Wilhelm Raabe
Der Hungerpastor
Wilhelm Raabe

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehntes Kapitel

Es blieb für die nächste Zeit alles, wie es war. Der Hauslehrer tat seine Pflicht so gut als möglich; die gnädige Frau fand immer mehr heraus, daß er leider doch auch einen recht versteckten und heimtückischen Charakter besitze; Kleophea fand einen neuen Namen für Franziska, nannte sie l'eau dormante und zeichnete Karikaturen über Hans, von denen mehrere in seinen Besitz übergingen, die er stets sorglich unter den übrigen Gedenkblättern und Zeichen seines Lebens aufhob. Franziskas Schritt über den Boden blieb so unhörbar wie vorher, und ihr freundlich-sorgenvolles Gesicht wurde selten durch ein Lächeln erhellt; von dem Leutnant kam weder Gruß noch Botschaft, er war und blieb verschwunden. Von dem Geheimen Rat war in des Geheimen Rates Hause am wenigsten die Rede. Hans beklagte ihn von Tag zu Tag mehr und beneidete den armen Mann nicht um die Grandezza, mit welcher er auf seinen armen Hauslehrer herabsah. Jean, der Bediente, war ein freierer Mann als sein Herr, der sich aus den Ketten der häuslichen Tyrannei nur in den jammervollsten, stupidesten Bürokratendünkel, der je von einer freien Seele verlacht wurde, flüchten konnte.

Es sah um diese Zeit wunderlich aus in der Seele des Kandidaten der Gottesgelahrtheit Johannes Unwirrsch aus der Kröppelstraße. Inmitten des Getriebes, nach welchem er sich so gesehnt hatte, stand er; niedergestiegen war er, und das große Brausen hatte sich aufgelöst in einzelne Stimmen und Töne, und mehr gelle und böse Stimmen als liebliche vernahm er um sich her.

Er fühlte sich unbefriedigter als je, und sagen mußte er sich, daß er ein Verständnis für diese Welt noch nicht gewonnen habe. Er gehörte nun einmal zu jenen glücklich-unglücklichen Naturen, die jeden Widerspruch, der ihnen entgegentritt, auflösen müssen, die nichts mit einem Apage! beiseite schieben können. Er hatte eben jenen Hunger nach dem Maß und Gleichmaß aller Dinge, den so wenige Menschen begreifen und welcher so schwer zu befriedigen ist und vollständig nur durch den Tod befriedigt wird.

So saß er denn in seinem hochgelegenen Stübchen, dachte mit Seufzen seiner fernen, stillen Jugend und horchte den Disharmonien der Gegenwart. Mit Seufzen dachte er, wie er nun mitten in dem Nebel wandle, den er einst sah von seines Vaters Hause. Mit Seufzen dachte er, daß jeder Schritt vorwärts im Leben ihm nur neue Enttäuschungen gebracht habe, daß er nicht glücklicher geworden sei mit den Jahren. Und zu seinen Füßen wogte der bunte Strom der Existenzen. Stundenlang konnte er hinabsehen auf die unbekannten Leute, die da vorübergingen und -fuhren, auch wohl vorüberhinkten und -krochen. Er hörte manch lautes Lachen und sah in manch fröhliches Gesicht; doch der Gesamteindruck der Menge blieb ein trauriger. Einzelne Figuren wurden ihm allmählich bekannter, und er bemühte sich, ihr Schicksal aus ihrer Erscheinung zu lesen, wie sie vorüberglitten. Das waren Phantasien gefährlicher Natur für einen Charakter wie Hans Unwirrsch, der mehr zu der melancholischen Philosophie des Mannes von Ephesus als zu der heitern Lebensweisheit des Abderiten hinneigte. Es war fast ein Glück, daß sie ihn nur traurig, nicht verbissen und vergrillt machten. Die Einzelheiten, welche sich aus der Allgemeinheit abhoben, drängten letztere nicht so zurück, daß er sie aus den Augen verloren hatte, und das Allgemeine macht den denkenden Menschen unter keinen Umständen grillenhaft, sondern erweitert seine Seele selbst durch den Kummer.

Und die Anzeichen des wiederkehrenden Frühlings mehrten sich. Der Himmel wurde blauer, das Gras um den Springbrunnen grüner; auch über die Wipfel des Parkes lief ein freudiger Schein, und die Vögel wurden lustiger und lauter darob. Kleopheas Klagelieder über die Langweiligkeit und Nüchternheit des Winters schlugen um in Frühlingsbetrachtungen, die sich in mehr als einer Hinsicht von den Ergüssen der lyrischen Gedichtsammlungen unterschieden und nicht ganz zu den pensées musicales über das erste Veilchen paßten, die das Fräulein an ihrem Flügel so kunstfertig absang. Sie tadelte gern, denn es ist viel leichter, geistreich zu tadeln, als geistreich zu loben. Zu allen andern Bedrängnissen hatte sich Hans sehr gegen den Zauber zu wehren, welchen das schöne Mädchen auf ihn ausübte.

Franziska war stiller als je.

Doktor Theophile Stein machte dem Hauslehrer des Geheimen Rates Götz seinen ersten Besuch.

Von Tag zu Tag hatte ihn Hans erwartet; doch er kam erst im Anfang des April, und Jean, der Bediente, hatte seine Karte erst in das Zimmer der gnädigen Frau gebracht, ehe er den Besuch zu dem Zimmer des Präzeptors geleitete.

Hans empfing den Jugendfreund mit sehr gemischten Gefühlen; aber seine Gegenwart übte bald den alten Einfluß aus und zerstreute die Wolken, die sich um das Bild jenes Moses aus der Kröppelstraße zusammengezogen hatten.

Sehr gewinnend und liebenswürdig war der Doktor Stein; er spottete nicht mehr über die Unbeholfenheiten und Eigentümlichkeiten des armen Hans, sondern er behandelte sie jetzt mit einem gewissen gutmütigen Humor, den Hans niemals an ihm gekannt hatte und der ihm unendlich wohltat. Nach der Heimat und den Bekannten von Neustadt erkundigte sich der elegante Doktor aufs eingehendste, und die Art und Weise, wie er über die Mutter des Freundes, ihr Leben und ihren Tod sprach, konnte nicht inniger und teilnehmender sein. Er erkannte alte Bücher in der kleinen Bibliothek des Jugendgenossen wieder und erinnerte sich des Tages, an welchem er seinen Namen und das Wort des Chrysostomus vor eine theologische Abhandlung vom Ursprung des Bösen gesetzt hatte: Pono sedem meam in Aquilonem et ero similis Altissimo. Als er aber bemerkte, daß er dadurch die Rede auf seinen Übertritt zum Christentum lenkte, brach er schnell ab und fing an, allerlei Fragen zu stellen, die anfangs nur auf das Leben des Freundes im allgemeinen Bezug hatten, dann aber allmählich sich immer fester und bestimmter auf das Leben des Hauslehrers des Geheimen Rates Götz bezogen. Und sehr aufmerksam und sehr zerstreut zu gleicher Zeit war der Doktor Stein während der Fragen. Keine Antwort mußte er sich wiederholen lassen, und doch horchte er auf jedes Geräusch im Hause, auf alle Schritte und alles Türklappen. Als Kleophea anfing zu singen, erhob er sich schnell, setzte sich aber ebenso schnell wieder und fragte:

»Das ist nicht die Tochter des Chevaliers, des Kapitän Götz?«

»Nein, es ist Fräulein Kleopheas Stimme.«

»Ah!«

Er horchte einige Augenblicke, um dann seine Fragen von neuem aufzunehmen, und gab Hans wiederum mehrfachen Grund zur Verwunderung. Nach der Bauart des Hauses erkundigte er sich, nach der Lage und Einrichtung der Zimmer des ersten Stocks, nach den Bildern an den Wänden und nach der Bedienung in der Küche. Die Lieblingsneigungen der Geheimen Rätin waren ihm nicht gleichgültig und ihre Abneigungen noch weniger. Über Aimé verlangte er ebenfalls eingehende Auskunft, ebenso über den Herrn des Hauses. Endlich war er zu Ende, klappte innerlich sein Notizbuch zu und brachte durch einen sehr feinen Schluß den armen Hans zu der festen Überzeugung, daß er diese vielen Fragen nur aus Interesse an dem Schicksal und jetzigen Leben des Jugendgenossen gestellt habe.

»O lieber Hans«, schloß er, »nicht vielerlei, aber viel hast du erlebt. Wer weiß, ob dir nicht der glücklichere Weg von den Göttern vorgezeichnet wurde? Du bist am Ufer geblieben, und die Wellen haben dir gnädig mitgespielt. Ich habe mich weiter hinausgewagt in die See, weil ich mich für einen tüchtigeren Schwimmer hielt; aber mit mancher harten Felsenkante habe ich auch Bekanntschaft machen müssen. Du wirst Geduld mit mir haben müssen, wenn ich mich dann und wann nicht mehr gleich in deinen Anschauungen zurechtfinden sollte.«

Wer konnte dem widerstehen? Innig gerührt drückte Hans dem Freunde beide Hände, begleitete ihn mit Tränen im Auge die Treppen hinab und würde ihn noch weiter begleitet haben, wenn er nicht durch den Blick des olympischen Jeans zurückgescheucht worden wäre.

Wieder war Hans Unwirrsch nicht tiefer in den Seelenzustand des Doktor Theophilus eingedrungen; aber eine glückliche Stunde hatte er gewonnen, und das Nachklingen derselben war auch was wert! –

An der Mittagstafel richtete die gnädige Frau ihre großen Augen auf den Hauslehrer.

»Sie haben heute einen Besuch gehabt, Herr Unwirrsch!«

»Ein Jugendfreund – der Doktor Stein –«, sagte Hans, sich verbeugend.

»Ich weiß«, sprach die Dame, und Kleophea richtete ihre großen Augen fast noch forschender auf den Hauslehrer als die Mama.

»Man spricht augenblicklich viel von diesem Herrn in der Stadt«, fuhr die Geheime Rätin fort. »Er soll sehr begabt sein, soll große Reisen gemacht haben. Wie kommen Sie zu dieser Bekanntschaft, Herr Unwirrsch?«

Das Herz trat, wie man sagt, dem Kandidaten auf die Zunge. Zum erstenmal durfte er in diesem Hause sprechen, ohne unterbrochen zu werden; er erzählte alles, was er von Moses Freudenstein zu erzählen wußte. Er rühmte sein gutes Herz, seinen scharfen Verstand, seine Gelehrsamkeit. Er wurde sehr warm in seiner Apologie und bemerkte leider nicht, welch ein Schrecken des Leutnants Fränzchen überkam, als sie erfuhr, wer heute das Haus betrat, in dem sie Schutz gesucht hatte. Mit größtem Interesse vernahm die Frau des Hauses, wer der bekannte, ja berühmte Doktor Theophile Stein sei; – Kleophea war gleichgültig oder schien so, der Geheime Rat war wie gewöhnlich nur körperlich anwesend.

Von der muntern französischen Waise erzählte Hans nichts, da ihn der Doktor Stein noch beim Abschiede bescheiden und scherzhaft gebeten hatte, ihrer nicht zu erwähnen.

Am folgenden Tage erschien Franziska nicht bei Tische; sie war unwohl. Eine ganze Woche lang mußte sie das Bett hüten, und Hans hatte zum erstenmal Gelegenheit, zu bemerken, welch eine Lücke durch ihre Abwesenheit in dem Kreise entstand, der ihn umgab. Sie hatte neben ihm gesessen an der Tafel, und er hatte sich wohl und sicher in ihrer Nähe gefühlt. Kleophea stieß ihn ebensosehr ab, wie sie ihn anzog; die andern standen ihm kalt, fremd, feindlich gegenüber. Halb unbewußt war das Gefühl gewesen, welches ihn mit dem Fränzchen verband; nun das Fränzchen nicht da war, trat es klar ins Bewußtsein.

Es drangen nur unbestimmte Nachrichten über das Befinden des jungen Mädchens zu dem Kandidaten. Es habe nichts zu sagen – meinte man – es sei eine leichte Erkältung, ein unbedeutender Nervenzufall, die Sache werde bald vorübergehen.

Alles, was der Leutnant Götz über seine Nichte dem Kandidaten mitgeteilt hatte, rief sich dieser ins Gedächtnis zurück; – plötzlich kam ihm der Gedanke, daß seine Tischrede über Moses Freudenstein schuld an der Krankheit des armen Kindes sein könne, und dieser Gedanke trieb ihm so sehr alles Blut gegen das Herz, daß er kaum zu atmen vermochte. Er glaubte fest, daß seine Hilf- und Ratlosigkeit, seine Unruhe und Angst ihren Höhepunkt erreicht hätten, wurde aber an demselben Morgen noch eines Bessern belehrt.

Jean steckte den Kopf in sein Gemach und meldete mit Herablassung, die gnädige Frau wünsche den Herrn Hauslehrer zu sprechen und lasse ihn bitten, so schnell als möglich in ihr Zimmer herabzukommen.

Nun war Hans in diesem Augenblick zu aufgeregt und sorgenvoll, um bei dieser Botschaft die gewohnte Beklemmung zu empfinden. Er vervollständigte schnell seine Toilette und stieg die Treppe hinab. Obgleich er nicht an der Tür horchte, vernahm er doch, daß die gnädige Frau nicht allein war. Man sprach drinnen sehr lebhaft, Kleophea lachte, es mußten fremde Herren zugegen sein. Hans klopfte, aber sein Klopfen wurde überhört. So wagte er es denn, einzutreten, tamquam cadaver blieb er jedoch auf der Schwelle stehen: neben der gnädigen Frau und dem Sessel Kleopheas gegenüber saß sein Freund Theophilus Stein, alias Moses Freudenstein, den kleinen Aimé auf dem Knie schaukelnd, im lebhaftesten Gespräch. Ein anderer älterer Herr im schwarzen Frack, mit langem, grauem, nach hinten gekämmtem Haar saß daneben, lächelte und liebkoste das glattrasierte, behagliche Kinn mit dem goldenen Stockknopf.

Man hatte unbedingt von dem Kandidaten der Theologie Unwirrsch gesprochen; das ging aus der Art hervor, wie man sich nach ihm umwandte und wie man ihn ansah.

»Ach, da ist er ja – der Hungerpastor!« rief der Doktor, und gab somit zum erstenmal unserm Hans offiziell den Titel, welchen wir diesem Buche vorgesetzt haben. »Sehen Sie ihn an, gnädige Frau, so pflegt er immer auszusehen, wenn er vor einer Unbegreiflichkeit steht. Komm zu dir, Johannes, ich bin es in Fleisch und Blut!«

Selbst die gnädige Frau ließ sich herab, zu lächeln, ehe sie mit gerunzelter Stirn ihrem Hauslehrer winkte, die Tür nicht allzu weit über die Grenzen des Anstandes hinaus offenzuhalten. Hans trat näher und durfte sich ebenfalls setzen.

Der Herr mit dem Christusscheitel, der weißen Halsbinde und dem goldenen Stockknopf wies sich als der außerordentliche Professor der Ästhetik Doktor Blüthemüller aus, und es frappierte ihn, daß der Herr Kandidat bis zu dieser Stunde noch nicht das mindeste von ihm und seiner Wirksamkeit vernommen hatte. Mit Fug und Recht nahm auch er deshalb gar keine Notiz weiter von Hansens Anwesenheit, sondern ließ sein Licht, daß heißt den merkwürdigen Schein seiner Hornlaterne, auf die andern fallen.

»Der Herr Doktor Stein hat uns manche Einzelheiten aus Ihrem Leben erzählt, welche uns sehr amüsiert haben, Herr Unwirrsch«, sagte die gnädige Frau. »Es war sehr unrecht von Ihnen, daß Sie uns nur die äußere Schale Ihrer früheren Existenz zeigten.«

Nun hätte Hans viel auf diese Worte' entgegnen können; aber es kam ihm ein Gefühl, als würde er seiner Mutter Grab entheiligen, wenn er sich in dieser Gesellschaft über solchen Vorwurf rechtfertigte. Er sagte nur kurz:

»Ich danke dem Doktor Stein für alles Gute, was er von mir gesprochen hat. Es gehört viel Geist dazu, über ein Leben wie das meinige etwas Geistreiches zu sagen.«

»Von einem Idyll verlangt man gerade nicht, daß es sehr geistreich sei«, erwiderte Theophile. »Und dein Leben ist ein Idyll, Johannes, und ich wiederhole, was ich schon gesagt habe: du bist einer der Glücklichsten dieser Welt.«

Mit großem Unbehagen sah Johannes auf den Redner; Kleophea zuckte die Achseln, der außerordentliche Professor der Ästhetik rückte seinen Sessel so, daß er dem Hauslehrer den Rücken zukehrte, wandte sich zu der gnädigen Frau und brachte das Gespräch vom Besondern auf das Allgemeine.

Er sprach von der Kunst, schön zu leben, und redete sehr schön darüber, aber so ganz schulmäßig, daß dem Kandidaten, welcher den Sinn dessen, was der Mann sagen wollte, erst aus der sonderbarsten Terminologie heraushülsen mußte, öfters der Verstand stillstand. Kläglich hinkte er im Verständnis der Rede nach und blieb somit vollständig auf die Rolle des Zuhörers beschränkt.

Nachdem der Professor Doktor Blüthemüller seinen Sack ausgeschüttet hatte, öffnete die Dame vom Hause den ihrigen.

Mit einem gewissen seufzenden Pathos entwickelte sie ihre Ansicht vom Wege zur christlich-ästhetischen Ruhe in Gott, in dem Gott, den eine krankhafte modische Schwärmerei durch ihre romantisch buntgefärbten Kirchenfensterscheiben »erkennt«, den sie aber nicht sieht, nicht sehen will, wenn die helle, prächtige, vernünftige Sonne am Himmel steht und klar, prächtig und verständig jedwedes Ding in der Welt dem Menschen in der wahren, echten, treuen Farbe und Gestalt zeigt.

Die Geheime Rätin schwärmte sehr für den Weg der Heiligen Gottes und für die altitalienischen Bilder mit ihren himmelwärts blickenden Jungfrauen, Märtyrern und Donatoren. Sie schwärmte für die beseligten Künstler, welche diese Bilder in Tempera und Öl gemalt hatten, und Professor Blüthemüller stimmte ihr in Ekstase bei und verriet nicht, was für gottverlassene, heillose Kanaillen und Halunken die Maler sowohl wie die Donatoren öfters waren. Er machte es eben wie andere Leute; die Seite der Geschichte, welche er nicht gebrauchen konnte, ließ er im Dunkel liegen, und seine Kollegiengelder als außerordentlicher Professor bezog er ja dafür, daß er nur die eine Seite der Medaille zeigte. Wenn dann auch ein anderer gelehrter Mann von einem andern Lehrstuhl aus in den geschichtlichen Sumpf schlug, so tat er das vor einem andern Publikum und in einem andern Auditorio, und es war nicht jedermanns Sache, die beiden Seiten zusammenzulegen.

Wenn wir es nicht gewiß sagen können, so wollen wir doch zur Ehre der Menschheit annehmen, daß es nicht Perfidie war, als der Doktor Theophile Stein seinen Jugendfreund fragte, ob er bereits das Museum der Stadt besucht und die Bilder, von denen die gnädige Frau spreche, gesehen habe. – Hans Unwirrsch hatte das Museum besucht; er hatte die Bilder gesehen, und leider sagte er auch auf die an ihn gestellte Frage, was er von ihnen dachte und hielt. Wir werden uns gefälligst hüten, das Urteil des unerfahrenen jungen Mannes nachzusprechen, wir können nur sagen, daß der Doktor Theophile, wenn er seine Frage aus boshafter, vorbedachter Absicht gestellt hatte, seinen Zweck vollständig erreichte. Es wurde sehr dunkel auf der Stirn der gnädigen Frau, eine schwüle Atmosphäre schien plötzlich das Gemach zu füllen; es blitzte, und wenn es nicht donnerte, so hatte das seinen Grund nur darin, daß solches Getön in der guten Gesellschaft, wenn zwei fremde Herren zugegen sind, nicht zum guten Ton gehört. Geschenkt wurde der Donner dem Sünder darum nicht; er kam nur etwas nach.

Eine treffliche Abhandlung über die Präraffaeliten gab nun der Doktor Stein dem kleinen Kreise zum besten und zeigte seine Belesenheit, Kunsterfahrung und Weltkenntnis aufs glänzendste. Geistreiche Blicke warf er nach allen Seiten hin aufs Leben; und die große Kunst, mittelmäßige oder gar alberne Gedanken anwesender Leute, von denen man etwas zu erlangen wünscht, brillant aufzupolieren und sie ihnen dann als ihr eigenstes Eigentum mit einer Verbeugung zurückzugeben, verstand er vortrefflich. Er wußte Bescheid um den Fang alles möglichen Getiers und fing zuerst die Frau Geheime Rätin Götz, geborene von Lichtenhahn; aber während er den einen Fang auf das Land zog, ließ er die goldenen Schuppen, die purpurnen Flossen, die noch frei umherspielten, nicht aus dem Auge.

Kleophea Götz, die bis jetzt von allen – den Hauslehrer nicht ausgenommen – am schweigsamsten dagesessen hatte, regte sich nun und sagte zu Hans Unwirrschs gewaltigem Schrecken:

»In einer Beziehung muß ich dem Herrn Kandidaten recht geben; – auch ich finde jene Bilder, von welchen vorhin die Rede war, unbeschreiblich scheußlich und chinesisch. Die griechische, lustige, nackte Götterwelt –«

»Kleophea?!« ächzte die gnädige Frau.

»Was kann ich dafür, liebste Mama? Ich liebe meine Verwandten und Freunde. Ich rühme sie gern vor den Leuten und bin stolz auf ihre Schönheit und vergnügt über ihre Heiterkeit. Da ist ein anbetender Knabe, von dem ich glaube, daß er seinen Ball wiederfangen will. Der Bube ist mein Bruder wie – wie Aimé, und ich würde ihn ebenso gern auf dem Schoß halten, Herr Doktor.«

Der Herr Doktor ließ den holden Aimé sanft von seinem Knie herabgleiten und lächelte ein wenig verlegen; Kleophea aber fuhr lachend fort:

»Sieh nicht so böse, gnädige Mama! Mit meinen Verwandten lebe ich in Harmonie am trübsten Regentage. Vergangene Nacht ist eine ganze Schar von ihnen gekommen: die Venus von Melos, der Apoll von Belvedere, die attischen Tauschwestern, der Dornzieher und der Antinous. Sie riefen mich: Kleophea! Kleophea! und schienen sich sehr über den Namen zu amüsieren. Sie lachten so herzlich laut und unschicklich, daß es eine Lust war. Worüber wir uns dann ferner unterhielten, darf ich jedoch nicht verraten, da sonst meine Mama ein Autillo, ein Miniaturautodafé für mein Persönchen anzünden würde. Sie gingen göttlich heiter fort auf beflügelten Sohlen und baten mich, sie meiner Mama zu empfehlen, was ich hiermit tue.«

Die junge Dame neigte sich gegen ihre Mutter, die einem Krampfanfall nahe war. Der Kandidat Unwirrsch kroch sehr in sich zusammen; eifrigst polierte der Professor Blüthemüller sein Kinn; das schöne, intelligente Gesicht des Doktors Theophile Stein schien in diesem Augenblicke einer jener Statuen anzugehören, welche Kleophea zu ihren Verwandten und Freunden rechnete. Kein Muskel regte sich darin, aber es war ein schönes, intelligentes Gesicht; parteilos, wie aus gelbweißem Marmor gebildet, ließ es sich sowohl von Kleophea wie von ihrer Mutter ruhig – ansehen.

»So führen Sie doch den Knaben fort, Herr Kandidat!« keuchte nach einer ängstlichen Pause die gnädige Frau. »Führen Sie ihn ein wenig in die freie Luft, in den Garten – diese Atmosphäre hier ist erstickend.«

Noch leiser keuchte sie: »Abscheulich! Empörend!« Doch was sie noch sagte und was Kleophea darauf erwiderte, was der Professor Blüthemüller lispelte und was der Doktor Stein sprach, ging für Hans in dem Gezeter unter, das der liebliche Knabe Aimé erhub, als er von seinem Lehrer mit einiger Gewalt hinausgeleitet wurde.

Nach weitern fünf Minuten nahmen die beiden Herren Abschied; – dann zeterte auch die Frau Geheime Rätin los; dann eilte Kleophea rauschend durch den Korridor und schlug so heftig die Tür ihres Gemaches zu, daß die arme Franziska erschreckt von ihrem Kissen emporfuhr. Dann mußte sich Kleophea an ihr Klavier – geworfen haben und fuhr mit Trillern und Läufen die Tasten hinauf und hinab wie eine Göttin des Wirbelwindes. Es schien sehr nötig zu sein, daß sie wieder einen Besuch ihrer »Freunde und Verwandten« erhalte, um von denselben auf die Vorteile und Vorzüge der »klassischen Ruhe« aufmerksam gemacht zu werden.

Am Rande des Parkes traf Hans, den widerwilligen Aimé an der Hand führend, noch einmal mit dem Professor Blüthemüller und dem Doktor zusammen.

»Für dieses Mal sind wir glücklich entkommen, Hans!« rief lachend der letztere. »Ein eigentümliches Haus; aber die Damen sind entzückend – jede in ihrer Art! Welch ein reizendes Kind, Freund; es scheint eine große Neigung zu dir zu haben. Ich könnte dich darum beneiden.«

»Ich habe mit dir zu sprechen – viel, sehr viel!« sagte Hans, nicht mit der gewohnten Freundlichkeit.

»Immer zu deinen Diensten, Alter!« lächelte der Doktor. »Wann willst du mich besuchen? . . . Wir werden uns übrigens auch wohl noch öfters in jenem Hause dort sehen!«

»Ich werde zu dir kommen«, sagte Hans.

»Und ich werde dich mit Sehnsucht erwarten«, erwiderte Theophile, Abschied nehmend.

Fünfzig Schritte weiter ab murmelte er zwischen den Zähnen:

»Die Frage ist nur, ob du mich fürs erste zu Hause treffen wirst, lieber Hans!«

Den Arm des Professors nehmend, rief er lachend:

»Kommen Sie, Kollege. Allons diner. Ich bin Ihnen unendlich verbunden für den Führerdienst, den Sie mir heute geleistet haben. Das Mädchen ist herrlich!«

»Und eine treffliche Partie«, sagte der Professor Blüthemüller und kostete ein imaginäres Glas Madeira.

Hans, das Handgelenk Aimés krampfhaft festhaltend, sah den zwei Herren nach. Das war alles, was er tun konnte, und wir können leider nicht leugnen, daß er etwas stupide dabei aussah.


 << zurück weiter >>