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Fünfter Teil

I

Der Gedanke, daß sich Jean trotz seiner religiösen Erziehung töten könnte, brachte Berthe außer sich. Sie stürzte, wie wenn man sie jagen würde, zu dem Auto, das sie zu Albine gebracht hatte und das noch vor dem Hause wartete. Sie gab dem Chauffeur die Adresse von Jean ... es war sehr weit, im Faubourg St. Germain. Der Mann beklagte sich über das lange Warten und schützte Benzinmangel vor.

»Sie werden für die Stunde dreißig Francs bekommen, aber nur schnell!«

Das Auto schnob davon, mit einem ächzenden Knattern seines asthmatischen Motors. Berthe, auf die abgeschabten Kissen gekauert, bebte vor Ungeduld. Sie dachte an Jean, an seinen Blick, an seine letzten Abschiedsworte, sie suchte zu ergründen, was wohl seine Absicht gewesen sein mochte. »Er bedrohte mich nicht, kein Wort des Vorwurfs, keine zornige Bewegung, aber welche Verzweiflung, und auch ... welches Staunen in seinem Blicke! Als wenn er mich zum erstenmal sähe, so wie ich wirklich bin.« Und sie schluchzte: »Nein, Jean, ich bin nicht die Frau, die ich zu sein scheine ... ich liebe dich.«

Das Auto hielt vor dem kleinen Palaste Trevoux. Die Fensterläden waren geschlossen. Frau von Trevoux befand sich noch in Italien. Nur zur Linken, der kleine Pavillon mit der Wohnung des Portiers, zeigte Leben. Eine rundliche, gutmütig blickende Frau war herausgekommen und erwiderte auf die Frage von Berthe Lorande:

»Herr Jean hat hier gestern gegen fünf Uhr nachmittags seinen Koffer hinterlassen. Er sagte, es sei nicht der Mühe wert, den Koffer auf sein Zimmer zu bringen, er werde am selben Abend abreisen – aber er ist nicht gekommen, um ihn zu holen.«

»Wo hat er denn die Nacht verbracht?«

»Oh, das kann ich nicht wissen,« erwiderte die Portiersfrau, ohne die mindeste Unruhe zu zeigen. »Es ist nicht das erstemal, daß Herr Jean nicht hier schläft, besonders seit die Baronin verreist ist. Und dann, es war mein Mann, der mit Herrn Jean gesprochen hatte, ich war gerade auf einer Besorgung, und mein Mann ist schwerhörig. Vielleicht hat er nicht gut begriffen, aber er will nicht zugeben, daß er schlecht hört, aus Eitelkeit.«

Berthe, die fühlte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte, ging wortlos zum Auto zurück. Die Frau war ihr gefolgt:

»Wenn Herr Jean kommt, soll ich ihm eine Botschaft ausrichten?«

Sie stammelte:

»Ja ... er möge mir sofort telephonieren!«

Und als die Frau in den Pavillon eingetreten war, rief Berthe dem Chauffeur zu:

»Auf die Polizeipräfektur!«

Jetzt zweifelte sie gar nicht mehr daran, daß sich Jean getötet hatte. Er war umhergeirrt, bis zu den alten Festungswerken, es war ja nicht so weit von seiner Wohnung, und dort ... in einem Graben ... Berthe, die eine lebhafte Phantasie besaß, sah die ganze Szene deutlich vor sich.

Sie klopfte an die Scheibe.

»Fahren Sie zuerst zum Polizeikommissär des Boulevard Malesherbes!« befahl sie.

Aber der Chauffeur gehorchte nicht. Er hielt das Auto an, stieg von seinem Sitz und kam an den Wagenschlag, etwas vertraulich. Der versprochene hohe Fahrlohn hatte ihn gefällig gemacht.

»Sie beunruhigen sich wegen eines Unglücksfalls?« fragte er.

»Ja, ein Unglück, das sich wahrscheinlich im Bezirk des Boulevard Malesherbes ereignet hat, bei dem Festungsgraben.«

»Ja, ja, ich dachte es mir ... jemand, der diese Nacht nicht nach Hause gekommen ist? Das Polizeikommissariat befindet sich in der Rue Jouffroy, aber ich weiß etwas Besseres: wir wollen sofort zur Präfektur fahren, denn dort haben sie zur Stunde bereits über alle Vorfälle dieser Nacht die Berichte in Händen, alle, ohne Ausnahme, die Diebstähle, Selbstmorde, Schlägereien.«

»Gut ... fragen wir auf der Präfektur!« entschied Berthe.

 

Der Kanzleidiener des Präfekten führte Berthe in einen kleinen Salon, von einem grellen Grün: grüne Tapete, grüner Rips auf den Stühlen, grüne Tischdecke. Ein sehr stattlicher Mann, eine große Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch, durchschritt den Salon mit sichtlicher Aufregung, ohne die Dame zu beachten. Berthe sah durch das Fenster, denn der grüne Salon und der aufgeregte Herr gingen ihr gleichermaßen auf die Nerven. Aber der Hof, in den sie blickte, mit seinem Steinpflaster, gab ihr den Gedanken an den Festungsgraben, an den Toten, der dort vielleicht jetzt noch lag.

Plötzlich tönten Stimmen hinter ihr. Die Tür zum Kabinett des Präfekten hatte sich geöffnet. Der Präfekt sprach auf der Schwelle:

»Hoheit können beruhigt sein ... es wird die größte Verschwiegenheit und Vorsicht gewahrt ... meine Hochachtung! ... Treten Sie ein, mein teurer Präsident.«

Diese Stimme!

Berthe hatte sich, neugierig, trotz ihrer Verzweiflung, umgedreht.

Sie sah den ›teuren Präsidenten‹, wie er im Kabinett verschwand. Die beiden Damen, die der Präfekt verabschiedete, waren die Großfürstin Hilda und ihre Hofdame.

»Wie, teure Frau Lorande ... Sie hier?« rief die Hoheit, zu Berthe vorstürzend, »Sie kommen, um diesen charmanten Präfekten zu sprechen? A thorough gentleman indeed, und die Verschwiegenheit in Person! Hat man Ihnen ebenfalls etwas gestohlen? ... Mir ja, denken Sie sich! Mein Perlenhalsband, das beinahe zwei Millionen wert war ... und Sie würden nie erraten, wer der Dieb ist! Lelièvre, nicht wahr, ich kann es ja dieser ausgezeichneten Frau Lorande sagen, denn sie schreibt so schöne Romane! Sie wird vielleicht ein Buch über diesen Banditen schreiben!

»Ich werde Ihnen alle Einzelheiten bekanntgeben ... ach ... schade! ... ein Mann, den ich mit Wohltaten überhäufte! Sagen Sie den Namen, Lelièvre ... ich habe geschworen, daß mir dieser Name nie mehr über die Lippen kommt!«

»Ramon Genaz,« murmelte kläglich die Hofdame. »Er hat die Güte ihrer Hoheit mißbraucht, er hat das Perlenhalsband verkauft und ist mit dem Erlös ins Ausland geflüchtet.«

»Und dort lebt er mit diesem Aas ... dieser Vitzina!« wütete die Hoheit. »Denn der Präfekt sagte mir soeben, daß sie nicht mehr in Paris ist. Aber warum kommen denn Sie in dieses trostlose Haus, teure Frau Lorande?«

Berthe erzählte eine schnell erfundene Geschichte von einer Handtasche, die sie im Theater verloren hatte. Übrigens hörte Hoheit gar nicht auf sie und unterbrach sie plötzlich:

»Beeilen wir uns, Lelièvre, der Präfekt hat gesagt, daß uns der Minister des Innern erwartet. Auf Wiedersehen, teuerste Frau und Schriftstellerin ... schreiben Sie das Buch sofort, über diesen Banditen und dieses Aas, fangen Sie heute noch an! Ich werde Ihnen alle Dokumente dazu liefern ... natürlich dürfen Sie die wirklichen Namen nicht verraten!«

Sie war bereits draußen, Frau Lelièvre hinter sich ziehend, die durch Lächeln und Nicken diesen jähen Aufbruch zu mildern versuchte.

Die Tür des Kabinetts hatte sich wiederum geöffnet:

»Einverstanden, mein teurer Präsident! Dienstag um acht Uhr ... Gnädige Frau?«

Er empfing Berthe sehr höflich und etwas neugierig.

»Ich habe alle Ihre Bücher gelesen und ich erlaube mir außerdem, Sie zu erinnern, daß wir uns schon einmal in einer Gesellschaft gesehen haben, bei dem Empfang des amerikanischen Generals.«

Sie unterbrach ihn, schilderte ihm ihre Herzensangst. Der Präfekt ließ sich alle Berichte über die vergangene Nacht vorlegen.

»Alles war bemerkenswert ruhig,« bemerkte er. »Ein plötzlicher Tod in einer Schenke von Vaugirard ... eine Schlägerei auf dem Platz d'Anvers, eine Frau Leboucq schwer verwundet. Ein Neurastheniker, Perginard, Rentner, fünfzig Jahre alt, hat sich in seinem Zimmer aufgehängt, das ist alles, was ich an schweren Fällen sehe. Wollen Sie, daß ich nochmals in den einzelnen Bezirken eine Umfrage anordne?«

Sie gab alle gewünschten Auskünfte, mit einer völligen Nichtachtung ihrer selbst. Es lag ihr gar nichts daran, kompromittiert zu sein, sie schilderte den Besuch Jeans, den Streit, den Abschied.

Der Präfekt unterbrach sie lächelnd:

»Ich glaube nicht, daß zu einer Beunruhigung Anlaß ist. Herr von Trevoux ist ja, so weit ich ihn kenne, kein impulsiver Mensch, er ist ruhig und vornehm.«

»Ja, aber sehr leidenschaftlich.«

»Nun, ich glaube, daß er bald zu Ihnen zurückkehren wird. Ich werde Ihnen sofort telephonieren, aber ich glaube kaum, daß ich etwas erfahre, es wird alles in Ordnung sein. Allerdings haben wir in Paris eine Zufluchtsstätte der Verzweifelten, die ihr Geheimnis lange bewahrt.«

»Welche Zufluchtsstätte, mein Herr?«

»Nun, die Seine, Gnädigste ...«

 

Trotz dieser unbestimmten Drohung verließ Berthe den Präfekten viel ruhiger. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Jean Zuflucht im Strome gesucht hätte ... sie konnte sich nicht denken, daß er das Brückengeländer erklettert und sich hinabstürzt, wie eine Grisette, die von ihrem Liebhaber sitzen gelassen wurde!

Sie gab dem Chauffeur die Adresse von Saulnois, Rue d'Assas No. 29. Als das Auto die Brücke des Châtelet überquerte, fühlte sich Berthe durch den wundervollen Anblick der Cité gerührt ... es war wie der Kiel eines Riesenschiffes, seit Jahrhunderten von den Wogen umspült und doch nie hinabgezogen, das Sinnbild von Paris. Der Strom floß ruhig dahin, in dem schimmernden Licht eines schönen Frühlingstages. Nein, es war nicht dieser Strom, der das Geheimnis des verschwundenen Jean barg! Berthe war jetzt hoffnungsfreudig. Sie war auf der Spur des Flüchtigen, sie würde ihn auffinden, ihn ergreifen, sich ihm zu Füßen werfen, vielleicht schon in einer Stunde!

Aber bei den Saulnois ließ man, wie es Albine vorausgesagt hatte, die Besucherin nicht vor. Die Hausmeisterin hielt sie schon unter dem Torweg auf.

»Geben Sie sich keine Mühe! Die Klingel an der Tür und das Telephon sind abgestellt. Man hat dem Arzt einen Schlüssel gegeben ... Herr Saulnois ist sehr krank ... bei dem geringsten Geräusch bekommt er eine furchtbare Nervenkrise. Man wird ihn nach Valmont bringen, in eine ganz finstere Zelle, in der er mehrere Monate verbringen muß, ohne einen Besuch zu empfangen. Gnädige Frau möge schreiben!«

Trotz ihrer gewohnten Kühnheit wagte es Berthe nicht, diesem Befehl zu trotzen und bis zu der Wohnung vorzudringen. War sie nicht eigentlich die Hauptschuldige in diesem Drama, das sich da oben abspielte? Und dann, wenn man jeden Besuch abwies, so konnte sich auch Jean nicht zu Frau Saulnois geflüchtet haben. Die Hausmeisterin gab auf Befragen zur Antwort, daß man schon seit Wochen keinen Offizier im Hause gesehen hatte, weder einen jungen noch einen alten.

Dieser Mißerfolg, der vorauszusehen war, lähmte trotzdem die Energie von Berthe. Sie gab dem Chauffeur die Adresse ihrer eigenen Wohnung. Sie saß gebrochen im Wagen, und als man wiederum die Seine passierte, sagte sie sich: »Es gibt eine Zufluchtsstätte der Verzweifelten ...« Diese Redensart stak in ihr wie ein vergifteter Pfeil. Sie wollte schon an die Scheibe klopfen, den Befehl geben: »Zur Morgue!« Aber es waren ihre Muskeln, die jeden Dienst versagten. Es blieb ihr nur so viel Kraft übrig, um den Chauffeur zu entlohnen und sich in ihre Wohnung zu schleichen. Allerdings: sie hegte noch eine schüchterne Hoffnung, daß Jean oben auf sie warte ... oder, daß man telephoniert hatte.

Nein ... niemand hatte telephoniert, ausgenommen Albine, die die alte Clarisse beruhigen wollte.

Clarisse, die schon bei den Eltern ihrer Herrin bedienstet gewesen war, bewunderte Berthe blindlings. Sie war sehr fromm, sie hatte nie etwas von Liebe gewußt, und sie sprach in ihrem Innern Berthe von allen Fehlern frei, die ihre Herrin haben mochte. Die Anwesenheit von Jean de Trevoux, den sie als kleinen Jungen gekannt hatte, störte sie ebensowenig wie sie früher die Besuche anderer Herren störten. Denn sie wußte, daß Berthe trotzdem nicht »sündigen« würde! Ihr einziger Kummer war, daß Berthe als glaubenslos galt. Sie gab ihren ganzen Lohn für Kerzen aus, die sie dem heiligen Antonius von Padua und der heiligen Klara anzündete, um die Bekehrung ihrer Herrin zu erwirken. Diesesmal, nachdem sie Berthe in die Badewanne gebracht hatte, und die Unglückliche gebrochen in einem Lehnstuhl saß, vor sich hinbrütend, hörte sie zu ihrer unsäglichen Freude, wie ihre Herrin sie bat:

»Clarisse ... lehre mich ein Gebet ...«

Die alte Dienerin war entzückt. Sie brachte Berthe zu Bett, stützte ihr den Rücken durch die Kissen, kniete neben dem Lager nieder und begann laut zu beten. Berthe sah neugierig dieses alte, verrunzelte Gesicht an, das der Ernst und die Entsagung eines ganzen Lebens würdig und beinahe vornehm machten, gleichsam zu etwas Endgültigem, Unantastbarem. Die Augen waren zum Plafond gerichtet, ihr blauer, etwas verschleierter Blick ging wie in eine verschwommene Weite. Die gesprungenen, bleichen Lippen sprachen die Gebetformeln, vermischten ein verstümmeltes Latein mit französischen Worten. Aber was machte das? Wenn es wirklich einen geheimnisvollen Ordner und Beherrscher der irdischen Dinge gab, konnte, mußte er nicht einen so ehrlichen, inbrünstigen Ruf vernehmen? »Ah, wie glücklich sie ist, diese Clarisse,« dachte Berthe, »selbst wenn ihr Glaube ein Trug ist!« Und schon schwankte ihr Verstand zwischen dem Glauben dieser demütigen Dienerin und zwischen ihrer eigenen Ungläubigkeit.

»Alle unsere Kräfte, unsere ganze Tätigkeit gehen instinktiv einem Ziel entgegen, einem wirklichen Ziel. Sollte dieser so ausschließliche Drang dieser Alten wirklich dem Nichts zustreben? Unmöglich.«

Und mit der Folgsamkeit, die Pascal dem gläubigen Anfänger empfiehlt, wurde sie die Schülerin der unwissenden, demütigen Clarisse ...

»Langsam, Clarisse, damit ich dich gut hören kann.«

Und dann sprach sie die Worte nach, die man ihr vorsagte. Aber Berthe hatte noch nicht die Gewohnheit des Betens, um ganz ihre Gedanken zu fixieren, und während sie leise die Formeln nachsprach, drängten sich allerlei Bilder in ihrer Phantasie ... Sie dachte an alle Kirchen, die sie besichtigt hatte, darin nur nach Kunstgenüssen forschend. Sie war eine Heidin gewesen, ehrlich überzeugt, daß eine Art von pantheistischem Kult für die Natur, den Frühling, die Sonne, die Schönheit der Dinge genüge, um die Religion zu ersetzen. Ah, doch, eines Tages hatte sie etwas gespürt, was einer religiösen Inbrunst glich. Es war damals, während der Reise in Korsika, die sie vor sechs oder sieben Jahren gemeinsam mit Albine unternommen hatte. In der Kapelle der Bernhardinerinnen, an der Spitze des korsischen Vorgebirges, in Maorta. Es war in der Osterwoche, da das heilige Sakrament ausgestellt war, vor dem Tabernakel in goldener Hülle leuchtend. Die Kapelle war leer, nur zwei Nonnen knieten im Chorschiff, die eine hatte den Kopf gesenkt. Aber die andere, jung noch und sehr schön, hatte zu der Hostie ein wie überirdisch strahlendes Gesicht emporgehoben, mit einer solchen Leidenschaft, daß die beiden Besucherinnen dies wie eine Brandwunde spürten. Und als sie die Kapelle verlassen hatten, sprachen sie noch lange über diese Erscheinung. Albine hatte gesagt:

»Ich fühlte gleichsam, als wenn mich ein Engelflügel streifte! Ich liebe sonst die Kirchen nicht, ich liebe sie nur, wenn sie leer sind. Aber wenn mich das Leben enttäuscht, so werde ich eines Tages hieherkommen, um das Flügelrauschen zu spüren.«

»Gott,« betete Clarisse, »ich bedaure tief, dich beleidigt zu haben, weil deine Güte unendlich groß ist und weil die Sünde dir mißfällt ...«

Berthe unterbrach sie:

»Bitte Gott, daß Jean hieher zurückkommt, heute noch!«

Die Alte, sehr verdutzt, plötzlich in die Wirklichkeit zurückgerufen, murmelte:

»Wie soll ich dies sagen?«

Dann hatte sie einen Einfall:

»Wir werden jetzt gemeinsam das › Sub tuum‹ beten.«

Diesesmal zwang sich Berthe, mit allen Gedanken bei der Sache zu sein. Und kaum war das Gebet beendigt, so fühlte sie sich neu gekräftigt. »Nein,« sagte sie, »Jean hat sich nicht getötet, er hat gelitten, er hat gebetet. Auch er ist gläubig! Würde sich Clarisse töten, wenn sie einen Kummer hätte?«

Die Alte, die bemerkte, daß ihre Herrin sich beruhigt hatte und dem Einschlafen nahe war, zog leise die Fenstervorhänge zu. Berthe schlief ein, und Clarisse, neben dem Bette sitzend, ließ ihren Rosenkranz durch die Finger gleiten. Und nach jedem zehnten Absatz fügte sie einfach hinzu: »Lieber Gott, laß es geschehen, daß Herr Jean sich hier einstellt, ehe Berthe aufwacht.«

Aber als Berthe gegen vier Uhr aufwachte, war Jean nicht zurückgekommen. Berthe hatte eine heftige Nervenkrise, die Clarisse nur mit Mühe besänftigte. Sie konnte es jedoch nicht verhindern, daß sich Berthe erhob und sich hastig ankleiden ließ.

»Ist der Wagen unten?«

»Ja, wie gewöhnlich ...«

»Ich werde ihn nehmen, ich komme bald zurück, ich will bis nach Sainte-Clotilde, zum Abbé Pilliart, dem Freunde und Beichtvater Jeans.«

An der Schwelle des Schlafzimmers drehte sie sich um, küßte Clarisse auf beide Wangen und flüsterte ihr zu:

»Bete für mich, bete während meiner Abwesenheit!«

Der Abbé Pilliart befand sich nicht in der Kirche. Er war etwas rheumatisch und mußte heute das Zimmer hüten. Aber der geschwätzige Sakristan verriet Berthe, daß sie den Abbé in seiner Wohnung aufsuchen könnte, die sich im gegenüberliegenden Hause befand. Es war ein Haus, das nur von Geistlichen bewohnt war und außerdem eine Kapelle enthielt. Berthe wurde vorgelassen, mußte aber eine ziemliche Weile in einem kleinen, provinzlerisch möblierten Raum warten. Endlich öffnete der Abbé die Tür seines Arbeitszimmers. Berthe sah einen Mann von etwa vierzig Jahren, mit einem galligen Gesicht und kleinen, lebhaft glänzenden Augen, die etwas ins Gelbliche gingen. Seine Haare waren bereits grau, sehr dicht. Er sah etwas gelangweilt und abwesend drein. Seine rechte Hand trug einen Verband.

Er ließ Berthe in einem Lehnstuhl neben seinem Arbeitstisch Platz nehmen. Und sie entfesselte dem Abbé gegenüber sofort all ihre hinreißende Beredsamkeit, überzeugt, daß dieser Priester ihre letzte Hoffnung darstellte, um Jean zu sehen und für sich zu gewinnen. Sie war, sich selbst beinahe unbewußt, von dem ihr innewohnenden Instinkt beherrscht, zu erobern, den Willen eines Mannes sich gefügig zu machen. Ohne zu ahnen, daß sie log, oder auch nur die Wahrheit ausschmückte, gab sie von sich selbst ein völlig geändertes Bild, eine mystische, überschwängliche, keusche Berthe Lorande, die bisher Jean nur eine glühende, aber reine Freundschaft entgegengebracht hatte. Und sie bezeichnete auch, mit so schmerzlichen Worten, daß das Geständnis schamhaft wurde, das Hindernis, welches sie von Jean trennte. Sie gestand es dem Priester, weil sie in ihm einen Beichtvater sah.

Der Abbé aber; der unter diesem Schwall einer bezwingenden Beredsamkeit ungerührt geblieben war, unterbrach sie jetzt:

»Gnädige Frau, ich bitte Sie, wir sind in einem Irrtum. Das Sakrament der Buße ist eine Sache für sich, und das Gespräch, das wir jetzt führen, ist wieder etwas anderes. Sie haben mir bisher nicht gesagt, daß Sie beichten wollen.«

Berthe hatte das Gefühl, als hätte man sie gegen ein Hindernis geworfen. Alle ihre Beredsamkeit versiegte plötzlich. Sie las in den kleinen gelblichen Augen das verächtliche Urteil, das er über sie fällte und brach in Weinen aus.

»Ah, ich wußte es ja! Ich hatte schon früher begriffen ... an manchen Worten von Jean, ich hatte erkannt, daß Sie unser Feind sind, aber ich verdiene das nicht, ich, ich ...«

Der Priester schien gar nicht gerührt zu sein.

»Gnädigste,« nahm er das Wort, »ich bin der Feind einer moralischen Zerrüttung. Mein einstiger Schüler Jean de Trevoux befindet sich in Ihrer Gewalt, und welcher Art auch die Beziehungen sein mögen – ich will nur das glauben, was Sie mir sagen – so erachte ich diese Beziehungen als sehr gefährlich für die Zukunft des jungen Mannes.«

»Gefährlich? Warum?«

»Weil Sie viel älter sind als Jean! Weil Sie einem künstlerischen und freigeistigen Kreise angehören, der ihm fremd bleiben sollte! Und dann vor allem, weil Sie eine Atheistin sind, während er seinen Glauben bewahrte. Sie können nicht glücklich werden, und meine Pflicht ist es, Jean auf den richtigen Weg zurückzubringen.«

Jedes dieser Worte, mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme gesagt, fiel in das Herz der Unglücklichen wie brennender Schwefel. Aber trotz ihrer Verzweiflung begriff sie das eine: Jean lebte, denn der Abbé sprach von seiner Zukunft.

»Sie haben ihn gesehen?« fragte sie. »Wann?«

Der Priester zögerte einen Augenblick, dann sagte er:

»Ja ... ich habe ihn gesehen; er hat mich gestern aufgesucht, als er Sie verließ.«

»Ah!« schrie sie. »Er lebt! Wo ist er?«

Sie hatte sich bereits erhoben. Der eisige Blick des Priesters bannte sie jedoch wieder an ihren Platz.

»Ich verspreche Ihnen,« stammelte sie, »ihn nicht aufzusuchen ... aber, sagen Sie mir, ist er sehr unglücklich?«

»Ich habe keinen Grund, Ihnen die Wahrheit zu verschweigen. Jean ist nach Paris gekommen, um hier einen Urlaub von vier Tagen zu verbringen ... und auf meinen Rat wird er diese Zeit in einem Asyl verleben, einem geistlichen Asyl, das ich ihm bezeichnet habe.«

»Werden Sie ihn sehen?«

»Ja.«

»Ah, ich beschwöre Sie, sagen Sie ihm, daß ich gelogen habe, daß ich ihn absichtlich fortschickte, obzwar mir das Herz darüber brach ... ich denke nur an ihn, ich ... ich ...«

Von neuem hatte sie das Gefühl, gegen eine Mauer zu prallen, die Worte erstarben ihr auf den Lippen. Sie haßte diesen schwarzen Mann, der sich zwischen sie und ihren Geliebten stellte. Sie haßte ihn, aber sie konnte sich nicht von ihm losreißen. Es schien ihr, daß es der letzte Halt sei, das letzte Band, das sie Jean näherte, und daß sie nur durch diesen Priester den Offizier überzeugen könnte, daß sie seiner nicht unwürdig war. Und mit einemmal hatte sie Furcht, ihre Zähne schlugen aneinander ...

»Schicken Sie mich nicht fort, Herr Abbé!« flehte sie.

Der Abbé, der sie immerfort ansah, erwiderte in einem Ton, der Berthes überscharfem Gehör weniger unversöhnlich zu klingen schien:

»Ich denke gar nicht daran, Sie fortzuschicken.«

Er ließ sie weinen, lange Zeit weinen. Man hätte geglaubt, daß er schon im vorhinein wüßte, in welcher Art diese Krise endigen würde, und daß er die Lösung mit einer geduldigen Gewißheit erwartete, so wie ein Chemiker, der eine Lösung in einem Probiergläschen beobachtet.

Berthe trocknete endlich ihre Augen. Ah ... sie hatte auf ihre Beredsamkeit verzichtet, alle ihre Zuversicht war dahin.

Dieser schwarzgekleidete Mann, der weder schön, noch vornehm, nicht einmal sehr intelligent war, er hatte ihre Kraft entzweigebrochen, mit zwei oder drei geheimnisvollen Gebärden, wie die japanischen Ringkämpfer, welche einen Koloß durch einen Nasenstüber zu Boden strecken. Nein, sie war gar nichts, ein Strohhalm! Und sie stammelte:

»Würden Sie jetzt einwilligen, mich anzuhören?«

Sie getraute sich nicht, das entscheidende Wort zu sagen. Es war der Abbé, der es aussprach:

»Sie wollen beichten?«

»Ja ...«

»Gut, da Sie es wünschen, aber ich habe noch einen Besuch abzufertigen.«

Er stand auf. Berthe folgte ihm bis zu der Tür der Kanzlei, die ins Vorzimmer führte.

»Valerie! Valerie!«

Beim zweiten Ruf erschien eine schmale, junge Frau, im grauen Nonnenkleid, eine schwarze Haube auf dem Kopfe.

»Führen Sie die Dame in die Kapelle,« sagte der Abbé. Und zu Berthe gewendet:

»In etwa zehn Minuten kann ich Sie anhören. Bis dahin wollen Sie sich gedulden, und ihr Gewissen erforschen.«

Berthe folgte der schmalen, grauen Gestalt, die vor ihr hinglitt. Durch einen Gang, der sehr blank gewichst, von einer kleinen Gasflamme schwach erleuchtet war. Das roch nach Bodenwachs und Rosmarinöl. Berthe dachte: »Alles ist zu Ende, ich bin gefangen.«

Dann sagte sie sich:

»Wenn ich wollte, könnte ich mich noch retten.«

Aber sie schritt willenlos hinter der grauen Schwester dahin ...

 

Eine Stunde später brachte sie ein Wagen in ihre Wohnung. Sie war ruhig, sehr traurig. Trotz ihrer traurigen Stimmung versuchte sie, ihre Gefühle zu analysieren: »Ich fühle mich plattgedrückt, vernichtet.«

Sie war nicht mehr Berthe, es zog sie zu einem andern Ziel, und dieser treibenden Kraft gegenüber war sie haltlos. Von Zeit zu Zeit sagte sie sich: »Jean lebt,« um zu verhindern, daß sie in eine Art von Lethargie falle. Aber diese zwei Worte hatten nicht mehr für Berthe den berauschenden Sinn wie früher – ihre Bekehrung begann ...

In dieser Stimmung kam sie in ihrer Wohnung an. Clarisse lauerte auf sie, im Vorzimmer. Als Berthe die alte Dienerin erblickte, durchzuckte es sie wie mit einem Blitzstrahl. Das Gespräch von früher, das gemeinsame Gebet, dies erschien ihr jetzt wie die unvermeidlichen Anfangsschritte für den Weg, den sie hinfort zu gehen hatte. Sie brach in Tränen aus. Clarisse nahm sie in die Arme, stützte sie, mischte in ihre Ausrufe die zärtlichen Namen von früher:

»Meine Kleine ... ah, liebe Gnädige! Sie sind doch nicht krank? Haben Sie eine schlechte Nachricht?«

»Nein, Clarisse,« sagte Berthe, ihre Augen trocknend, »im Gegenteil!«

»Herr Jean?«

»Jean lebt, es geht ihm gut.«

Sie mochte sich noch so sehr beherrschen, der Tränenstrom kam immer wieder. Und sie wußte eigentlich nicht, worüber sie weinte. Weinte sie wegen Jean? Weinte sie über sich selbst?

Clarisse führte sie behutsam in das Schlafzimmer, und sagte, während Berthe Mantel und Hut ablegte:

»Es wartet eine Dame im Salon. Sie wollte nicht fortgehen, obzwar ich gesagt habe, daß Sie vielleicht gar nicht zum Mittagessen zurückkommen werden. Sie wollte auch nicht ihren Namen sagen, aber es ist eine Dame, die Sie kennen.«

»Wer ist's?«

»Ich weiß nicht, ich habe kein Gedächtnis für Namen, noch für Gesichter, ich glaube trotzdem, daß diese blonde Dame noch nie bei uns war, aber ich erinnere mich, daß ich ihr einmal einen Brief von Ihnen bringen mußte für Frau von Trevoux ...«

»Ich will nachsehen!« sagte Berthe.

Sie strich sich das Haar zurecht, legte etwas Puder auf – ganz mechanisch, ohne jegliche Koketterie; dann ging sie in den Salon hinüber. Es war ihr höchst gleichgültig, wen sie da antreffen würde, es gab ja nichts mehr, was sie interessieren könnte!

Im Salon hatte die sparsame Clarisse nur eine der Lampen auf dem Kaminsims angezündet. Berthe erkannte die Besucherin erst, als sie dicht vor ihr stand.

»Sieh da! Jeanne!«

Es war Jeanne Saulnois. Berthe sah, daß Jeanne sehr abgemagert war, das Gesicht verstört.

»Ich habe Sie warten lassen, entschuldigen Sie mich,« setzte sie hinzu. »Was führt Sie zu mir?«

Jeanne erwiderte mit zitternden Lippen:

»Sie sind heute vormittags zu uns gekommen?«

»Ja, gegen elf Uhr.«

»Warum?«

Berthe zögerte etwas, was Jeanne nicht entging.

»Nun, ich wollte Nachrichten einziehen über das Befinden des Meisters.«

»Nein, Berthe,« erwiderte Jeanne heftig, »Sie haben darauf bestanden, daß man Sie bis zur Wohnung vorläßt, aber mich wollten Sie ja nicht sehen, nicht wahr? Sie kümmern sich sehr wenig darum, wie es mir geht! Sie wollten Albert sehen! Nach einigen Wochen, während deren Sie Albert gänzlich aus Ihrem Kreis verscheuchten, ist Ihnen der Einfall gekommen, ihn wiederum einzufangen! Oder vielleicht war es der perverse Wunsch, die Verheerungen festzustellen, die Sie angerichtet haben.«

Jeanne hatte das mühsam gesagt und mußte jetzt eine Pause machen. Berthe hörte ihr sehr aufmerksam zu und staunte selber über diese Ruhe. Welchen Weg hatte sie denn nur in wenigen Stunden zurückgelegt, daß sie jetzt so ruhig, so gleichgültig sein konnte?!

»Berthe,« nahm Jeanne wiederum das Wort, »ich verbiete Ihnen, nein, ich bitte Sie ... lassen Sie meinen Mann in Ruhe! Er war sehr krank, er ist es noch. Die Ärzte sagen, daß er geheilt werden wird, aber nur bei einer völligen Isolierung. Ich selbst werde viele Wochen von ihm getrennt bleiben! Wenn er Sie sähe, wäre dies der sichere Rückfall. Lassen Sie ihn! Lassen Sie ihn!«

Sie fiel in den Lehnstuhl zurück und schluchzte heftig.

Berthe dachte: »Diese Jeanne geht mir auf die Nerven! Ich möchte, daß sie sobald als möglich das Zimmer verläßt.«

Und es war mit ziemlich ungeduldiger Stimme, daß sie antwortete:

»Sie können ganz ruhig sein, Jeanne, ich will Ihren Mann nicht sehen, und da Sie es wünschen, kann ich sogar auf den üblichen Höflichkeitsbesuch verzichten.«

Das wurde so ruhig gesagt, daß Jeanne an der Aufrichtigkeit der Sprechenden nicht zweifeln konnte. Aber gerade dieser Gleichmut empörte sie. In einer fast unbegreiflichen Regung ihres Herzens empfand sie es als demütigend, daß ihr Albert so gleichmütig aufgegeben wurde. Und das Streben, ihre Nebenbuhlerin zu verletzen, ließ sie antworten:

»Gut, ich zähle darauf. Übrigens, Sie sind ja jetzt versorgt!«

Sie erhob sich und wollte nach dieser beleidigenden Antwort das Gespräch endigen. Berthe legte die Hand auf ihren Arm.

»Jeanne, Sie wollten mich verletzen! Was soll Ihnen das nützen? Aber wie alle unfehlbaren, tadellosen Frauen, haben Sie ein Rachegelüst gegen die ... andern! Ich bin nun einmal, was ich bin ... aber ich bin gegen niemanden boshaft. Nicht einmal gegen Sie in diesem Augenblick, und ich werde es Ihnen beweisen.«

Jeanne verblüfft, stammelte:

»Ich verstehe nicht.«

»In der Tat, Sie verstehen gar nichts von der Krankheit Ihres Mannes! Albert liebt mich gar nicht, er leidet gar nicht durch meine Abwesenheit. Er ist ganz einfach eifersüchtig! Er glaubt, daß ich mich Jean de Trevoux hingegeben habe, ich, die ich mich einem Albert Saulnois versagte! Das hat ihn um die Besinnung gebracht. Nun, ich werde Ihnen ein Mittel verraten, um ihn zu heilen. Sagen Sie ihm zuerst, daß ich nie Jean de Trevoux erhört habe, daß ich Jean niemals mehr sehen werde. Dies ist die Wahrheit! Sie fühlen ja wohl, daß ich nicht lüge! Sagen Sie das Ihrem Mann!«

Die Ergriffenheit von Jeanne war so groß, daß sie nach den Händen von Berthe griff und sie mit solcher Kraft drückte, daß Berthe nicht wußte, ob es Zorn oder Dankbarkeit sei. Sie machte sich ohne Heftigkeit los.

»Und nun möge man mich mit all dem in Ruhe lassen! Ich gehöre niemandem, ich habe nie jemandem angehört, ich werde stets allein bleiben! Dies alles widert mich an! Gehen Sie!«

Die beiden Frauen gingen zur Tür. Berthe sagte:

»Leben Sie wohl, Jeanne! Sie sind nicht zu beklagen, glauben Sie mir.«

Es gab einen Augenblick, da sie sich fest ansahen, als wenn sie in ihren Augen einen Widerschein der früheren Freundschaft suchen würden. Aber der Riß war zu heftig gewesen ... Jeanne sagte einfach:

»Leben Sie wohl, Berthe!«

II

»Mein teurer Laurent, ich habe, um Ihnen zu schreiben, gewartet, bis das ganze Haus schlafen wird. Dieses Haus, das mir teuer ist, weil ich es aufbauen half, weil es das Haus Camille Engelmanns ist und auch darum, weil ich in ihm Sie kennen lernte. Jawohl, Laurent, in dieser Entfernung wage ich es, Ihnen das zu schreiben, was ich nicht wagte, Ihnen zu sagen. Jetzt ist ja alles anders geworden, Sie haben mir gestanden, daß Sie ein junges Mädchen lieben und es heiraten werden. Mein demütiges Geständnis hat also keine Wichtigkeit mehr. Es kann Ihnen gleichgültig sein, daß ihre Vorgesetzte Sie liebt, Sie ganz genau und so töricht liebt wie nur je eine Midinette ihren ersten Hofmacher lieben kann.

Ich sitze bei dem Tische, an dem wir so oft gemeinsam arbeiteten, ich sehe den Lehnstuhl vor mir, in dem Sie zu sitzen pflegten. Ich sehe Sie so deutlich vor mir! Ich habe Ihnen stets so hingerissen zugehört, daß ich oft gar nicht begriff, was Sie sagten, daß ich es mir wiederholen lassen mußte. Und Sie haben von all dem gar nichts bemerkt! Die Männer sind manchmal so naiv! Ah, wenn Sie sich manchmal über die Papiere beugten, in denen ich las, da hatte ich ein so tolles Verlangen, Sie zu küssen! Lachen Sie nicht, Laurent! Aber ich bin gewiß, daß Sie nicht lachen. Sie werden Schmerz und Kummer empfinden, es macht Sie bestürzt, daß ich Sie liebe, und Sie fühlen ja, daß in diesem Falle jemand sich aufopfern muß, ich oder Fräulein Migier ...

Warum schreibe ich Ihnen eigentlich? Ich möchte, daß Sie mich in dieser letzten Stunde meines Lebens deutlich sehen, ich habe viel Kummer, viel Schmerz, ich bin voll Haß gegen das Leben, gegen mein Leben, ich habe dieses Ende nicht verdient, ich klage die Ungerechtigkeit meines Schicksals an! Ich habe so viel gearbeitet, Laurent! Und diese Arbeit war so vielen Leuten nützlich, so viele Leute waren glücklich und ohne Sorgen, weil ich arbeitete! Ich kann mein Gewissen noch so erforschen, ich finde nicht, daß ich jemandem absichtlich geschadet hätte. Selbst in den Geschäften war mein Grundsatz das fair play ... dies ist nicht mein persönliches Verdienst! Es ist meine angeborene Gewissenhaftigkeit, die mich dazu treibt. Sie werden sich beim Lesen dieser Stellen sagen: ›Ja die Chefin ist wie ein Mann, mutig und loyal, wie schade, daß sie ... ‹

Ich weiß, was Sie denken, Laurent. Sie fragen sich erstaunt und beklemmt, daß ich gerade auf die beste Eigenschaft der Frauen verzichtete, auf die Tugend! Ich habe schon in meiner Jugend viel gesehen, Laurent, viel beobachtet, ich fand, daß bei sehr vielen Menschen die Tugend eine Heuchelei war, und als ich älter wurde, sah ich immer deutlicher, daß dieses Gesetz der Tugend nur dem Anschein nach befolgt wurde, daß man es heimlich brach. Mich jedoch hatte die Natur mit einem ungezügelten, heftigen Sinnentrieb begabt, die Enthaltsamkeit machte mich toll, ich führte ein freies Liebesleben, und ich glaubte wirklich, daß ich dadurch die wahre Moral nicht verletzte. Heuchelei war mir stets ein Gegenstand des Ekels. Und ich möchte Ihnen das eine sagen, Laurent: von dem Augenblick an, da ich Sie kannte, war mein Leben rein, es lag nur an Ihnen, daß ich es bliebe. Ich wäre Ihnen eine untadelige Frau geworden, ebenso wie es Fräulein Migier werden wird.

Warum diese plötzliche Änderung? Weil ich Sie liebe, und weil ich vordem noch nie geliebt habe. Es war nur der Instinkt, der mich zu den Männern trieb. Daß ich ein weiblicher Don Juan gewesen, dies drückte mich, machte mich verzweifelt! Ich hätte alles dafür gegeben, um diesen Zeitraum aus meinem Leben auszulöschen. Schon früher hatte ich solche Gedanken. Als ich noch nichts von der Existenz eines Fräulein Migier wußte, habe ich Jeanne Saulnois beneidet. Sie war glücklich, sie hat ihr Leben nur einem einzigen Mann gewidmet. Man bewundert sie, man führt sie als Beispiel an. Man sagt: ›Sehen Sie ... sie hat sogar einem Gouillaux widerstanden, diesem professionellen Verführer.‹ Schöne Tugend! Welche Frau hätte diese Tugend nicht ebensogut verwirklichen können? Jeanne hat den Vorteil einer traditionellen Erziehung in einer vornehmen Familie der Provinz. Sie hat mit zwanzig Jahren den Mann kennen gelernt, der für sie geschaffen war. Sie hat ihn geheiratet. Er war schön, geistreich, verführerisch. Er ist bald berühmt geworden, man machte ihn Jeanne manchmal streitig, aber sie wußte, daß sie den besseren Teil von ihm besaß. Unter denjenigen, die Gouillaux die weiblichen Lüstlinge nennt, hätte jede ihr Geschick gegen das einer Jeanne Saulnois eingetauscht.

Laurent, ich schwöre Ihnen, daß man mich nicht verachten darf. Viel ernster als Don Juan habe ich mich bestrebt, ein wahres Ideal zu finden. Aber in dem Augenblicke, als ich dieses Ideal fand, starrte mir die steinerne Statue entgegen. Gut, meine Stunde ist gekommen!

Doch warum schreibe ich Ihnen dies alles? Ich will meine Vergangenheit rechtfertigen, als wenn diese Vergangenheit der Grund wäre, warum Sie mich nicht lieben.

Sie glauben es vielleicht nicht, es ist dennoch wahr!

Wenn Sie, Laurent, schon vor zehn Jahren mein Mitarbeiter geworden wären, als ich in einem Glanze strahlte, dem kein Mann widerstand, so hätte ich Sie erobert. Und es ist diese Verspätung in meinem Schicksal, worüber ich mich nicht trösten kann. Wenn ich denke, daß Sie mich hätten sehen können, als meine Augen noch ihren vollen Glanz hatten, als meine Haare sich in unbändiger Kraft bäumten, als mein Mund so wollüstig war, daß die Männer manchmal den Blick abwendeten, aus Furcht den Verstand zu verlieren, als ich noch den Körper einer Diana besaß! Ah, niemals werde ich mich über diese Tücke des Schicksals trösten können, dieses Schicksals, das mich den einzigen Mann, den ich liebe, erst in dem Augenblick begegnen ließ, da ich ihm nicht gefallen konnte! Laurent, Laurent ... Sie haben nicht die wahre Camille gekannt!

Aber ich habe von meinem eigenen Unglück gar zu viel gesprochen. Ich schreibe Ihnen auch aus einem andern Grunde.

Laurent, ich wollte Ihnen zuerst sagen, daß ich Sie ohne jeden Groll verlasse. Sie waren der aufrichtigste, der beste aller Freunde. Sie konnten mir nicht sagen: ›Herrin, hüten Sie sich, mich zu lieben, ich bin nicht mehr frei!‹ Sie konnten es nicht, weil Sie zweimal blind waren, das erstemal wegen Ihrer Liebe zu Fräulein Migier, und dann, weil Ihre Herrin häßlich war. Sie haben mein Herz mit Füßen getreten, ohne es zu wissen. Ich zürne Ihnen deshalb nicht. Sie sind ein braver Mann, aufrichtig, ehrlich, und Sie sind so schön! Ich liebe Ihre Augen, Ihre Gesichtsfarbe, Ihre grauen Haare, die Ihr Gesicht so frisch erscheinen lassen. Ihre feinen und kräftigen Hände, Ihre sicheren Bewegungen, und wenn ich denke, daß ich dies alles nicht mehr sehen soll, bricht mir das Herz.

Denn ich werde Sie nicht mehr sehen, mein Freund! Weder Sie, noch jemand anderen. Das Leben, das ich mir mit Ihnen vorstellte, ist mir unmöglich gemacht worden, und das andere Leben drückt mich, und da ich trotz alledem noch jung geblieben bin, jung hinsichtlich der ungestümen Sinne, so bleibt mir nichts anderes übrig als zu verschwinden ...

Ich gehe ... Mein einziger Wunsch ist nur, daß niemand die Ursache meines Verschwindens ahnt. Dieses Schreiben wird Ihnen morgen zu früher Stunde zugestellt werden, und ich lasse außerdem, nebst meinem Testament, eine kurze Erklärung zurück, daß ich freiwillig aus dem Leben scheide.

Nebst diesem ›offiziellen‹ Briefe wird man auch mein Testament finden. Ich bitte Sie, mein Testamentsvollstrecker zu sein. Sie werden mir diesen letzten Wunsch nicht versagen. Mein Vermögen ist beträchtlich. Drei Viertel davon vermache ich wohltätigen Zwecken. Das letzte Viertel wird zwischen Ihnen und Fräulein Migier geteilt. Auf diese Art wird niemand die Wahrheit ahnen. Ich beschwöre Sie, das Geheimnis zu wahren, selbst gegenüber Ihrer Braut. Sagen Sie ihr nur das eine, daß Sie mir von Ihren Heiratsplänen gesprochen haben, und daß ich trotz einer Neurasthenie nicht vergessen hatte, an Sie zu denken, um Ihnen die Zukunft etwas zu vergolden.

Ich vermache Ihnen auch die meisten der Einrichtungsgegenstände meines Arbeitszimmers und auch das große Bildnis, das von Laszlo gemalt ist. Ich habe es Ihnen nie gezeigt, weil ich den Vergleich zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart fürchtete. Ich bitte Sie, dieses Bildnis in Ihrem Arbeitszimmer anzubringen. So werden Sie die wahre Camille Engelmann sehen, die schöne und junge Camille.

Schließlich will ich auch den Präsidenten unseres Verwaltungsrates verständigen, daß ich alles in bester Ordnung zurücklasse, damit mein Selbstmord der Bank nicht schadet. Ich empfehle Sie dem Verwaltungsrate als meinen Nachfolger. Ich hoffe, daß man diesen Wunsch befolgen wird.

Und nun, leben Sie wohl, Laurent ... Ich will mich aus dem Leben schleichen. In einigen Minuten werde ich weder jung, noch alt, weder schön, noch häßlich sein! Sie werden mir nicht mehr weh tun können, Böser! Es ist beinahe ein erlösendes Gefühl, daß ich mir sage: ›Das Schicksal wird mir bald nichts mehr anhaben können!‹ Nichts, wenn mit dem Leben wirklich alles endet. Ich glaube es, ich weiß zwar, daß es nur eine Hypothese ist. Niemand kann ja in der Nacht der Zukunft klar sehen ... Aber die Hypothese, daß Camille in einigen Augenblicken nichts mehr sein wird, beruhigt mich. Wenn ich mich täusche, wenn ein unwahrscheinliches Fortleben im Jenseits mich vor einen Richter führt, so hoffe ich, daß er mit mir Mitleid haben wird. Wenn sich die unglückliche Camille vor ihm zeigen wird, mit ihrem zerrissenen Herzen, so wird man ihr verzeihen. Dies ist mein Glaube, trotz meiner Ungläubigkeit.

Adieu, teurer Laurent! Haben Sie Mitleid mit meinem Andenken, ich möchte, daß Sie mich nicht vergessen. Sie sind der Einzige, an den ich denke, da ich nun diese letzte Reise antrete. Adieu ... ich umarme Sie vom ganzen Herzen, so, wie wenn ich Ihre Frau wäre! Wehren Sie sich nicht, denn in der Stunde, da Sie dieses Wort lesen, sind Sie schon Witwer nach mir ... Es ist kein Grund, daß Ihre wirkliche Frau eifersüchtig werde.

Und dann, sie wird Sie nie so lieben, wie ich Sie geliebt hätte, nie, so wie ich Sie liebe ... mein Teurer, mein Liebling!

Camille.«

III

In der Herzensangst, die Albine durchmachte, war das plötzliche Erscheinen von Berthe Lorande wie eine erlösende Pause. Als jedoch das Auto die Freundin entführt hatte, verschwand diese Erleichterung, und wenn Albine daran dachte, so war es nur, um sich zu sagen:

»Berthe glaubt, daß sie leidet! Ah, was gäbe ich dafür, an ihrer Stelle zu sein!«

Aber selbst während dieser wohltuenden Pause hatte, ebenso wie es im Traume geschieht, der geheimnisvolle Mechanismus des Denkens und Überlegens in Albine seine Arbeit nicht eingestellt. Und der einzige Ausweg – diese Bresche in der Mauer, die sich vor ihr erhob – dieser Ausweg stellte sich ihr jetzt mit völliger Klarheit dar. Es gibt ein Mittel, um den Bruch mit Roger heute noch herbeizuführen. Sie braucht bloß den Hörer des Fernsprechers zu nehmen, einige Ziffern zu sagen und auf die Frage Rogers zu antworten: »Kommen Sie, ich erwarte Sie.« Und dann, wenn Roger in das Zimmer eintritt, in das er noch nie eingedrungen war, aber in dem ihn Albine heute empfangen will, weil alle Gegenstände darin gleichsam von der Herzensangst durchtränkt sind, welche sie in den letzten Tagen durchmachte ... wenn Roger hier sein wird, wird es genügen, daß sie einige Sätze sagt, damit Roger flüchtet – nicht verzweifelt, sondern angeekelt ... und dieser Ekel wird ihn vor dem Selbstmord bewahren ...

Dies ist der Plan, und er scheint Albine sehr einfach zu sein. Sie will sich aufs tiefste erniedrigen, wenn nur das eine Geheimnis gewahrt bleibt! Es muß sein! Roger muß aus diesem Zimmer angewidert fliehen, mit der Überzeugung, daß er einem schlimmeren Übel entflieht, als selbst der Tod es sein könnte. Es muß sein, daß er flieht, wutentbrannt und Schimpf auf den Lippen!

Seine Wut wird ihn davor behüten, Hand an sich selbst zu legen.

Er wird leben ... er ist ja so jung, vierundzwanzig Jahre kaum, ein Knabe beinahe. Es wird genügen, daß er allmählich eine Liebe vergißt, die in ihrer Art seltsam war ... die nie nach dem körperlichen Besitz geizte, nie nach einem Kuß verlangte. Roger wird vergessen. Die Sinne Rogers werden ihn an nichts erinnern, er wird vergessen. Er wird andere Frauen lieben, er wird sich verheiraten, er wird Kinder haben, er wird glücklich sein. Albine, einen Augenblick wie berauscht, glaubt sich in diese Existenz verflochten. Kinder küssend und wiegend, die nicht ihre Kinder sind, und doch ihre Kinder, die Kinder Rogers ... Ihr Herz wird weich, sie bricht in Tränen aus. Ah, nein, dieses Leben wäre gar zu hart! Wäre es nicht besser, die Wahrheit zu sagen: »Du bist nicht der Sohn einer französischen Sprachlehrerin, ich will dir sagen, wer deine Mutter ist, deine Mutter, die, ohne dich zu kennen, dich geliebt hat wie einen Sohn, eine Mutter, die sich in dieser Sohnesliebe langsam gereinigt, veredelt, entsündigt hat ... Verzeih ihr, verstoße sie nicht, liebe sie!«

Nein, unmöglich ... nichts als der Gedanke einer Verzweifelten, und das genügt, damit sie wieder die eherne Mauer vor sich fühlt. Die Wahrheit zu sagen, das wäre noch schlimmer als alles, was sie bedroht, wenn sie schweigt. Aber wird er das überleben, der Unglückliche?

 

Und so kommt sie immer wieder nur zu der einen Lösung, die allen Schmerz auf sie allein häuft, und das muß bald geschehen, sie hat keine Zeit zu überlegen, zu zaudern. Sie entschließt sich dazu mit einem eisigen Schauer. Sie klingelt Justine.

»Es geht mir besser. Wollen Sie Herrn Vaugrenier telephonieren, daß ich ihn sofort nach dem Mittagessen empfange, gegen zwei Uhr ...«

»Gut, Frau Gräfin ...«

Aber als sie sieht, daß Justine nach dem Hörrohr greift, flieht sie in ihr Zimmer und verschließt die Tür hinter sich. Sie fürchtet, diese ferne Stimme zu hören, welche sie aus den Antworten der Zofe errät.

Und sie hört trotzdem, wie Justine sagt:

»Herr Vaugrenier wird um zwei Uhr hier sein.«

»Gut.«

»Wünscht Frau Gräfin noch etwas?«

»Nein, ich werde Ihnen klingeln.«

Nun ist sie allein in ihrem Toilettezimmer vor dem Ankleidetisch, der so gestellt ist, daß er im vollen Lichte das Spiegelbild zurückwirft. Albine mustert ihr Bild, wie es Camille am Vortag getan hatte. Man hätte sagen können, daß eine Ironie des Schicksals diese zwei einander ähnelnden Frauen denselben Zielen entgegenführte. Aber Albine hatte die Prüfung ihrer Schönheit stets mit der größten Strenge gegen sich selbst vorgenommen, im Gegensatz zu den Frauen, die instinktiv eine vorteilhaftere Miene annehmen, wenn sie sich im Spiegel beobachten. Sie öffnet jetzt den Kimono, läßt ihn von der Büste herabgleiten, sie sieht die nackten Arme, den Busen, den Nacken. Sie sieht mit gerunzelten Brauen nach diesem Bilde. Aber es ist nicht dieser sehnliche Wunsch, den sie lange Jahre hindurch bei einer solchen Gelegenheit empfunden hatte, schöner zu sein als am Vortag, dieser Wunsch bleibt ihr jetzt fremd, so fremd! Ah ... nicht mehr die Wünsche der Männer aufstacheln! Kam ihr nicht alles Elend dieser Stunde von den Männern? In dem Kampfe, den sie jetzt mit Roger bestehen soll, möchte sie als alternde, verblühte, unglückliche Frau erscheinen, ausgeschlossen von dem Wunsch nach Liebe. Wünsche! Liebe! Ein Schauer überfliegt sie, da sie denkt, daß solche Wünsche sich in der bevorstehenden Unterredung an sie richten könnten!

Sie beugte den Kopf vor, sah sich im Spiegel. Berthe hatte recht gehabt, das Haar ist bleicher geworden, glanzlos. Sie löst die Kämme; die seidigen, duftenden Wellen hüllen die Büste ein, das Haar ist hie und da, an den Wurzeln, weißlich, in einigen Monaten wird es völlig grau werden. Doch heute ist diese schwache Veränderung der Farbe nur wie ein fast unsichtbarer Rauhreif, der sich auf den Kopf niedergesenkt hat, und es macht sie noch schöner, das Gesicht wird jünger, scheint frischer zu sein, und ihre Wangen erscheinen wie mit raffinierter Kunst geschminkt, die Lippen sind blutrot wie bei einem fünfzehnjährigen Mädchen. Nur die Augen sind blau umrandet, liegen tief in den Höhlen, aber diese Augen blicken in fieberhaftem Glanze und Albine muß sich zugestehen, daß sie noch nie so schön war. Zum erstenmal erscheint ihr diese unzerstörbare Schönheit unnatürlich, hassenswert ... nein, wirklich, diese Maske der Liebe will nicht von ihrem Gesicht weichen, von diesem Gesicht eines weiblichen Lüstlings! Nicht die Zeit und nicht der Schmerz konnten diese Maske zerstören ...

 

Die zwei Tage und Nächte einer namenlosen Qual, die das Schicksal für Albine aufgespart hatte, verbrachte Roger zwar in völliger Vereinsamung, stumm vor sich hinbrütend, aber keineswegs unruhig, nur etwas erbittert, daß ihn Albine nicht vorließ, und dann wieder gerührt, da er sie krank und leidend wußte.

Er hatte zuerst gar keine Ahnung, daß eine Krise bevorstehe. Albine hatte ganz gut erraten, daß nur eines Roger aufmerksam machen würde: wenn er bei seiner Rückkehr aus Nancy keine Nachricht von Hobson vorfinden würde. Aber der Brief war da und enthielt nichts Ungewöhnliches. Und Hobson, der sich für die Studien im Institut Pasteur interessierte, kam jährlich einigemal nach Paris, und fast immer unternahm er diese Ausflüge in einem plötzlichen Entschlusse, ohne Ankündigung. Der Brief war etwas trocken, aber Hobson schrieb ja nie zärtlich. Roger sagte sich: »Der Alte ist unzufrieden, er hat den Plan, mich mit seiner Engländerin zu verheiraten, nicht aufgegeben, aber er wird mich nicht dazu bereden.« Und er antwortete am selben Tage, in einem herzlichen Schreiben, das jedoch seinen unwiderruflichen Entschluß ankündigte, Albine zu heiraten.

Also ... in diesen zwei Tagen verspürte er keine Beunruhigung. Er schrieb nicht an Albine, er telephonierte nicht, er wartete den Anruf von Justine ab, und in den kurzen Mitteilungen, die man ihm über das Befinden der Gräfin machte, ahnte er keine Lüge, kein Geheimnis. Ein Gouillaux hätte sofort etwas Ungewöhnliches gewittert. Für Roger blieb die Frau ein unlösbares Rätsel, wie für jeden leidenschaftlichen und impulsiven Menschen, der sich theoretisch mit dem weiblichen Charakter auseinandersetzt und ihn zu begreifen glaubt, weil er ihn gar nicht als Rätsel auffaßt.

Erst am dritten Tage begann er unruhig zu werden. Er erinnerte sich an das nervöse, fieberhafte Wesen der Gräfin an dem Abend, da er sich verabschiedet hatte. Die lakonischen Auskünfte, die ihm Justine über das Befinden ihrer Herrin gab, bestärkten ihn in dem Verdachte, daß man ihn absichtlich fernhalten wollte. Gerade als er in solchen Gedanken sich quälte, kam der Anruf der Zofe, um ihn zu einem Besuch aufzufordern, und all seine Herzensangst war durch ein unbeschreibliches Glücksgefühl hinweggefegt:

»Ich werde sie sehen!«

 

Als ihn gegen zwei Uhr der Diener in den kleinen Salon führte, wurde er wiederum unruhig. Er fragte sich: »Was habe ich denn nur?« Denn mit einemmal bildete er sich ein, daß ihn Albine in letzter Minute nicht vorlassen würde. Er schritt nervös zum Fenster, sah in die stille Gasse hinaus, zu dem gegenüberliegenden Hause, das stumm und verschlossen dalag. Er formte bereits seine Antwort, wenn man ihn wirklich abweisen würde: »Ich habe das Recht, die Gräfin zu sehen, selbst wenn sie krank ist, ich bin Arzt!« Und er ballte die Fäuste, um dann jäh zusammenzuschrecken, da er Justine hinter sich hörte.

»Die Frau Gräfin bittet Sie, in ihr Boudoir zu kommen.«

»In das Boudoir?« fragte er unruhig. »Die Gräfin ist also noch krank?«

»Oh nein, es geht ihr im Gegenteil viel besser!«

Albine erwartete ihn, in einem Lehnstuhl sitzend, unweit des Fensters. Sie trug ein dunkles, sehr weites, faltiges Kleid, als hätte sie sich zum Ausgehen fertig gemacht. Zwischen dem Lehnstuhl und dem Sessel, den sie Roger anweisen wollte, stand ein kleiner Tisch, mit Büchern bedeckt. Eine kindliche Vorsicht, einen Schutzwall aufzurichten, im Augenblicke, da sich zwei unbewußte Widersacher mit all ihren Kräften messen würden.

»Albine!«

»Mein Freund ...«

Er war eingetreten, und ehe sie sich bewußt wurde, wie es geschah, hatte er sich über ihre Hand gebeugt. Sie fühlte, daß etwas Feuchtes auf ihre Finger tropfte, es waren nur einige Sekunden, daß diese Stille dauerte; wäre sie länger gewesen, so hätte sich Albine verraten, sie hätte dieses angstvolle Kind an sich gezogen, sie hätte sich mütterlich gezeigt. Aber sie hatte ihren Entschluß in einer gar zu stechenden Flamme des Schmerzes geschmiedet, als daß sie ihn vergessen konnte. Sie fuhr zurück, mit Aufbietung aller Willenskraft:

»Nun, Roger, seien Sie vernünftig! Wir haben sehr ernste Dinge zu besprechen.«

Der trockene Klang dieser Worte gab einen so harten Gegensatz zu der zärtlichen Begrüßung, daß sich Roger ganz bestürzt erhob. Die Angst dieses Morgens kehrte ihm zurück, und mit verstörtem, verbissenem Gesicht erwiderte er:

»Es ist wahr ... Entschuldigen Sie, daß ich es vergaß! Wir müssen ja unsere Bekanntschaft völlig erneuern, sechs lange Tage haben wir uns nicht gesehen! Sie waren leidend?«

Er sagte diese letzten Worte in einem fast gleichgültigen und verletzenden Ton, der nur schlecht seinen inneren Schmerz verbarg. Albine erriet dies und erwiderte sanft:

»Ja, ich habe schlimme Stunden verbracht! Setzen Sie sich, ja, dort, mir gegenüber ... und benehmen Sie sich nicht als mein Feind. Wenn Sie mich gestern gesehen hätten, so würden Sie Mitleid mit mir empfinden. Ich bin noch heute nicht hergestellt.«

»Nie sahen Sie so schön aus wie heute,« murmelte er.

Er ahnte nicht, daß er gerade diejenigen Worte sagte, die notwendig waren, um den sinkenden Mut Albinens zu stählen. Aber sie nahm auch wahr, daß ihr Plan einer Offensive über den Haufen geworfen war, und sie mußte die einzelnen Wegstrecken abkürzen. Da sich Roger ihr nähern wollte, wies sie ihn mit einer Handbewegung zurück:

»Roger, ich habe Ihnen gesagt, daß wir Ernstes zu besprechen haben.«

Er fühlte, wie sich seine Kinnbacken unwillkürlich zusammenpreßten, und er brachte mühsam hervor, einen ironischen Ton versuchend:

»Ah, ich dachte es mir ... es gibt also eine Neuigkeit?«

»Nein, Roger, nichts neues, aber in den sechs Tagen meiner Einsamkeit habe ich überlegt, habe ich mich geprüft, mein Gewissen erforscht, ich habe die Prüfung meines Lebens vollendet. Sie sollen es kennen lernen – widersprechen Sie mir nicht! Es war so zwischen uns abgemacht ...«

Sie mußte innehalten, weil ihr Mund ganz trocken geworden war. Roger rührte sich nicht. Er wurde sehr blaß, sein Atem ging keuchend. Albine senkte die Augen, um dieses gemarterte Gesicht nicht zu sehen. Sie blickte auf ihre Hände, die leise zitterten.

»Also ... ich werde Ihnen alles sagen,« hauchte sie.

Roger konnte nicht mehr an sich halten:

»Ich kümmere mich nicht um das, was abgemacht war! Ist das eine Art, mich zu empfangen, nach sechs endlosen Tagen? Wir haben uns doch seither nicht geändert!«

Sie beharrte, sagte diejenigen Worte, die sie vorbereitet hatte, und gerade das gab ihrer Antwort etwas Künstliches, Alltägliches – was sie selber bemerkte und worüber sich auch Roger nicht täuschte.

»Nehmen Sie sich in acht, Roger! Sie sprechen jetzt im Zorn, in Ungeduld, und was Sie heute nicht erfahren wollen, das werden Sie später trotzdem wissen. Sie werden mir deshalb Vorwürfe machen, ich bin dessen gewiß! Nein, zwischen uns darf es kein Geheimnis geben, höchstens für den Fall ... daß wir auf unsere Pläne verzichten.«

Er war aufgesprungen:

»Was sagen Sie da!?«

Sie hatte nicht die Kraft, es zu wiederholen. Sie machte eine müde Bewegung, die bedeutete: »Ich habe gesagt, was ich sagen mußte.«

»Ah!« schrie Roger, wobei er zurückwich. »Ich begreife! Sie haben sich alles überlegt! Sie haben Ihre Ansicht geändert!«

Diesesmal waren es keine vorbereiteten Sätze, die den Lippen Albinens entschlüpften:

»Ja, ich habe es mir überlegt, da ich ganz allein war, und diese Überlegung hat mir viel Schmerz zugefügt, und seitdem ich es überlegt habe, sind Sie mir noch viel teurer geworden. Wenn alles zwischen uns zu Ende ist, wird mein Leben nur ein Schatten von früher sein.«

Er stammelte, gar nicht bemüht, seine Verzweiflung zu verbergen:

»Ja, ja, das haben Sie sagen können! Alles soll zu Ende sein! Das haben Sie gesagt!«

Sie war auf ihn zugekommen und hatte seine beiden Hände gefaßt. Ah, wenn sie ihn so auf immer halten könnte, wehrlos ...

Sie sagte leise:

»Roger ... ich werde nicht das Verbrechen begehen, Ihnen mein Leben aufzuhalsen! Man heiratet nicht eine Albine Anderny, die mehr als vierzig Jahre zählt, wenn man so jung ist, so voll Kraft und Mut.«

Er widersprach, mit gebrochener Stimme, aber sehr heftig:

»Nein, nein, Sie wissen ganz gut, daß es auch die jüngste Frau nicht mit Ihnen aufnehmen kann, und ich bin ja alt! Sie sind ja jünger als ich!«

»Für wie lange? Ich bin zweiundvierzig ... und Sie vierundzwanzig ...«

Er schüttelte den Kopf:

»Ich liebe Sie!«

Sie wich zurück, ließ ihn ganz gebrochen auf dem Stuhl. Sie setzte sich wiederum nieder, zog eine Decke über ihre Knie, murmelte:

»Vielleicht, in der Tat, ich allein weiß mein wahres Alter, aber ich weiß auch, was sich unter meiner Schönheit birgt ... so viel Müdigkeit, so viel Ekel! ... Das Bedürfnis nach Ruhe ... nein, ich habe nicht das Recht, mich an die Jugend zu ketten! Lassen Sie mich ausreden. Sie sind ja ein Kind gegen mich ... meine Liebe für Sie kann nur die Liebe einer älteren Schwester sein (sie wagte nicht zu sagen: die Liebe einer Mutter) ... Und diese Liebe war ja bisher auch schwesterlich ... ohne uns darüber klar zu werden, haben wir dem Einfluß unseres gegenseitigen Alters gehorcht ... Gottseidank, wir haben nicht gesündigt!«

Sie konnte nicht vollenden; sie hatte bereits zu viel gesagt. Ihre Worte brachten Roger in Zorn. Er fuhr so heftig auf, daß sie furchtsam wurde und instinktiv die Arme über der Brust verschränkte.

»Ist dies ein Vorwurf?« fragte er. »Bin ich gar zu ehrerbietig gewesen?«

»Nein, Roger ... Aber kommen Sie nicht näher! Sie scheinen mich zu bedrohen ... Sie waren die Güte, die Aufrichtigkeit selbst. Bedauern Sie es nicht! Dies erlaubt mir heute, Sie von mir zu befreien. Ja, es ist eine Befreiung ... mein Entschluß ist gefaßt, ich werde Ihnen nicht die Last einer alternden Frau aufbürden, vor allem einer alternden Frau ... mit meiner Vergangenheit!«

Ihre Worte waren von einer so verzweifelten Energie durchtränkt, daß Roger mit hängenden Armen stehen blieb.

»Nicht doch ... sehen wir einmal,« murmelte er. »Ich frage mich beinahe, ob ich träume ... Wir haben uns vor sechs Tagen verlassen, völlig einig. Alle diese Überlegungen, von denen Sie mir jetzt sprechen – Sie hatten schon früher vollauf Zeit, sie zu machen. Sie werden mir nicht einreden, daß es die Migräne war, die aus Ihnen eine andere Frau gemacht hat! Ich bin vielleicht etwas kindisch, wie Sie sagen, aber wenn ich ein Kind bin, so bin ich ein intelligentes Kind! Ich sehe, ich begreife ... ich lasse mich nicht hinters Licht führen! Es hat sich etwas ereignet ... in dieser Zwischenzeit ...«

»Nein, gar nichts.«

»Sprechen Sie! Ich will alles wissen.«

Er war ganz nahe bei ihr, widerstand nur mühsam dem Verlangen, sie hart anzufassen. Aber in diesem Zorn fürchtete sie ihn weniger, und diesen Zorn hatte sie ja vorausgesehen, konnte ihm trotzen.

»Es hat sich nur das eine ereignet,« erwiderte sie, »daß Ihre Abreise, und dann meine Krankheit eine völlige Einsamkeit um mich schufen, gerade in dem Augenblick, da ich meine Zukunft für immer feststellen wollte. Ich sah den Abgrund, und ich wich zurück. Mein Leben tauchte vor mir auf, als wenn ich eine fremde Frau zu beurteilen hätte – und ich verbiete Ihnen, Roger, diese Frau zu heiraten! Diese Frau war das, was sie war, es war ihr freier Wille. Aber Sie, so rein, so ehrlich ... diese Frau ist nicht für Sie.«

Roger hörte ihr zu, totenblaß. Unglücklicherweise hielten die Nerven Albinens nicht stand, sie brach in Schluchzen aus. Der Anblick dieser Tränen machte das Herz Rogers weich wie Wachs. Was er stammelte, war gar nicht die Antwort darauf, was Albine gesagt hatte, er übersprang mit einem Satze alle Hindernisse, die sie vor ihm aufgetürmt hatte. Und bereits flehte er:

»Ich liebe Sie, Albine, ich liebe Sie so, wie das Leben Sie gemacht hat ... stoßen Sie mich nicht zurück!« Er beugte sich über sie, ihre Hände hatten sich ineinander gekrampft. Und sie begriff, daß das Opfer vollbracht werden mußte. Sie sagte ihm:

»Roger, Sie wissen nicht, was mein Leben war! Ich selbst habe mir bisher keine Rechenschaft darüber abgelegt. Sie kennen nicht alles, man hat Ihnen von meinen Liebschaften erzählt, die öffentlich bekannt waren, aber es gab anderes, andere Begegnungen, die man nicht mehr Liebe nennen kann ... ah, Sie brechen mir die Handknöchel!«

Er lockerte den Schraubengriff seiner Finger:

»Schweigen Sie! Ich verbiete Ihnen ... machen Sie mich nicht wahnsinnig ... Wenn Sie fortfahren, weiß ich nicht, was ich ...«

»Gut, sprechen wir nicht mehr darüber ... ich habe auch keine Kraft mehr, aber lassen Sie meine Hände los!«

 

Er gehorchte und taumelte wieder an seinen Platz zurück. Es war ein Waffenstillstand von einigen Minuten, hervorgerufen durch die Erschöpfung der Widersacher ... Albine glaubte sich jetzt in ihrem Vorteil:

»Es gibt noch etwas anderes ... ich habe Ihnen gesagt, daß ich auf mein bisheriges Leben verzichten wollte, auf all diesen Luxus, ich habe mich anders besonnen, denn ich könnte nicht ... ich bin zu alt, ich würde es später bereuen. So etwas kann man tun, wenn man ein junges Mädchen ist, aber eine Frau, die auf Fünfzig losgeht ...«

Diese Worte hatte Albine lange überlegt und sich fest eingeprägt, weil sie glaubte, daß sie auf Roger Eindruck machen würden. Er hatte eine so empfindliche Eigenliebe ... und er selbst war es, der diesen Verzicht gefordert hatte! Sie war überrascht, daß er sich gar nicht rührte. Er überlegte, und sagte dann halblaut:

»Das alles ist nicht wahr ...«

Albine wollte widersprechen. Aber er beharrte:

»Nein, das ist nicht wahr! Ich will damit sagen, daß Sie mir ganz unwahre Gründe angeben! Sie haben beschlossen, mich zu verjagen, und Sie suchen nach etwas, das mich empört, damit ich selbst gehe! Aber zählen Sie nicht darauf! Sie sehen, ich bin zornig, ich bin angewidert, weil es zwischen uns eine Lüge gibt! Aber ich bin ruhig, ich kann überlegen, ich lasse mich nicht täuschen! Albine, Sie werden den wirklichen Grund sagen, und wenn Sie ihn nicht sagen, so werde ich ihn erraten ... ja, ja, ich weiß es jetzt ...«

Albine schrie unwillkürlich auf:

»Das wissen Sie! Nein, es ist nichts, es ist unmöglich!«

Instinktiv verbarg sie ihre Hände unter der Decke, denn er stand schon wieder dicht neben ihr. Aber diesmal war er ruhig, ruhig wie ein Henker.

»Ich ... ich weiß den Grund, und ich brauche Sie nur anzusehen, in Ihrer Verwirrung!«

»Nein ... Sie täuschen sich.«

»Ich weiß es, man hat mich gut unterrichtet.«

»Nein ... nein ... man hat gelogen!«

Aber sie zitterte so, daß Roger dies für einen unumstößlichen Beweis ansah:

»Ja, man hat es mir gesagt, natürlich zuerst alles über Ihre Vergangenheit, alles, alles ... selbst diese verdächtige Reise, als junges Mädchen, mit Henriquette Dupont, die Niederkunft im Ausland, einige Monate vor der ersten Begegnung mit Anderny! Sie können mir nichts neues sagen, ich wollte auch die Wahrheit nicht überprüfen. Ich hatte es Ihnen versprochen, aber ... Gouillaux hat mir etwas gesagt, das ich nie glauben wollte, daß es auch jetzt jemanden in Ihrem Leben gibt ... ja ... einen Liebhaber!«

»Ah, Roger, nein, nein! Es ist eine Lüge!«

Sie vergaß ganz auf ihre absichtlich markierte Schwäche, sie fuhr in die Höhe, nun war sie es, die nach den Händen Rogers griff, und zum erstenmal, in ihrer Verwirrung, duzte sie ihn:

»Man hat dich belogen! Wer hat dir diese Infamie gesagt? Ich will nicht, daß du es glaubst! Als ich dir begegnete, war mein Herz öde und leer, und seither habe ich nur an dich gedacht, ich wollte das werden, was du von mir träumtest, eine ehrbare Frau! Roger, kein Mann ist mir seither nahegekommen, ich habe meine Tür allen Bekannten verschlossen, allen, die mir früher den Hof machten, die zu hoffen glaubten.«

»Ich sehe, daß Sie jetzt nicht lügen,« sagte er nach einem kurzen Schweigen. »Nun, fahren Sie fort! Wenn es nicht dieser Grund ist, der uns trennt, so sagen Sie mir den wahren ...«

Sie wich zurück und stammelte:

»Den wahren Grund? Ich habe ihn ja gesagt, ich bin zu alt und Sie sind zu jung!«

Sie brach ab, weil sie fühlte, daß ihre Worte ungehört an diesem starren Willen abprallten. Die Augen Rogers waren auf sie gerichtet, und zum erstenmal sah sie in diesen Augen etwas, das sie früher nie bemerkt hatte, das Roger ganz fremd war: eine Ironie!

Sie schwieg, kraftlos.

»Nun gut, meinetwegen,« sagte er.

Sie begriff, daß er sie verspottete. Sie fühlte, daß das Unglück herannahte, so wie man den Wind spürt vor dem Ausbruch des Gewitters!

»Gut, es sei! Sie haben vielleicht recht. Warum sollte ich ein Vorrecht haben, da ich die anderen Günstlinge gar nicht übertreffe, einen Bellinconi ... Moreuil-Verdy, den Erzherzog, und die anderen! Es sei ... zum Teufel mit der Ehe! Aber ich kann trotzdem der Nachfolger dieser Leute sein!«

Bei dem ersten Schritt, den er machte, um sie an sich zu reißen, wich sie so heftig zurück, daß der Tisch umfiel. Und hinter dieser Barrikade flehte sie, die Arme erhoben:

»Niemals! Niemals!«

Aber er hatte sie schon erreicht ...

»Ich flehe dich an,« keuchte sie.

Sie fühlte ihre Ellbogen wie in einem eisernen Zangengriff eingepreßt. Doch in diesem neuen Schmerze, den er ihr zufügte, sah sie auch die Rettung, denn in seinen Augen glühte keine Liebe, keine Leidenschaft, nur Haß und Schmerz! Und er sagte ihr, über sie gebeugt:

»Man hat die Wahrheit gesagt, du bist ein Ungeheuer! Du hast mit mir gespielt, du hast mich bezaubert, um mich dann fortzustoßen! Wirklich, ich will mir gar keine Mühe mehr geben, dich zu begreifen ... aber ich glaube, daß ich dich töten werde!«

Sie wollte sich mit aller Gewalt losmachen. Er hielt sie in starrer Umschlingung, und sagte, beinahe ruhig:

»Ja, ich will ein Ende machen! ...«

»Töte mich nicht, Roger, töte mich nicht – deinetwegen ...«

»Hast du Furcht?«

»Nicht für mich! Aber du würdest so namenlos unglücklich sein, später! Du weißt nicht, wen du tötest ...«

Er zischte ihr ins Gesicht:

»Glaubst du denn, daß ich dann leben könnte?! Ich werde mich auch töten, sofort ... nach dir!«

Der Anprall dieser Worte auf die Nerven Albinens war so heftig, daß sie die Kraft hatte, sich loszumachen.

»Was willst du sagen? Du ... du willst dich töten?«

Er erwiderte mit einer starren Ruhe:

»Das weißt du ja ganz gut, Albine, ich kann nicht mehr leben, ich werde mich umbringen.«

Eine Sekunde nur ... ein Aufschrei, ein Hinstürzen ... und nun ist sie es, die ihn hält, in ihre Arme reißt! Er will widerstehen, aber er ist der Schwächere, und er kann nicht widerstehen. Denn er fühlt die brennende Wange Albinens gegen seine Wange, er fühlt ihre Lippen auf seinen Haaren, auf seinen Augen, und zwischen diesen tollen Küssen stammelt sie:

»Nein, ich will nicht, Roger, sag, daß du es nicht tun wirst! Antworte doch ... antworte!«

Und jetzt, da ihn Albine in den Lehnstuhl zurückgedrängt hatte, wird ihm so seltsam zumute ... so seltsam, als wenn die Last, die auf seinem Herzen drückte, sich lösen würde! Noch nie hatte ihn Albine in ihren Armen gehalten, und jetzt sind ihre Arme um seinen Hals verkrampft! Noch nie hatte er die Berührung ihrer Lippen verspürt, und jetzt überschüttet sie ihn mit Küssen! Ah, welch seltsamen Frieden gibt ihm diese Liebkosung! Und er sagt, schwach und besiegt:

»Albine ... wie du zu mir sprichst! Noch nie hast du mich so an dich gepreßt ... Noch nie hast du so zu mir gesprochen!«

Aber nun ist sie die Starke, die Löwin, die ihr Junges verteidigt ... und sie fürchtet den Gegner nicht mehr ...

»Nein, frag' mich nicht! Laß dich beruhigen! Laß dich heilen! Ja, weine, mein ... Kleiner ...«

Und er weint, er schluchzt, wie ein Kind, besiegt, entwaffnet ... Und sie wiegt ihn in ihren Armen. Er kennt noch nicht das Geheimnis dieser plötzlichen Versöhnung, dieser Übereinstimmung, dieser absoluten Herzlichkeit, die sich zwischen ihnen bei der ersten körperlichen Berührung herausgebildet hat. Aber sie, die diesen Besiegten gebar, die ihm ... Blut von ihrem Blute ... das Leben gab, sie staunt nicht mehr! Nein, es ist nicht eine Erfindung der Dichter, es ist die stärkste aller Wahrheiten, diese Einheit zweier Wesen, von denen das eine dem andern das Leben dankt! Die Stimme des Blutes ... Instinktiv unterwirft sich Roger diesem Gebot, und er findet sein Gleichgewicht wieder. Sein gequältes Gehirn denkt frei, er begreift noch nicht ... wird er begreifen? Aber er sieht ein Licht von irgendwo, und er streckt die Hände danach aus, er fühlt undeutlich, daß dieses Licht von Albine ausgeht. Und an der Art, wie ihn Albine umschlingt, ihn herzt, ihn wiegt, ihn tröstet und beruhigt, fühlt er, daß sie Dinge von ihm weiß, die er noch nicht kennt. Woher nahm sie diese Weisheit? Während der sechs Tage seiner Abwesenheit ... ein Name taucht ihm auf:

»Hobson war in Paris,« murmelt er.

Und seine Augen forschen in denen der Frau. Und die Augen Albinens lügen nicht mehr, sie bieten seinem verstörten, fragenden Blick die Unterwerfung, den Entschluß, wahr zu sein. Roger wiederholt:

»Hobson war in Paris ...«

»Ja.«

»Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Ja.«

Sie legte ihre Hände auf die Stirne Rogers. Diese Stirne glüht ... Sie streichelt ihn, sie murmelt:

»Rege dich nicht auf, denke nicht nach, ich werde dir die Wahrheit sagen, später, die volle Wahrheit ...«

Er hört kaum auf sie. Er folgt seiner Idee: »Diese Reise ins Ausland ... Gouillaux hat erzählt ...«

Albine fleht:

»Ich werde es dir sagen, ich verspreche es dir! Aber jetzt beruhige dich, Roger ...«

Ah, die Unglückliche! Alles Blut ist ihr zum Herzen zurückgeströmt ... ihr Gesicht ist jetzt totenblaß, weiß wie eine Hostie. Roger hat sich losgemacht, er sieht sie an, er denkt:

»Ja, jetzt sehe ich es selbst ... sie ist nicht mehr jung! Jetzt zeigt sie ihr wahres Alter ...« Wie mit einem Schlag hat sich die trügerische Jugend entfernt – unter dem wahren Schmerze.

Sie sprechen nicht mehr, aber sie können die Augen nicht von einander abwenden. Sie hatte vorhin sehnlichst gewünscht, ihr Geheimnis zu verteidigen, und jetzt wünscht sie ebenso glühend, es nicht in Worte kleiden zu müssen. Und sie liest in den Blicken Rogers allmählich die aufsteigende Wahrheit, er beginnt zu begreifen ... Sie murmelt:

»Hobson ... er kannte mich ... ich wußte es nicht ... aber als ich ein junges Mädchen war, damals in South Croydon, während dieser Reise, in England ...«

Sie möchte ihn wiederum an sich ziehen, ihn in ihren Armen wiegen, ihn einschläfern, aber sie wagt es nicht ...

Aber, trotzdem, diese furchtbare Beklemmung, die sich auf Roger herabgesenkt hat – sie kann nicht andauern!

Sie fühlt, daß das Gehirn eines Mannes dieser Wucht nicht Widerstand leisten kann. Roger ist zurückgewichen, und mit der Gebärde eines Irrsinnigen greift er sich an den Kopf, tastet an seinen Schläfen, an denen die Adern zum Bersten schwellen ... er schwankt ... er ist nahe daran umzusinken ... Ah, nicht dies! Albine möge zugrunde gehen, aber er soll gerettet werden! Und nun ist sie es, die sich ihm zu Füßen wirft, die seine Knie umfängt, die ihren Kopf in seinen Schoß drückt, und die sich an ihm aufrichtet, ihn mit zitternden Händen an sich reißt:

»Suche nicht ... nein, stoße nicht mit dem Kopf gegen dieses Hindernis! Ich werde dir alles sagen, dann kannst du mich verjagen ... ich bitte nicht einmal, daß du mir verzeihst! Ich werde verschwinden, ich verspreche es dir ... sage nur, daß du mich nicht verachten, mich nicht hassen wirst! Ah ... Roger ... mein ... mein ... Kind

Und dann ... keine Worte mehr! Zwei Unglückliche, zwei Gestrandete, zwei Trümmer der armen Menschheit, die sich gefunden haben, die sich verzweifelt aneinander klammern! Und sie fühlen, daß es ihr Tod wäre, wenn man sie auseinanderrisse! Keine Fragen mehr, um zu erklären ... er will nichts mehr hören ... er weiß nicht, auf welchen Umwegen die Wahrheit in seinem Gehirn aufdämmerte. Aber nun kennt er diese Wahrheit! Und so sehr er sich vernichtet fühlt in diesem völligen Zusammenbruch, er fühlt eine Erleichterung! Vor einer Weile noch wollte er sich töten, und nun ... nun hat sein Leben ein Ziel! Und jetzt ist er es, der die Unglückliche zu sich emporhebt. Sie vermischen die schüchterne, ungewohnte, neue Zärtlichkeit, von der sie sich überflutet fühlen, sie erkennen einander, wie Verschüttete, die man ausgegraben hat und die sich lebend wiederfinden.

Sie sagt beständig:

»Mein Kleiner ... mein Kleiner!«

Und da auch er dem allmächtigen Trieb nachgeben will, da auch er das heilige Wort aussprechen will, den Ruf, den in allen Ländern die Kinder dem Wesen entgegenjauchzen, das sie zur Welt brachte, legt ihm Albine die Finger auf die Lippen, hält dieses Wort zurück:

»Warte noch!« flüstert sie.


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