftet seit dem Jahre sieben. Lämmert senior, Vater von Lämmert junior, Unteroffizier in unserm Regiment. Patriotische Gemüter drinnen – französische Spürnasen draußen. Rettung – Tugendbund – Aufruf an mein Volk – Leipzig – Waterloo – Viktoria! Äußerst angenehm! Kommen Sie, wenn Sie im Wichs sind, man wartet drunten auf uns; wir sind gemeldet.«

Mehr denn bloß erwartungsvoll folgte Hans seinem Führer die Treppe hinab, und unten an der Treppe stand bereits Herr Lämmert, der Wirt, salutierte abermals und riß mit Nachdruck eine Tür auf, hinter welcher es sehr laut war.

Daß die in dem Gemach anwesenden Herren rauchten, sah man, aber die anwesenden Herren selber sah man anfangs nicht. Selbst die Gasflamme über dem Tische und die beiden Lichter auf ihm ließen sich kaum ahnen; »ein Hof war um sie her« wie um den Mond, über welchen sich der gute Sir Patrick Spence im Schloß zu Dumferline so kläglich hinter dem Ohr kratzte. Magisch tauchte aber ein Neuntöter nach dem andern aus dem Nebel auf, und es waren lauter ältere Herren, deren jeder ein Glas mit irgendeinem behaglichen Getränk vor sich stehen hatte und die sämtlich die beiden Eintretenden mit einem aufgeregten Gegrunze begrüßten. Präses der Gesellschaft schien ein alter Herr mit schneeweißem Bart zu sein. Hans Unwirrsch wurde ihm zuerst vorgestellt und erfuhr, daß der würdige Alte mit der kolorierten Nase der Oberst und Oberneuntöter von Bullau sei und daß der Leutnant Götz einst in dem Regimente desselben gestanden habe. Wir aber berichten jetzt, wer die Neuntöter eigentlich waren, was sie wollten, woher sie ihren Namen genommen hatten und ob sie denselben mit Recht führten.

Jedes Mitglied der Gesellschaft hatte einst mittelbar oder unmittelbar mit dem Wehrstande in Verbindung gestanden; jedes Mitglied fühlte mehr oder weniger den Trieb der Geselligkeit und hatte ihn zu befriedigen gesucht, obgleich nicht jedes Mitglied unbeweibt und somit unbehütet, unbeaufsichtigt durch das Leben wandelte oder humpelte. Jedes Mitglied der Gesellschaft hatte das Recht, zu rauchen und spirituöse Getränke jeder andern Feuchtigkeit vorzuziehen, selbst dem funkelnden Tropfen im Auge der besseren Hälfte daheim, wenn besagtes Auge schmerzlich sich auf den Nagel richtete, an welchem der Hausschlüssel – gehangen hatte.

Jedes Mitglied hatte das Recht, zu lügen und Gäste einzuführen, die fähig waren, bis zu einem gewissen, aber ziemlich weit hinausgeschobenen Punkte jedwede Erzählung für verbriefte, besiegelte und beschworene Wahrheit zu nehmen.

Jedwedes Mitglied hatte das Recht, an jedem Gesellschaftsabend ein gewisses Quantum Blut zu vergießen, doch durften nach Paragraph acht der Statuten nicht mehr als neun Leichen auf den – Erzähler kommen. Davon der schöne Name des Klubs!

Ging ein exaltiertes Individuum über die heilige Zahl Neun in seinem Eifer hinaus, so verfiel es, wenn auch nicht sehr drakonischen Gesetzen, so doch der sittlichen Entrüstung der ganzen löblichen Tafelrunde, die in solchen Momenten von dem Unbefangenen oder vielmehr dem Befangenen für den obersten Gerichtshof der Wahrhaftigkeit genommen werden konnte.

Die Neuntöter führten ihren Namen mit Recht, nicht der kleinste Einwand ließ sich dagegen erheben; es fiel übrigens auch niemandem ein, dagegen aufzutreten.

Nicht alle Mitglieder der Gesellschaft waren festeingesessene Bewohner der Stadt. Der Oberst von Bullau zum Beispiel brachte einen großen Teil des Jahres auf seinem Gute Grunzenow zu, andere der Herren und Vögel waren in kleinen Städten und Ortschaften der Umgegend zu Hause; aber wen Geschäfte, Reiselust, Vergnügen oder ein zusammengedrücktes Zwerchfell zur Hauptstadt führten, der suchte unter allen Umständen das alte Nest im Grünen Baum auf und war gewiß, einen Kreis wackerer Jugend- und Kampfgenossen an dem runden Tisch zusammenzufinden.

Nachdem der Oberst von Bullau den Kandidaten einer kurzen, aber eingehenden Untersuchung unterzogen hatte, entließ er ihn für dieses Mal mit dem Prädikate »dienstfähig«, und Hans wurde von dem Leutnant jetzt auch den anderen Herren vorgestellt.

Zuerst machte er seinen unbeholfenen Diener vor einem rotgesichtigen, vollwangigen, apoplektischen Neuntöter, dessen Haupteigenschaften ein inniges Wohlwollen und Wohlbehagen und ein merkwürdiger Husten waren. Wohlbehagen, Wohlwollen und Husten schienen in seinem Innern im immerwährenden Kampf zu liegen und erschütterten seinen respektablen Bauch wechselweise. Dieser Herr hatte einst der Artillerie angehört und erzählte an diesem Abend eine sehr interessante Geschichte von einer feindlichen Kanonenkugel bei Bar-sur-Aube, die so verständig in die Mündung seiner – des Erzählers – eigenen Kanone geflogen sei und sich so regelrecht auf die Pulverladung gesetzt habe, daß – »das herauskam, was ich ein richtiges Fangballspiel nenne. Paff, wir schickten sie ihnen wieder, und da sie uns allbereits das Schwanzende zugekehrt hatten, so hatten sie das Schlimmste davon, und der Spaß kostete sie elf Beine, welche wir nachher auf einem Haufen fanden, als wir zur Strecke kamen.«

»Elf – elf Beine!?« fragte der Oberst von Bullau, die Augenbrauen bedenklich in die Höhe ziehend. »Lauter rechte oder lauter linke, Kamerad?«

»Sechs rechte und fünf linke, Kamerad!« antwortete ohne Zögerung der Artilleriste und war gerettet.

»Macht sechs Mann!« summierte der Oberst, und alle Neuntöter gestanden der Geschichte »nach Adam Riese« ihre Meriten zu.

Neben dem dicken Artilleriekapitän saß auf seinem Ast ein Vogel mit einem in der Tat unheimlichen Ausdruck im linken Auge, und einem diabolischen linken Vatermörder, der triumphierend gradauf stand, während sein rechter Genosse schlaff und geknickt herabgesunken war. Dieser Herr nahm nur mit der linken Seite Notiz von dem Kandidaten, als solcher ihm vorgestellt wurde; er erzählte an diesem Abend durchaus keine Geschichte, aber er war selbst eine. Zum Finanzfach gehörte er, und der Leutnant Götz flüsterte seinem Schützling ins Ohr, der Kamerad Schwappler sei heute »links« und werde morgen »rechts« sein; seine – Schwapplers – Ansicht von der Organisation des Menschen bestehe darin, daß man dieselbe am besten dadurch ausbilde und erhalte, wenn man in allem, was sie betreffe, einen Wechsel von rechts nach links und umgekehrt eintreten lasse; heute sei der Kamerad links, knöpfe seinen Rock nach links zu und sein ganzes Wesen dito, morgen sei er rechts. Er nenne das sein »Debet« und »Kredit«.

Hans Unwirrsch betrachtete das Phänomen mit Staunen, und schweigend sah ihn der Steuerrat mit dem linken Auge an, schlürfte er seinen Grog mit dem linken Mundwinkel, blies er aus dem linken Mundwinkel dichte Tabakswolken.

Einem sehr mißvergnügten Neuntöter wurde Hans vorgestellt und einem sehr fröhlichen, der aber nur einen Flügel oder einen Arm hatte. Das Abendessen, welches der Leutnant Götz für sich und seinen geistlichen Begleiter bestellt hatte, war jetzt angekommen, und mit nicht geringem Appetit folgte Hans der Einladung seines Führers und »hieb ein«; der eben erwähnte fröhliche Herr aber hielt es sofort für seine Pflicht, den Kandidaten durch eine recht appetitliche Geschichte zu erfreuen und zum Angriff zu ermuntern.

»Bouillon und Beefsteak?« sagte der fröhliche Herr, einen Blick auf Hans, die Schüsseln und Hansens Teller werfend. »Ist mir sehr zuwider – sehr! Unbehagliches Gefühl, wenn einem ein geliebtes Glied seines eigenen geliebten Körpers als Bouillon und Beefsteak vorgesetzt wird. Was denken Sie, Herr Pastore, wer von dem, was in diesen Ärmel gehörte, satt geworden ist?«

Hans wagte schüchtern seine Meinung dahin auszusprechen, daß es »Würmer« gewesen seien, welche diesen Genuß gehabt hätten, und er fühlte sich sehr erleichtert, als der fröhliche Herr die noch vorhandene Faust schwer auf den Tisch fallen ließ und rief:

»Richtig, ganz recht! Ins Schwarze getroffen, Herr Schwarzrock.«

Messer und Gabel legte der Herr Pastor aber nieder, als der fröhliche Herr jetzt fragend hinzusetzte:

»Aber was für Würmer?« und die Frage selber beantwortete:

»Die vier Würmer meines Bauern zu Niederkrayn an der Wütenden Neiße, wo alles aufgefressen war bis auf meinen Arm, den mir der Feldscherer abgesägt hatte. Es ging uns hart an, aber was konnte es helfen – ich kriegte die Brühe und die andern den Braten. Der Mensch tut vieles, was er nicht lassen kann.«

Der Kandidat der Theologie, Johannes Unwirrsch, tat auch, was er nicht lassen konnte; er legte Löffel, Messer und Gabel nieder, sah den fröhlichen Herrn mehrere Augenblicke starr und bleich an, wischte den kalten Schweiß von der Stirn und goß auf das Gewühl und Rumoren in seinem Innern sehr schnell hintereinander drei Gläser Wein, die ihm bei seinem aufgeregten Zustande baldigst zu Kopfe stiegen. Der fröhliche Herr spürte, wie wir leider sagen müssen, nicht die mindesten Gewissensbisse über die Wirkung seiner Erzählung, der Leutnant Götz war abgestumpft gegen ihre Wirkung, und die übrigen Herren hatten ihr Abendbrot längst hinter sich und in Sicherheit gebracht.

Noch manche wunderbaren Historien, Behauptungen und Bemerkungen bekam Hans an diesem Abend zu hören, aber nicht alle wurden zu seinem speziellen Vergnügen und Behagen zum besten gegeben. Die Neuntöter nahmen einander nichts übel, und am schlimmsten waren jedenfalls diejenigen daran, welche durch ihre Frauen an ihrer Pflicht als Gesellschaftsmitglieder gehindert wurden. Arme Bursche – aber es geschah ihnen schon recht: hatten sie das Vergnügen ihres Zustandes, so mußten sie auch seine Molesten auf sich nehmen.

Sehr viel lernte Hans an diesem Abend, und nicht alles auf seine Kosten. Die Haare standen ihm seit der Bouillongeschichte noch öfters zu Berge, aber er erkannte doch auch, daß die Neuntöter im Grunde recht wackere, anständige, ehrliche Gesellen waren.

Immer mehr trat es hervor, daß der Leutnant Rudolf Götz ein sehr angesehenes Mitglied des Vereins war und es zu sein verdiente. Er log fabelhaft und war übrigens der einzige, der heute die gesetzmäßige Leichenzahl überschritt und dadurch dem allgemeinen Gegrunz, Oho, Aha und Hurra verfiel.

Nach zehn Uhr erhoben sich diejenigen der alten Knaben, welche am meisten mit dem Podraga zu schaffen hatten, und nach elf Uhr befanden sich Bullau, Götz und der Kandidat Unwirrsch allein an dem runden Tisch, der in seiner Mitte einen klaffenden Spalt hatte, welcher, wie der Oberst schmunzelnd gegen Hans bemerkte, jedenfalls entstanden war, weil selbst der Tisch das Bedürfnis fühlte, das Maul aufzureißen über das, was er an jedem Abend zu hören kriegte.

Der Oberst von Bullau, der Leutnant Götz und der Kandidat Unwirrsch litten bis jetzt noch nicht an der Gicht, und nichts hinderte sie, noch einige Augenblicke vergnüglich zusammenzubleiben, wenngleich vor Hansens Augen die Umgebung sich nicht mehr in den bestimmtesten Umrissen präsentierte. Da war ein lebensgroßes Porträt des Marschalls Vorwärts an der Wand, und immer bedrohlichere Blicke warfen Durchlaucht auf den Theologen. Da stand auf dem Ofen in der Ecke die Büste des weisen, aber mopsnasigen Mannes Sokrates, die – immer sehr verwundert, sich hiesigen Ortes zu finden – in diesen Augenblicken mit wahrhaft beängstigendem Ausdruck der Mißbilligung von ihrer Höhe in den Dampf hinuntersah. Der Philosoph war schuld daran, daß der Kandidat Unwirrsch für ein »letztes« Glas Punsch herzlich dankte: Hans fühlte es innig, daß dieses »letzte Glas« unbedingt der Giftbecher für ihn sein würde. Auch die Zigarre legte er fort und tat wohl daran.

Aber jetzt erst erfuhr der Oberst von Bullau ganz genau, wer der Gastfreund der Neuntöter eigentlich sei und wie es komme, daß er mit dem Leutnant Götz komme.

»I verflucht!« sagte der Oberst von Bullau, als er erfuhr, daß der Herr Kandidate jener Präzeptor sei, welchen der Kamerade Götz so lange für das Haus seines Bruders gesucht habe. Weiter sagte der Herr Oberst jedoch nichts; – Hans Unwirrsch durfte zu Bett gehen und ging. Was die beiden alten Kriegsmänner weiter sprachen und taten, nachdem Hans schlaftrunken unter der Aufsicht und Beleuchtung des Hausknechtes treppauf geschwankt war, können wir nicht verkünden. Jedenfalls gingen sie nicht zu Bett. –

Trotzdem daß zuerst ein unbekannter, aber höchst bösherziger und schadenfroher Geist großes Vergnügen daran fand, erst das Fußende des Lagers des Kandidaten bis an die Zimmerdecke emporzuheben und darauf das Kopfende, fiel Hans zuletzt doch in einen tiefen, schweren Schlaf, der ihm weder erfreuliche noch drohende Bilder vorgaukelte. Nicht eine der fabelhaften Geschichten, die er im Klub der Neuntöter vernommen hatte, drückte ihn als Alp, und als er erwachte, war es heller Tag, und der Leutnant Götz stand vor seinem Bett, frisch, scharf und fidel, als sei auch um ihn kein Gespenstertanz in der Nacht aufgeführt worden.

»Na, junger Mensch, heute stehen Sie noch unter meinem Kommando«, sagte der Leutnant. »Zu den Waffen also! Marsch, aus den Federn! Morgen um diese Zeit sollt Ihr die Mundwinkel nach Belieben herunterziehen dürfen, heute aber aufwärts mit dem Riecher! Die Jugend kann die Nase nicht hoch genug heben, was man auch dagegen sagen mag. Marsch, in die Kleider, Sie schwarzgebundenes Prachtexemplar aus unseres Herrgotts Regimentsbibliothek!«

Wir wollen und können nicht auf allen Wegen, welche der Leutnant an diesem Tage unsern Freund führte, mitgehen, wenngleich es sehr respektable und anständige, in jeder Beziehung anständige Wege waren. Nicht nur durch Kneipen und Konditoreien führte den Theologen der Kriegsmann. Er schleifte ihn durch das Arsenal und verschiedene Waffensammlungen, ließ aber mit Verachtung freilich die Bibliothek zur Seite liegen. Dagegen schien er sehr gern bunte Bilder in den Fenstern der Kunstläden sowie in den Museen zu sehen und entwickelte dabei die eigentümlichsten Kunstansichten. Die antiken Bildsäulen erklärte er für prachtvolle Kreaturen und »ganz außerordentlich dienstfähig«, führte jedoch im Grunde seinen Begleiter nur deshalb in die Galerie der Skulpturwerke, um ihm ein ziemlich unanständiges Basrelief zu zeigen, auf welches ihn selber höchst frivoler Weise der Herr Oberst von Bullau aufmerksam gemacht hatte.

Verschiedene Genüsse hatten und verschiedene Fährlichkeiten bestanden die zwei Herumtreiber den Tag über. In einen Streit mit einem in ungewöhnlicher Weise jähzornigen Droschkenkutscher geriet der Leutnant eigentlich durch seine eigene Schuld, rief aber auch nicht die Polizei zu Hilfe, sondern machte zuletzt sogar gemeinschaftliche Sache mit dem Droschkenkutscher gegen die Polizei. Der Leutnant Götz hielt es nicht unter seiner Würde, in einem sehr tiefen, sehr dunkeln und sehr feuchten Viktualienkeller einen Bittern mit dem Droschkenkutscher zu trinken, während die Polizei grimmig von der Straße in das Loch hinabsah und den armen Hans als das ihr verdächtigste Subjekt von den beiden Bauernfängern scharf ins Auge nahm.

Am Abend fand sich Hans Unwirrsch, wirblig von allen Erlebnissen des Tages, plötzlich wieder im Grünen Baum vor einem nahrhaften Abendessen. Den fröhlichen Herrn fand er aber glücklicherweise nicht und durfte somit das Seinige in Frieden genießen.

Nach dem Abendessen erklärte der Leutnant, daß er nunmehr bereit sei, seinen Schützling in – die Oper zu führen, und sämtlich anwesende Neuntöter erklärten die »Idee« für sehr unzurechnungsfähig und sehr lächerlich. Der Leutnant führte jedoch seinen Kandidaten ohne weitere Diskussion der Frage aus dem trauten Nest der biedern Vögel hinweg, und letztere entließen das »bunte und schwarze Tuch« mit einer knatternden Abschiedssalve der bemerkenswertesten Bemerkungen und der anzüglichsten Anzüglichkeiten.

Don Juan! – – – Wenn der Mensch mit Mühe und Not in dunkeln, engen Straßen, hinter wackelnden Tischen in Kälte und Hunger, großem Hunger, aufgewachsen ist, und es endlich – endlich zum Kandidaten der Theologie gebracht hat, wenn der Mensch dazu noch gar Johannes Unwirrsch heißt und so viel im Innern und so wenig nach außen hin erlebt hat, dann ist es ein merkwürdig Ding, wenn er, zum erstenmal in ein großes Schauspielhaus tretend, sich diesem Bruchstück menschlicher Unsterblichkeit gegenüberfindet.

Der prächtige Saal, die Menschen, die Lichter berauschten den Theologen mehr, als das der Wein am vergangenen Abend vermochte. Wie war es möglich, daß solch ein reiches, farbenprächtiges Leben rauschen konnte, ohne daß Tausende, Hunderttausende, Millionen eine Ahnung davon hatten?

Wer hat nie das tiefschmerzliche Gefühl des Versäumthabens kennengelernt? Hans Unwirrsch empfand es in diesem Augenblick wieder einmal recht sehr, wenn auch nur auf eine flüchtige Minute.

»Laßt Euch nicht verführen durch das närrische Gewimmel«, sagte der Leutnant, der beide Arme auf die Brüstung der Loge im dritten Rang stützte und dabei aussah, als ob er sehr gern in die Tiefe hinabgespuckt haben würde. »Das muß man kennen, um es zu würdigen, Herr Kandidate. Das imponiert nur das erstemal; wartet nur auf die Musik; vor ihr ist dieses Gekribbel, Gekrabbel und Affenspiel wie Schaum, der verfliegt, wenn man dagegenbläst. Es hat nichts auf sich mit diesem Flitter! Da ist die Ouvertüre, nun sind wir alle tot und nichts, und lebendig ist allein Wolfgang Amadeus Mozart.«

Der Vorhang ging auf: Leporello greinte und grinste, Don Juan lästerte, Donna Anna erschien in Verzweiflung, Wut und im Nachtrock auf der Bühne, der Komtur wurde erstochen, um später im Lapidarstil den Wüstling zu überzeugen, daß es sehr gefährlich sei, Leute von rachgierigem Gemüt, mit denen man nicht auf dem besten Fuße steht, zum Souper einzuladen. Wenn der Komtur im letzten Akt eine für Sandstein oder Marmor etwas ungewöhnliche Lebendigkeit zeigte, so saß Hans Unwirrsch wirklich wie versteinert dabei da und erwachte nicht eher zum Bewußtsein seiner selbst, bis der lebenslustige, heitere junge Spanier kopfüber in den feurigen Pfuhl gestürzt und der Vorhang niedergerollt war.

Das Rauschen und Durcheinander der sich erhebenden und drängenden Menge trieb auch den Kandidaten empor, aber der Leutnant zog ihn am Rockschoß wieder auf die Bank herab.

»Bleiben Sie sitzen, Unwirrsch«, sagte er, »ich liebe es nicht, im Wirbel aus solcher Musenbude herausgeschoben zu werden, bin gern der letzte im Theater, obgleich den Menschen dabei ein Gefühl überkommen kann, als ritte er der letzte von einem Schlachtfelde. Es ist aber ein nützlich Gefühl auf all den Spektakel.«

Sie blieben sitzen, und so wurde es allgemach leer um sie her; sie sahen die Lampen erlöschen und zuletzt den gewaltig funkelnden Kronleuchter; sie gingen nicht eher, bis der Logenschließer und der wachthabende Soldat ihre Blicke mit Winken verbanden.

»Nicht wahr, das gehörte dazu?« fragte der Leutnant, als sie auf der Gasse standen, und Hans konnte nur fröstelnd mit dem Kopfe nicken.

»Etwas Warmes darauf!« sagte der Leutnant dann aber auch. »Rechtsum! Gradaus! Rechten, linken. Sie wollen lieber heimgehen? Haben etwas Kopfweh? Dummes Zeug! Ich hab's Ihnen ja schon gesagt, morgen können Sie mit sich anfangen, was Sie wollen; heute aber trage ich die Laterne. Hier sind wir, nehmen Sie sich in acht, daß Sie nicht auf der Treppe stolpern.«

In eine bekannte Weinstube nicht weit von dem Theater führte der Leutnant den Theologen und vermischte auf dem Wege dahin allerlei Melodisches aus der eben gehörten Oper mit allerlei Hindeutungen auf die Annehmlichkeiten und Zuträglichkeiten von Kaviar und Rüdesheimer.

Nicht wenig wunderte sich der Kandidat der Theologie, als er in dieser Weinstube den Komtur ohne eine Spur von Mehlstaub im Gesicht an einem Tisch mit dem Verführer seiner reizenden Tochter sitzen sah. Ohne den Leutnant würde Hans nimmer darauf gekommen sein, daß es diese beiden behaglichen Herren mit dem prachtvollen Appetit waren, die ihm vorher die Seele halb aus dem Leibe gesungen hatten. Manch ein unscheinbares Individuum zeigte der Leutnant seinem jungen Freunde in dem weiten Gemache und raunte ihm den Namen desselben in das Ohr, worauf Hans mehrfach besagtes Individuum beinah mit Andacht betrachtete. Mehrere sehr durstige und berühmte Künstler wurden ihm gewiesen, und auch einen der größesten Geister im Lande, einen geliebten, berühmten, lyrischen Dichter sah er mit ehrfurchtsvollem Schauder und tiefer Rührung, und zwar von einem ganz neuen Gesichtspunkt aus: der Poet litt an einem furchtbaren Katarrh, trank Eierpunsch und wurde punkt elf Uhr von einem schrillstimmigen, lumpenhaften Dienstmädchen nach Haus beordert: »Frau Doktorn läßt eine Empfehlung bestellen, und sie habe nicht länger Lust, allein wach zu sitzen und auf Herrn Doktor zu warten!«

»Mi fa pietà Masetto!« sang seltsamerweise diesmal nicht Zerline, sondern der Komtur im kläglichsten komischen Baß, und der Lyriker wickelte einen sehr bunten Schal um den Hals und wurde von dem kategorischen Aschenbrödel abgeführt. Hans Unwirrsch hörte ihn draußen unter dem Fenster vorüberniesen und las von diesem Moment an die Lieder des geweihten Sängers mit gänzlich veränderten Gefühlen.

In diesem Lokale verwandelte sich auch der Leutnant aus einem Erzähler in einen Zuhörer, mit hoch emporgezogenen Augenbrauen saß er hinter seiner Flasche und Zigarre und gab acht auf die Umgebung.

Es war ein immerwährendes Kommen und Gehen, die Kellner stolperten übereinander in hastiger Verrichtung ihres Dienstes. Fast das ganze Opernpersonal männlichen Geschlechts fand sich allmählich zusammen, doch auch viele andere Herren kamen.

»Je später der Abend, desto schöner die Leute! Da kommt Theophile!« rief plötzlich Don Giovanni, als sich die Tür wieder einmal öffnete. »Da ist Stein. Hierher, hierher, Doktor! Der Dichter soll mit dem König gehen –«

»Welches hier wohl soviel heißen will als: der Kritiker soll mit dem Sänger trinken«, sagte lächelnd der als Doktor Stein bezeichnete Herr, indem er dabei vorsichtig seine eleganten Handschuhe auszog.

Der Leutnant Götz hatte eben seinen Platz verlassen, um in einem Nebenzimmer einen Bekannten aufzusuchen, dessen Stimme er durch all den Lärm gehört hatte; Hans Unwirrsch, der jetzt allmählich Lust bekam, die Augen ganz zu schließen, richtete sie noch mal auf seine Umgebung, sah auf den fremden Herrn am Nebentisch anfangs sehr flüchtig, dann aber wie erstarrt zwischen Freude und Schrecken.

War es möglich? War es eine Täuschung oder Wahrheit? War er es, oder war er es nicht? . . . Kein Zweifel, er war's trotz Bart und allem andern.

Zitternd vor Aufregung erhob sich der Kandidat und trat zu auf den Herrn, der ihm jetzt den Rücken zuwandte. Leise berührte er seinen Arm; und jener drehte sich um und sah dem Theologen voll ins Gesicht.

»Moses! Moses Freudenstein!« murmelte Hans Unwirrsch, beide Arme ausbreitend zur Umarmung; jener jedoch trat einen Schritt zurück und schien einen Augenblick in seiner Erinnerung zu suchen, während seine Augenbrauen sich zusammenzogen und seine Lippen fest sich schlossen. Aber er schien schnell, wenn auch nicht freudig überrascht, zu einem Entschluß gekommen zu sein. Er faßte beide Hände des Kandidaten und zog ihn dicht zu sich heran.

»Ei, du bist es, Hans? Bist du es? Welch ein Zusammentreffen! Sprich nicht so laut! O wie ich mich freue! Nenne meinen alten Namen nicht mehr, ich will dir später sagen warum nicht. Jetzt bin ich der Doktor Theophile Stein. Mach mir hier keine Szene, Freund! Alle die Narren sehen auf uns! Nachher – morgen, nachher!«

Moses Freudenstein schob den bestürzten Jugendfreund von sich und wandte sich wieder zu den andern Herren. Sie schienen ihn über den Auftritt und den drolligen Schwarzrock auszufragen; er flüsterte ihnen etwas zu, und nun sah jedermann mit einem gewissen wohlwollenden Lächeln auf den armen Hans.

Noch einmal trat Moses zu dem Freund und sagte leise und eindringlich:

»Geh zu deinem Tisch zurück! Errege kein Aufsehen, es hängt viel für mich davon ab. Sei ein guter Kerl, Hans, wie du es immer gewesen bist. Mach uns hier keine Szene!«

Von allen Seiten wurde jetzt der Doktor Theophile Stein gerufen. Er schien ein sehr beliebter und bekannter Charakter zu sein. Wie der Kellner in Shakespeares Heinrich dem Vierten mußte er nach allen Seiten hin »Gleich! Gleich!« antworten. Bald war er von einer ganzen Schar der Anwesenden umgeben; jedermann horchte mit lachendem Mund auf seine Aussprüche. Witzig, scharf zufahrend im höchsten Grade waren diese Aussprüche; niemand schien ihm auf irgendeinem Felde standhalten zu können; – nichts, nichts, nichts in dem Wesen des Mannes erinnerte mehr an den dunkeln Laden in der Kröppelstraße, an den königlich westfälischen Lakai! Hans war zu seinem Tisch zurückgewichen und strich immer von neuem die Haare aus der Stirn; es war ihm fast unmöglich, an das zu glauben, was er sah und hörte.

Jetzt kam der Leutnant Götz zurück und sagte, indem er neben Hans sich wieder niederließ:

»Ah, da ist ja auch der Doktor Stein! Ein merkwürdiges Menschenkind, Herr Kandidate. Ist erst vor kurzem in hiesiger Stadt angelangt – Literat – Journalist – Buch über den Weltgeist oder dergleichen. Ein fabuloses Mundwerk. Wenn ich nur wüßte, wo ich das Gesicht schon gesehen habe! Kann nicht sagen, daß mir der Mensch so außerordentlich gefalle, aber die andern haben ohne Frage den Narren an ihm gefressen.«

Hans saß auf glühenden Kohlen; er wußte, wo der Leutnant seinen Moses Freudenstein, der sich jetzt Theophile Stein nannte, gesehen hatte; er mußte es sagen, und doch durfte er es nicht, denn plötzlich richteten sich die schwarzen Augen des Jugendgenossen mitten aus dem Gewühl auf ihn. Den Finger legte Moses auf den Mund und schüttelte den Kopf. Der arme Hans befand sich in ungemütlichster Kollision der Pflichten, aber die Kröppelstraße ging nochmals aus dem Kampfe in der Brust des Theologen als Siegerin hervor, das Posthorn zu Windheim unterlag. An diesem Abend erfuhr der Leutnant noch nicht, wer der interessante Fremdling war; Hans aber versprach sich fest, dem Zwiespalt in seinem eigenen Innern so schnell als möglich ein Ende zu machen; er beruhigte sich endlich in dem Gedanken, daß es zu gegebener Zeit leicht sein müsse, diese beiden edlen Charaktere einander entgegenzuführen und vorgefallene kleine Zwistigkeiten auszugleichen. Das aber stand auch fest, geschlafen hatte die Seele des Kandidaten der Gottesgelahrtheit Johannes Unwirrsch bis jetzt wie die Prinzessin Dornröschen im Zauberwald, und während dieses allzu tiefen Schlafes hatte sich die Welt vollkommen verändert und den Kandidaten bei diesem Prozeß durchaus nicht vermißt. In seinem Trübsinn bedachte Hans nicht, daß die verzauberte Prinzessin jung – jung erwachte und daß das blühendste Leben anhub im Schloß, während draußen vor dem Walde die Leute so alt, so sehr alt geworden waren. –

Seit der Doktor Theophile erkannt hatte, daß Hans ihn nicht an den Leutnant verraten werde, widmete er sich gänzlich dem eigenen, fröhlichen Kreise, ohne weitere Notiz von dem Jugendgenossen zu nehmen. Als aber der Leutnant sich zum Abschied gerüstet hatte und zuerst aus der Tür gegangen war, fühlte der Kandidat plötzlich eine Berührung, Moses stand neben ihm und drückte ihm eine Karte in die Hand; dann sprang er zurück, küßte wie zärtlich die Fingerspitzen gegen den Freund, und Hans befand sich einen Augenblick später auf der Gasse an der Seite des Leutnants Götz, der heute auch übermüdet zu sein schien und an der Kammertür im Grünen Baum schnell Abschied von seinem Begleiter nahm.

Lange betrachtete der Kandidat in seiner Kammer die Karte mit der Adresse des Jugendfreundes. Schwer wog sie auf seiner Seele, obgleich sie zart und zierlich genug war.


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