José Maria Eça de Queiroz
Stadt und Gebirg
José Maria Eça de Queiroz

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IX

Während dieser Wochen, die ich faulenzend in Tormes verbrachte, war ich mit gerührtem Interesse Zeuge einer bedeutsamen Aenderung, die sich in der Stellungnahme Jacinthos zur Natur vollzog. Aus jener sentimentalen Periode der beschaulichen Betrachtung, in der er Theorien von den Zweigen des ersten besten Kirschbaums pflückte und Systeme aufbaute auf dem gischtenden Schaum der Wildwasser, glitt mein Prinz sacht zur Tatenlust über ... Und zwar zur Freudigkeit an der unmittelbaren, materiellen Tat, mittels der seine endlich einer höheren Tatkraft zurückgegebene Hand die Scholle bearbeitete.

Nach all dem Auslegen und Erörtern strebte er sichtlich nach Schaffen.

An einem Spätnachmittag saßen wir im Obstgarten auf dem Brunnenrand, während der Gärtner Manuel oben auf einer Leiter stand, um von einem hohen Orangenbaum die Früchte abzunehmen. Da bemerkte Jacintho, mehr für sich als für mich: »Sonderbar ... Ich habe nie einen Baum gepflanzt!«

»Und doch ist das eine der drei großen Handlungen, ohne die, nach ich weiß nicht welchem Philosophen, man niemals ein Mann von rechter Art sein kann: Einen Sohn zeugen, einen Baum pflanzen, ein Buch schreiben. Du mußt dich beeilen, wenn du ein Mann sein willst. Möglich, daß du einem Baum nie einen Dienst geleistet hast, wie man ihn seinem Nächsten leistet.«

»Doch ... In Paris habe ich, als ich klein war, die Fliedersträuche begossen, und im Sommer ist das ein ganz netter Dienst! Aber nie habe ich etwas gesät.«

Und als Manuel die Treppe hinabstieg, reklamierte mein Prinz, der nie rückhaltslos an mein landwirtschaftliches Wissen glaubte, – armer Kerl! – augenblicklich die Ansicht dieser Autorität:

»O Manuel, hört! Was könnte man jetzt säen?«

Mit dem Korb Apfelsinen auf dem Arm, entgegnete Manuel mit einem Grinsen, das zwischen respektvoll und belustigt die Wage hielt:

»Säen, Herr? Jetzt ist ja Erntezeit. Sehen Sie doch, Herr, die Dreschtenne wird schon für das Maisentblättern in Ordnung gebracht.«

»Nun ja... Es braucht ja nicht gerade Mais oder Gerste zu sein... Da hinten im Obstgarten, könnte man nicht zum Beispiel an der alten Mauer entlang eine Reihe Pfirsichbäume pflanzen?«

Manuels Grinsen zog sich über das ganze Gesicht. »Warum nicht gar, Herr! Das kann so um Allerheiligen oder Weihnachten herum angehen. Jetzt nur etwa Kohl im Küchengarten, Portulak, Spinat, vielleicht noch eine Spätbohne in recht frischer Erde ...«

Mein Prinz wies mit sanfter Gebärde dies niedrige Küchenkraut von sich. »Na, dann gute Nacht, Manuel. Diese Orangen sind von dem Orangenbaum, von dem der Melchior gesagt hat, sehr süß, sehr fein? Da nehmt Euren Kleinen davon mit. Nehmt recht viele für die Kleinen.«

Nein, sein Ehrgeiz war, einen Baum zu schaffen. Vielleicht war seine neue Liebe für die Erde von dem Baum ausgegangen, den er in den Bergen in seiner wahren Majestät, seiner schattenspendenden Wohltätigkeit, dem sinneumwebenden Rauschen seines frischen Laubes, in der lieblichen Heiligkeit der ihn bevölkernden Nester betrachtet hatte. Und nun erträumte er ein Tormes, ganz bedeckt von Bäumen, deren Früchte und grünes Gezweig, deren leises Geflüster und geschützte Nester nur das Werk und die Sorge seiner Vaterhände wären.

In das ernste Schweigen der wachsenden Dämmerung hinein fragte er leise:

»Hör, Zé Fernandes, welche Bäume wachsen am schnellsten?«

»Ja, lieber Jacintho, der Baum, der am schnellsten wächst, ist der Eukalyptus, der garstige, lächerliche Eukalyptus. In sechs Jahren kannst du ganz Tormes mit Eukalypten überwuchern...«

»Das dauert alles so lange, Zé Fernandes ...«

Denn sein Traum, den ich so wohl begriff, war gewesen, Kerne zu pflanzen, die gleich in starken Stämmen aus dem Boden wüchsen und ihre grünen Kronen ausbreiteten, ehe er anfangs Winter nach Paris zurückkehrte ...

»Ein Eichbaum! Dreißig Jahre, ehe es ein rechter Baum ist! Da verlier' ich den Mut! Das ist gut für unsern Herrgott, der es abwarten kann. patiens quia aeternus. Dreißig Jahre! In dreißig Jahren, – nur um mein Grab zu beschatten!«

»Wär' auch schon ein Gewinn. Und dann für deine Kinder, Jacintho ...« »Kinder! Wo hab' ich denn welche?«

»Das ist derselbe Prozeß wie mit den Kastanienbäumen: säen. Es gibt hier sehr schöne Erde dafür. In neun Monaten hast du ein fertiges Pflänzchen. Und je zarter und kleiner diese Pflanzen sind, um so mehr Freude hat man an ihnen.«

Wieder murmelte er und kreuzte die Hände über dem Knie:

»Das dauert alles so lange! ...«

Schweigend blieben wir auf dem Brunnenrand sitzen, in der frischen Milde der hereinbrechenden Nacht, von dem Duft des Geißblatts an der Mauer umschmeichelt, den Blick auf die Mondsichel geheftet, die über den Dächern von Tormes aufstieg.

Die Eile, aus einem Träumer zu einem Schöpfer in der Natur zu werden, wandte sein Interesse plötzlich dem Vieh zu! Bei unsern Spaziergängen durch die Quinta fiel ihm wiederholt die Oede auf.

»Es fehlt hier an Tieren, Zé Fernandes!«

Ich meinte, er vermisse in Tormes den eleganten Schmuck der Hirsche und Pfauen. An einem Sonntag aber, da wir an dem großen Feld der Ribeirinha entlang gingen, das zwar immer nur spärlich Wasser hatte, jetzt aber bei dem trockenen Sommer ausgedörrter denn je war, hielt mein Prinz den Schritt an, um den drei Hammeln des Häuslers zuzusehen, wie sie notdürftig eine elende Weide abgrasten.

Und plötzlich, wie in verhaltenem Vorwurf:

»Da haben wir's ja! Da ist Platz für eine schöne Weide, sehr grün, sehr fett, mit Herden weißer Schafe, die rund und dick sind wie auf den Rasen gesetzte Klumpen Watte! ... Wäre das nicht schön, was? Und leicht, nicht wahr, Zé Fernandes?«

»Gewiß. Brauchst bloß das Wasser in der Gießkanne auf die Weide zu tragen. Wasser ist ja genug da, in der Serra.« Und mein Prinz kettete an diese Eingebung gleich eine andre, reichere und ausgedehntere, und erinnerte daran, wie viel schöner Tormes sein würde, wenn man diese Wiesen, diese grünen Weiden mit Herden schöner englischer Kühe bevölkerte, fetter, glänzender Kühe, – was? Eine Pracht! Um diesen reichen Viehbestand unterzubringen, würde er Stallungen in vollendeter Einrichtung bauen von leichter, zweckmäßiger Bauart, ganz aus Eisen und Glas, die Fundamente schön von der Luft bestrichen und weitläufig vom Wasser umspült, – was? Eine wahre Lust! Und dann mit all diesen Kühen und der Unmasse Milch würde nichts leichter und unterhaltender und selbst auch moralischer sein, als eine Meierei einzurichten, auf Holländer Manier, ganz weiß und blank, mit Marmorfliesen, um die Camemberts, die Bries, die Coulommiers zu bereiten ... Welch eine Annehmlichkeit für das Haus! Und für die ganze Serra, welche Tätigkeit!

»Ja, meinst du nicht, Zé Fernandes?«

»Gewiß. Du hast ja die Fülle von den vier Elementen: Luft, Wasser, Erde und Geld. Mit diesen vier Elementen richtet man leicht eine große Landwirtschaft ein. Wie viel mehr eine Käserei!«

»Nicht wahr? Und auch als Geschäft. Für mich ist der Gewinn natürlich die moralische Wollust der Arbeit, die fruchtbare Anwendung des Tages. Aber eine so vorzügliche Meierei bringt schließlich auch etwas ein. Sie wirft sogar viel ab. Und bildet den Gaumen, regt zu ähnlichen Einrichtungen an, führt vielleicht im Lande eine neue, reiche Industrie ein! Hör, mit einer so vorzüglichen Einrichtung – wie teuer kann mir jeder Käse zu stehen kommen?«

Ich schloß ein Auge und rechnete:

»Wart mal ... Jeder Käse von diesen kugeligen Käsen wie der Camembert oder der Rabaçal kann – hm, hm! – kann – ich sag' dir's gleich! – kann – ich hab's schon! – dir, dem Käser Jacintho – so zwischen zweihundertfünfzig bis dreihundert Milreïs kosten.«

Mein Prinz fuhr zurück und riß zwei fröhlich erschrockene Augen nach mir auf:

»Was? Dreihunderttausend Reïs?«

»Sagen wir zweihundert. Kannst dich darauf verlassen! Mit all diesen Wesen und der Rieseleinrichtung und der veränderten Gestaltung der Serra und den englischen Kühen und den Gebäuden aus Glas und Porzellan und den Maschinen und der Narrheit und dem ganzen bukolischen Schwabenstreich kostet dir, dem Produzenten, jeder Käse zweihundert Milreïs. Dafür kannst du ihn aber auch in Oporto sicher für einen Tostaon verkaufen. Nun rechne noch fünfzig Reïs für Verpackung, Etikette, Fracht, Kommission und so weiter. So hast du auf jeden Käse nur einen Verlust von etwa hundertneunundneunzigtausendachthundertundfünfzig Reïs!«

Mein Prinz ließ sich nicht einschüchtern:

»Famos! Ich werde von diesen erstaunlichen Käsen einen per Woche, am Sonnabend, herstellen, damit wir ihn selbander am Sonntag verzehren!«

Und eine solche Willenskraft schöpfte er gleich aus seinem neuen Optimismus, einen so heißen Drang, zu schaffen, daß er sofort Silverio und Melchior von Bergspitzen zu Schluchten und von Schluchten zu Graten schleppte, den ganzen Besitz nach allen Himmelsrichtungen durchschweifte, um zu bestimmen, wo nach seinem Machtgebot die grünen Wiesen ersprießen und wo, glänzend im Tormeser Sonnenschein, die eleganten Stallungen erstehen sollten. Bei dem soliden Hintergrund seiner hundertundneun Contos Einkünfte gab es kein von Melchior heiter erhobenes oder von Silverio mit respektvoller Verblüffung geltend gemachtes Bedenken, das er nicht mit leichter Geste sanft beseitigt hätte wie einen überhängenden wilden Rosenzweig im Hag.

Jene Felswände bilden ein Hindernis? Sie werden abgesprengt! Ein lästiges Tal scheidet zwei Felder? Es wird zugeschüttet. Silverio trocknete sich seufzend den Angstschweiß von der dunkeln Glatze. Armer Silverio! Hart aufgerüttelt aus der süßen Gemächlichkeit seiner Verwaltung, sollte er nun Berechnungen ausstellen, die seiner Gebirglersparsamkeit übermenschlich erschienen. Genötigt, ohne Rast noch Ruh in der Junihitze zu fronen, hatte der arme Teufel in der Serra die üble Gewohnheit angenommen, die Jacintho in Paris gelassen hatte, und nun war er es, der rat- und mutlos die Finger durch den langen Bart strich ... Endlich eines Tages machte er mir gegenüber seinem Herzen Luft, während Jacintho in der Bibliothek an einen Freund in Holland schrieb, den Oberhofmeister Grafen Rylant, um Zeichnungen, Pläne und Kostenanschläge einer Mustermeierei zu erbitten.

»Nun, ich sage Ihnen, Herr Fernandes, wenn diese ganze Großartigkeit zur Ausführung kommt, so begräbt der Senhor Dom Jacintho hier manche zehn Contus de Reïs ... manche zehn Contos de Reïs!«

Und da ich auf das Vermögen meines Prinzen hinwies, dem all diese umfassenden Arbeiten, die der ganzen alten Serra ein andres Gesicht geben würden, nicht mehr ausmachten, als andern die Ausbesserung einer Terrasse, schlug der gute Silverio die langen Arme an die feisten Schenkel, noch trostloser als zuvor.

»Gerade deshalb, Senhor Fernandes! Wenn der Senhor Dom Jacintho nicht dies unmenschliche Geld hätte, so stünde er davon ab. Aber so heißt's sasch! sasch! vorwärts! Ich will ja gar nichts sagen von der Idee! Wollte Gott, ich hätte das Geld von Seiner Gnaden, so würfe ich mich auch auf eine Landwirtschaft nach meiner Phantasie. Aber nicht hier, Senhor Fernandes, nicht in dieser Bergwelt voll Felsen und Abgründe! Ein Herr, der jenen schönen Besitz von Montemór hat, an den Ufern des Mondego, wo er sogar Gärten pflanzen könnte, die die vom Kristallpalast in Oporto beschämten! Und die ›Velleira‹, da nach Penafiel zu ... Sie kennen die ›Velleira‹ nicht? Na, das ist Ihnen die reine Grafschaft! Ebener Boden, guter Boden, alles beieinander, ums Haus herum, mit einem Turm. Das ist ein Vergnügen, Senhor Fernandes! Aber ganz besonders Montemór! Da wären Weiden und englische Kühe und Käserei und fetter Krautgarten und dreißig Truthähne im Geflügelhaus ...«

»Was ist dabei zu tun, Silverio? Jacintho hat sich nun einmal auf die Serra versteift. Und dann ist dies ja auch der Familiensitz, und hier hatten im vierzehnten Jahrhundert die Jacinthos ihren Ursprung.«

Der arme Silverio vergaß in seiner Verzweiflung den Respekt, den er dem säkularen Adel des Hauses schuldete:

»Ach was! Solche Ideen stehen Ihnen gar nicht wohl an, Senhor Fernandes, in diesem Jahrhundert der Freiheit und Gleichheit. – Als wenn wir jetzt in Zeiten lebten, wo man von Adel und Aristokratie und Ahnen spricht, jetzt, wo alles der Republik zustrebt! Lesen Sie das ›Seculo‹, Senhor Fernandes! Lesen Sie das ›Seculo‹, und Sie werden sehen! Und nachher möchte ich doch wirklich den Senhor Dom Jacintho sehen, hier im Winter, mit dem Nebel, der morgens aus dem Fluß aufsteigt, und der Kälte, die einem bis aufs Mark dringt, und den böigen Winden, die ganze Eichenpflanzungen umreißen, daß sie die Wurzeln in die Luft strecken, und Regengüsse und Regengüsse, als sollte das Gebirg fortgeschwemmt werden! – Sehen Sie, sogar aus Gesundheitsrücksichten sollte der Senhor Dom Jacintho, der nicht der Stärkste und an die Stadt gewöhnt ist, die Serra meiden. In Montemór, in Montemór würden sie sich wohl fühlen. Und Sie, Senhor Fernandes, der Sie so befreundet mit ihm sind und so viel Einfluß haben, Sie sollten darauf bestehen und so lange reden, bis Sie ihn nach Montemór geschafft hätten!«

Zum Unglück für die Ruhe Silverios aber hatte Jacintho in seiner rauhen Serra Wurzel gefaßt, und zwar kräftige, liebevolle Wurzeln. Es war, als hätte man ihn als Steckling in diesen alten Boden gepflanzt, dem sein Geschlecht entsprossen war, und die alte, fruchtbare Erde durchdränge ihn mit ihrem Saft und ihrer Kraft und verwandelte ihn in einen ländlichen Jacintho, fast in ein Pflanzenwesen, das ebenso dem Boden gehörte und mit ihm verwachsen war, wie die so sehr von ihm geliebten Bäume.

Und dann, was ihn zumeist an die Serra fesselte, war, daß er in ihr gefunden hatte, was er trotz seiner Geselligkeit in der Stadt stets vermißt hatte: Tage, so ausgefüllt, so wunderbar geschäftig, voll eines so köstlichen Interesses, daß er sich stets in sie hineinstürzte wie in ein Fest oder ein stärkendes Wellenbad.

Gleich am frühen Morgen, um sechs Uhr, wenn ich in meinem Zimmer mich noch behaglich auf den mit frischen Maisblättern gefüllten Matratzen dehnte, hörte ich seine schweren Schuhe auf dem Korridor und sein Trällern, das, wenn auch mißtönend, so doch glückselig klang wie das einer Amsel. Ein paar Augenblicke später riß er dann polternd meine Tür auf, schon den Schlapphut auf dem Kopf und den Kirschholzstock in der Hand, mit verhaltener Begierde bereit für die gewohnte Wanderung durch die Berge. Und dann war es immer die gleiche Neuigkeit, die er mir fast mit Stolz verkündete:

»Habe heute köstlich geschlafen, Zé Fernandes. So gut und so ruhig, daß ich anfange, mich unter die Gerechten zu zählen! Ein wundervoller Morgen! Als ich um fünf Uhr das Fenster öffnete, habe ich vor schierem Entzücken beinahe gejauchzt!«

Bei seiner großen Eile gönnte er mir kaum die Erfrischung meines Morgenbades; und wenn ich den schlecht angefangenen Haarscheitel noch einmal zu ziehen begann, so eiferte dieser ehemalige Besitzer von neununddreißig Bürsten gegen diese weibische Vergeudung einer Zeit, die den kräftigen Genüssen des Landaufenthalts gehörte.

Aber wenn wir nach den herkömmlichen, den Rüden im Hofe gespendeten Liebkosungen aus der Platanenallee heraustraten und vor uns die im morgendlichen Grün noch weißer leuchtenden Fußwege sich in Windungen nach verschiedenen Seiten teilten, so hörte seine Eile auf, und er trat in die Natur ein mit der ehrerbietigen Langsamkeit eines, der in einen Tempel tritt. Und wiederholt behauptete er, es sei »gegen alle Aesthetik, Philosophie und Religion, eilig durch die Felder zu gehen«. Uebrigens genügte ihm bei jener bukolischen Feinfühligkeit, die sich bei ihm entwickelt und ständig verschärft hatte, die vorübergehendste Schönheit der Luft oder der Erde für einen langen Frohgenuß. Stillbeglückt konnte er einen ganzen Morgen in einem Pinienwald umherwandern, von Stamm zu Stamm, schweigend, in Stille, Frische und Harzduft schwelgend, mit dem Fuß in den trockenen Nadeln und Zapfen wühlend. Ein Wasserlauf hemmte seinen Schritt, gerührt von dieser dienstfertigen Geschäftigkeit, die singend der durstigen Scholle zueilt, in ihr versinkt, in ihr sich verliert. Und ich entsinne mich, daß er mich einen halben Sonntag lang nach der Messe auf einer Terrasse festhielt, neben einem alten, abgetragenen Stall, unter einem großen Baum – lediglich, weil ringsumher Stille herrschte, ein leiser Lufthauch uns das gedämpfte Zwitschern von Vogelstimmen zutrug und das Plätschern eines Baches im grünen Schilf und über die Hecke herüber einen feinen, frischen Duft dort versteckter Blumen.

Und wenn ich als guter alter Bekannter der Gebirge mich nicht der gleichen Verzückung überließ, die ihm, dem Novizen, die Seele erfüllte, so grollte mein Prinz mit der Empörung eines Poeten, der einen Krämer über Shakespeare oder Musset gähnen sieht. Ich lachte.

»Lieber Junge, sieh, ich bin doch nur ein kleiner Bauer. Für mich handelt es sich nicht darum, ob die Erde schön ist, sondern darum, ob die Erde gut ist. Sieh doch nur, was die Bibel sagt: ›Im Schweiße deines Angesichts sollst du deinen Acker bebauen!‹ Und nicht: ›In Verzückung deiner Seele sollst du deinen Acker beschauen!‹«

»Kein Wunder!« rief mein Prinz aus. »Ein Buch, das von Juden, von schnöden Semiten geschrieben ist, die immer nach dem Gewinn schielen! Mensch, sieh doch nur einmal jenes Stückchen Talmulde an und gewinne es mal über dich, für einen Moment nicht an die dreißig Milreïs zu denken, die es einbringt! Du wirst sehen, daß es dir mit seiner Schönheit und Anmut mehr Befriedigung für die Seele gibt, als die dreißig Milreïs dem Körper. Und im Leben kommt es ja nur auf die Seele an.«

Zum Hause zurückgekehrt, fanden wir die Fenster schon geschlossen, die Läden angelehnt, die Fußböden gesprengt gegen die heiße Junisonne, die uns nach dem Frühstück in süßem Nichtstun in der Bibliothek zurückhielt.

Tatsächlich hörte die frohe Geschäftigkeit meines Prinzen unter dem Druck der Mittagsruhe nicht auf, noch war sie weniger angespannt. Zu dieser Stunde, wo im Laub auch die aufgeregtesten Spatzen schliefen, wo selbst die Sonne ohne Bewegung in ihrem Strahlenkranz zu ruhen schien, griff Jacintho mit wachem Geist – begierig nach Genuß, jetzt, wo er diese Fähigkeit wieder erlangt hatte – nach »seinem Buche«.

Denn der Eigentümer von dreißigtausend Bänden war jetzt in seinem Hause von Tormes und nach seiner Auferstehung der Mann, der nur ein Buch besitzt. Diese selbe Natur, die ihn von den einsargenden Bänden des Ueberdrusses befreit hatte und ihm ihr schönes »Ambula«, geh! – zugerufen hatte, hatte ihn jedenfalls auch aufgefordert »et lege«, und lies! Und befreit von der erstickenden Umhüllung seiner ungeheuren Bibliothek, begriff mein gesegneter Freund endlich die unvergleichliche Wonne, »ein Buch zu lesen«. Als ich, nach den Offenbarungen Severos in der Schenke von Torto, nach Tormes geeilt war, beendete er den Don Quichotte, und ich lauschte noch seinen letzten Gelächtern über die köstlichen und sicher tiefsinnigen Dinge, die der feiste Sancho spreizbeinig von seinem Esel herab brummte. Jetzt aber hatte sich mein Prinz in die Odyssee versenkt – und er lebte ganz in dem Staunen und der Wonne, so auf halbem Lebenswege den irrfahrenden Dichter, den greisen Homer gefunden zu haben!

»O, Zé Fernandes, wie konnt' es angehen, daß ich dies Alter erreichte, ohne Homer gelesen zu haben?«

»Nun, andre, dringliche Lektüre ... der ›Figaro‹, Georges Ohnet ...«

»Hast du die Iliade gelesen?«

»Mein Junge, ich rühme mich aufrichtig, nie die Iliade gelesen zu haben.«

Die Augen meines Prinzen blitzten.

»Weißt du, was Alcibiades tat, als eines Tages im Portikus ein Sophist, ein frecher Sophist sich rühmte, nie die Iliade gelesen zu haben?«

»Nein.«

»Er hob die Hand und versetzte ihm eine gehörige Ohrfeige.«

»Zurück, Alcibiades! Ich hab' dafür die Odyssee gelesen!«

O, aber ich hätte sie sicherlich oberflächlich und zerstreut gelesen! Und er bestand darauf, er wolle mir durch das unvergleichliche Buch hindurch als Führer dienen. Ich lachte. Und lachend, träge vom Frühstück willigte ich ein und streckte mich auf dem Weidenkanapee aus. Er hinter dem Tisch, gerade aufgerichtet in seinem Stuhl, öffnete das Buch, wie ein Hohepriester das Meßbuch aufschlägt, und fing mit einer getragenen, tiefempfundenen Ode an. Und das weite, glitzernde und tönende Meer der Odyssee wogte in ewiger Bläue unter dem weißen Flügelschlag der Möwen auf und nieder, brach sich sacht auf dem feinen Sande oder brandete gischtend gegen die Marmorfelsen der göttlichen Inseln, und atmete einen frischen Salzgeruch, der in der erschlaffenden Junihitze doppelt herzstärkend wirkte. Dann die verblüffenden Listen des schlauen Odysseus und seine übermenschlichen Gefahren, die herrlichen Klagelieder und ein unstillbares Sehnen nach dem verlorenen Vaterland; alle Ränke und Schliche, mit denen er die Helden umstrickte, die Götter täuschte, das Schicksal überlistete, hatten einen doppelt köstlichen Reiz hier in Tormes, wo man nie der List und des Truges bedurfte, wo das Leben sich mit der stets gleichen Gewißheit abrollte, mit der an jedem Morgen dieselbe Sonne über den Bergen heraufstieg, und immer Roggen und Mais, von denselben Wassern umspült, keimten, wuchsen, Aehren ansetzten, reiften ... Von der ernsten, einförmigen Deklamation meines Freundes eingewiegt, schloß ich behaglich die Augen. Bald aber schreckte mich ein wilder Tumult durch Himmel und Erde empor ... Das war das Gebrüll des Polyphem, oder das Geschrei der Gefährten des Odysseus, die die Rinder Apollos raubten. Mit weit aufgerissenen Augen glotzte ich dann Jacintho an und murmelte: »Herrlich!« Und immer überrumpelte in solchen Augenblicken der arglistige Odysseus in roter Kapuze und mit dem langen Ruder auf der Schulter mit seiner Redegewandtheit die Huld der Fürsten, oder forderte die dem Fremdling schuldigen Gastgeschenke, oder stibitzte den Göttern irgend eine Gunstbezeugung.

Und Tormes schlief im Glanz des Junitages.

Aufs neue schloß ich dann die Lider, eingelullt von den schmeichelnden Liebkosungen der großzügigen homerischen Verse ... Im Halbschlaf, zauberumfangen, sah ich in der Ferne das glückliche Hellas aus dem Blau des Meeres auftauchen, überdacht vom Blau des Himmels, und das weiße, schwankende Segel, das Ithaka suchte ...

Nach der Siesta wanderte mein Freund aufs neue durch die Felder. Und zu dieser Stunde, wo die Nerven größere Spannkraft zeigten, kehrte er mit Inbrunst zu »seinen Plänen« zurück, zu diesen Luxuskulturen und eleganten Werkstätten, die die Serra mit ländlicher Pracht schmücken würden. Jetzt war er ganz Eifer für einen Garten, der in seiner Idee entstanden war, einen blumengeschmückten Küchengarten, wo alle Gemüse, klassische oder exotische, trefflich gediehen in gefälligen Rabatten, die von Rosenhecken, Nelken, Lavendel, Georginen eingefaßt wären. Das Rieselwasser sollte ihn in schönen, mit Fliesen gepflasterten Rinnen durchfließen. Die Gartenpfade sollten dichte Laubdächer von Muskateller beschatten, die auf fliesenbekleideten Pfählen ruhten. Und mein Prinz zeichnete diesen Plan eines wunderbaren Gartens mit Rotstift auf ein ungeheures Papier, das Melchior und Silverio, die ihre Meinung abgeben sollten, lange betrachteten, – der eine, indem er sich belustigt hinterm Ohr kratzte, der andre mit fest gekreuzten Armen und tragisch gerunzelter Braue.

Aber dieser Plan, wie der der Käserei, des Geflügelhauses, und ein andrer, sehr famoser, eines Taubenhauses, das so bevölkert sein sollte, daß der ganze Tormeser Himmel weiß und bewegt von flatternden Taubenflügeln wäre, – kam nicht über unsre angenehmen Plaudereien hinaus oder über die Papiere, auf denen Jacintho sie entwarf, und die sich auf dem Tisch anhäuften, platonisch, unbeweglich, zwischen dem messingenen Tintenfaß und der Vase mit Blumen.

Keine Spitzhacke spaltete den Felsen, kein Hebel hob einen Stein von seinem Platz, keine Säge zerschnitt Holz, um diese Wunder zu verwirklichen. An dem kugelglatten und schlüpfrigen Widerstand Melchiors, an der respektvollen Ruhekraft Silverios zerschellten meines Prinzen Pläne wie herrlich bewimpelte Galeeren an Klippen und Sandbänken.

Vor der Kornernte und der Weinlese dürfe man an dergleichen nicht denken, erklärte Silverio. Und dann, fügte Melchior mit einem verheißungsvollen Lächeln hinzu, für gedeihliches Werk sei nur der Januarmond, denn das Sprichwort lehrte:

»Nur im Jänner
Baut der Kenner;
Doch stellt er einen Mauermann
Niemals vor Mitte Monat an.«

Und im übrigen, der Genuß, Pläne zu schmieden und mitzuteilen, wobei er seinen Stock über Berg und Tal hinstreckte, um die auserwählten Plätze zu bezeichnen, die durch sie verschönert werden sollten, genügte vorderhand für meinen Prinzen, der noch mehr erfindungsreich als tatkräftig war. Und während er über die bevorstehenden Wandlungen in der Serra grübelte, machte er sich allmählich und mit liebenswürdigem Zutun seinerseits mit dem schlichten Menschenschlage vertraut, der sie bearbeitete.

Bei seiner Ankunft in Tormes litt Jacintho unter einer seltsamen Scheu vor den Häuslern, den Tagelöhnern und selbst vor einem ihm zufällig in den Weg laufenden Jungen, der vielleicht eine Kuh auf die Weide führte.

Niemals blieb er stehen, um mit den Knechten zu sprechen, wenn sie am Wegrain oder auf einem Gätfeld sich aufrichteten und den Hut in der Hand in der Ehrerbietung alter Vasallenschaft stehen blieben. Vermutlich hinderte ihn die Trägheit und vielleicht auch die schamhafte Zurückhaltung gegenüber dieser unendlichen Entfernung, die sich zwischen seiner komplizierten Hyperkultur und den rauhen Sitten dieser Naturseelen erstreckte: – aber vornehmlich hielt ihn wohl die Furcht zurück, seine Unwissenheit in Landwirtschaft und Bodenkultur zu zeigen oder vielleicht in den Verdacht zu kommen, als unterschätze er die Beschäftigungen und Interessen, die für die andern erhaben und fast religiös waren. Er löste deshalb diese Zurückhaltung mit einer Verschwendung von Lächeln und freundlichem Nicken und Winken ein, und zog den Hut zu so tiefer Begrüßung, mit so nachdrücklicher Höflichkeit, daß ich manchmal fürchtete, er würde zu den Tagelöhnern sagen: »Ich wünsche Euer Gnaden einen ergebenen guten Morgen ... Ihr ergebener Diener, mein Herr!« Jetzt aber, nach diesen Wochen des Berglebens und der Wissenschaft (die allerdings noch auf wackeligen Füßen stand) der Saat- und Erntezeiten, machte es ihm schon Vergnügen, bei den Arbeitern stehen zu bleiben, in beschaulicher Ruhe der Arbeit zuzusehen und freundliche und allgemeine Dinge zu sagen.

»Nun, schreitet es vorwärts? ... Das ist ja schön! ... Dieses Ackerstück ist guter Boden ... Jene Böschung muß ausgebessert werden ...«

Und jede dieser Aeußerungen war ihm angenehm, wie wenn er durch sie tiefer in die Innerlichkeit des Landes eindränge, seine Verkörperung zu einem »Landmann« befestigte und aufhörte, ein unter wirklichen Wesen irrender Schatten zu sein.

Schon deshalb konnte ihm kein Kuhjunge begegnen, ohne daß er ihn angehalten und befragt hätte: »Wohin gehst du? Wem gehört das Vieh? Wie heißt du?« Und zufrieden mit sich selbst, pries er dankbar die Freimütigkeit des Jungen oder die Aufgewecktheit seiner Augen. Ein andrer Stolz meines Prinzen bestand in der Kenntnis der Namen aller Felder, aller Quellen und der Grenzen seines Besitzes.

»Siehst du dort jenseits des Wildbachs die Kiefernschonung? Die gehört schon nicht mehr mir, die gehört den Albuquerques.«

Bei der unbeirrten Fröhlichkeit Jacinthos waren die Abende im Herrenhause kurz und angenehm. Mein Prinz war dann eine Seele, die sich vereinfachte: – der geringste Genuß genügte ihr, sobald damit Frieden oder Wohligkeit sie erfüllte. Mit wahrem Entzücken blieb er nach dem Kaffee in seinem Stuhl hingestreckt und gab sich dem durch die offenen Fenster einströmenden Bergfrieden hin unter dem sternbesäten Schweigen des Nachthimmels.

Die einfachen und lokalen Geschichten, die ich ihm von Guiaens erzählte, vom Pfarrer, von der Tante Vicencia, von unsern Verwandten in »Flôr da Malva«, interessierten ihn so unverkennbar, daß ich zu seinem Vergnügen die vollständige Chronik von Guiaens zu erzählen anfing, mit allen Liebesgeschichten und Heldenstückchen und den Streitigkeiten über Dienstleistungen und Wasserläufte. Manchmal auch gerieten wir uns bei einer Partie Tricktrack in die Haare, über einem schönen Spielbrett aus Guajakholz mit Steinen aus Elfenbein, das uns Silverio geliehen hatte. Nichts aber bezauberte ihn so sehr, wie sacht, sacht die Gemächer zu durchschreiten bis zu einem, das in den Fruchtgarten hinausging, wo er dann ans Fenster gelehnt im Dunkeln stand und in stillem Wohlgefühl lange dem sehnsüchtigen Schlag der Nachtigallen lauschte.


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