Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor
Wilhelm Raabe

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Sechsundzwanzigstes Kapitel

Es war ein eigentümliches Gefühl, nach so langen Jahren der pharaonischen Dienstbarkeit endlich wieder einmal sein eigener Herr zu sein und einen Raum, vierzehn Schuh lang und zehn breit, sein unbestrittenes Reich und Eigentum nennen zu dürfen. Was liegt alles in den wenigen Worten: sein eigener Herr sein! Wie viele Millionen und aber Millionen mehr oder weniger geplagter, mehr oder weniger denkender Wesen sprechen diese Worte mit tiefen Seufzern aus! Wie viele Millionen Menschen aus allen Ständen und Lebenslagen gelangen nie dazu, auch nur für die kürzeste Zeit ihre »eigenen Herren« zu werden; wie viele sinken alt und grau, müde und gebrochen ins Grab und werden mit ihren Ketten begraben, wie Christoph Kolumbus mit den seinigen. Wie viele gehen aber ins Grab, die sich ihr Leben lang für frei gehalten haben und die doch mit Banden beladen waren, tausendmal stärker und schwerer als alle die, welche sie vielleicht ihren Untergebenen und Abhängigen mit Bewußtsein auflegten. Es ist ein trauriges Thema, und manches ließe sich darüber sagen; aber wir wollen lieber den Mund halten, da wir uns die letzte Zeit hindurch doch schon genug und übergenug mit traurigen Dingen beschäftigen mußten. Es ist ein zu gutes Ding, diese Dachstube mit der trefflichen Aussicht auf die Fenster so mancher andern Dachstube, mit den drei wackligen Stühlen, dem spartanischen Bett, mit dem rotbraunen Tisch von Tannenholz und mit dem freien Mann Hans Unwirrsch vor diesem Tische!

Nachdem Hans von seinem Gemache Besitz ergriffen und die sehr taube Vermieterin sich mit den besten Wünschen für »Glück und Wohlergehen im neuen Loschi« entfernt hatte, nachdem der Koffer angelangt war und seine Stelle im Winkel erhalten hatte, sah Hans noch einmal aus dem Fenster in das Regenwetter, verriegelte sodann vorsichtig die Tür, zählte auf den Tisch die fabelhafte, unermeßliche, unendliche Summe von hundertfünfundzwanzig Talern und stand vor diesem unerschöpflichen Schatz eine lange Zeit in andächtiger Betrachtung. Jedes Silberstück verwandelte sich zu einem mächtigen Baustein des Luftschlosses, das er aufführte, und mit den Papierscheinen ließ sich prachtvoll das Dach ebendieses Luftschlosses decken. Es war nach den Zeiten der Gebundenheit eine Wonne, sich um das Verwaltungsfach der leiblichen Nahrung selber kümmern zu müssen; es war ein unbeschreibliches Vergnügen, im strömenden Regen auszugehen und eine Flasche Tinte, ein halbes Ries Schreibpapier und die nötigen, außerseelischen Federn für das literarische Bedürfnis einzuziehen. In größter Aufregung verging darüber der Tag, und mit der Dämmerung kam die Zeit des ruhigeren Nachdenkens.

Seine Tür hatte Hans Unwirrsch von neuem verriegelt; in seinem neuen Aufenthaltsorte hatte er sich jetzt so ziemlich orientiert; sein äußerliches Leben hatte er so ziemlich geregelt; jetzt, wo es sehr still um ihn her geworden war, wo die Lichter der gegenüberliegenden Dachstuben in sein Zimmer schienen und er durch ihren Schein in der hereinbrechenden Nacht auf und ab ging – jetzt mußte er sich mit der Unordnung und Verwirrung, die in der Welt seines Inneren herrschten, beschäftigen, und als es acht Uhr schlug, da hatte er längst erkannt, daß er sich nicht sogleich niedersetzen könne, um das Manuskript des »Buches vom Hunger« zu beginnen.

In dem Augenblick, wo er körperlich zur Ruhe kam, hub der Tumult in seiner Seele an, und die aufgeregten Gespenster spotteten aller Beschwichtigungsversuche.

Während dreier Tage hielt sich der Kandidat Unwirrsch auf seiner Stube eingeschlossen, verkehrte nur durch eine möglichst enge Türritze mit seiner Wirtin und erregte in der Brust der guten Frau die merkwürdigsten Besorgnisse über den Geisteszustand ihres neuen Herrn und sein Verhältnis zu den staatlichen Gewalten. Die gute Frau konnte freilich nicht ahnen, daß der Kandidat Unwirrsch während dieser drei wunderlichen Tage den Gewinn und Verlust des letzten Jahres seines Lebens überschlug und das Fazit zog, daß er mit Gewinn aus diesem Zeitraum hervorgeschritten sei.

Die Jugend mit ihren bunten Träumen lag jetzt freilich hinter ihm; es war manche Blüte in seiner Seele geknickt worden, es war manch heller Schein der Welt verblaßt, und manches Ding, nach dem Hans Unwirrsch großen Hunger empfunden hatte, widerte ihn nunmehr sehr an; aber wenn auch die weißen und roten Blütenblätter verweht waren, so reifte langsam manche gute Frucht. Nicht alles in der armen, irrenden Welt war falsches Schimmern und Flimmern; und das größte, tiefste Sehnen war immer noch nicht gestillt, und das war das allerbeste. Am dritten Tage seines Sinnens hatte dieses Sehnen den nackten, kahlen Raum des Zimmers vollständig verändert; Hans Unwirrsch bewirtete in seiner Dachstube das Ideal! Die taube Frau Wirtin hatte somit recht, wenn sie glaubte, daß ihr Mietsmann ein wenig übergeschnappt sei.

Es überkam den Hungerpastor eine vollkommen romantische Stimmung, jene ganz polizeiwidrige Stimmung, in der man bittere, bittere Tränen vergießt, wenn man in ihr das erhabene, feierliche, lustige Buch aufschlägt, die Abenteuer des sinnreichen Ritters Don Quijote von La Mancha, welche Miguel Cervantes de Saavedra, »geübt in Trübsalen«, im Gefängnis begonnen und in Armut und Elend, behaftet mit der Wassersucht, vollendet hat.

Es war eine liebenswürdige Prinzessin, die war in ein uneinnehmbares verzaubertes Schloß mit himmelhohen Mauern, dessen Eingang harte Wächter und böse Dämonen bewachten, gebannt. Und es war ein junger Ritter, der hatte die Prinzessin durch ein Wunder und eine Spalte in der Mauer gesehen und hatte auch ihre süße Stimme vernommen. Da war er auch verzaubert worden. Er wurde freilich nicht festgebannt, er durfte umhergehen und -laufen, wie es ihm beliebte, und wenn er hätte nach Amerika auswandern wollen, so hätte ihm das freigestanden; aber er ging nur um den Turm, in dem das Fräulein im dunkeln Winkel saß und – Geduld hatte. Während nun dieser Ritter um den Turm ging, dachte er nach über allen Zauber und alle Verzauberungen sowie über die dahin einschlägigen Bücher – eine sehr nützliche Beschäftigung, welche wohl Klarheit in die Verhältnisse der menschlichen Natur bringen kann. Während dieser Ritter mit seiner Sehnsucht im Herzen seinen eigenen Weg ging, mußte er auf die Fußtapfen vieler anderer achten, und er sah, »wie der eine einhergeht auf dem weiten Felde des Ehrgeizes, der andere auf dem Schleichwege der knechtischen, niederträchtigen Schmeichelei, wieder ein anderer den Weg der heuchlerischen Betrüger.« Er sah, wie der Menschen Pfade weit hinausliefen in die Welt, und er wurde besser, treuer und mannhafter, indem er seinen Kreis um das Zauberschloß mit der sanften, lieblichen Prinzessin beschritt. Es war kein enger Kreis – es hatte alles Raum darin, was im Menschen und um ihn Echtes, Wahres und Schönes aufwächst. Allein schon die Überzeugung, daß das Fräulein im Turm erlöst werden müsse, dehnte den Ring bis in die Ewigkeit aus und bewahrte vor Engherzigkeit und jeglicher Verkümmerung. Daß das zu schaffende Manuskript des Hungerbuches ebenfalls mit in den Kreis gehöre, schien keinem Zweifel zu unterliegen; wie es aber damit wurde, sollte der Paladin baldigst erfahren.

Am Abend des dritten Tages nach Hans Unwirrschs Einzug in die Grinsegasse besserte sich das Wetter, und man konnte ohne Regenschirm ausgehen. Der Kandidat trat hervor, um frische Luft zu schöpfen, und natürlicherweise führte ihn sein Weg nach der Parkstraße, vorüber an dem Hause des Geheimen Rats Götz. Das Haus sah heute in der Dämmerung nicht anders aus als sonst zu dieser Tages- und Jahreszeit, aber dem unter den Bäumen hinschleichenden Hans schien es so tot und ausgestorben, daß es nicht auszusagen war. Der Mut sank ihm sehr; – vor einer Stunde noch hatte ihm in seiner Dachstube die hochfliegende Phantasie vorgemalt, wie der treue Ritter den bösen Mächten das Spiel abgewann und das verzauberte, rosige Fräulein hervorführte aus dem dunkeln Kerker in den Sonnenschein unter die Rosenhecken, die singenden Bäume, zu den murmelnden Quellen und Brunnen. Nun waren die Gartentür und die Haustür in der Parkstraße fest verschlossen, und wenn man den Glockenstrang zog, erschien Jean der Pförtner, welches nicht angenehm war. Und die Rosenhecken standen leer, von den singenden Bäumen war gar nicht die Rede, der Springbrunnen war mit Stroh umwickelt, und das Abonnement für den lustigen Strahl war für dieses Jahr abgelaufen.

An den Fenstern des Hauses war niemand zu erblicken, Kleopheas Flügel war verstummt; es war ein recht trauriges Gefühl, in der Dämmerung zu stehen und nichts zu hören als plötzlich den »sprechenden Vogel«, nämlich den Papagei, der mit abscheulich kreischender Stimme seine Gegenwart kundgab und sich sehr wohl zu befinden schien.

Hans wich in einen Nebenweg des Parkes zurück; als er aber in die Nähe jener Bank kam, auf der er Henriette Trublet gefunden hatte, kehrte er schnell um und eilte fröstelnd heim mit der festen Überzeugung, daß es auch an diesem Abend vergeblich sein werde, das Manuskript zu beginnen. Mit Seufzen zündete er seine Lampe an und legte nach einer guten Stunde den ersten Bogen des »Buches« weg, nachdem er nichts als drei große Kreuze auf das unschuldige Papier gemalt hatte.

Er schrieb an die Base Schlotterbeck und den Oheim Grünebaum.

Der ersteren teilte er jetzt ziemlich ausführlich alles mit, was in den letzten Tagen geschehen war, und es konnte nicht fehlen, daß der Brief ziemlich melancholisch ausfiel. An den biederen Oheim richtete er ein munteres Schreiben, über dessen Ton er sich nachher selber verwunderte. Am folgenden Tage nahm er den Bogen mit den drei Kreuzen von neuem vor und schrieb eine Seite, die ihm am Morgen sehr gefiel, welche er jedoch am Abend wieder zerriß. Am zwanzigsten Oktober zerriß er den ersten Bogen des Manuskriptes und fand sich in einer Stimmung, welche nicht zu den »schönsten Hoffnungen für die Zukunft« berechtigte. Er zählte auch seinen Geldvorrat nach, und allmählich dämmerte die Überzeugung in ihm, daß ein Hauptflügel seines Luftschlosses dem Einsturz nahe sei und daß dem Fundament des Gebäudes gar nicht recht zu trauen sei.

Er hatte es sich so schön ausgemalt, über den Hunger in der Fülle und zugleich über den Frühling im Winter zu schreiben und als ein freier Mann Gold- und Silberfäden aus dem schwarzen Tintenfaß zu ziehen. Nun fror ihn, und er hatte gegründete Ursache, die Ehrlichkeit seiner Wirtin seinem Holzvorrat gegenüber in Zweifel zu ziehen. Die Schneeflocken konnten aus dem grauen Gewölk über Nacht herabtanzen und -wirbeln und somit ihr Teil zur Verwirklichung der behaglichen Phantasie beitragen; aber die tanzenden, wirbelnden Gedanken wollten sich nicht bändigen und auf dem Konzeptpapier fesseln lassen. Hungrig ging Hans auf die Jagd nach ihnen, während die Spatzen immer weniger wählerisch wurden, was ihre Nahrung anbetraf. Es mußte die Zeit kommen, wo der »Hungerpastor« einsah, daß es nichts half, die Gedanken zu jagen, wenn man von ihnen gejagt wurde. Die Zeit, wo er auf den Bergen und in den Wäldern der Universitätsstadt den Vögeln, Bäumen, Blumen und Wolken im überströmenden Gefühl so leicht die schönsten Reden gehalten hatte, war auch vorbei. Der Mann, der von der Welt soviel mehr erfahren hatte, als einst der Schüler davon wußte, konnte in solcher Weise nicht mehr reden und schreiben. Die mit Fleisch und Blut begabten Gestalten, die wirklichen, lebendigen Verhältnisse, kurz, die Dinge, wie sie waren, hatten eine völlige Umwälzung im Gemüt hervorgebracht. Eine so völlig subjektive Natur wie Hans Unwirrsch wurde damit auf dem Papier nicht so leicht fertig, wie es vor dem Versuche erschien, und am einundzwanzigsten Oktober brachte ihm der Postbote einen Brief, welcher den in Sorgen, Wehmut und Überdruß verlorenen Schriftsteller vollständig verwirrte und die Vollendung des Manuskripts ganz und gar in Frage stellte.

Es war ein nebliger Nachmittag, am Himmel über den Dächern konnte man nicht eine scharf gezeichnete Wolkenbildung ausfindig machen und in ihrem langsamem und schnellern Zuge verfolgen. Mit bänglichen Gefühlen hatte Hans wieder in seinen Geldbeutel geblickt, kein Gott half ihm fort über die jammervolle Gewißheit, daß er nicht ein Millionär sei, wie er vor vierzehn Tagen geglaubt hatte.

Wenn man sich nur jedesmal das richtige, passende Wetter für jede krankhafte Stimmung verschreiben könnte, so würde man viel leichter darüber wegkommen. Es war sehr unangenehm, daß Hans sich für diesen Nachmittag keinen klaren, blauen Himmel oder kein lustiges Schneegestöber bestellen konnte; der Nebel scheuchte ihn immer tiefer in die »Melancholey«.

Er saß also am Fenster, stützte den Kopf mit der Hand, starrte auf die Wäsche, die vor den Fenstern gegenüber trocknen sollte, und grübelte nach über des Erdballs Ärgernisse. In Wahrheit, es ging schlecht mit Hans, und der Gedanke, daß er für die Freiheit vollständig untauglich sei, erwies sich als sehr peinigend. Was hatte der Kandidat in der gewünschten Freiheit begonnen? Drei Tage lang hatte er Luftschlösser gebaut, dann hatte er an jedem Morgen bis tief in den Tag hinein geschlafen; sehr billigen Tabak hatte er zu sehr scheußlichem Kaffee geraucht, und nun hatte er den ersten Bogen seines »Buches« zerrissen. Am einundzwanzigsten Oktober hielt Hans Unwirrsch die Idee, durch seine Hungerpredigten ein berühmter Mann und der Befreier des Fränzchens zu werden, für unpraktisch, töricht und albern, ohne daß ihm ein Verleger seinen Standpunkt klargemacht hatte. Der harte Knöchel des Briefträgers, welcher an seine Tür pochte, riß ihn aus Betrachtungen empor, die nicht heitere genannt werden konnten.

Aber mit dem Briefträger pochte wieder das Schicksal an seine Tür. Zum zweitenmal rief der Oheim Niklas Grünebaum als heiserer Unglücksrabe seinen Neffen zu einem Sterbebett, und folgendermaßen schrieb er:

»Hochverliebtester Herr Nevö!
Hochzuverachtender Herr Kandidatus!
Mein lieber Junge!

Wenn ich nicht wüßte, daß Du als Pastor in guter Hoffnung und gottesfürchtiger Mensche nicht übelnehmerischer Natur wärest und es nicht Deinem Oheim entgelten ließest, so täte ich Dir dieses nicht schreiben. Wir haben Deine Briefe erhalten und uns sehr darüber gefreut und uns noch sehrer darüber verwundert, und ich kann's nicht klein kriegen, daß Du so von so ein nobles Haus, gutes Futter und Verpflegung abgegangen bist, aber da die Base sagt, es sei recht, so ists mir auch recht, und Du mußt es am besten wissen, über welchen Leisten Du passest, und ich bin auch wie vor dem Kopf geschlagen von wegen die Base, weilen ich vorgestern gedacht habe, sie geht mir unter den Händen kaput, und wenn sie jetzt auch noch pustet, so ist es doch mit ihrem neunten Leben alleweil bald zu Ende, und ein anderes gibt es nicht für keine Katze und ist auch nicht zu pretentieren allhier auf dieser Erde. Liebster Hans, Du weißt es, was es für eine Perschon war und wie sie einem die Leviten lesen konnte und wie sie bockbeinigt gegen einen ansprang, wenn einer nicht wollte wie sie. Sie konnte eine grausame Kreatur und Tyrann sein, als was den Hausschlüssel anbetrifft und den Spirituohsa und was sonsten des Menschen Herz erfreuet. Ich will ihr auch keine Eloschen halten, denn es stößt mir fast das Herz ab, aber ein honettes Frauenzimmer war sie und ein mächtig gescheites, hat mir auch redlich in aller Not und Verlegenheit beigestanden, und ich könnte nicht betrübter um ihr sein, wenn sie eine Fenus wäre, welches sie nicht ist und kein Mensche behaupten kann. Liebster Hans, Nevö und Patenkind, hab ich Dir zu Deiner Mutter gerufen, so muß ich Dir auch anjetzo herbitten, von wegen daß der Tod auf keinen wartet, und die Alte, wie ich aus Experienz weiß, gar nicht. Der Doktor sagt, es ist Altersschwäche, und es mag wohl auch so sein, aber was es auch sein mag, lange hält der Schuh nicht mehr, und was ein befahrener Meister ist, weiß, daß bei jedem Stiebel der Momang kommt, wo das Flicken nichts mehr hilft und die ganze löbliche Gilde dem Ausreißen nicht steuern kann, wenns auch der verehrenswürdige Publikus und hohe Adel noch lange nicht glauben und an ein neues Paar will.

Liebster Hans, ich fange eine neue Reihe an, weilen mir mein Gefühl überwältigt, welches nicht zu verwundern ist, denn es ist ein Jammer, wenn man sieht, wie der Deibel die Graden und die Ungraden holt, und die Wackersten zuallererst. Sie hat es gut mit mir gemeint, wenn sie mir unter dem Daumen gehalten, und ich weiß nicht, was ich anfangen soll, wenn sie mir nicht mehr mit Pauken und Bosaunen meinen Lebenswandel vorenthält und mir in Deh- und Wehmut hineinschändieret, -schimphieret und -tribulieret. Ich gebe keinen Pfennig für ihr Leben, aber für hunderttausend dreidoppelte Lujedors wäre es mir nicht feil. Lieber Hans, da Du keine feste Stellung und Kondition und Prinzipalität nicht mehr hast und kein Mensche sich um Dich zu bekümmern braucht und Du Dir auch um keinen Menschen und wenns Dich nicht ans Beste und an Moses und die Propheten ermangelt, so komme zu uns und tröste die arme alte Seele, ehe sie zu ihre Geister geht, die ihr und uns allewege soviel kujoniert haben hier in Neustadt. Sie verlangt fast so sehr nach Dir als, weißt Du, Deine Mutter damals, wo ich Dir von Universitäten abrief. Wir sein allesamt merkwürdig neugierig, Dich nochmals mit leiblichen Augen zu sehen, und mit der Base Schlotterbeck pressierts, und ich brauche nicht mehr zu sagen.

Seit Tagen bin ich nicht mehr vors Haus gekommen, sondern habe die Alte abgewartet. Es gibt auch sonsten noch gute Seelen, die sie nicht verlassen wollen, aber der Oheim Niklas Grünebaum nimmt es mit allen in die Anhänglichkeit und angenehmliche Dankbarkeit und Weißwassichschicktlichkeit auf, vorzüglich mit das Weibervolk, und da wiederum vorzüglich mit denen Alten, so der Base schon längst mit Teen und Giftgebräude die Eingeweide aus dem Leibe drangsaliert hätten, wenn iche nicht wäre, was man kennen muß, um es zu glauben und nicht doll zu werden!

Also, wertester Nevö und Neffe, tus der guten Seele und Deinem geplagten und schickanierten, unglückseligen Oheim und Vormund zu Gefallen und versüße sie ihre letzten Stunden durch Deine geistliche Gegenwart und Tröstungen. Was mündlich noch zu sagen wäre, will ich anjetzo noch für mich behalten, da ich mir doch schon über diesen Brief verwundere, weil er so lang ist und woran Du meine Betrübnis abmerken kannst und weilen ich Tag für Tag bei der Base sitze und nicht herauskomme aus dem Loch.

Verbleibe in guter Gesundheit und mache Dir keine Sorgen wegen meiner.

Es grüßt Dir in großer Beklemmung Dein Oheim

Niklas Grünebaum
Schuhmachermeister.

Postskriptus: Bringe mich ein Pfund Luisianaknaster mit. Allhier ist keinem Menschen und Kaufmann mehr zu trauen, und dem Bier gar nicht. Die Menschheit verschmiert alle guten Dinge. Ich glaube fest, sie erfinden alleweile zuviel, und wenn das so fortgeht, so wird es nach hundert Jahren einen schönen Brei geben. Der einzige Trost ist, daß wirs nicht erleben.

In großer Jammerhaftigkeit Dein Oheim

Niklas G.«

Es dauerte seine Zeit, ehe sich Hans die ganze Bedeutung dieses Schreibens klargemacht hatte. Es dauerte seine Zeit, ehe er aus der Erstarrung, der er verfallen war, erwachte. Er mußte diesem Briefe so gut folgen wie einst jenem, welcher ihn zum Sterbebett seiner Mutter rief. Um ein gutes Stück Liebe wurde sein Leben wiederum ärmer, und wieder wurde eine Stelle dunkel, wo bis jetzt Licht gewesen war. Daß er sobald als möglich reisen mußte, begriff er; aber die Überzeugung, daß er jetzt aus dieser Dachstube in dieser Stadt nicht auf dieselbe Weise fortgehen könne, wie einst aus jener Studentenstube, kam ihm auch. Er ließ jetzt mehr hinter sich zurück als damals auf der Universität. Seine Seele war gefesselt an das Haus in der Parkstraße, und gerade weil er durch so unübersteigliche Schranken von demselben ferngehalten wurde, erschien ihm der Gedanke, noch weiter fortzugehen, um so schrecklicher. Auf welche Weise sollte er das Fränzchen von diesem Schlage des Schicksals benachrichtigen? Verlassen durfte er die Stadt nicht, ohne daß sie Kunde davon erhielt, aber wie – wie sollte das geschehen?

Er zerrieb sich die Stirn, und mit erneutem Kummer machte er sich die bittersten Vorwürfe, das Vertrauen, welches der Leutnant Rudolf in ihn gesetzt hatte, so wenig gerechtfertigt zu haben. Wir müssen leider gestehen, daß es einen Augenblick gab, während welchem Hans Unwirrsch fest entschlossen war, dem kläglichen Ruf des Oheims Grünebaum nicht zu folgen, die Base Schlotterbeck nicht auf ihrem Sterbebett zu trösten, sondern zu bleiben, wo er war, und fernerhin um das verzauberte Schloß und das ebenso verzauberte Manuskript im Kreis herumzulaufen. Aber dieser Augenblick ging gottlob blitzschnell vorüber, die bösen Geister entflohen, und Hans wußte, was er zu tun habe. Er ließ nicht in den Kirchen für einen Verreisenden bitten, wie der verliebte junge Bremenser in des alten Musäus prächtiger Geschichte von der Stummen Liebe. Er schrieb einfach, und nur vom Standpunkt der Frau Geheimen Rätin aus unmotiviert, an den Geheimen Rat Götz, wie man an einen Mann schreibt, von dem man glaubt, daß er noch Interesse an einem früheren Lebensgenossen haben könne. Diesen Brief ließ er noch an demselben Abend in den nächsten Briefkasten gleiten und rüstete sich sodann zur Reise. Er wußte, daß jetzt Fränzchen über sein Verbleiben Kenntnis erhalten werde, und seine Seele durfte sich nun ganz der alten Heimat zuwenden. Die leuchtende Kugel, die in seiner Eltern Stube gehangen hatte, hatte ihr ganzes Licht zurückgewonnen, und in alle Tiefen seines Herzens fiel ihr milder Schein. Die taube Wirtin wurde von der bevorstehenden Reise in Kenntnis gesetzt, und um fünf Uhr am andern Morgen befand sich Hans Unwirrsch auf dem Wege nach Neustadt, das heißt, er stand gerüstet, aber fröstelnd in der Dunkelheit vor dem eisernen Gartengitter in der Parkstraße und nahm stummen Urlaub von dem Hause des Geheimen Rates Götz. Der Bahnzug, den er benutzen mußte, ging erst um halb sechs ab. Fränzchen Götz schlief noch und träumte. Sie hörte ein Rauschen in ihrem Traum gleich dem des Meeres, und jemand, den sie nicht kannte in ihrem Traum, sagte, es sei auch das Meer.


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