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Dritter Teil

I

Berthe Lorande saß aufrecht in ihrem Bett, das zur Hälfte unter verstreuten Papierblättern, Zeitungen, Büchern und Broschüren verschwand. Berthe war bei ihrem Tagewerk, sie schrieb. Ein Schlafrock aus hellgelber Seide hüllte sie ein, und die weißen Kopfpolster waren hinter dem Rücken hochgetürmt, um der Büste eine Stütze zu geben. Auf diesem Weiß und Gelb breiteten sich die goldigrot schimmernden Haare aus, die der Widerschein der heiteren Aprilsonne aufleuchten ließ wie die roten Halbedelsteine der Auvergne, aus denen man Halsbänder macht. Von dem Gesicht sah man nur das weiche Kinn, die energische kleine Nase, den brennendroten Mund und die großen Augen, welche jetzt, im Gegensatz zu dem Leuchten des Haares, fast schwarz erschienen. Und man sah auch die feingerundeten Arme, die aus den weiten Ärmeln des Kimonos auftauchten. Der eine war um ein kleines Schreibpult gelegt, das auf den Knien balanzierte, während die rechte Hand die goldene Füllfeder führte, ein Geschenk Jeans.

Es war ein wahres Mädchenzimmer, in hellem, buntem Krepp, weißen Möbeln im englischen Stil. Nur zwei wundervolle Kopien nach Gemälden von Perugino, einige Emailplatten aus Limoges, die an den Wänden befestigt waren, und kleine, kostbare Nippsachen über dem Kamin und auf den Tischen kennzeichneten gleichsam die Persönlichkeit der Inwohnerin.

Ein aufmerksamer Beobachter hätte wahrgenommen, daß man fast nur weibliche Photographien sah, ausgenommen ein Bild, das den Vater Berthes darstellte, und eine Photographie in einem Metallrahmen auf dem Nachttisch, die Jean de Trevoux in Uniform zeigte.

Durch das offene Fenster sah man den Balkon, die Dächer von modernen Häusern, den hellblauen, fast nordischen Himmel, und in einem schmalen Ausblick einer Seitenstraße die noch schwarzen Baumgruppen des Parc Monceau.

Berthe Lorande schrieb. Unter den verstreuten Blättern waren sechs an diesem Morgen geschrieben worden, bedeckt mit einer feinen, wie kalligraphierten Schrift, die Freude der Setzer.

Berthe schrieb an einem Roman für eine neue Revue, und natürlich behandelte dieser Roman mit einer beinahe beklemmenden Ehrlichkeit eine Episode ihres eigenen Lebens, die von Zeit zu Zeit durch irgendeine unwahrscheinliche, erfundene Handlung unterbrochen wurde ... dies ist die gewöhnliche Manier weiblicher Literaten. Aber in diesem Augenblick, da ihre Tagesarbeit erledigt war und auch die Stunde drängte – es war Mittag und um drei Uhr wollte sie den Doktor Riol aufsuchen – schrieb sie noch schnell einige Briefe, eine für sie stets langweilige Arbeit. Nur den letzten Brief überdachte sie lange mit finsterer Miene. Dann schrieb sie in einem Zug:

»Nein, lieber Freund, ich kann dieser Besprechung um fünf Uhr nicht beiwohnen, ich habe keine Zeit. Sie denken sich wohl, daß es eine wichtige Sache sein muß, die mich verhindert, Sie zu hören und Ihnen Beifall zu klatschen! Was ich tun werde? Ah ... das kann ich nicht sagen! Vielleicht werde ich Sie hintergehen? Nein ... Sie wissen, daß ich für Sie eine gar zu große freundschaftliche Bewunderung empfinde!

Berthe.«

Ihr bewegliches, liebenswürdiges Gesicht hatte sich bereits besänftigt, ein ironisches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie schloß den Umschlag und schrieb die Adresse:

»Herrn Albert Saulnois, Mitglied des Instituts,
113, Boulevard St. Germain.«

Dann klingelte sie. Die alte Dienerin Clarisse – ein strenges Gesicht, die Tracht einer Laienschwester. Sie hatte Berthe erzogen und hatte sie seither nie verlassen.

»Clarisse, meine Liebe, diese Briefe müssen sofort aufgegeben werden; es ist ein Rohrpostbrief darunter. Komm dann schnell zurück, um mir beim Ankleiden zu helfen.«

 

Es war noch nicht drei Uhr, als ein Auto letzten Stils – dasjenige, das Berthe demnächst nach dem Rheinland bringen sollte, damit sie Jean sehen könne – vor der Wohnung des Doktor Riol anhielt, an der Ecke der Rue Goethe und Avenue Marceau.

Berthe Lorande, so dicht verschleiert und in einen Pelzmantel gehüllt, daß sie auch ihre Bekannten nicht erkannt hätten, wurde sofort in das Kabinett des berühmten Frauenarztes geführt. Jedenfalls erwartete man sie bereits und hatte Befehl gegeben, keinen andern Patienten zu empfangen. Das Privatkabinett des Doktors hatte nichts von der Strenge und dem Ernst seines Berufes; es war ein schöner Salon, mit seltenen Möbeln, mit Schaukasten, die Kunstgegenstände enthielten, mit Bücherschränken und mit wertvollen Gemälden. Der Ofen strahlte eine beinahe allzu drückende Wärme aus. Berthe schob ihren Schleier zurück, legte den Pelzmantel ab. Eine Vitrine mit Tanagrafiguren zog sie an. Aber als sie in dem spiegelnden Glase ihr Gesicht erblickte, vergaß sie auf ihre Neugierde. Sie sah weniger schön aus als diesen Morgen, eine sichtliche Beklemmung verzerrte die Züge, und trotz ihrer Jugendfrische hätte ein aufmerksamer Beobachter das wahre Alter dieser mädchenhaften Frau erraten.

»Verzeihen Sie mir, ich habe Sie warten lassen.«

Riol küßte ihr beide Hände mit einer zeremoniellen Galanterie. Er war schon fünfzig Jahre alt, aber noch immer der »schöne Riol«, mit seiner hohen, ungebeugten Gestalt, dem dichten Haar, dem Spitzbart, und mit so viel Anmut und Güte in den Augen, in seiner Stimme und in seinem Gehaben, daß ihm die Welt gerne alles verzieh, seine Berühmtheit, seinen Reichtum, und auch – was man nicht gerne verzeiht – seinen Ruf als Don Juan.

Sie tauschten stehend einige alltägliche Redensarten aus – vornehmes, nichtiges Geplauder, das sich auf ein Diner, auf ein neues Theaterstück, auf Bekannte bezieht und als Einleitung für ein ernstes Gespräch dient, wobei jeder an etwas anderes denkt als an das, was er sagt.

»Nun, Doktor, können Sie mich eine Weile anhören?«

»So lange Sie wollen! Der Fernsprecher ist abgehängt, Besuche werden nicht vorgelassen. Wollen Sie hier Platz nehmen, in diesem reizenden Ruhestuhl? Ich habe ihn erst vorige Woche aufgestöbert, in Nizza, wohin ich zur Entbindung der Prinzessin Zanthia berufen wurde.«

Er selbst nahm in der Nähe seines Arbeitstisches Platz. In dem tiefen Ruhestuhl fast verschwindend, begann Berthe zu sprechen, im Tonfall einer Beichtenden im Bußgericht. Er richtete seine Augen auf sie, und seine berufliche Neugierde war durch eine gewisse Zärtlichkeit gemildert, die Zärtlichkeit eines Mannes, der vielleicht ein Liebhaber werden könnte, der alle diese schönen Sünderinnen mit Zärtlichkeit ansah, aber in diesem Falle hatte sein Blick auch einen Glanz, den ihm die Bewunderung vor der Begabung der Schriftstellerin verlieh. Berthe fühlte sich von diesem Blick eingehüllt; der heimliche Trieb in ihr, zu bezaubern, zu erobern, regte sich, als wollte sie das Verlangen des Mannes stacheln, herausfordern, in diesem ewigen Kampf der beiden Geschlechter, und das gab dieser Beichte etwas Berauschendes, das die nervöse Empfindsamkeit des Beichtvaters und der Sünderin zu einem Paroxysmus steigerte. Die Stimme der Frau, diese sonst tiefe, sichere, melodiöse Stimme, wurde manchmal heiser und bei besonders heiklen Stellen stockend. Es war manchmal wie ein Hauch und manchmal wie ein Schluchzen.

»Nun, Doktor ... ich muß bis in meine Kindheit zurückgreifen, damit Sie mich verstehen. Sie wissen, daß ich von bescheidener Herkunft bin. Meine Eltern besaßen in Jouy ein kleines Warenhaus, das Geschäft ging sehr gut, und man schickte mich ins Lyzeum, man wollte mich zu einer höheren Lehrerin ausbilden lassen. Ich war eine sehr gute Schülerin, das versteht sich von selbst. Im Laufe meiner Studien haben mir alle meine Professoren – die einen brutal, die andern schüchtern – zu verstehen gegeben, daß sie mich liebten.«

»Und Sie haben keinen von ihnen entmutigt,« bemerkte der Doktor lächelnd.

»Nein ... keinen,« erwiderte sie sehr ernst, als wenn das durchaus keine Sache wäre, über die man lächeln könnte. »Vielleicht habe ich sie sogar angespornt. Ich will mich nicht besser machen ... aber die Wahrheit ist, daß keiner von ihnen auch nur die geringste Gunstbezeugung erhielt, nicht einmal einen Händedruck, und auch keiner der jungen Leute, die bei uns verkehrten und die mir alle den Hof machten. Und die ich alle ermutigte. Dies war mein Leben als junges Mädchen. Eine Art von glühender Unberührtheit des Körpers, der Geist erfüllt von einem verzehrenden Verlangen, zu lieben, geliebt zu werden, aber gar keine physische Liebe ...«

Der Doktor hatte sie mit einer stummen Frage angesehen, die Berthe sofort erriet und die sie tief erröten ließ ...

»Nein ... auch das nicht!« stammelte sie. »Ich sah derartiges ... ich hatte ja intime Freundinnen im Lyzeum, und ich konnte später vieles in der Gesellschaft beobachten, aber ich konnte nicht begreifen, welchen Genuß dies gäbe. Ich erfreute mich teurer weiblicher Freundschaften: Albine, Camille Engelmann, Frau von Trevoux, aber es waren nur Freundschaften, alles andere erregt mir Ekel ...«

Sie unterbrach sich für eine Weile, dann fuhr sie fort:

»Nun wissen Sie, wie ich war, als ich in die Gesellschaft eingeführt wurde. Frau von Trevoux, die, im Sommer, eine Villa in Jouy bewohnte, war eine Kundin meiner Eltern, sie hatte mich bemerkt, fand mich schön und sehr amüsant; sie hatte mir Vertrauen eingeflößt und ich zeigte ihr meine ersten literarischen Versuche. Sie war davon begeistert, führte mich in die feinen Kreise ein, wo ich meine Erstlingswerke vortrug.«

»Ich erinnere mich,« sagte Riol. »Ich sehe Sie noch vor mir, bezaubernd schön, mit einem schüchternen Wesen, das die Kühnheit ihrer Augen Lügen strafte, und so wahrhaft jungfräulich! Ein Spezialist täuscht sich über derlei nicht ...«

»Glauben Sie?« fiel ihm Berthe überstürzt ins Wort.

»Ich bin dessen sicher.«

»Nehmen Sie sich in Acht ... ich werde Ihre Diagnose auf die Probe stellen!«

»Nur immer zu!«

»Sie haben, nach einem Zeitraum von zwanzig Jahren, dieselbe Berthe Lorande vor sich ... was sagt nun der Spezialist? Ist es dieselbe Berthe?«

Riol überlegte. Dann sagte er:

»Sie waren verheiratet.«

»Ich habe neunzehn Tage mit Jules Lamorinière gelebt, dem Sohn der Firma Lamorinière, Papier en gros ... den ich geheiratet hatte. Was beweist dies?«

»Hm ... bei der Scheidung wurde nicht angeführt, daß die Ehe nicht vollzogen wurde; sie blieben unberührt ...«

»Nein ... mein Mann hatte eine Geliebte vor seiner Ehe, und er ist so schnell als möglich zu ihr zurückgekehrt; er hatte mich verlassen ... dies war ein hinlänglich gewichtiger Scheidungsgrund. Die Scheidung war nicht schwer zu erzielen ...«

»Gut ... und dann?«

»Ich verlange von Ihnen nicht ein Gutachten, das auf gesellschaftlichen Tatsachen begründet ist. Ich will die Diagnose eines Physiologen, und Sie denken sich wohl, daß ich Ihnen nicht ein Rätsel aufzulösen gebe. Ich habe diesen Beweis notwendig. Nehmen Sie an, Sie hätten mich nie gesehen, Sie wüßten gar nichts von meinem Leben. Was würden Sie sagen, Augur?«

Riol zögerte mit der Antwort. Alle seine zärtliche Beflissenheit war verschwunden, sein Blick sah stechend in die Augen der Frau, prüfte das Gesicht, musterte die Linien des Körpers, der sich aufgerichtet hatte.

Und endlich sagte der Gelehrte mit der Ruhe eines Fachmannes, der ein Ergebnis verkündigt:

»Ich weiß nicht.«

Berthe griff nach seinen Händen.

»Ah ... Sie sind wirklich ein Meister!«

»Ein unwissender Meister!« versuchte er zu lächeln.

»Nein,« sagte sie, während sie wiederum Platz nahm, »Sie sind ein Meister ... gerade weil Sie nicht wissen.«

Und indem sie den Kopf senkte, fügte sie hinzu:

»Auch ich weiß nicht.«

»Ah!«

Beide gaben sich Mühe, ihre Fassung zu gewinnen. Das blasse Gesicht der Frau war wiederum glührot geworden.

»Nein ... wirklich, ich weiß nicht,« sagte sie so verwirrt, daß sie nicht aufzublicken wagte ... »Ah ... wie peinlich es ist, sich darüber aussprechen zu müssen. Nein, ich kann Ihnen nichts erzählen. Haben Sie Mitleid mit mir! Lassen Sie mich meine Geschichte auf eine andere Weise erzählen! Sie werden schließlich trotzdem begreifen, ohne daß ich deutlicher zu werden brauche ...«

Riol nickte zustimmend.

»Denken Sie nur an das eine, ich wurde verheiratet als ein völlig unberührtes Mädchen, ich war neunzehn Tage verheiratet, und seither lebte ich ebenso keusch wie vor meiner Ehe. Glauben Sie mir dies? Denn sonst stände es nicht dafür, fortzufahren.«

»Ich glaube Ihnen ...«

Sie fuhr fort:

»Sie glauben mir, aber Sie sind beinahe der Einzige, der es weiß, ausgenommen Albine und Camille. Ich weiß, was man über mich spricht, was man denjenigen erzählt, die mich lieben möchten. Man sagt, daß ich hysterisch bin, eine Unersättliche, die nach dem Besitz aller Männer giert, nicht nur der, die ich in der Gesellschaft treffe, sondern auch anderer ... Oh, widersprechen Sie nicht ... ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie Gouillaux es Jeanne Saulnois bekräftigte: ›sie beglückt alle Männer ... den Sekretär der Revue, der die Korrekturen eines Artikels überbringt, den Elektriker, der die gestörte Leitung ausbessert ... ‹ Ja ... man hält mich für eine Messalina! Seltsame Messalina, die mit Ausnahme von neunzehn schrecklichen Nächten nie einen Mann in ihr Bett zuließ!«

 

Sie drückte das zerknüllte Taschentuch an die Augen. Riol preßte väterlich die beiden Knie der Frau in seinen starken Händen (Berthe fuhr jäh zurück) und sagte begütigend:

»Fassen Sie sich, gnädige Frau ... Kein vernünftiger Mensch in Paris glaubt an diese Infamien! Man sieht, daß Sie sehr umschmeichelt sind und das scheint Ihnen ja nicht zu mißfallen? Daraus ist dann allmählich der üble Ruf einer ... aber Sie dürfen mir wegen meines Freimuts nicht böse sein ... einer ... einer Kokette geworden ... einer Reizdame, die alle Männer in Flammen setzen will.«

Das Gesicht der Frau hatte sich in der Tat beruhigt. Sie erwiderte ernst:

»Nein, das bin ich nicht! Es ist ein häßliches Wort ... es läßt an ... gewisse Gebärden denken! Nein, ausgenommen das ekle Abenteuer meiner Heirat, hat nie ein Mann mich berührt, eine Liebkosung von mir empfangen, nie hat mich bisher ein Mann in seinen Armen gehalten ... aber das wird vielleicht kommen (sie richtete sich nicht ohne Stolz auf und atmete freier) ... ich kenne endlich den Wunsch nach Liebe! Während ich bisher nur den Wunsch kannte, Liebe zu erregen ... Verstehen Sie mich? Bisher bestand mein ganzes Leben darin, die Liebe zu suchen. Nicht die Liebe, die man mir bot, sondern die, die ich selbst fühlen würde. Ich wollte, daß man mich verliebt mache. Nein ... ich bin keine Reizdame, ich bin ein Salamander, der selbst im Feuer kühl bleibt! Und ich habe dies den Männern, die mich anflehten, auch gestanden: ›Flößen Sie mir Liebe ein und ich werde Ihnen mein ganzes Leben lang angehören!‹ Und zu manchen habe ich sogar gesagt: ›Kommen Sie später, vielleicht werde ich Sie lieben!‹ Ich meinte es ehrlich. Sie verließen mich wie berauscht, sie kehrten keuchend zurück, und ich mußte ihnen gestehen: ›Nein, ich habe mich getäuscht ... ich liebe Sie nicht.‹ Manche wurden meine Feinde, suchten mir zu schaden. Einer von ihnen, gerade jetzt ... Albert Saulnois! ich habe ihm nichts versprochen und er umlagert mich, bedrängt mich, ich fühle, wie er mich zu hassen beginnt. Bah, das alles ist die Vergangenheit, aber ich will in der Gegenwart leben, Doktor, die Gegenwart bezaubert mich, und die Zukunft erscheint mir wie das wahre Paradies.«

Sie beugte sich vor und sagte diesmal wirklich wie in einem Beichtstuhl:

»Ich bin verliebt, Doktor ... mein Herz hat die Kruste gesprengt, wie ein Schmetterling die graue Hülle, ich liebe! Es gibt einen Mann, an den ich beständig denke, ohne mich zu fragen, ob er mir auch Liebe einflößen kann, ich will ihm angehören ... und dieser Mann hat Vertrauen zu mir! Er will mich heiraten, trotzdem ich fünfzehn Jahre älter bin als er. Ah, wie sehr ich ihn liebe!«

Tränen der Freude rollten ihr über die Wangen. Riol sah sie neugierig an, etwas spöttisch, eine unbestimmte Eifersucht regte sich in ihm gegen diesen Nebenbuhler. Und mit einer Stimme, die etwas weniger zärtlich klang, erwiderte er:

»Meine Glückwünsche, Gnädigste! Es ist die Legende von Pygmalion und der Statue! ... Aber ich sehe nicht recht, welche Rolle ich da zu spielen habe.«

Berthe spürte sofort diesen Umschwung, dieses Nachlassen der sympathischen Temperatur. Sie sah den Doktor strahlend an, und diese Liebkosung ihrer Augen war so mächtig, daß er sich sofort besiegt gab.

»Aber, Doktor, Sie sind ja meine einzige Hoffnung, denn er selbst zweifelt ja nicht an der Gewißheit seines Glückes, in einigen Tagen soll ich ihn aufsuchen, im Rheinland. Ja, Sie haben seinen Namen erraten, aber sprechen Sie ihn nicht aus, ich könnte nicht mehr weitersprechen. Er wird einen Urlaub bekommen, und dies wird unsere Brautzeit sein ... aber Sie müssen mir sagen, ob diese Hoffnung möglich ist, ob ich lieben darf! Sie begreifen mich nicht? Ah ... sagen Sie es mir, ohne daß ich nötig hätte, deutlicher zu werden ... ich fürchte mich vor den Worten!«

»Ehrlich gesagt, ich begreife nicht! Es sind nur Hypothesen ... aber wie soll ich da helfen? Ich bin nur ein Arzt!«

Mit einem energischen Ruck schob Berthe ihren Fauteuil zu dem Lehnstuhl des Doktors, glitt auf den Rand, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und murmelte mit einer Stimme, die beinahe ein Röcheln war.

»Erinnern Sie sich ... was ich Ihnen über meine Heirat sagte! Diese neunzehn Nächte ... ah, welch furchtbarer Alpdruck! Heute noch wache ich manchmal auf, in Schweiß gebadet, die Glieder wie zerschlagen! Erinnern Sie sich, daß ich vor einer Weile sagte: ›Ich weiß es nicht!‹ Denken Sie daran, daß mein Mann eine Geliebte hatte und daß er in der ersten Nacht zu dieser Geliebten zurückkehrte, nach einer furchtbaren Szene, da er mich durch die Zimmer verfolgte, wie ein Mörder, da ich ihm das Gesicht zerkratzte, da ich schäumte ... aber dennoch – Jungfrau blieb!«

Riol gebot ihr durch eine Handbewegung Schweigen. »Ich habe verstanden.«

Er ließ sie eine Weile vor sich hinweinen. Dann, mit mitleidiger Stimme:

»Beunruhigen Sie sich nicht gar zu sehr. Es wäre wirklich sehr erstaunlich, wenn Sie zur Liebe unfähig wären, wie Madame Récamier. Denn heute können wir operieren! Die berühmte Freundin des Dichters Chateaubriand ist um ein Jahrhundert zu früh auf die Welt gekommen ...«

»Sie glauben?« sagte sie, plötzlich wiederum glückverklärt. Und sie war mit einem Sprung auf den Beinen. Auch Riol erhob sich.

»Wir wollen, wenn Sie es gestatten, in mein Konsultationszimmer gehen.«

Er trat zur Seite und zeigte auf die schalldichte Doppeltür. Berthe wich zurück, während sie flammendrot wurde.

»Oh ... ist dies wirklich notwendig? Ich habe Mut, mich verständlich zu machen, ich habe Mut in Worten, aber ... eine Untersuchung! Ich flehe Sie an ... ich kann nicht.«

»Seien Sie nicht kindisch, Gnädigste!« sagte Riol mit freundschaftlicher Strenge. »Sind Sie gekommen, um einen Spezialisten zu befragen, ja oder nein? Wenn Sie die Untersuchung ablehnen, zwingt mich meine Pflicht, nicht länger die Patientin warten zu lassen, welche nach Ihnen kommt.«

Sie klammerte sich an seinen Arm.

»Seien Sie nicht böse,« flüsterte sie, »geben Sie mir nur einige Augenblicke, dann bin ich ruhiger! So ... jetzt ... gehen wir.«

Die rechte Hand des Arztes hatte noch nicht die Türklinke gefaßt, als der starr gewordene Körper der Frau gegen ihn sank. Er nahm sie in seine Arme und trug sie zu dem Liegestuhl zurück, ihr dann ein Riechfläschchen unter die Nase haltend. Es dauerte lange, ehe sie zu sich kam.

»Es ist vorüber ...« murmelte sie. »Verzeihung, ich werde stark sein. Sie werden sehen, ich bin gar nicht mehr nervös. Es geht mir immer so ... die Vorstellung dessen, was mich erwartet, überwältigt mich mehr als die Wirklichkeit! Jetzt bin ich bereit.«

Sie erhob sich von neuem. Riol betrachtete sie aufmerksam und sah, daß ihre Gesichtszüge eine energische Spannung kündeten.

»Wissen Sie,« sagte er lächelnd, »daß ich noch nie so viel Schamgefühl bei einer Patientin erlebte? Selbst nicht bei den tugendhaftesten Frauen, bei jungen Mädchen, selbst nicht bei Nonnen ...«

Berthe richtete ihre Augen, die in einem wie verzweifelten Entschluß leuchteten, auf ihn und sagte:

»Dieses Schamgefühl ist nicht geheuchelt, glauben Sie mir!«

»Ich weiß es,« erwiderte Riol.

Und sie betraten das Ordinationszimmer ...

II

Während die Mehrzahl der Zuhörer durch die drei Tore, die auf den Fußsteig des Boulevard St. Germain führten, hinausströmte, drängte sich eine Gruppe von Freunden und Bekannten in einem Nebenzimmer des Saales, in dem Albert Saulnois einen Vortrag gehalten hatte. Es war da eine ganz spezielle mondäne Gesellschaft: die Blüte der weiblichen intellektuellen Salons, Damen mit modernen Ideen und die elegantesten Mitarbeiter der Revuen und literarischen Blätter. Es waren viel mehr Frauen als Herren, und in einer Ecke standen auch unsere Bekannten, Albine mit Frau von Trevoux, Camille Engelmann, Gouillaux und Frau von Bugey. Gouillaux lästerte über den Vortragenden.

»Unser berühmter Professor schien mir heute sehr mittelmäßig zu sein ... das Thema war indes sehr interessant: der ›Kampf der Frau gegen die Zeit‹ ... Man durfte eine köstliche Plauderei erwarten ... und statt dessen ein ermüdendes Geschwätz, viele abgebrauchte Wahrheiten, Gemeinplätze. Haben Sie bemerkt, daß er einmal ganz aus dem Konzept kam? Er stotterte wie ein hilfloser Schüler!«

Dann setzte er vertraulich hinzu:

»Er hat knapp vor Beginn des Vortrages einen Rohrpostbrief von Berthe Lorande erhalten, in dem sie wahrscheinlich ihre Abwesenheit entschuldigte. Ich war gerade bei ihm, ich habe die Schrift erkannt, und natürlich wurde er haltlos, eifersüchtig, unruhig ...«

Ein Blick von Frau von Bugey hieß ihn schweigen. Albert Saulnois trat in das Zimmer, gefolgt von Jeanne, die ihm zärtlich mit ihrem Taschentuch den Schweiß von der Stirne wischte. Er war sehr bleich und sah sehr müde drein.

»Welch ein Genuß, teurer Meister!«

»Meister! Man wird nicht müde, Ihnen zuzuhören!«

»Bravo! Bravo! Geistreicher denn je!«

Er drückte die Hände, die sich ihm entgegenstreckten, nickte, versuchte zu lächeln, aber sein Geist war sichtlich abwesend, er sah unruhig umher, als würde er etwas suchen ...

»Wen sucht er?« fragte Jean leise Roger Vaugrenier, der neben ihm stand.

»Er sucht die, die nicht an ihn denkt.«

»Frau Lorande? Sie hat mir geschrieben, daß sie nicht kommen kann.«

Und mit der Selbstbewußtheit siegreicher Jugend setzte er hinzu:

»Armer Bursche!«

Nach und nach hatten sich die meisten Hörer entfernt, es blieben nur die Intimen des Paares Saulnois. Gouillaux beglückwünschte Saulnois mit einer solchen Übertreibung, daß Jeanne darunter litt, denn sie hatte wohl bemerkt, daß Albert diesmal nicht auf der Höhe war. Albert wehrte ab:

»Nein, es ging nicht, wie ich gewollt hätte! Der Saal war überheizt, das hat mich ganz nervös gemacht! Ich war schon nahe daran, mitten in einem Satze abzubrechen und fortzugehen.«

»Nicht doch, mein Teurer,« sagte Jeanne, während sie ihn auf die Stirn küßte, »du hast gesprochen, wie es dir in Paris heute niemand nachmacht! Ich will, daß die Zeitungen darüber schreiben ... Gouillaux ... machen Sie doch einen Sprung zum ›Figaro‹, zum ›Gaulois‹ und zum ›Temps‹! Sie würden mir Freude bereiten!«

»Mit Vergnügen,« sagte der Diplomat, durch diese unvermutete Offensive etwas verwirrt.

»Oh, das ist nicht nötig,« protestierte Saulnois.

»Doch, doch,« beharrte Jeanne, »Gouillaux ist in solchen Dingen sehr bewandert! Gehen Sie doch sofort, Maurice, wollen Sie?«

Es war eine Koketterie, beinahe ein zärtliches Versprechen in dem verstohlenen Blicke, der diese Bitte begleitete. Und die Eitelkeit der Männer ist so groß, daß dieser hier sich sofort auf den Weg machte, fest entschlossen, die Aufgabe in bester Weise zu lösen, als wenn wirklich die verliebte Glut dieses Blickes ihm gegolten hätte.

Roger und Trevoux standen in der Nähe des Professors, als Gouillaux sich verabschiedete. Roger bemerkte, daß sich die Spannung auf dem Gesichte von Saulnois löste, als er Jean erblickte. Offenbar dachte er: Berthe ist also nicht in Gesellschaft von Trevoux!

Einige Minuten später schlenderten die beiden jungen Leute, deren Freundschaft sich in den letzten Wochen fest gekittet hatte, den Boulevard hinab zur Seine. Es war noch ziemlich hell, trotzdem die elektrischen Bogenlampen bereits brannten, wie bleiche Monde zwischen den grünenden Bäumen.

»Dieser Spötter von Gouillaux hatte recht,« sagte Roger. »Saulnois war sehr mittelmäßig! Wissen Sie, warum?«

»Nicht doch,« sagte Trevoux aufrichtig. »Wir haben uns getäuscht, Saulnois suchte nicht nach Frau Lorande, er hat selbst gesagt, daß sie sich brieflich entschuldigt hatte.«

»Er suchte in der Tat nicht nach Frau Lorande, sondern nach Ihnen! Als er Sie sah, hat er aufgeatmet! Was ihn während der Rede stottern machte, war der Gedanke, daß Sie und Berthe ein Stelldichein haben.«

»Ich weiß selbst nicht, was Frau Lorande heute macht. Sie hat in der Frühe telephoniert, aber ich würde mir nie erlauben, nach ihrer Tageseinteilung zu fragen.«

»Welche Verwirrung,« sagte Roger, »kann manchmal ein Weiberrock in eine geregelte Lebensführung bringen!«

»Wenn Sie dies wegen Saulnois sagen,« bemerkte Jean lachend, »so muß man entgegnen, daß sein Leben ja darin besteht, fortwährend zwischen Weiberröcken zu voltigieren! Seine Zuhörerschaft zählt zwei Drittel Damen.«

»Saulnois ist ein Komödiant, der mich sehr wenig interessiert. Mich zieht seine Frau an. Sie hat eine so geistreiche Art, die Liebe für ihren Mann zu zeigen, daß man sich unwillkürlich fragt: ›Weiß sie nichts ... sieht sie nichts?‹ Nein, ich denke nicht an Saulnois, ich denke an uns zwei ...«

Er hatte seinen Arm unter den des Offiziers geschoben und sie gingen etwas langsamer dahin.

»Ich denke an uns,« fuhr Roger fort. »Denn Ihr Schicksal und das meinige gleichen sich. Wir wollten beide das Leben in normaler Weise beginnen, nicht nur Sie, der Sie aus gutem Hause sind, sondern auch ich, trotz meiner zweifelhaften Herkunft, denn ich bin gut erzogen worden und habe einen Beruf ... und ich bin intelligent. Was uns erwartete, war dies: Ehe, Kinder, Alter, Tod. Das Gute und das Schlechte des Lebens in ungleich zugeteilter Dosis. Das erwartete uns. Aber ich bin der Gräfin Anderny begegnet und Sie trafen Frau Lorande.«

»Ich kenne Berthe seit meiner Kindheit,« wendete der Offizier ein.

»Sie haben mir selbst gesagt, daß Sie erst im Vorjahre, nach einer Pause von fünf Jahren, Berthe sozusagen zum erstenmal als Frau sahen. Übrigens, für uns beide ist eine neue, unwiderstehliche Kraft in unsere Laufbahn getreten, wodurch wir aus dem Gleichgewichte gebracht wurden ... Wir werden nie mehr wie gewöhnliche Sterbliche unser Ziel verfolgen.«

»Beklagen Sie sich darüber?«

»Nein, man beklagt sich nicht über das Unabwendbare, man muß sich ihm anbequemen. Aber was ich bewundere, ist dies, gerade dies, daß es unabwendbar ist! Ich fühle mich wie das Spielzeug eines unerbittlichen Schicksals. Ich habe dagegen angekämpft, ich bin sogar geflüchtet. Gouillaux hat alles mögliche aufgeboten, um mich andern Sinnes zu machen. Er hat mir manche Abenteuer der Gräfin in allen Einzelheiten erzählt, er sagte mir die Namen der Männer, die in dem Leben dieser Frau eine Rolle spielten, sogar vor ihrer Ehe; denn sie soll ein uneheliches Kind gehabt haben, sie erwartete ihre Niederkunft in Österreich. Sie war damals achtzehn Jahre alt. Dann bekam ich anonyme Briefe, die mir dieselbe Geschichte erzählten, nur daß diesmal die Niederkunft in England erfolgte. Und das alles half gar nichts! Ich habe die Briefe verbrannt, ich habe mit Gouillaux beinahe gebrochen! Wenn Albine es will, so werde ich mein Leben an das ihre ketten, unlöslich! Und Sie, mein Freund, Sie werden das Geschick von Frau Lorande teilen, die Ihnen ebenso wenig bestimmt zu sein schien, wie mir die Witwe des Grafen Anderny.«

Jean blieb stehen und legte die Hand auf die Achsel seines Freundes.

»Ja, es ist merkwürdig! Und ich bin darüber ebenso erstaunt wie Sie. Aber was mich gleichzeitig glücklich macht und mich verblüfft, ist dies eine, daß so hervorragende, schöne Frauen ihre Blicke auf uns geworfen haben, die wir eigentlich – wir können es uns gestehen, da wir Freunde sind – zu den Dutzendmenschen gehören. Was immer auch geschehen mag, Roger, wir haben uns nicht zu beklagen! Unser Los ist kein gewöhnliches!«

»Vielleicht,« sagte Roger, dem die Worte seines Freundes wohltaten.

»Wenn man liebt, was wir beide lieben,« fuhr der Offizier fort, hastig ausschreitend, »gibt es da noch andere Frauen neben solchen? Machen Ihnen die andern Frauen und Mädchen nicht den Eindruck von Figurantinnen? Wir lieben jeder eine seltene, eine kostbare Frau. Das steht schon dafür, zu leiden.«

Roger murmelte:

»Aber andere Männer vor uns wurden bereits von diesen Frauen beglückt, und sind in das Nichts zurückgesunken. Warum sollten wir, Dutzendmenschen, glücklicher sein?«

»Ich habe Vertrauen in die, die ich liebe,« sagte Jean einfach. »Nichts kann mich bewegen, an Berthe zu zweifeln.«

»Auch ich ... Albine lügt nicht. Aber wer kann für sein eigenes Herz gutstehen?«

»Niemand, Roger, nicht einmal Sie, und auch ich nicht. Doch ist es nicht seltsam? Gewöhnlich sind es die Frauen, die sich ängstigen, ob die Liebe auch ewig sei, ob es nicht eines schönen Tages mit diesem Traum zu Ende sein wird, und jetzt sind es wir, die wie Frauen flehen möchten: ›Wirst du mich auch immer lieben?‹«

»Ja, es ist seltsam,« sagte Roger, den diese Bemerkung nachdenklich machte.

»Ist das nicht ein Beweis, daß unsere Liebe etwas außergewöhnliches ist! Nicht wir haben gewählt! Wir sind gewählt worden. Es sind so überragende Frauen, daß die Satzung der Geschlechter verwechselt wurde. Die männlichen Rechte auf freie Wahl sind von diesen Frauen beansprucht worden, und wir haben uns unterworfen, weil es gerecht war. Ich unterwerfe mich gern, ich liebe ein derartiges Joch.«

Die zwei Freunde waren am Seinequai angelangt. Die Lichter von Paris hatten jetzt über den letzten Tagesschimmer gesiegt. Roger dachte: »Trevoux ist glücklich! Er läuft mit frohem Herzen einem Glück entgegen, dem ich nicht entgehe, das mich aber ängstigt, auch ich will dieses Joch tragen, aber ich fühle es auf meinen Schultern lasten.«

»Ich glaube, daß wir uns hier trennen müssen,« sagte der Offizier. »Gehen Sie zur Gräfin?«

»Ja.«

»Ich habe nur so viel Zeit, um mir meinen Koffer zu holen. Ich fahre um sieben Uhr nach Mainz.«

»Ohne Frau Lorande zu sehen?«

»Sie wollte es so, und ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich mich unterwerfe. Sie wird mich in einigen Tagen im Rheinland aufsuchen ... Auf Wiedersehen, Roger!«

»Auf Wiedersehen, Jean!«

Ein Auto entführte den Offizier, während Vaugrenier zu Fuß den Quai entlang ging. Jeden Tag versuchte er auf diese Weise, seine Nerven durch lange Spaziergänge zu beruhigen. Und während er dem Widerschein der Lichter in den leise dahinströmenden Wellen nachsah, dachte er: »Wie schwach mein Herz geworden ist, wie schwankend ich bin! Trevoux hat mir nur Worte gesagt, verliebtes Geschwätz, und ich fühle mich viel leichter, beinahe ebenso glücklich wie er! Bah, er hat recht. Wenn man dem Unabwendbaren entgegengeht, so ist es besser, aufrecht zu schreiten, die Augen nach dem Ziel gerichtet. Ich werde der Gatte von Albine, und ich will aus meinem Gedächtnis alles verbannen, alles, was ich nicht wissen will.«

Er hörte im Geiste die leidenschaftlichen und verzweifelten Worte der Gräfin: »Verzeihen Sie mir! Alles, was mir das Leben gelassen hat, will ich Ihnen geben!« Konnten demütigere Worte aus dem Munde einer Frau kommen? Und die Tränen, die er über ihre Wangen rollen sah! Und diese Frau war stolz, beinahe hochmütig! War eine solche Demut nicht geeignet, seinen eigenen verletzten Hochmut zu heilen?

Er mußte sie wiedersehen, um jeden Preis, er dürstete nach ihr wie der Morphinist nach seinem Gifte, und er winkte ein Auto herbei, um schneller ans Ziel zu kommen.

III

Die Großfürstin Hilda und Frau Lelièvre hatten sich für drei Uhr nachmittags bei der Gräfin Anderny angemeldet. Da sie die Pünktlichkeit dieser »fürstlichen« Person kannte, war Albine bereits ein Viertel vor drei in ihrem Boudoir, ein Buch in der Hand. Es war ein neuer Roman, über den man viel sprach. Sie überflog ihn sehr zerstreut, griff hie und da einen Satz heraus, einen Gedanken, eine Beschreibung. Ein Absatz machte sie aufmerksam:

»Es wäre vergeblich, das Vorhandensein von Ahnungen zu leugnen. Ihr Mechanismus ist übrigens gar nicht geheimnisvoll, seitdem sich die Wissenschaft damit beschäftigte und die Erscheinungen der Telepathie studierte.«

Sie zuckte die Achseln, steckte ein Papiermesser zwischen die Blätter und legte das Buch auf ein Tischchen. Sie wurde nachdenklich. Die Erklärungen des Buches waren abgenützt und beinahe töricht, aber das leitende Wort hatte in ihr einen Widerhall geweckt. Denn seit diesem Morgen bereits, trotz des herrlichen Frühlingswetters, trotz der bevorstehenden Erheiterung durch den Besuch der Großfürstin, trotz des abendlichen Wiedersehens mit Roger, fühlte sie sich sehr unruhig.

»Ahnungen?« dachte sie. »Welch furchtbares Wort! Ein Schleier, der vor die Zukunft gespannt ist und der durchsichtig wird und allmählich die schreckliche Gestalt der Nemesis sehen läßt. Dies kann man nicht mit einigen Worten abtun!«

Sie zürnte dem Romanschreiber, der über eine so ernste Sache mit solcher Gleichgültigkeit sprach. Aber es war ihr unmöglich, ihren Gedanken zu entfliehen. Besser wäre es, klar zu sehen, dem Grunde ihrer Angst nachzuforschen.

»Nicht doch,« dachte sie, »es gibt keine Ahnungen, es kann – was die kommenden Ereignisse anbelangt – keine Fernwirkung geben! Es ist entweder Aberglaube oder eine falsche Wissenschaft. Die, die es wollen, glauben daran. Ich habe es nie verstanden, im Dunkel zu sehen, meine Sinne erschlossen sich nur dem wirklichen Leben, es gibt nur Taten, die wir vergaßen, deren Erinnerung in uns trotzdem schlummert und welche eines Tages aufbricht, wie eine heimliche Wunde.«

Sie hatte die Hände an die Augen gepreßt, um ihr Denken zu konzentrieren, um die Gründe für die Herzensangst zu erforschen, die sie seit der Rückkehr Rogers befallen hatte, und diese Angst war heute beinahe unerträglich.

»Der Mann, den ich liebe, hat sich unterworfen, unsere Zukunft wird die sein, die ich von Anfang an gewünscht habe. Ist es die Angst, mein bisheriges Leben zu ändern? Sicherlich nicht ... denn ich bin dieses Lebens, dieses Reichtums, dieses Müßiggangs müde, ich will nur für ein einziges Wesen auf der Erde leben ... erst seitdem ich Roger kenne, erscheint mir das Leben lebenswert! Habe ich Furcht, enttäuscht zu werden? Nein ... ich habe in meiner Vergangenheit nur Enttäuschungen kennen gelernt, ich habe in der Liebe der Männer nach einem Glück gesucht, das sie mir nicht geben konnten ... aber seien wir ehrlich: bei diesen Abenteuern hatte ich das Gefühl, einer Enttäuschung entgegenzugehen! Heute fühle ich, daß dieses Abenteuer das letzte ist, ich bin sicher, daß mein Leben nur an der Seite Rogers glücklich sein kann, und wenn es tausende von Schmerzen enthielte! Wir wissen, daß wir uns lieben, wir werden im Ausland heiraten und im Ausland leben, diese Aussicht entzückt mich, ich ertrage die Gegenwart mit Ungeduld ... warum also diese unbegreifliche Angst?«

Sie dachte mit solcher Anstrengung nach, daß sich ihre Lippen wie im Gebet bewegten.

»Sollte es deshalb sein, weil er mir angekündigt hatte, daß er für drei Tage nach Nancy fahren müsse, wohin ihn ein Freund zu einer Konsultation berief? Nein, im Gegenteil! Ich habe dadurch Zeit, mich zu sammeln. Ah ... sollte es wirklich eine Vorahnung sein?«

 

Das Dröhnen eines Autos, das im Hofe anhielt, riß sie aus diesem Nachdenken. Sie horchte auf ... es war die Großfürstin mit ihrer Hofdame. Albine stand auf, um die erlauchte Frau an der obersten Stufe der Freitreppe zu empfangen. Und es war in dem Augenblicke, als sie den Salon durchschritt, daß eine Erinnerung plötzlich in ihrem Gedächtnisse aufleuchtete. Sie hielt an und dachte: »Ja ... dies ists! ... diese Sünde!« So wie einer, der in der rechten Leistengegend einen dumpfen Schmerz fühlt, sich sagt: »Blinddarmentzündung! ...«

»Meine teure, meine sehr teure Albine! Wie lieb von Ihnen, daß Sie zu Hause geblieben sind, um mich und Frau Lelièvre zu empfangen! Sehen Sie doch, Lelièvre, die Gräfin ist reizend! Das macht mir ein so großes Vergnügen, Sie stets schöner zu sehen, denn wir sind ja beinahe gleich alt, nicht wahr? Ich glaube, daß Sie sogar ein klein bißchen älter sind. Und da man mir sagt ... my friends and relations, of course ... daß ich nie jünger ausgesehen habe, so möchte ich dies gerne glauben, und Ihr Anblick gibt mir den Mut dazu!«

Sie lachte schallend auf, als wenn sie die drolligste Sache von der Welt gesagt hätte. Frau Lelièvre lachte noch lauter und länger. Es war eine hagere Person mit grauem Haar, gleichsam eine Karikatur der Großfürstin. Man sagte boshaft, daß sie eine Stiefschwester der Großfürstin sei, eine Jugendsünde des alten Herzogs – Hildas Vaters – und die Ähnlichkeit war noch durch die Tracht verstärkt, denn die Hofdame trug die abgelegten Kleider der Großfürstin. Und man kann sich denken, daß die stets exzentrischen Toiletten der guten Hilda bei Frau Lelièvre erst ihre volle Komik erhielten!

Albine lächelte.

»Hoheit sehen in der Tat blühend aus!« sagte sie.

»Alle Männer drehen sich nach Ihrer Hoheit um,« sagte Frau Lelièvre hastig. »Wir können aus diesem Grunde kein walking mehr unternehmen! Gestern erst, im Bois, war eine Gruppe junger Männer hinter uns her, es war unmöglich, sie abzuschütteln!«

»Schweigen Sie, Lelièvre! Lassen Sie mich sprechen.«

Albine dachte: »Beide zu Fuß, in diesen Toiletten! Das kann ich mir lebhaft vorstellen!«

»Meine teure, sehr teure Gräfin,« nahm die Großfürstin wiederum das Wort, während sie die Hand Albinens drückte, »ich komme, um Sie um einen ganz kleinen Dienst zu bitten. Wir haben darüber bereits bei Ramon gesprochen. Erinnern Sie sich? Bei diesem Feste, das so reizend war ... ah ... entzückend! Ein Wunder! ... die Blumen, die Sonne, und er, Ramon, so graziös als Herr des Hauses! Es war nur diese Vitzina, die unangenehm auffiel! She is a whore ... I dare say! Man sollte in unserer Gesellschaft eine solche Dirne gar nicht empfangen! Ich habe es Ramon gesagt. Er hat sich entschuldigt. Nein, sagen Sie nichts, Lelièvre! Wenn Sie sprechen, kann man kein Wort mehr anbringen! Wo bin ich denn geblieben? Ah ja ... nun, sehen Sie, teure Albine, ah, wirklich ... Sie sind entzückend schön! Man vergißt ganz, was man sagen wollte, wenn man Sie ansieht! Es handelt sich um drei Reisepässe. Ich könnte sie ja im Ministerium des Auswärtigen selbst verlangen, but I won't ... you understand? Wenn ich, eine fürstliche Person, mich mit derlei befasse, so macht das sofort ein riesiges Aufsehen, und es handelt sich um kleine Leute, um Geschäftsleute – ein Mann mit seinen zwei Schwestern, ein Herr ... Lelièvre ... wie heißt er denn nur, Ihr Freund? Ich glaube, Guerrie, nicht wahr?«

»Guernier,« verbesserte Frau Lelièvre. »Robert Guernier ... seine Frau und deren Schwester. Es ist ein Juwelenhändler, der nach Amerika fahren will, um dort Perlen zu verkaufen. Denn viele Damen der besten Gesellschaft verkaufen jetzt ihre Perlen, besonders die Damen der russischen Aristokratie, die durch die Revolution zugrunde gerichtet wurden ...«

»Schweigen Sie, Lelièvre! Man hört nur Sie! Diese Guerniers sind sehr brave Leute, für die sich die Lelièvre interessiert ... Sie sind sogar etwas verwandt ... nicht wahr, Lelièvre? Ja, es sind entfernte Verwandte, sehr brave Leute! Nun, Sie begreifen, teure Albine, diese achtbaren Leute müssen ihre Pässe ohne Schwierigkeiten bekommen. Ich zähle auf Sie, nicht wahr?«

Albine erwiderte:

»Ich werde mich gerne bei Herrn Cordelier verwenden, der mein Verwandter ist und der dieses Departement leitet. Aber ich muß sagen, daß meine Einmischung nicht notwendig ist. Man wird sicherlich die Pässe nicht Leuten verweigern, die Verwandte von Frau Lelièvre sind! Sie brauchen die Pässe nur zu verlangen ...«

Die beiden Besucherinnen sahen einander blitzschnell an.

»Erklären Sie, Lelièvre,« befahl die Großfürstin.

»Ja, teure Gräfin,« sagte die Hofdame überstürzt. »Es sind da Gründe, die zu lang sind, um sie in aller Eile zu erklären. Geschäftsgründe, sozusagen. Meine Freunde, das heißt meine Verwandten, wollen sich nicht selbst bemühen, es handelt sich um ein wichtiges Geschäft. Die andern Händler könnten aufmerksam werden! Guernier zieht es vor, die Sache diskret abzumachen.«

Trotz ihrer Zungengeläufigkeit hatte die Hofdame etwas gestottert.

Die Großfürstin wurde ungeduldig und rief:

»Dann muß ich Ihnen auch sagen, teuerste Gräfin, daß die Verwandten von Frau Lelièvre für mich eine Besorgung in Amerika übernehmen wollen ... ich habe dort Interessen, ich besitze Grundstücke, die verkauft werden sollen. Ich benötige einen Vertrauensmann. Ich werde Ihnen also die Namen und alle Daten für diese Reisepässe geben, ich möchte diese Dokumente vertraulich erhalten.«

Albine hatte in der Tat begriffen. »Eine Flucht dieser zwei Närrinnen mit Genaz, unter einem falschen Namen!« dachte sie. »Der Großfürst hat sich auf eine Nordlandreise begeben, die drei Monate dauern soll. Ich werde Cordelier die Wahrheit sagen, er kann dann machen, was er will. Ich glaube aber, daß man am Quai d'Orsay froh sein wird, diese drei Personen für einige Zeit nicht im Lande zu wissen.«

»Ihre Hoheit können versichert sein, daß ich diesen Auftrag ausführen werde. Wenn es mir nicht gelingt, wird es nicht meine Schuld sein. Es ist notwendig, daß mir Frau Lelièvre drei Personsbeschreibungen mitgibt, mit denjenigen Auskünften, die man für gewöhnlich in die Reisepässe vermerkt.«

»Geben Sie, Lelièvre!« befahl Hilda.

»Sie denken an alles, Gräfin,« sagte die Hofdame, während sie aus ihrer Handtasche einen Briefumschlag holte. »Ich habe dies schon vorbereitet.«

Albine überlas eines der Blätter: »Robert Guernier, 37 Jahre alt, Juwelenhändler, 1 Meter 66 Zentimeter groß, Gesicht oval, Stirne hoch, Haare schwarz, Gesichtsfarbe bleich.«

»Es handelt sich um Ramon!« dachte sie. Und laut setzte sie hinzu:

»Ich werde sofort an Cordelier telephonieren. Hoheit werden morgen die Antwort erhalten.«

»Oh ... ich bin Ihnen so dankbar!« rief die Großfürstin, während sie Albine um den Hals fiel und sie stürmisch küßte.

Die Gräfin fühlte erstaunt etwas Feuchtes an ihrer Wange, und zu gleicher Zeit gluckste Frau Lelièvre seltsam. Es war ihre Manier, so zu schluchzen, und dies brachte die Rührung der Großfürstin auf den Höhepunkt, sie begann zu weinen und stammelte am Halse der Gräfin wie eine Verrückte:

»Was für eine Freundin Sie sind! Und welcher Schmerz für mich, Sie zu verlassen! Dear, dear Albine! Ach Gott ... das Leben ist wirklich kompliziert! Und das Herz der armen Frauen ist unbegreiflich! Sie werden an mich denken, Albine ... Sie müssen an mich denken! Ich werde Ihnen schreiben, ich werde mich Ihnen anvertrauen. Denn Sie sind eine loyale Frau, und so verständig!«

Sie ließ die Gräfin los und trat zurück, das Gesicht von Tränen überströmt. Das Glucksen der Hofdame war zu einer Art von Bellen geworden.

»Albine,« sagte Hilda, »nicht wahr, im Leben hat nur eines Geltung ... die Liebe? Sie waren immer eine große Liebende, sagen Sie mir, daß die Liebe alles heiligt, daß man der wahren Liebe alles opfern kann! Ah ... Sie wagen es nicht, mir zu antworten!«

Albine schwieg in der Tat, unangenehm berührt durch diese Parodie ihrer eigenen Gedanken, ihres eigenen Dramas, das ihr Leben umgestalten sollte. Und auch die Worte »Sie waren immer eine große Liebende ...« verletzten sie empfindlich. Aber die Krise, die sie soeben durchmachte, gab ihr Mitgefühl für fremdes Leid. Sie dachte: »Diese Frau ist lächerlich, aber sie liebt wirklich.«

»Hoheit,« sagte sie endlich, »die Dinge liegen für eine fürstliche Person anders als für eine gewöhnliche Sterbliche.«

Die Großfürstin hatte ihre Hände losgelassen und wendete sich zu der Hofdame:

»Hören Sie, Lelièvre? Hören Sie die Stimme der Vernunft, die Stimme der Ehre?«

Frau Lelièvre war so bestürzt, daß ihr Glucksen mit einem Schlag aufhörte.

»So antworten Sie doch, Lelièvre!« schrie Hilda erbost. »Ja oder nein ... hat diese teure Gräfin Anderny recht? Ist es nicht die Stimme der Ehre? Sie sprechen immer, wenn Sie nichts zu sagen wissen, aber man kann nie aus Ihnen ein Wort herausbringen, wenn es notwendig ist.«

»Nein,« stammelte die Hofdame eingeschüchtert.

»Was ... nein!« wütete Hilda.

»Die Herzenssachen sind nicht dieselben für eine Hoheit und für eine gewöhnliche Frau.«

»Das ist wahr!« schloß Hilda. Sie wendete sich wiederum zu Albine:

»Ah, welche Intelligenz! Welcher Geist, meine teure Gräfin! Dank Ihnen sehe ich jetzt klar ... kommen Sie, Lelièvre! Verlassen wir die Gräfin! Ich gehe sehr beruhigt, sehr getröstet ... let me call to you when I am anxious, dear countess! Ah ... Sie begleiten uns! Das ist wirklich sehr liebenswürdig ... aber es ist nicht nötig, teure Albine! Wirklich? Sie wollen uns bis zum Aufzug begleiten? Gut ... es gibt so viele Personen jetzt in Paris, die nicht wissen, wie man mit fürstlichen Personen umgehen muß ... lauter Emporkömmlinge!«

Vor der Tür des Aufzugs, den ein Diener geöffnet hielt, blieben die drei Damen stehen. Hilda umarmte noch einmal die Gräfin, dann schüttelte sie ihr die Hand:

»Tausend Dank noch, teure Freundin, für die tröstenden Worte! Lelièvre, Sie werden diese Worte zu Hause sofort aufschreiben.«

Sie dachte einen Augenblick nach, dann sagte sie, mit gerunzelter Stirne:

»Ja ... es waren herrliche Worte! Aber, trotzdem, ich bitte Sie nochmals, wegen der Verwandten von Frau Lelièvre ... die Sache zu beschleunigen! Nicht wahr, teure Gräfin, ich kann auf Sie zählen?«

»Gewiß!«

»Danke! Danke! Danke für alles! Kommen Sie, Lelièvre ... treten Sie zuerst ein, damit ich sehe, ob der Aufzug tragfähig ist ... manchmal stockt die Maschine. Nein ... alles geht gut! Nun, dann ... leben Sie wohl, teure Gräfin!«

Und während der Aufzug langsam abstieg, hörte Albine die grelle Stimme der Hoheit:

»Die Reisepässe! Vergessen Sie nicht, bis spätestens morgen nachmittags!«

 

»Welch ein Trio!« dachte Albine, als sie sich wieder im Boudoir befand, während das fürstliche Auto im Hof knatterte. »Genaz, die Lelièvre, die Großfürstin! Die diplomatischen Vertreter im Ministerium werden Nachsicht haben müssen, um diese Leute als friedfertige Juwelenhändler anzusehen! Übrigens, Hilda wird sich kaum vierundzwanzig Stunden in ihre Rolle finden! Bah! das geht mich nichts an ... ich sagte, was ich sagen mußte.«

Sie bemühte sich, die Folgen dieses Abenteuers auszudenken. Welches war der wirkliche Plan der Großfürstin? Eine Reise inkognito, in irgendein sonniges Land, während der Großfürst die Eisberge bewunderte? Vielleicht ... Aber warum dann diese Rührszene, die von den beiden Frauen sicherlich nicht gespielt war? Eine Flucht, die nur einige Wochen dauern soll, kann nicht derart aufregen. Hilda hatte gesprochen, als ob sie Albine nie mehr wiedersehen würde. Wollte sie sich wirklich mit diesem verdächtigen Abenteurer verheiraten, im Ausland dauernd leben und auf ihre vornehme Stellung verzichten? Von neuem litt Albine sehr schwer unter dem Bewußtsein, den Widerschein ihrer eigenen Liebe hier in einem grotesken, höhnischen Zerrbild zu sehen. Trotz ihrer Anstrengungen waren alle Ereignisse dieses Tages danach angetan, um sie immer und immer wieder zu sich selbst zurückzuführen, ihren eigenen Fall zu studieren. Und dann, es war ihr, als sie der Großfürstin entgegenging, ein Name aufgetaucht ... und ein Datum ... und sie sah dies wiederum, gleichsam wie auf einer weißen Tafel, über die ihr Gedächtnis verschiedene Bilder dahinhuschen ließ. Es drohte ihr eine unbestimmte Gefahr, und sie hatte dies auch früher schon manchmal gefühlt, und stets hatte sie sich bemüht, diese Gefahr im Geiste männlich – jawohl, mit männlicher Energie – niederzukämpfen.

Sie drückte auf die Klingel.

»Justine, ich habe etwas Kopfweh. Schließen Sie die Vorhänge in meinem Zimmer und zünden sie bloß die Lampe auf dem Nachttisch an. Ich will ein wenig ausruhen. Legen Sie mir meinen blauschwarzen Kimono zurecht, und dann können Sie gehen. Ich werde mich selbst umkleiden. Ich bin für niemanden zu Hause. Keinen Lärm im Hause ... hängen Sie mein Zimmertelephon ab!«

Eine Viertelstunde später, in völligem Dunkel, eingehüllt in ihren Kimono, unbeweglich auf dem Bette ausgestreckt, überließ sich Albine ihren Gedanken. Es war ein quälendes Nachdenken, als wollte sie sich selbst ganz in ihrem Gehirn einschließen, daselbst alle Kraft ihres Körpers konzentrieren, um endlich das Bekannte vom Ungewissen zu unterscheiden. Das Unbekannte für Albine war diese Drohung, die ihr durch eine Ahnung zum Bewußtsein kam. Das Bekannte, das war ihre Vergangenheit ... und in dieser Vergangenheit lag sicherlich die drohende Gefahr.

Einige Tage früher, in einer Stunde vollkommenen Einvernehmens, die sie jetzt mit Roger öfters genoß, hatte sie ihm gesagt:

»Ich weiß alles von Ihrem Leben, aber Sie kennen das meine nur durch die hämischen Bemerkungen meiner Feinde. Unser beiderseitiges Schicksal soll sich verknüpfen, es darf nicht sein, daß die Vergangenheit die Gegenwart vergiftet. Ich errate hinter dieser Stirne, die ich liebe, unbestimmte Haßgefühle, feindliche Neugierde. Das alles muß sich beruhigen – fragen Sie mich nur aus. Ich werde Ihnen antworten.«

Roger hatte den Kopf gesenkt. Dann hatte er nach den Händen Albinens gegriffen und hatte gemurmelt:

»Ich kann nicht.«

Albine hatte nicht auf ihrem Verlangen bestanden, aber ihr Entschluß war gefaßt. Sie mußte Roger um jeden Preis aufklären, und dies sofort, denn Roger war jetzt in der Stimmung, alles zu hören. Albine fühlte ihn an sich gefesselt wie den vertrauensvollsten Verlobten an die würdigste Braut. Übrigens, dieses Bekenntnis würde ihm nichts Neues sagen, was er nicht in groben Umrissen bereits von Gouillaux gehört hatte.

Ohne mehr von dieser Sache zu Roger zu sprechen, hatte sie am selben Abend eine Art von Beichte zu schreiben begonnen. Würde sie dieses Schriftstück je an Roger ausliefern? Sie wußte es nicht – in dem Augenblicke nicht, als sie zu schreiben begann. Aber wenn man im vorhinein niederschreibt, was zu sagen man sich scheut, so ist das ein unfehlbares Mittel, um jede Unvorsichtigkeit der Sprache zu vermeiden. Sie hatte sich an die Arbeit gemacht, in dem Bestreben, völlig aufrichtig zu sein, und in der Tat waren die ersten Seiten von Wahrheit durchtränkt, da Albine ihre Familie erwähnte, ihre Kindheit und Erziehung schilderte. Aber sie war zu klarblickend, um sich nicht zu sagen: »Es handelt sich nicht um meine Geschichte als unschuldiges Mädchen. Ich muß die Wahrheit über mein Leben als Frau sagen.« Und indem sie mehrere Jahre übersprang, hatte sie die Geschichte ihres Verhältnisses in Rom begonnen, ihres Verhältnisses mit dem Chevalier Bellinconi. Es war dies ein verschwiegenes Verhältnis, wie alle, die Albine später hatte, ohne Skandal, ohne Aufsehen, aber die vornehmen Kreise hatten das Verhältnis gekannt, und hatten es unter diesen ungesunden Schutz genommen, der sich später in Verleumdung und Klatsch wandelt. Albine hatte das alles ungefähr in dem Ton erzählt, den Chateaubriand gebraucht hatte, als er über seine römische Liebschaft mit Pauline de Beaumont berichtete. Das Verhältnis hat zweieinhalb Jahre gedauert und sich dann aus gegenseitigem Überdruß gelöst. Bellinconi hatte sich später mit einer Prinzessin Borghese verheiratet. Dreißig Monate konnte sich Albine sagen: »Ich war ihm treu.« Und trotzdem, als sie alles schilderte, war sie nicht ganz aufrichtig. Es gab innerhalb dieser dreißig Monate eine Episode, vierzehn Tage in Paris ... und diese Episode verschwieg sie. Sie konnte doch nicht diese unbegreifliche Szene erzählen, da sie sich in ihrer Wohnung einem Unbekannten hingegeben hatte. Es war ein Maler, ein ziemlich unbekannter Künstler, sehr jung, den sie zu einer Besprechung eingeladen hatte, wegen der Kopie eines Meisterwerkes der römischen Schule, und in dem Salon, dessen Möbel mit Staubhüllen überzogen waren, in diesem goldigen Dämmern, das durch die geschlossenen Vorhänge drang, hatte sie, wie eine Dirne ... ah ... nein, das konnte sie nicht bekennen! Es war ja so unbegreiflich, eine Überrumpelung der Sinne! Ohne sich an ein Datum zu binden, gerade wie es ihr das Gedächtnis eingab, hat sie dergestalt die wichtigsten Begebenheiten ihrer Jugend und ihrer Frauenreife in Angriff genommen. Aber in einem stillschweigenden Einvernehmen mit sich selbst hatte sie solche Episoden wie die mit dem Künstler fortan verschwiegen. Übrigens haben die Frauen eine merkwürdige Gabe, um aufrichtig diejenigen Vorfälle zu vergessen, die ihnen peinlich sind. Die Beichte Albinens wurde demnach, je weiter sie fortschritt, nur ein kurzer Kommentar über Vorfälle, die Roger bereits kannte oder die ihm hinterbracht werden konnten, und dieser Kommentar wurde unbewußt zu einer Lobeshymne! Denn war es nicht von einer pathetischen Schönheit, eine Frau zu sehen, die sich selbst richtet, und die wie eine Gefolterte nur genau so viel gesteht, damit diese Folter ein Ende nehme?

Heute, da Albine in dem Dunkel ihres Zimmers dahinträumte, war diese Beichte beinahe vollendet. Die Blätter waren in einem kupfernen Kästchen eingeschlossen, das auf einem Tischchen in der Nähe des Bettes stand, und worin sich auch die kostbarsten Schmucksachen der Gräfin und ihre wichtigsten Papiere befanden. Ein nicht vorbereiteter Leser hätte diese Blätter für die Memoiren einer großen Dame des 18. Jahrhunderts gehalten, die mit Würde und Zurückhaltung ihr Leben erzählt, das sich in Abenteuern mit andern Personen erschöpfte, welche nur mit ihren Anfangsbuchstaben bezeichnet wurden. Außer dem römischen Abenteuer wurden da noch drei andere Verhältnisse geschildert; eines mit einem österreichischen Erzherzog, zwei mit Mitgliedern des Pariser Adels. Was die Geschichte ihrer Heirat betraf, so war die Schreiberin ziemlich ausführlich gewesen. Sie erzählte genau, unter welchen Umständen sie gelegentlich einer Europareise in Gesellschaft der Malerin Henriquette Dupont den Grafen Anderny kennen gelernt hatte, einen vierzigjährigen Lebemann und vielfachen Millionär, der nach zwei Zusammenkünften um ihre Hand angehalten hatte, wobei er ihr eine Morgengabe von zwei Millionen zuschreiben ließ. Sie war ihm treu geblieben bis zu dem Tage, an dem sie erfuhr, daß der Graf nicht nur eine Schauspielerin des Théâtre français aushielt, sondern sich auch bei seiner Mätresse wohnlich eingerichtet hatte. Dann war die Scheidung gekommen; kurze Zeit darauf starb der Graf, und die Witwe hatte ihn anderthalb Jahre lang betrauert. Von diesem Augenblicke an hielt sie sich für gänzlich unabhängig und hatte ein freies Leben geführt, worüber sie niemandem Rechenschaft schuldig war.

Nach diesem Berichte gliederte sich also ihr Leben in drei Teile: eine etwas kühne, aber reine Jugend, eine Ehe, die ihrerseits treu eingehalten wurde, und ein Liebesleben als freie Frau, wofür nur dem Gatten die Schuld beigemessen werden konnte.

Trotzdem fand Albine, daß dieser Bericht noch zu kraß war, und sie bemühte sich, einzelne Episoden zu mildern, für ihre Schuldlosigkeit zu kämpfen. Und so entstand eigentlich ein flammendes Plädoyer zu ihren Gunsten.

Eines blieb noch übrig: den Anfang der Reise zu schildern, die sie mit achtzehn Jahren in Begleitung von Henriquette unternommen hatte ... und dies war sehr schwer, es ging über ihre Kräfte!

Der Befehl, den Albine gegeben hatte, jeden Lärm zu vermeiden, war genau befolgt worden. Der kleine Palast war totenstill. Plötzlich erklangen fünf Silbertöne, die Albine jäh auffahren ließen. Es war die Stimme einer kleinen Uhr, die auf dem Schreibtisch der Gräfin stand. Albine stand auf, zündete die Lampe an, ging im Zimmer unschlüssig auf und ab, dann nahm sie die Blätter aus dem Kästchen und begann zu lesen:

 

»Ich bin Französin von väterlicher und mütterlicher Seite. Durch meinen Vater gehöre ich einer alten, aristokratischen Familie der Dordogne an. Die Mestrot sind alter Adel, von Ludwig XV. her. Der ältere Zweig besitzt den Grafentitel. Ein Graf Mestrot lebt noch heute als Junggeselle in der Dordogne. Sein jüngerer Bruder, Pierre de Mestrot, der sich für Malerei interessierte, kam 1877 nach Paris. Er hatte viel Talent, aber seine Gesundheit war eine schwache und er starb 1885 an der Schwindsucht. Seine Witwe war eine Frau von sehr großer Schönheit. Ich war das einzige Kind des Paares. Meine Mutter war ihrem Manne eine treue Gattin gewesen. Als Witwe hatte sie ihre Barschaft bald erschöpft, aber einer der Testamentsvollstrecker, der sehr reich war, Adrien Veriau, verliebte sich in sie und heiratete sie, als die Trauerzeit abgelaufen war.

Meine Mutter hatte sich durch ihre erste Ehe sehr vornehme Manieren angeeignet und machte eine gute Figur in der bürgerlichen Gesellschaft, in der sie fortan verkehren mußte. Die zweite Ehe blieb kinderlos, und alle Zärtlichkeit des Paares wurde auf mich übertragen; ich wurde sehr verwöhnt, man erzog mich wie ein Mädchen des Hochadels, ich hatte eine englische Lehrerin, Henriquette Dupont gab mir Malstunden, Professoren des Konservatoriums unterrichteten mich im Klavierspiel und Gesang. Aber dabei war ich sehr frei, ich lebte damals genau so wie heute die jungen Mädchen, ich ging allein aus, empfing meine Besucher in meinem Atelier. Ich füge hinzu, daß man mir zwanzig Jahre gegeben hätte als ich sechzehn Jahre zählte, und ich war sehr schön. Man sagte mir nach, daß ich Abenteuer hatte, und mein freies Benehmen gab den Grund zu solcher Nachrede. Aber die Wahrheit ist, daß ich wie eine junge Engländerin oder Amerikanerin lebte.«

 

Hier kam nun ein großer Zwischenraum. Eine Begebenheit war verschwiegen worden. Würde die Schreiberin sie noch einfügen? Auf einem andern Blatte stand die Fortsetzung:

»Nach einem Aufenthalt von zwei Monaten in England und einer Reise durch Deutschland und Österreich kam ich mit Henriquette in Salzburg an ...«

Es folgte nun die Schilderung der Heirat. Albine legte die Blätter beiseite, drehte die Lampe ab und streckte sich wiederum auf dem Bette aus. Ihre Gedanken kehrten immer wieder zu der leeren Blattseite zurück.

»Kann ich dieses Ereignis meines Lebens wirklich Roger erzählen?« dachte sie beängstigt. »Ich will mich nicht täuschen, ich sehe jetzt ein, daß es unmöglich ist! Es war mein Instinkt, der mich verhinderte, zu schreiben. Roger würde mir dies nie verzeihen. Aber weder Roger noch irgendein anderer werden diese Begebenheit je erfahren. Die zwei Zeugen, Jules Perdigant und Henriquette, sind tot, und selbst wenn sie noch lebten, könnten sie sie nicht enthüllen! Aber warum soll ich es mir verschweigen? Als ich vorhin der Großfürstin entgegenging, war es diese Episode, an die ich dachte ... die mich bedrohte ...«

Nach einer Weile flüsterte sie:

»Nein, es nützt nichts, wenn ich die Augen vor der Gefahr verschließe, wie der Vogel Strauß! Die Gefahr ist da, ich muß mich entschließen, Roger alles zu gestehen. Er wird mich trotzdem lieben. Ja ... heute wird er den Abend hier verbringen, heute soll er die erste Etappe meines Lebens kennen lernen. Morgen fährt er nach Nancy. Er hat drei Tage Zeit, um zu überlegen ... und dann mag es kommen, wie Gott will.«

Wie es immer zu geschehen pflegt, gab dieser hart gefaßte Entschluß der beklemmten Seele neue Hoffnung. Albine hielt es in ihrer Untätigkeit nicht mehr aus. Sie sprang von neuem auf, machte Licht, schloß das Manuskript ein und klingelte dann nach der Zofe. Während sie auf den Malachitknopf drückte, sah sie ihr Gesicht in einem Spiegel. Der innere Kampf hatte ihren Zügen eine solche Leidenschaftlichkeit gegeben, daß sie darüber selbst betroffen war.

»Ich bin schön, sehr schön,« murmelte sie. »Ach, wenn ich so schön wäre, an dem Abend, da ich mit Roger sprechen muß!«

Die Zofe trat ein.

»Justine, ziehen Sie die Vorhänge zurück und helfen Sie mir beim Ankleiden. Meine Robe aus grauem Jersey!«

»Fühlen sich Frau Gräfin wohler?«

»Ja, sehr wohl ...«

Der Tag strömte von neuem in das Zimmer.

»Frau Engelmann hat telephoniert,« sagte die Zofe.

»Ah, was wollte sie?«

»Sie wollte die Frau Gräfin sehen. Sie sagte, es betreffe ›das Haus‹, die Frau Gräfin würde schon wissen ...«

»In der Tat, ich weiß! Wann wollte sie mich sehen, und wo?«

»Im Augenblick, als Frau Engelmann telephonierte, wollte sie hieher kommen. Dann sagte sie, daß sie nach vier Uhr nicht mehr die Bank verlassen könne.«

»Telephonieren Sie ihr, daß ich zu ihr kommen werde. Ich muß etwas frische Luft schöpfen. Das Auto soll mir folgen, ich werde ein Stück Weges zu Fuß gehen. Geben Sie mir statt der grauen Robe mein Taylorkleid von Redfern, das letzte.«

 

»Liebe Freundin, Sie kommen zu richtiger Zeit! Ich habe soeben das letzte Schriftstück unterfertigt. Aber warum haben Sie sich selbst bemüht? Es war nichts dringliches; ich wollte Ihnen nur eine Antwort bringen, wegen des Verkaufes Ihres Hauses, und ich wollte die Gelegenheit benützen, um ein wenig zu plaudern. Es ist so lange her, daß ich Sie nicht gesehen habe!«

»Nun gut,« sagte Albine, während sie Platz nahm, »dann spielte zwischen uns so eine Art von freundschaftlicher Telepathie. Denn auch ich hatte das Verlangen, Sie zu sehen. Ich bin heute in trüber Stimmung.«

»Ich dachte, daß alles in Ordnung wäre?«

Albine machte eine unbestimmte Gebärde. Sie war mit Camille weniger intim als mit Berthe. Gewisse allzu jungenhafte Manieren von Camille stießen Albine etwas ab, da sie trotz allem stets auf Haltung bedacht war, stets Dame blieb und nur in aristokratischen Kreisen verkehrte, in die Camille nicht Eingang fand. Sie sahen einander also nur bei Berthe Lorande, oder zumindest im Beisein von Berthe, und sie schätzten sich gegenseitig wegen ihrer Intelligenz, fragten einander in besonders schwierigen Fällen um Rat. Und da jetzt Albine ihre Lebensführung ändern wollte, was hinsichtlich der finanziellen Einzelheiten eine ziemlich heikle Operation darstellte, so hatte sie sich an Camille gewendet.

»Ich habe einen Käufer für Ihr kleines Palais,« sagte Camille, »man nimmt es mit allem, was es enthält, natürlich können Sie diejenigen Stücke der Einrichtung, die Ihnen besonders teuer sind, behalten, bis zu einem Wert von 100.000 Francs. Man bietet noch nicht den vollen Preis, aber ich bin überzeugt, daß wir zu diesem Preise abschließen werden. Wann wird es frei sein?«

»Ungefähr in zwei Monaten, wenn sich meine Pläne verwirklichen.«

»Fürchten Sie irgendwelche Hindernisse?«

Albine erwiderte etwas zögernd:

»Nichts Bestimmtes, aber in solchen Angelegenheiten kann oft ein Wort, ein kleiner Zufall alles zerstören ...«

»Das ist wahr,« sagte Camille. Beide saßen nebeneinander auf dem Diwan, der von den Bibliothekschränken eingeschlossen war. Sie sahen einander eine Weile an, ohne etwas zu sagen. Das Gesicht der Gräfin widerstrahlte noch von dem leidenschaftlichen Entschlusse, den sie vor einer Weile gefaßt hatte. Camille dachte: »Wie schön sie ist,« und der Gedanke an sich selbst krampfte ihr das Herz zusammen. Was hätte sie in diesem Augenblick nicht hingegeben, um eine solche Schönheit dem geliebten Manne bieten zu können! Sie hätte auf ihren Reichtum, auf ihre Intelligenz gerne verzichtet, um einen solchen Tausch zu machen. Albine ihrerseits dachte: »Die Augen sind noch immer bezaubernd, und in dem Gesichte ist eine gewisse asiatische Noblesse. Camille sieht besser aus als bei unserer letzten Begegnung ... aber trotzdem, welches langsame Verdorren!« Ein tiefes Mitleid hob ihre Brust, sie zog das leidenschaftliche, vergrämte Weib in ihre Arme:

»Sie haben mehr als Schönheit, Camille! Sie besitzen den Magnetismus Ihrer herrlichen Augen; niemand kann Ihnen widerstehen, wenn Sie es wollen.«

Camille durchlebte einen dieser tragischen Augenblicke, da ein angstvolles Herz alles glaubt, was ihm ein bißchen Hoffnung gibt.

»Ist's wahr?« fragte sie zitternd. »Sie finden mich nicht gar zu abgemagert, gealtert? Wissen Sie, ich bin kaum 37 Jahre alt ...«

»Ich weiß es, aber Sie sehen jünger aus ...«

»Für viele Frauen unserer Zeit ist dies noch die Jugend. Wäre es nicht möglich, daß ein Mann, ein Vierziger, an mir Gefallen finden könnte? Vielleicht doch ... in der Straße, im Theater, in den Geschäften bemerke ich, daß man mich seit einiger Zeit wiederum mustert, daß mich die Männer ansehen. Gestern hatte ich dafür einen Beweis. Ich ging bei anbrechender Nacht zu Fuß nachhause und ein junger Mann, sehr elegant, hat mich angesprochen. Ich ließ mich ruhig eine Weile begleiten, er sagte mir sehr banales Zeug – die Männer sind ja meistens so mittelmäßig! Aber ich trank förmlich seine Worte! Denn sie drückten ein wirkliches Verlangen aus! Dann dachte ich, er sieht mich nicht deutlich genug, ich blieb vor einem Laden stehen, dessen Auslagen grell erleuchtet waren, und sah meinen Begleiter an. Er wurde daraufhin noch dringlicher ...«

»Ich glaub' es gerne, denn diese Augen!«

»Ich hatte alle Mühe, um ihn dann abzuschütteln, ich mußte ihm ein Stelldichein geben, das ich natürlich nicht einhalten werde ... ah ... ich war sehr glücklich, nicht wegen dieses Abenteuers, das zählt gar nicht ... aber ich liebe einen Mann ... ah ... wenn ich ihm gefallen könnte!«

Die beiden Frauen hielten einander noch immer an den Händen. Albine fühlte, wie sich ihren Fingern das Fieber ihrer Freundin mitteilte ... Es war tragisch, diese Haltlosigkeit einer verliebten Frau, die ihrer körperlichen Reize nicht mehr sicher ist. Und Albine sagte sich, wie zu eigenem Troste: »Ich habe das bessere Los. Ich bin schön, ich bin meiner sicher!«

»Es hatte dieser Krise bedurft,« fuhr Camille fort, »damit ich erfahre, was Liebe ist; früher liebte ich beinahe wie ein Mann, ich wählte selbst, nach meiner Laune, geschäftsmäßig, und meine Verachtung der Männerwelt stieg immer mehr. Aber heute ist es anders ... ich will demütig dienen, ich will gewählt werden, ich flehe im Innern, daß mich der andere wünscht und beglückt. So weit ist es mit mir gekommen, und ich bin glücklich darüber!«

Sie schwieg eine Weile, dann setzte sie mit etwas zitternder Stimme hinzu:

»Sie kennen ihn, nicht wahr?«

»Ich glaube ihn zu kennen. War er nicht in Ihrer Loge, am letzten Montag, in der Oper? Groß, elegant, jung noch, trotz des ergrauenden Haares ...«

»Ja ... diese grauen Haare liebe ich an ihm beinahe am meisten,« rief Camille. »Ich möchte, daß sie ganz weiß wären! Ja, er war es. Er ist in meiner Bank angestellt, sehr intelligent, sehr ergeben, sehr ehrlich. Ich möchte aus ihm meinen Kompagnon machen ...«

»Er liebt Sie also?«

»Ich weiß es nicht, er bewundert meine Intelligenz, meine Energie ...«

»Nun ... und?«

»Ja, aber bei alledem kein einziges Wort von Liebe, nur das eine, daß er am liebsten beständig um mich herum sein möchte.«

»Aber das ist doch Liebe, Camille! Das ist der sicherste Beweis für Liebe!«

Und während sie dies sagte, dachte Albine: »Das hier ist neu, ein neues, aber verzerrtes Abbild meiner eigenen Liebe! Roger hat mir gesagt, daß er mich liebt ... ich fühlte, daß ihn die Eifersucht verzehrte, und trotzdem haben sich unsere Lippen nie berührt. Ist es eine neue Männerrasse, diese leidenschaftlichen Asketen?«

Zum erstenmal befiel sie eine Unruhe: wie seltsam war es, diese absolute Keuschheit in dieser gegenseitigen Liebe! »Was mich betrifft,« sagte sie sich, »so bin ich in seiner Gegenwart ganz verwirrt, zitternd, und empfinde nichts Sinnliches, ich bleibe rein, und Roger erinnert mich an die Haltung mancher Väter, die eifersüchtig werden, wenn sie neben ihrer erwachsenen Tochter einen Mann sehen ...«

Nach und nach, in einem egoistischen Argwohn, von ihren Herzenssachen nicht viel erraten zu lassen, begannen die beiden Freundinnen ein gleichgültiges Gespräch. Sie plauderten über die Verhältnisse der andern, über Berthe und Jean, über die Bemühungen von Gouillaux, der die Leidenschaft Alberts für Berthe zu seinem eigenen Vorteil bei Jeanne Saulnois ausnützen wollte.

»Wissen Sie,« sagte Camille, »daß dieser arme Saulnois völlig den Verstand verloren hat? Berthe hat ihm die Tür weisen müssen und sie fürchtet sich vor ihm, vor seiner Rache!«

»Sie kann ruhig sein,« erwiderte Albine. »Professor Saulnois hat nichts von einem Antony, der die Widerstrebende tötet, und seine entzückende Jeanne wird dafür sorgen, daß er nicht auf Abwege gerät.«

»Aber wenn sie selbst dem Verführer Gehör schenkt?«

»Nein, Jeanne ist eine Frau für einen einzigen Mann ... das ist ihr angeboren.«

Sie plauderten schließlich über Toiletten, und wer sie gehört hätte, wie sie sich über ein neues Modell von Reverdy ereiferten, hätte nicht geglaubt, daß eine große Leidenschaft das Innenleben dieser beiden Frauen beherrschte. Und diese Plauderei dauerte so lange, daß Albine noch knapp zum Diner nachhause kam, um ihr Kleid gegen eine Abendrobe zu vertauschen. Roger sollte kommen, und welch beklemmendes Verhör hätte sie zu bestehen!

 

»Hat man nicht während meiner Abwesenheit telephoniert, Justine?«

»Nein, Frau Gräfin, aber es sind zwei Briefe gebracht worden.«

Albine drehte sich so hastig um, daß die Zofe, die ihr gerade den Rock abstreifen wollte, eine Knopfschlinge abriß.

»Schnell, geben Sie mir die Briefe!«

Die Briefe lagen wie gewöhnlich auf einer Lackschale, neben dem Bett. Albine bereute bereits ihre Überstürzung und nahm mit absichtlicher Langsamkeit die beiden Umschläge in die Hand. Der eine Brief enthielt eine Preisliste für Überseekoffer, die ihr Frau von Trevoux verschafft hatte. Die andere Zuschrift, unterzeichnet Blanche Villain, berief sich auf Albert Saulnois, für den Fall, als die Gräfin eine Sekretärin brauchen würde.

»Dies war die letzte Post für heute,« sagte sich Albine. »Ich habe nichts mehr zu fürchten.« Und sie wendete ihre ganze Aufmerksamkeit ihrer Toilette zu, als wenn es sich um ein erstes Stelldichein gehandelt hätte!

Wie fast alle wahrhaft vornehmen schönen Damen von Welt, hatte auch Albine die moderne Sitte angenommen, die Abendmahlzeit fast ganz abzuschaffen, außer wenn sie sich in Gesellschaft befand. Als sie angekleidet und geschmückt war, ließ sie sich in ihrem Boudoir eine Bouillon und etwas gekochte Früchte bringen, ohne Brot, ohne Wein. Es war das eines der tausend Opfer, zu denen sie sich entschlossen hatte, um jung, schlank und frisch zu bleiben, begehrenswert weit über die Grenzen hinaus, welche für gewöhnlich den Frauen von der Zeit gesteckt sind. Es war ein Fasten, strenger noch als das der Nonnen, und wenn es vom Glauben diktiert worden wäre, hätte es der Frommen den Himmel eingebracht. Für Albine bestand die Belohnung in dem unglaublichen, unverwüstlichen Bestand ihrer Schönheit.

»In einer halben Stunde wird Roger hier sein,« dachte sie, »ich werde ihn in meinem Boudoir empfangen, werde ihm diese Ambrazigarette anbieten, und wenn er sie zu Ende geraucht hat, werde ich beichten.«

Sie wünschte jetzt diese Stunde beinahe ungeduldig herbei, so wie ein Patient nach einer Operation verlangt, die ihm endlich Ruhe und Gesundheit wiedergeben soll.

»Frau Gräfin will kein Kompott mehr?«

»Nein, bringen Sie mir eine Tasse Lindenblütentee und lassen Sie mich dann allein. Sie werden mich benachrichtigen, wenn Herr Vaugrenier kommt ...«

Die Zofe trug die Speisenplatte aus dem Zimmer. Einige Minuten später kam sie zurück und brachte den Tee, und auf einer Silberplatte einen Rohrpostbrief.

»Man hat ihn soeben gebracht.«

Die Augen der Gräfin hefteten sich auf das kleine, rechteckig gefaltete blaue Papier. Sie fühlte mit einemmal den merkwürdigen Schwindel, der einen befällt, wenn man in einem Aufzug gar zu schnell zur Tiefe saust. »Ah ... es ist wahr ... ein Rohrpostbrief kann jederzeit kommen, und ich war bereits beruhigt, daß kein Briefträger mehr zu erwarten sei.« Ihre Verwirrung war so groß, daß sie unfähig war, sofort die Hand nach dem Briefe auszustrecken. Erst nach einigen Minuten hatte sie sich etwas gefaßt. »Ich erkenne mich gar nicht mehr, was geht denn mit mir vor? Es ist vielleicht eine ganz unwesentliche Nachricht ...«

Endlich nahm sie den Brief. Ihre Hände waren eiskalt, aber das Zittern hatten sie verloren. Das Schreiben lautete:

»Hotel Bradford, rue Cambon, 23.

Frau Gräfin!

Mein Name ist Ihnen bekannt, wie ich dies von Herrn Roger Vaugrenier, meinem Patenkinde, erfahren habe. Es ist in meiner doppelten Eigenschaft als Pate und Vormund, daß ich Sie um die Ehre bitte, von Ihnen so bald als möglich empfangen zu werden. Ich möchte am liebsten, daß dies schon morgen geschähe. Ich werde mich zu jeder Stunde, wann Sie es wünschen, zu Ihnen begeben, und Sie brauchen mir bloß zu telephonieren, um mir diese Stunde anzugeben.

Bevor unsere Unterredung stattfindet, bitte ich Sie aufs dringlichste, von meiner Anwesenheit nicht das geringste gegenüber Roger zu erwähnen. Nur Sie allein dürfen wissen, daß ich in Paris bin.

Roger, der mir während seines letzten Besuches nur sehr flüchtig und allgemein von Ihnen gesprochen hatte, schrieb mir vorgestern, um mir seine Heirat mit Ihnen anzukündigen. Ich habe mich sofort nach Frankreich begeben. Dies verrät Ihnen, Frau Gräfin, den Zweck meiner Reise und die allergrößte Dringlichkeit der erbetenen Unterredung.

Wollen Sie, Frau Gräfin, die Versicherung meiner größten Hochachtung hinnehmen, mit der ich zeichne

ganz ergebenst
Dr. S. G. Hobson.«

Albine legte das Papier auf die Platte zurück und blieb steif, aufrecht stehen. Wie immer in solchen Fällen, hatte ihr die unmittelbare Nähe der Gefahr alle Besinnung, alle Kraft zurückgegeben. Sie fieberte etwas, bewahrte aber eine merkwürdige Klarheit des Denkens.

»Nun gut, und dann?« sagte sie laut. »Der Vormund ist wahrscheinlich mit dem Plan nicht einverstanden und will diese Heirat verhindern. Er sagt, daß ihm Roger geschrieben hat ... Das ist richtig. Roger hat es mir mitgeteilt, und ohne den Brief gelesen zu haben, erriet ich den Inhalt; er enthielt die Wahrheit; nur das nicht, was mich und Roger so stark beschäftigt, mich so sehr schmerzt – meine Vergangenheit! Aber Roger verhehlte weder mein Alter, noch meine Stellung, noch meinen Reichtum. Dieser Hobson ist ein alter Puritaner, er ist mit dem Heiratsplan nicht einverstanden, er hat bereits eine Braut für Roger, dies alles ist sicherlich unangenehm, aber es ist noch lange nicht eine Katastrophe! Hobson kommt als Feind, er wird von mir verlangen, auf diese Heirat zu verzichten; wenn ich ablehne, so wird er mir seine Gründe entwickeln. Nun gut, er möge predigen! Er wird mich nicht überzeugen ...«

Und sie erinnerte sich an etwas anderes:

»Roger wird in zehn Minuten hier sein! Er muß mich ganz ruhig finden.«

Sie hatte sich vor ihren Toilettetisch gesetzt, legte etwas Creme auf, etwas Puder. Diese kleinen Hilfsmittel gaben ihrem Gesicht einen Glanz, eine Frische, die sie entzückte. »Ja ... ich bin sehr schön ... und ich will sehr lange schön bleiben!« dachte sie. Sie nahm wiederum den Brief zur Hand und überlas aufmerksam jede Zeile.

»Nun ja, es ist der Mann aus einem Guß, wie mir ihn Roger geschildert hat. Es wird nicht leicht sein, mit ihm zu verhandeln, selbst wenn dieser Hobson für Roger mehr als ein Vormund ist! Er ist vielleicht sein Vater ... Roger glaubt es allerdings nicht, er denkt noch immer, daß sein Vater dieser Lord Charles Bosden war, von dem ihm seine Mutter erzählte. Ich konnte ihm freilich nicht sagen: ›Frau Vaugrenier hatte vielleicht zwei Liebhaber, diesen Bosden, und daneben den Doktor Hobson, da doch beide Freunde waren, Kameraden von Oxford her‹ ...«

Aber sie war ihres Sieges gewiß, um so mehr als Roger an ihrer Seite kämpfen würde. Und es war mit einer völlig ruhigen Hand, daß sie die Antwort schrieb:

»Geehrter Herr!

Ich werde morgen, Donnerstag, vormittags, von zehn Uhr an zuhause sein.

Ich werde Ihrem Wunsche gemäß über diese Zusammenkunft gegenüber jedermann völliges Stillschweigen bewahren.

Gräfin Anderny.«

Als sie den Brief versiegelt hatte, klingelte sie nach Justine.

»Man muß den Brief sofort an seine Adresse befördern. Ist Herr Vaugrenier noch nicht da?«

»Noch nicht, Frau Gräfin, aber ich glaube, daß es in diesem Augenblick geläutet hat.«

Wie kam es, daß sie jetzt so stark an ihr erstes Abenteuer denken mußte, an jenes Abenteuer, über das sie in ihrer Beichte nichts geschrieben hatte?

»Bah!« sagte sie sich, »das alles ist schon lange vergessen ...«

Sie hörte bereits den Schritt Rogers im Salon. Sie schloß den Rohrpostbrief hastig in ihrem Kästchen ein und lief dann, wie ein junges Mädchen, ihrem Anbeter entgegen ...


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