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Erster Teil

I

Ein Dancing ...

In dieser Reihe wirrer, toller Jahre, die auf den Krieg folgten, ist der Dancing ein Symbol geworden, mit seinem Champagner und den gepfefferten Speisen, mit der wütenden Negermusik, mit seinem grellen, übertriebenen Luxus, mit dem zynischen Gemenge von Kurtisanen und ehrbaren – sogenannten ehrbaren – Damen, mit der Zurschaustellung kostbarer Pelze, Perlen und Diamanten. Mit diesem Jahrmarkt weiblicher geiler Nacktheit, mit dieser siegesgewissen Schamlosigkeit, der Geldverschwendung, dem Schnalzen von Küssen und dem Kreischen hysterischer Weiber, der taghellen Beleuchtung, dem wüsten Schwelgen an den Tischen ...

Dancing ... die Revanche der Liebe über den Tod!

Dancing ... eine Frenesie, unbegreiflich und doch so natürlich nach den Jahren des Krieges, die endlos dünkten, da alle Freuden verboten waren und man diese Freuden trotzdem suchte, denn die Menschheit will leben. Es gab Küsse, die nach Jodoform rochen, von Zärtlichkeit heiße Hände, an denen noch Blut zu kleben schien. Und im Hinterland gab es Täuschung und Verrat. Es gab eine Liebe, die den Kämpfern an der Front gestohlen war, ehrbare Frauen, die dem Drängen des Blutes nicht widerstehen konnten, die sich in Wollust ertränkten, mit dem frevlerischen Gedanken an den Mann, an den Verlobten, an den Liebhaber, der vielleicht in demselben Augenblick, da das Weib vor Liebe röchelte, seinen letzten Seufzer verhauchte ... Die Lippen der Paare verschmolzen zu wütendem Kusse, aber die Augen blieben geschlossen, wie um die Scham des andern nicht zu sehen.

Und das dauerte so lange, so endlos lange. Würde es überhaupt wieder Frieden geben?

Und dann dröhnten die Salutschüsse, schwangen die Glocken, es war Frieden, man war frei, man spürte nicht mehr den Zwang des Befehles, des Vorgesetzten. Ruinen überall, materielle und seelische, Betrug und List, und die Gier von Zahllosen, sich an den Opfern, an den Verwüstungen des Krieges zu mästen. Konnte es noch schlimmer kommen als der Krieg war? Nein, nicht wahr? Und man lebte, man wollte genießen, wollte sich entschädigen, und wenn die Menschheit losgelassen ist, ohne Zügel, ohne Hemmnis, so sind die Handlungen stets dieselben: Lärm, Fraß und Völlerei, Liebe.

Und so kam der Dancing in Mode.

Dancing ... mit den neuen Tänzen, die eine bohrende, entnervende Lüsternheit schaffen. Die Bewegungen eines Paares, das von Liebe bezwungen ist; das Weib gewährt, mit zurückgesunkenem Kopf, die Glieder an die des Mannes gedrängt, im brünstigen Anschmiegen.

Ein Dancing, der modernste von Paris, » Celtic's«. Ein Zuströmen aller neuen Reichen, der Fremden, der feinen Kreise, die jede Zurückhaltung vergessen. Man muß seinen Tisch einige Tage vorher reservieren. Die Preise sind maßlos, 200 Francs ein Flasche Champagner, 500 Francs ein Korb mit Früchten.

»Celtic's« ist ein Keller, aber von riesigen Dimensionen, den ganzen Unterbau eines mächtigen Hauses in der Nähe der Boulevards umfassend. Man trat durch einen schmalen Gang ein, zu ebener Erde, und plötzlich öffnete sich der Korridor zu einer ungeheuren Stiege, die abwärts führte; grelles Licht überall, weißer Stuck und gleißendes Gold, und dann stand man in dem Saale, den man auf den ersten Blick hin fast gar nicht übersehen konnte: goldverzierte Säulen stützten die Decke, ringsum kleine Tische, die einen Raum in der Mitte freilassen, wie eine Schwimmhalle ohne Wasser. Die Einrichtung war geistreich, von jedem Tische aus konnte man alles übersehen, das Negerorchester, die Tanzenden, die Tische mit den schönen, halbnackten Frauen, und die Treppen, welche zur Galerie emporführten. Es war ein zauberischer Anblick selbst für diejenigen, die nicht von der Tanztarantel gestochen waren. Jeder Tisch zu vier Gedecken bedeutete ein Diner zu tausend Francs. Die Damen paradierten in Roben, von denen jede zwischen 10.000 und 20.000 Francs gekostet hatte, und dabei waren die Damen fast gar nicht bekleidet, bloß geschmückt, der Rücken war nackt, der Busen bis zur äußersten Grenze entblößt, die Robe reichte kaum bis zum Knie und man erriet, daß die Dessous spinnwebenfein waren, in einer Nußschale zusammengerollt werden konnten. Die Frauen waren beinahe nackt, ließen alle Einzelheiten des Körpers erraten. Man spähte nach dem Schmuck, man schätzte ihn mit Kennerblicken ab. »Diese hier trägt für eine Million Juwelen« ... »Dieser Pelzmantel wurde bei Pergolet mit 300.000 Francs bezahlt.« Und wie als Echo: »Jener Herr dort hat gestern drei Millionen auf die Galicia gewonnen. – Seinen Nachbarn will man gerichtlich belangen, er soll sieben Millionen Kriegsgewinn verheimlicht haben.« Diese betörenden Ziffern und Zahlen schwirrten unter der Menge, steigerten das Fieber in noch höherem Maße. Ah, welch ein Schauspiel!

 

Es war an einem Samstag – der » schicke« Tag.

Gegen zehn Uhr abends hatte, in dem betäubenden Lärm des Jazz, die erste Gruppe der Gäste das Diner beendigt und bereits rückte die zweite Gruppe an, die für das Souper, und spähte nach freiwerdenden Tischen. Aber die meisten Dinergäste blieben sitzen, trotz des Drängens der Kellner, und als Lösegeld bestellten sie immer wieder frischen Champagner.

Viele Frauen waren geschminkt, mit weiser Kunst, die ihnen das Aussehen sechzehnjähriger Mädchen gab. Aber diese Jugend schwand nach einigen Stunden dahin, die Augenhöhlen wurden tiefer, die Falten am Halse wurden sichtbar. Manchmal hatte man, wenn man sich beim Tische niederließ, hinter sich eine blühende, jugendfrische Dame gesehen, und wenn das Diner beendigt war und man sich nach ihr umdrehte, sah man eine Karikatur dieser Schönheit. Aber es war auch viel Jugend da, frische Geschöpfe, die sich an der Hitze des Saales, an den geilen Tänzen, an Champagner und Curry-Speisen noch mehr entzündeten und noch reizender wurden, mit Wonne die haßvollen Blicke schlürfend, welche ihnen von den reiferen Damen zugeworfen wurden.

Der Tanz hatte seit langem begonnen. Es gab da auch Zuschauer. Akteure – nicht nur diese hübschen, eleganten, aber bezahlten Tänzer, die zum Personal des Dancing gehören und etwas Disziplin in das Getümmel bringen, nicht nur diese vollendet schönen Probierfräulein, die für die grossen Modehäuser der Rue de la Paix Reklame machen, nein, diese Akteure, die ersten Rollen des Dancing, sind der Karikaturist Whip, mit der Physiognomie eines genialen Jockeys, ist dieser Börsekönig, dann dieser Direktor eines der größten Boulevardblätter, ferner dieser Besitzer eines der größten Kaufhäuser des linken Ufers, der nebstbei fünf Blätter subventioniert, es sind diese drei »Luxushündchen«, die sich hier nur zeigen, um für sich selbst Reklame zu machen; die eine ist eine berühmte Tänzerin des russischen Balletts, die andere eine bekannte Schauspielerin, die dritte eine Anfängerin in der Komischen Oper, aber als Schönheit ersten Ranges bereits in der galanten Welt bekannt. Und hier sind andere Akteure, an diesem Tische, den ein asiatischer Potentat beherrscht, dessen Schmerbauch sich mit dem Smoking nicht befreunden kann. Sein Sohn sitzt neben ihm, schmal, braun und schön. Zur Rechten des Prinzen sitzt die Großfürstin Hilda, die einen dänischen Prinzen geheiratet hatte. Hilda ist groß, mager, mit etwas gar zu muskulösen Armen und Beinen, einem faltenlosen Gesicht, auf dem man das Alter nicht lesen kann, blauen, ein wenig stumpfen, gierigen Augen, und einer wundervollen blonden Haarflut. Hilda ist Pariserin aus Wahl und Neigung, sie schwärmt für Paris! Und sie schwärmt für Männer, schöne Männer, die nicht viel über Dreißig zählen dürfen, und sie schwärmt für die Dancings. Sie tanzt jetzt, halb ohnmächtig vor Entzücken, mit einem mondänen Elegant, Ramon Genaz, einem Spanier, den die feinen Kreise etwas verdächtig finden und der trotzdem die feinsten Leute in seinem kleinen Palaste in Passy empfängt.

Man sieht an dem Tische noch die Comtesse de Verzieux, dann einen berühmten Flieger, dann den Satiriker und Romancier Mercueil, der hier für seinen nächsten Roman Stoff sammelt.

An dem gegenüberstehenden Tische sieht man ebenfalls Träger erster Rollen in dieser Pariser Komödie. Diese vier Damen, überaus elegant gekleidet, werden von einem blutjungen Offizier überwacht; er ist augenscheinlich der Sohn einer dieser Damen – wohl derjenigen, die ein noch junges Gesicht unter weißen Haaren zeigt. Die drei andern Damen sind drei verschiedene Typen einer seltsamen Schönheit: die eine ist groß, mit kastanienbraunem Haar, die andere schmal und zierlich, mit einem entzückenden Rotkopf, die dritte weist einen semitischen Typus auf, ihre Büste ist wundervoll, die Arme die einer Göttin, aber das Gesicht seltsam bleich, eigenwillig, mit sehr starken schwarzen Brauen und langen Wimpern, wie bei einer algerischen Tänzerin des Stammes Ouled-Nail, der Nordafrika die üppigsten und heißesten Kurtisanen liefert.

Whip sagt auf eine Frage des Prinzen: »Die Schwarze dort, mit den brennenden Augen? Es ist Camille Engelmann, Tochter des einstigen Direktors vom Crédit Général ... sie leitet die väterliche Bank selbst, besser als ein Mann; die kleine Rothaarige ist Berthe Lorande, sie hat zwei wunderschöne Romane geschrieben, ihr Leben ist etwas mysteriös.«

»Und wer ist die Schlanke?« fragt der Prinz interessiert.

»Ah! es ist die Schönste von allen, die Gräfin Anderny,« sagt Whip bewundernd.

Die Gräfin ist allein beim Tische geblieben. Sie sieht etwas verträumt in das Gewimmel, ein abwehrendes Kopfschütteln für die Herren bereithaltend, die um den Tisch schwärmen und die Schöne zum Tanze holen möchten. Einer ihrer herrlichen nackten Arme, dessen Knöchel mit einer mehrfachen Kette aus Perlen und Brillanten umwunden ist, stützt sich nachlässig auf das Tischtuch, der andere Arm hängt herab, eine halberloschene Zigarette haltend.

Wäre diese Zigarette nicht, so würde man unwillkürlich an die Ladies Wadegrave und an Mrs. Braddyl denken, die der Pinsel des großen Reynolds verewigt hat. Die Finger, die die Zigarette halten, sind wundervoll und lassen den Blick an dieser herrlichen Hand einer Patrizierin haften, aber die Modelle des englischen Malers künden einen tiefen Seelenfrieden, haben eine ruhige Stellung, während die Unbeweglichkeit der Gräfin Anderny nicht hindert, daß ihre Augen unter den langen Wimpern hervor wie glühende Kohlen leuchten. Die Brust hebt sich stürmisch, und manchmal läuft ein Aufleuchten über das Gesicht, wie der Reflex eines heiß pochenden Herzens.

Mercueil und der Zeitungsdirektor hatten den Tisch des Prinzen verlassen und blieben bei einer der Säulen stehen, in der Nähe des Tisches der Gräfin. Mercueil hatte die starre Aufmerksamkeit des schönen Weibes bemerkt und wollte sich darüber Gewißheit verschaffen. Und er sah, daß sie unverwandt nach einem Tische blickte, an dem vier Personen saßen.

»Aha! dort haben wir ja das Ehepaar Saulnois,« bemerkte der Direktor.

»Ja, Saulnois, Philosoph für die Reichen, Professor am Collège de France, begabter Schriftsteller und Redner, etwas seicht, etwas verwöhnt durch seinen schnellen Erfolg, verkehrt sehr viel in den besten Kreisen, dank der Geschicklichkeit seiner reizenden Frau, die von Adel ist, eine Jeanne de Gueyse.«

»Ah! aus der Gegend von Perigord?« fragte der Zeitungsmann.

»Ganz richtig, sie ist ungemein geschickt und dabei schön wie Corisande – die Herzensdame des Königs von Navarra – und treu wie Penelope, trotz der Streiche ihres Mannes, aber vielleicht weiß sie nicht, daß er sie betrügt. Der junge, elegante Mann, ihr gegenüber, ist Maurice de Couillaux, vor dem Kriege Botschaftssekretär in Wien, hatte sich im Kriege brav aufgeführt und hat jetzt eine sehr einträgliche Sinekure; er macht augenscheinlich der schönen Saulnois den Hof.«

»Der zweite junge Mann ist sehr interessant,« bemerkte der Direktor.

»Den kenne ich nicht, er trägt einen altmodischen Smoking, hat ein schönes, aber gequältes Gesicht, mit einer Urwaldmähne blauschwarzer Haare, man denkt an eine Astrachanmütze, ein strammer Junge, meiner Treu ... und sehen Sie nur, wie starr die Gräfin Anderny nach ihm blickt! Als wollte sie ihn hypnotisieren. Übrigens, fast jede der Damen, die bei dem Tische vorbeikommt, wirft ihm einen aufmunternden Blick zu. Er dürfte alle magnetisch anziehen, vielleicht irgendein Gelehrter, Freund des Professors. Aber er und Gouillaux scheinen ebenfalls Freunde zu sein ...«

An dem Tische der Saulnois hatte man den starren Blick der Gräfin Anderny ebenfalls bemerkt.

»Gouillaux, die Schöne hat es auf Sie abgesehen!« scherzte Jeanne Saulnois.

»Nicht doch, sie hatte kaum auf meinen Gruß geachtet, als ich eintrat. Beaufsichtigen Sie vielmehr Ihren teuren Gatten. Albine Anderny ist imstande, sich in einen Philosophen zu verlieben, denn diese Nummer fehlt noch in ihrer Sammlung!«

»Oh! ich kenne die Gräfin,« sagte Saulnois. »Ich traf sie einigemal bei Berthe Lorande.«

»Wie! Sie lassen Ihren Mann bei Berthe Lorande verkehren!« rief Gouillaux, während er Jeanne eigentümlich ansah.

Aber Jeanne erwiderte mit einem zärtlichen Blick auf ihren Gatten:

»Mein Mann kann verkehren, wo es ihm beliebt, und ganz besonders bei einer genialen Frau wie Madame Lorande ... Umsomehr,« setzte sie mit einem spöttischen Lächeln hinzu, »als man sagt, daß Berthe ungefährlich ist.«

»Gute Ausrede!« brummte Gouillaux. »Eine gegen Liebe verschlossene Frau, eine zweite Madame Récamier, das ist sehr schlau, um jeden Verdacht abzuwehren. Ich kannte in London eine Dame, die ihrem Mann beigebracht hatte, daß sie fünf Minuten Liebe töten würden!«

Der dritte Gast beim Tische, der junge Mann in der altmodischen Gewandung, der dieser Unterhaltung schweigend zugehört hatte, hob jetzt den Kopf.

»Es ist wohl eine galante Dame, diese Gräfin Anderny?«

Gouillaux gab sich den Anschein, entrüstet zu sein.

»Ah, mein armer Vaugrenier, wie plump Du dies gesagt hast! Eine galante Dame! Die Witwe des Grafen Anderny, der ein rumänischer Bojar war, und ein Diplomat, wie ich selber! Die Gräfin Anderny ist eine Tochter von Pierre de Mestrot, aus einer sehr angesehenen Familie von Perigord, also eine Landsmännin von Madame Saulnois.«

»Und sogar eine entfernte Verwandte!« unterbrach ihn Jeanne. »Unsere Großmütter waren Cousinen!«

»Das wußte ich nicht ... kurz, es ist eine Frau aus sehr gutem Hause, die sehr gut verheiratet war; heute ist sie Witwe, sehr geistreich, künstlerisch veranlagt, denn sie malte einige sehr hübsche Landschaften, und sie wird beinahe in allen Kreisen empfangen.«

»›Beinahe‹ ist gut!« unterbrach ihn Saulnois.

»Bah! Heute darf man mit der gesellschaftlichen Quarantäne nicht Mißbrauch treiben, man hätte da gar zu viel zu tun. Die wirklich tadellosen Leute sind in verschwindender Minderzahl.«

Saulnois nahm das Wort, in dem etwas lehrhaften Ton, der den sehr mondänen Gelehrten eigen ist:

»Selbst in dieser Pariser Gesellschaft, die korrumpiert ist und sehr freien Ansichten huldigt, wird die Gräfin Anderny zwar nicht als eine galante Dame angesehen, aber doch als eine Frau, welche außerhalb der Grenzen der herkömmlichen Moral steht. Sie ist in dieser Hinsicht nicht allein, wir könnten in diesem Saal einige Beispiele antreffen, dort, die Großfürstin Hilda, dann diese Camille Engelmann, die gerade jetzt mit Dutrier tanzt, ihrem Vertrauensmann an der Börse. Diese Camille ist eine Art Katharina II. der Finanz, mit dem Gehirn eines Mannes, mit der Energie und dem Temperament ...«

»... von Berthe Lorande!« unterbrach ihn Gouillaux in einem halb fragenden Ton.

Saulnois widersprach kühl.

»Man verleumdet Berthe Lorande, man möge mir den Namen eines einzigen Mannes sagen, der ihr Liebhaber war!«

»Na ... gut ... Sie sind ja darüber besser unterrichtet als ich!«

Und er blickte wiederum Jeanne sehr spöttisch an. Aber diese zeigte lachend ihre wunderschönen Zähne.

»Was haben Sie denn nur gegen diese arme Berthe? Sie ist mir sehr sympathisch, weil sie meinen Albert bewundert und für ihn Reklame macht. Doch genug von diesem Thema, das den armen Roger Vaugrenier zur Verzweiflung bringt, er kocht innerlich und wird bald explodieren!«

Der junge Mann mit dem wirren Haarbusch blickte auf. Seine großen braunen Augen leuchteten wie glänzende Achatsteine, und dies gab seinem Gesicht etwas sehr Jugendliches, das zu der Frische des feinen Mundes paßte. Aber es stand im Gegensatz zu den Falten der Stirne und zu den etwas hohlen Wangen. Die Gesichtsfarbe war gallig, die Zähne breit und glänzend weiß unter den starken Lippen, welche blutrot, wie geschminkt aussahen. War er schön? Die Männer verneinten es ehrlich, aber jeder Frau fiel sein interessanter Gesichtsausdruck auf.

Er wendete sich an Frau Saulnois in einem gezwungen ruhigen Ton:

»Explodieren? Wegen dieser Gänse? Die mögen meinetwegen schnattern und sich aufblähen, es entzückt mich.«

Mit einer verächtlichen Handbewegung wies er auf den Saal. Die entnervende Musik, der Champagner, die Tänze hatten das ihrige dazu beigetragen, daß der Firnis von Wohlanständigkeit abbröckelte. Die Tische wiesen diejenige Unordnung auf, die nach einer verliebten Szene in einem Chambre séparée zu herrschen pflegt: halbleere Weinflaschen, verwelkte Blumen, halbvolle Fruchtschalen, glimmende Zigaretten auf den Tellern, vergessene Damentäschchen, Batisttücher und Seidenschals. Diejenigen Gäste, die nicht tanzten, hatten sich auf den Stiegen zusammengedrängt, welche zu der Galerie führten. Die Damen hatten sich auf die Stufen gesetzt, unbekümmert darum, daß sie ihre in hellen Seidenstrümpfen gemeißelten Beine bis zu den halben Schenkeln zeigten. In der Mitte des Tanzsaales waren jetzt die Paare so zahlreich, daß man dieses tolle Gedränge nicht mehr Tanz nennen konnte. Und da die Musik immer fieberiger wurde, dachte man unwillkürlich an eine Kohorte im Delirium – an Satyrn und Mänaden, die sich aneinander preßten. Und wieviel absonderliche Paare sah man da! Neben einem eleganten Jean de Trevoux, der die feenhafte Gestalt einer Berthe Lorande umschlang, hopste ein verdächtig aussehender Jüngling, gar zu jung, gar zu schön, den eine magere Alte mit fahlem Gesicht und hysterischen Augen wie wütend an sich zog. Man sah breite, gierige Männerhände, die sich brutal auf üppige Frauennacken legten und frech hinabglitten, den nackten Rücken entlang, bis zum Gürtel. Die Gesichter hoben sich instinktiv, nach einem Mundvoll frischer Luft schnappend. Manche Paare entschlüpften dieser Dunstwolke von Schweiß und kostbaren Parfüms, um sich auf die Galerie zu flüchten, und dort drängten sie sich aneinander, man erriet, daß sie eine Verabredung trafen, die sie im Rhythmus des Shimmy angebahnt hatten.

Man sah dort Camille Engelmann mit ihrem korrekten, aber siegessicheren Partner, den sie mit dem Glanz ihrer Augen überschimmerte, als wollte sie seine Seele prüfen.

Unweit von diesem Paar war die Großfürstin Hilda mit Ramon Genaz. Sie drängte ihre Brüste, die beinahe aus dem tiefen Dekolleté quollen, gegen seinen Smoking und streichelte mit ihren schönen Händen die braune, nervige Rechte des Spaniers. Die Kellner entkorkten immer wieder frische Flaschen, anderwärts empfingen sie mit einem verächtlichen Ausdruck die Bündel von Hundertfrancsscheinen für das Diner. Die beinahe tollen Neger des Jazz hieben auf die Trommeln, fingerten wahnsinnig an den Instrumenten, hämmerten auf den Klaviertasten wie ein Jockey, der ein ausgepumptes Pferd stachelt und peitscht. Der Champagnerdunst mischte sich mit dem Honigaroma der ägyptischen Zigaretten und mit dem Geruch der weiblichen Achselhöhlen ...

Bald verstummte dann das Orchester und die Tanzenden strebten den Tischen zu. Die Großfürstin Hilda, gefolgt von Ramon Genaz, begab sich zu dem Platz des Prinzen. Im Vorbeigehen begrüßte sie die Gräfin Anderny, in einem seltsam polyglotten Kauderwelsch:

» Dear! Wie reizend Sie doch sind! Aber bleiben Sie ruhig sitzen, es kommt jetzt ein Paradetanz dieses Links mit Tanagrette. Ramon Genaz, der ein großer Künstler ist ... ach! wunderbar! ... (sie machte eine Handbewegung, als würde sie ihn vorstellen) hat mir versichert, daß es bezahlte Tänzer sind, wie die Mannequins oder die Neger des Jazz. Hoffentlich kommen Sie, um uns zu besuchen, Genaz wird mit der Vitzina tanzen, zu Hause, in seiner Villa in Passy, für einige happy few ... Ramon, Sie müssen die Gräfin einladen!«

»Madame kann darauf zählen ... ich werde sehr geehrt sein!« sagte Ramon, sich verneigend.

Albine dankte nicht einmal. Sie fragte spöttisch:

»Ich sehe heute gar nicht in Begleitung Eurer Hoheit die gute Frau Lelièvre. Sollte sie krank sein?«

»Ja ... etwas Grippe ... poor thing! Und dann, sie langweilt sich beim Tanzen. Ramon ... man hat begonnen ... kommen Sie schnell!« Und ohne sich von Albine zu verabschieden, mit der Frechheit einer souveränen Grandezza, zog sie ihren Spanier zu dem Schauspiel, das sie Albine nicht anempfehlen wollte ...

 

Ein Groom drängte sich zwischen den Tischen hindurch, eine Tafel emporhaltend, auf der in roten Buchstaben zu lesen war: » Attraction!« Die Tänzer hatten den Mittelraum gehorsam freigelassen, und während das Orchester leise präludierte, schritt ein Paar langsam vor, ein schöner, nerviger Junge, elegant gekleidet, wie das Modebild eines berühmten Schneiders. Seine Partnerin war ein geschmeidiges Geschöpf, biegsam wie eine Tigerkatze, und der Tanz war zwar schamlos in seiner realistischen Verkörperung des Liebesaktes, aber trotzdem schön, voll ursprünglichen Lebens; das Mädchen wirbelte im Kreise, umschlang brünstig den Mann, ließ sich brutal zu Boden werfen und wurde dann von ihm hochgehoben wie eine Siegesbeute. Man klatschte Beifall, man sah interessiert zu, dann flatterte das Gespräch an den einzelnen Tischen wieder auf, während die Kellner fast herrisch neue Bestellungen an Champagner erpreßten. Camille hatte sich neben Albine Anderny niedergelassen. Sie hatte ihren Tänzer vorgestellt: »Herr Max Dutrier, Börsensensal!« und sie ließ ihn nicht aus den Augen, als wollte sie ihm ein Geständnis entreißen. Jean de Trevoux hatte zwischen seiner Mutter und Berthe Lorande Platz genommen, er war plötzlich bleich geworden, als er sah, daß Berthe zu Albert Saulnois hinüberlächelte. Berthe begriff ihn, ihr Lächeln entschwand, und sie sah den Offizier mit einer solchen Inbrunst an, daß er sich wie berauscht zu ihr vorneigte. Dann wendete sie sich zu Albine, um die Eifersucht ihres Anbeters ganz zu zerstreuen:

»Teure Albine, störe nicht das Glück des Ehepaares Saulnois, seine Frau ist reizend, sie liebt ihn, und er läßt sich leider verlocken, ihr manchmal untreu zu sein.«

»Ich habe Saulnois nicht angesehen,« erwiderte Albine mit einem so leuchtenden Gesicht, daß sie wie ein junges Mädchen aussah. »Denke dir, seit einer Viertelstunde versuche ich die magnetische Kraft meines Blickes an dem schlecht gekleideten jungen Mann, der Frau Saulnois gegenübersitzt, und es ist vergeblich.«

»Der Mann mit dem Löwenkopf?« fragte Frau von Trevoux.

Und nachdem sie ihn mit ihrer Stielbrille betrachtet hatte, murmelte sie: »Er hat eine interessante Gestalt!«

»Ja, das Profil ist energisch, er ist unbeweglich und dann hat er wiederum überstürzte Gebärden, aber nicht deshalb wollte ich ihn an mich locken ... ich muß ihn schon irgendwo gesehen haben. Aber wo ... und wann?«

In diesem Augenblick brach das Orchester wiederum ab, und das Tänzerpaar verneigte sich unter einer Beifallssalve. Der junge Mann neigte sich vor, um das Mädchen anzusehen, und er konnte trotz seiner Verachtung für die mondäne Gesellschaft nicht umhin, mit einem Blick die kleinen Tische zu streifen.

Das Toben des Jazz begann wiederum. Berthe entschwebte mit Trevoux, Frau von Trevoux wurde von Dutrier aufgefordert, während Camille einen Freund des Börsensensals herbeiwinkte, den ihr Dutrier vor einer Weile vorgestellt hatte – einen noch jungen, schönen Mann, aber das Haar bereits ergraut, als wenn er sich gepudert hätte. Es war Laurent Sixte von der Vogesen-Bank. Die meiste Aufmerksamkeit erregte aber der exotische Prinz, den Frau von Verzieux unter die Tanzenden gezogen hatte und der wie ein Elefant hopste, zum großen Ergötzen der Umstehenden.

»Wollen Sie mir diesen Shimmy schenken?« bat Gouillaux, zu Frau Saulnois gewendet.

Diese sah ihren Mann fragend an, der wohlwollend nickte. Roger Vaugrenier blieb allein beim Tische mit dem Gelehrten. Saulnois sah seiner Frau nach.

»Ein netter Junge, dieser Gouillaux, nicht wahr?« sagte er.

»Es ist manches, das ich an ihm nicht liebe,« entgegnete Roger mit diesem widersprechenden Ton, der ihm zu eigen war. »Er ist ein Snob, ehrgeizig, geldgierig, aber er ist sehr intelligent und hat viel Mut. Und dann, wir waren seinerzeit an der Front, lange Monate hindurch, und eine solche Freundschaft ist noch stärker zementiert als die, die sich an die gemeinsame Schulzeit heftet.«

In diesem Augenblick kam ein Kellner an den Tisch und fragte: »Herr Vaugrenier?«

»Das bin ich.«

»Es ist da eine Dame, die Herrn Vaugrenier bittet, zu ihr zu kommen. Jene Dame dort, die ganz allein ist, hinter Ihnen.«

»Die Gräfin Anderny,« sagte Saulnois.

»Ja, Sie bittet Herrn Vaugrenier zu sich, sie sagt, daß sie den Herrn kennt.«

Roger war feuerrot geworden und seine Augen blitzten vor Zorn.

»Sie werden dieser Dame sagen, daß ich sie nicht kenne und daß ...«

Saulnois unterbrach ihn und legte die Hand auf seinen Arm.

»Es ist gut, der Herr wird sofort kommen. Verzeihen Sie mir,« sagte er zu Vaugrenier, während sich der Kellner entfernte. »Sie werden selbstverständlich tun, was Sie wollen, aber Gräfin Anderny ist eine Dame der feinen Gesellschaft, die uns allen bekannt ist, es ist nicht der geringste Grund vorhanden, um sie zu brüskieren ...«

»Ich habe sie nie gesehen!«

»Um so mehr ein Grund, daß Sie ihr dies sagen,« meinte Saulnois heiter.

In diesem Augenblick waren Jeanne und Gouillaux an den Tisch zurückgekommen. »Die Gräfin Anderny hat den Kellner herübergeschickt, sie will mit Vaugrenier sprechen, ich bin der Meinung, daß er gehorcht, nicht wahr?«

»Selbstverständlich!« rief Gouillaux. »Vorwärts, Roger, mach' dich nicht lächerlich, dies würde auch auf uns abfärben. Beeile dich, du wirst dich gut unterhalten!«

»Gouillaux hat recht, gehen Sie, mein Herr!« befahl Jeanne mit komischem Ernst.

Er erhob sich widerwillig.

Seine Freunde sahen ihm nach, wie er sich in beinahe unverschämter Weise linkisch dem Tische der Gräfin näherte, sie sehr flüchtig grüßte, einige Redensarten stehend wechselte, und sich dann, auf eine Handbewegung der Dame, mit sichtlichem Zögern etwas seitwärts setzte. Es war die Gräfin, die jetzt etwas erzählte. Roger hörte aufmerksam zu, dann schien er seinen Widerstand aufzugeben und er lächelte.

»Drolliger Junge!« murmelte Gouillaux. »Er ist nicht schön, nicht elegant, sehr unhöflich, und alle Frauen schielen nach ihm. Er würde sein Glück machen, wenn er nicht so unausstehlich wäre, und dazu so ängstlich gewissenhaft!«

»Na, mir gefällt er ungemein!« sagte Jeanne. »Er ist sicherlich etwas mißtrauisch, etwas verrückt, aber sehr intelligent und voll inneren Feuers. Wir Frauen lieben solche Männer.«

»Da haben wir es!« ächzte Gouillaux mit einer komischen Demut. »Nun hat er auch Sie bezaubert, mit seinen rollenden Redensarten und seiner Rächermiene. Ah, er geht mir auf die Nerven, ich werde ihn nie mehr in Damengesellschaft mitbringen, er schadet mir zu sehr!«

Sie blickten wieder nach dem Paar. Roger plauderte jetzt sichtlich aufgeräumt, wurde lebhaft. Berthe Lorande und die Trevoux hatten sich mit Camille zu einer anderen Gruppe gesetzt, um die Gräfin nicht zu stören. Übrigens war ein Teil der Gäste bereits aufgebrochen.

»Wird sie ihn bis zum Schluß behalten wollen?« grollte Gouillaux, der für seine Lunge fürchtete und bestrebt war, gegen Mitternacht im Bett zu sein. »Was zum Kuckuck haben sie sich denn zu erzählen?«

»Ja, was mögen sie wohl sprechen?« wiederholte Jeanne nachdenklich. »Wie komisch, daß Roger behauptet hatte, er kenne die Gräfin gar nicht!«

Die Gräfin Anderny hatte Roger ihre Hand entgegengestreckt und sah ihm freimütig in die Augen.

»Sie wollten mich also gar nicht erkennen, Doktor?«

Er wußte augenblicklich, mit wem er es zu tun hatte, und da er schon einen Anlauf genommen hatte, um den Angriff einer Unbekannten abzuwehren, wurde er jetzt sehr verwirrt und stammelte:

»Mrs. Sanders!«

»Jawohl, Mrs. Sanders, die erste Pflegerin des Spitals Jellicoe, die Ihnen den ersten Verband gewechselt hatte. Ich hatte allerdings nicht Gelegenheit, Sie länger zu pflegen, da ich das Spital bald nach Ihrer Einlieferung verließ.«

»Aber, man sagte mir vorhin ...«

»Man sagte Ihnen, daß ich die Gräfin Anderny bin? Dies ist in der Tat mein Name, der englische Chef des Spitals fand es ganz natürlich, daß ich ein Pseudonym wählte, es war bequemer.«

Sie unterbrach sich und begann zu lachen.

»Ah, nun bemerke ich auch wiederum diesen störrigen Trotz, den Sie manchmal täuschend zur Schau tragen können. Warum runzeln Sie die dicken Augenbrauen? Es ist doch nichts dabei, ich hatte Sie bemerkt, ich wollte Sie begrüßen und nach Ihrem Befinden fragen, das ist alles!«

Sie sagte diese letzten Sätze etwas ernster, etwas hochmütig. Roger fühlte das Lächerliche seines Benehmens und protestierte:

»Nicht doch, Gnädigste, ich bin im Gegenteil sehr glücklich ...«

»Dann nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was aus Ihnen geworden ist, ich habe nach meiner Abreise nichts mehr von Ihnen gehört ...«

»Ja, ja ... ich erinnere mich,« erwiderte Roger, dessen Züge sich glätteten. »Ich hatte mehrmals gefragt, warum man unsere Pflegerin abberufen hatte.«

»Das war nett von Ihnen, um so mehr, als meine Nachfolgerin sehr hübsch war, Miss Ada Briggs.«

Roger zögerte etwas, wollte erwidern, und machte wiederum sein trotziges Gesicht.

Die Gräfin brach in Lachen aus.

»Sie fanden Miss Ada Briggs nicht sehr schön? Aber dafür war sie die Aufopferung in Person. Was mich betrifft, so mußte ich einen Erholungsurlaub nehmen, ich war am Ende meiner Kräfte angelangt. Ich begab mich zu meiner alten Freundin, Frau von Trevoux, nach Südfrankreich.«

»In der Tat, Sie sind nicht mehr dieselbe wie im Spital!« sagte Roger unwillkürlich.

Seine Miene kündete eine solche Bewunderung, daß die Gräfin leicht errötete. Sie erwiderte:

»Wenn die Jugend verschwunden ist, kann sich eine Frau nicht ungestraft überanstrengen.«

Roger dachte:

»Die Jugend vorüber? ... Wie alt kann sie sein? Dreißig ... fünfunddreißig, vielleicht ... sie ist wunderschön!« Und etwas in ihm empörte sich gegen diese Schönheit, der er auf jeden Fall widerstehen wollte.

»Aber wie ist es Ihnen seither gegangen?« fragte die Gräfin.

»Ich verließ das Spital nach einem Monat. Ich hinkte noch und werde wahrscheinlich mein Leben lang hinken.«

»Aber Sie sind doch ganz geheilt?«

»Ja, ja ... man gab mir einen Monat Urlaub, den ich im Distrikt von Cornwall zubrachte, wo mein Vormund wohnt, ich glaube, daß ich Ihnen davon gesprochen habe.«

»In der Tat. Sie haben noch Verwandte in England?«

»Keine Blutsverwandten mehr, seit dem Tode meiner Mutter, aber mein Vormund ist zugleich mein Pate und hat mich erzogen: der Doktor Hobson.«

» I remember. You speak English perfectly, exactly as an Englishman. Und dann?«

»Dann habe ich meinen Dienst wiederum aufgenommen und bin nach Paris zurückgekehrt, um Zivilarzt zu werden.«

»In Paris selbst?«

»Wahrscheinlich.«

Albine sah ihn aufmerksam an, mit ihren goldigbraunen Augen, deren Blick ihn unwillkürlich besänftigte.

»Sie haben sich gar nicht verändert,« sagte sie. »Damals waren Sie etwas bleicher. Aber ich hätte Sie unter Tausenden sofort erkannt, mit ihrer Mähne, ihren Augenbrauen und der schmalen Taille, die im Gegensatz zu Ihren herkulischen Schultern steht ... Sie kennen die Saulnois?« setzte sie dann hinzu, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Seit diesem Abend erst. Es war Maurice de Gouillaux, der mich ihnen vorgestellt hat ...«

Während er sprach, saugten sich seine Augen am Gesichte der Gräfin fest, an ihrem Haar, an ihren nackten Armen, an ihrer Büste, die so freigebig dekolletiert war, daß man beinahe die ganze Rundung der schwellenden Brüste sah.

»Nun ja, sie ist sehr schön!« dachte er. »Aber was geht mich das an?«

»Sie haben nicht getanzt?«

»Nein, ich tanze nicht mehr,« sagte er etwas abweisend.

Rings um sie brach man auf. Camille, Berthe und Frau von Trevoux ließen sich ihre Mäntel bringen. Ein Solist des Orchesters spielte eine Romanze, der Tanzraum war leer, und die Kellner begannen aufzuräumen.

»Wirst du mich nach Hause bringen, meine Teure?« wendete sich Berthe Lorande an die Gräfin.

»Mit Vergnügen! Ich stelle dir den Doktor Vaugrenier vor.«

Die dunkelblauen Augen der Rothaarigen strichen über das Gesicht und die Gestalt Rogers hin, dann bohrten sie sich in die Augen der Gräfin. Der Blick war flüchtig wie ein elektrischer Funke, aber für die beiden Freundinnen enthielt er eine Frage und eine Antwort. Berthe gesellte sich zu Frau von Trevoux. Albine, aufstehend, sagte zu Roger:

»Da Sie jetzt in Paris wohnen, so werden Sie mich hoffentlich besuchen?«

»Ich verkehre beinahe mit keinem Menschen,« sagte er etwas störrig. »Ich bin gar nicht mondän.«

»Es handelt sich gar nicht darum, mondän zu sein! Kommen Sie recht bald und frühzeitig, gegen vier Uhr. Morgen bin ich nicht zuhause, aber übermorgen, Montag ... wollen Sie? Ich werde ganz allein zuhause sein! Auf Wiedersehen!«

Sie reichte ihm die Hand, die er ziemlich unbeholfen drückte, und er war über diese Unbeholfenheit selbst erbittert. Und dann sah er sich allein, blieb unbeweglich beim Tische stehen. Die Gruppe der schönen Frauen entschwand ihm, gefolgt von dem jungen Offizier.

 

»Nun, mir scheint, die schöne Anderny hat dich zur Salzsäule gewandelt!«

Es war Gouillaux, der seinem Freunde auf die Achsel klopfte. Er setzte hinzu:

»Wenn du die Nacht hier verbringen willst, meinetwegen! Aber wir gehen jetzt.«

Einige der strahlenden Luster wurden abgedreht, die frechen Kellner drängten sich um die Nachzügler, schoben die Tische seitwärts, häuften die Sessel zu Pyramiden. Die Luft war widrig, schwer von Wein, von Schweiß, von Gerüchen der Speisen, von aufdringlichen Parfüms. Der Keller erschien jetzt ungeheuer groß, nackt und kahl.

»Gehen wir!« sagte Roger.

Sie gesellten sich zu Saulnois und seiner Frau, die sie bereits erwarteten. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen und gingen schweigend zum Ausgang. Als sie an dem Orchester vorbeikamen, sahen sie die schwarzen Teufel, die noch vor einer Weile wie besessene Dämonen gerast hatten, ihre Instrumente mit der Bedächtigkeit vertrockneter Kanzleimenschen verwahren.

II

In dem Speisezimmer von Albine Anderny, das wie eine rote chinesische Lackschachtel aussah, mit Personen und Dekorationen von einem bräunlichen Gold, verbreiteten die Heizkörper eine gleichmäßige Wärme. Ein leichtes Holzfeuer, das in dem Marmorkamin prasselte, erheiterte diesen Dezembertag, der weder Schnee noch Regen brachte, aber trotzdem so neblig war, daß man sich bereits am Abend wähnte.

Die Gäste der Gräfin, Berthe Lorande, Gouillaux und Jean de Trevoux, beendigten soeben einen Lunch nach englischer Art: Rühreier, Hammelrippchen mit gebackenen Kartoffelschnitten und ein Kuchen. Dies alles wurde behend von einem einzigen Diener aufgetischt. Eine wassergrüne Decke war über den Tisch gebreitet; in schönen Kristallflaschen blinkte ein ausgezeichneter Weißwein und sehr frisches Wasser, die prachtvollen Stücke des englischen Porzellans waren auf kleine gestickte Deckchen gestellt – alles in diesem kleinen, vornehmen Hause hatte den Anstrich wohlhabender Einfachheit; kein übermäßiger Luxus, nichts, das den guten Geschmack herausgefordert hätte. Möbel und Nippsachen von erlesener Schönheit, einige Bilder berühmter Meister, ein tadelloser Stil in der Führung des Hauses und der Bedienung.

Während die Gäste Äpfel, Bananen und Mandarinen schälten, sprachen sie über Camille Engelmann. Gouillaux, seine feine Fuchsphysiognomie durch den Wein etwas gerötet, lästerte nach seiner Gewohnheit:

»Dieser Bursche, mit dem sie zuerst getanzt hatte, ein strammer Mann von vierzig Jahren ... ein gewisser Dutrier, den hatte sie unter ihrem eigenen Personal aufgegabelt, in der väterlichen Bank. Selbstverständlich avancierte er sehr rasch, in sieben Monaten stieg er von 12.000 auf 38.000 Francs. Ich hatte einigemal mit ihm zu tun, da ich in der Bank etwas Geld angelegt hatte. Ein sehr intelligenter Mensch! Der zweite Tänzer, viel jünger, viel feiner, ist ein gewisser Laurent Sixte, ein Freund von Dutrier von der Vogesen-Bank. Es ist trotzdem drollig, daß dieser schlaue Dutrier die Dummheit begangen hatte, seiner Herrin einen Nebenbuhler vorzustellen ... oder einen Mann, der ein Nebenbuhler werden könnte.«

»Werden Sie nun endlich aufhören, über meine Freundin Camille zu lästern?« unterbrach ihn Berthe lebhaft.

»Aber ich habe doch nichts gesagt, was man nicht überall erzählt, und Sie selbst, Gnädigste, die Sie die Freundin von Camille sind ...«

»Eben deshalb, weil ich ihre Freundin bin, protestiere ich, daß man sich das Recht anmaßt, ihr privates Leben zu bekritteln. Sie hat mit einem ihrer höheren Beamten und dann mit seinem Freunde getanzt. Was ist da weiter dabei? Es sind nicht Herren unserer Gesellschaft, aber sie benahmen sich ganz korrekt und sie hat mit ihnen sehr korrekt getanzt, das andere geht uns doch gar nichts an ...«

»Bravo!« rief Jean de Trevoux, der Berthe mit einer anbetenden Inbrunst betrachtete.

Er war heute in Zivil, aber er trug diese Kleider mit einer selbstverständlichen Anmut, die Männer über dreißig Jahre nicht mehr besitzen.

Albine schien auf dieses Gespräch nicht geachtet zu haben. Gouillaux, der sichtlich geärgert war, widersprach: »Meinetwegen ... lieben Sie diese Camille, rühmen Sie sie, verteidigen Sie diese seltsame Person! Sie werden trotzdem die allgemeine Meinung nicht ändern. Oh, Camille hat großartige Eigenschaften! Intelligent wie ein Mann und sehr energisch! Ich habe sie am Werke gesehen, als Mädchen von dreiundzwanzig Jahren, da sie an der Sorbonne ihr Lizenziat gemacht hatte und später die Stelle des alten Engelmann vertrat, den der Schlag gerührt hat. Camille kann sagen, daß die Bank ihr eigenes Werk ist.«

»Nun also!«

»Das alles ändert jedoch nichts daran, daß sie ein Ungeheuer ist! Sie ist in geschäftlichen Dingen ein ganzer Mann, und sie hat auch in der Liebe das Temperament eines Mannes. Vielleicht ist sie keine Messalina, aber sicherlich eine Katharina IL, sie verbraucht gar zu viel Männer, sie ist unersättlich. Wenn ich ihr begegne, grüße ich und ergreife die Flucht.«

»Beruhigen Sie sich,« sagte Berthe. »Sie sind nicht jener Typus, der Camille gefällt!«

»Ich weiß es und es freut mich sehr! Aber es beschämt mich trotzdem, und aus diesem Grunde weiche ich ihr aus.«

Albine war beständig etwas abseits geblieben. Man hatte vor jeden Gast eine Schale mit parfümiertem Wasser gestellt. Die Gräfin trocknete ihre Finger ab und erhob sich. Die drei Gäste begaben sich mit ihr in einen Bibliotheksaal, den Lieblingsraum der Hausfrau.

Das Gespräch verlangsamte sich, während man den Kaffee nahm und die Zigaretten anzündete. Gouillaux, der ein leidenschaftlicher Bibliophile war, äugte nach einer entzückenden Sammlung von Büchern des 18. Jahrhunderts, die von gleicher Größe waren, aber verschiedene Einbände in Pergament und Maroquin aufwiesen.

»Sie hatten diesen kleinen roten Crébillon früher nicht, wenn ich mich recht erinnere?« fragte er.

»Nein, es war Genaz, der ihn aufstöberte. Er ist erstaunlich, dieser Ramon, viel pfiffiger als die geriebensten Kunsthändler. Es hat genügt, daß ich ihm sagte: ›Ich suche den kleinen Crébillon vom Jahre 1773‹ und vier Tage später bekam ich ihn ...«

»Teuer?«

»Natürlich, sehr teuer.«

»Ah, er versteht das Geschäft! Und er hat jetzt, zu eigenem Gebrauch, eine Nippsache aufgestöbert, die weniger unterhaltend zum Ansehen und Angreifen ist, als Ihr Crébillon, aber diese Nippsache wird er für sich behalten. Haben Sie ihn nicht gesehen, in Celtic's, als Links mit Tanagrette tanzte? Ah ... dieser Ramon scheute sich keineswegs, die Großfürstin Hilda bloßzustellen ...«

Berthe und Trevoux waren nähergekommen. Alle setzten sich jetzt im Kreise um den Kamin. Auch hier glimmte ein Holzfeuer, halb verloschen. Draußen lastete der Nebel so schwer, daß man sich in dem halbdunkeln Raume sehr behaglich fühlte. Jean, gegen Berthe gelehnt, fragte:

»Wer ist denn eigentlich diese Großfürstin Hilda?«

»Eine Angehörige des Fürstengeschlechtes Schwerin, die den dänischen Prinzen Otto geheiratet hat, nicht wahr, Gouillaux?« sagte die Gräfin.

»Ja, sie hat ihn mit neunzehn Jahren geheiratet. Er war um zehn Jahre älter. Hilda war damals ein schlankes, großes Mädchen, mit denselben Gesichtszügen wie heute, die ein wenig an eine Stute erinnern, mit einem wundervollen Goldhaar; aber die feinen Knöchel, die entzückenden Hände, die stolze Haltung des Kopfes, die prachtvolle Büste und der Zauber der zwanzig Jahre ... sie machten sie sehr begehrenswert, und Otto schien ganz toll verliebt ...«

»Oh!« erwiderte Jean de Trevoux.

»Jawohl, junger Mann ... sehr verliebt, aber das können Sie noch nicht begreifen (Trevoux lächelte, da ihm Berthe verstohlen die Hand drückte) ... Otto war verliebt, und obzwar die Großfürstin seither nicht schöner wurde, hat sie viele Leidenschaften geweckt. Übrigens soll sie einen schönen Körper haben ... wie ein Jüngling, ganz modern! Wenn nur das Gesicht nicht wäre! Sie gehört zu den Frauen, von denen Franklin gesagt hat, daß sie sehr begehrenswert sind, wenn man ihnen einen Korb auf den Kopf stülpt ...«

»Franklin hat so schreckliche Sachen gesagt?« staunte Berthe.

»Ja, so ähnlich! Aber ich fahre in der Geschichte der Großfürstin fort ... Nach ihrer Ehe gab es gegenseitige Liebe und Leidenschaft. Für Hilda war die Ehe die Offenbarung des Lebens, sie betete ihren Otto mit einem solchen Feuer an, daß er nach einem Jahr genug hatte. Er richtete sich in dem entlegensten Teil des Schlosses ein, sehr weit von dem Schlafzimmer seiner heißblütigen Gattin, und als Hilda dies nicht begreifen wollte, machte er ihr klar, daß er in ihr fortan nur die Mutter seines Kindes sehe. Und es kam, wie es kommen mußte.«

»Die Scheidung?« fragte Trevoux.

»Nicht doch, naiver Mann! Hilda suchte einen andern Gegenstand für ihre Wünsche, und sie fand ihn am Hofe des Gatten ... einen jungen Offizier. Sie war ihm treu, und der Glückliche mußte nach einem Jahre aus Gesundheitsrücksichten um seine Versetzung ansuchen. Und seit dieser Zeit ist die Großfürstin von der Überzeugung durchdrungen, daß die Männer allesamt nichts taugen und ein Frauenherz nie begreifen können ...«

»Sie nennt das ein Herz!« murmelte Berthe.

»Sie ist ehrlich,« erwiderte Gouillaux lachend. »Dies ist das merkwürdige an ihrem Charakter. Sie ist eigentlich sentimental, sie hat Otto angebetet, und sie fährt darin fort ... mit allen seinen Nachfolgern! In jedem suchte sie ihr Ideal, wie einst Don Juan, und sie sucht dieses Ideal mit einer romantischen Schwärmerei, sie schreibt ihrem jeweiligen Liebhaber Verse, spricht von Mondscheinnächten, von Träumen, gibt ihm ein Stelldichein in einer Ruine, blickt nach den Sternen ... die Aufregung ihrer Sinne stimmt mit der überschäumenden Begeisterung ihres Herzens überein. Sie kennt gar nicht diese feinen Unterschiede zwischen idealer und physischer Liebe. Vielleicht hat sie recht.«

Die Hände von Berthe und Jean, die sich ineinander verkrampft hatten, lösten ihren Druck. Berthe sagte mit einer etwas heiseren Stimme:

»Und was sagte der Großfürst Otto zu alledem?«

»Er besaß eine sehr verständige, abgeklärte Geliebte, die Gattin eines hohen Beamten. Man verzieh sich also gegenseitig. Die Ehe blieb bestehen, so daß allmählich vier Kinder im Palast von Finsburg den Bestand der Dynastie sichern. Drei sind so unverschämt, dem Papa gar nicht zu ähneln, aber alle gleichen der Mama. Die Gatten, sehr reich, sind viel auf Reisen, manchmal gemeinsam, sehr oft allein. Wenn sie sich in Paris befinden, so vergnügt sich der Großfürst in der Art, wie es ihm seine russischen Vettern vorgemacht haben. Die Großfürstin liebt dagegen die künstlerischen Kreise, vor allem Musiker; sie selbst spielt meisterhaft die Harfe. Dann kommen Maler, manchmal auch Literaten. Die Literatur langweilt sie jedoch, sie liest sehr wenig, sie läßt sich darüber von ihrer Hofdame auf dem Laufenden halten. Eine Frau Lelièvre, aus Luxemburg ... Aber die Großfürstin vergißt sehr leicht, und es passiert ihr, daß sie einen Schriftsteller zu dem Stück eines andern beglückwünscht und über sein eigenes Werk loszieht ...«

 

Die Gräfin, die sich während dieses Gespräches ihren eigenen Gedanken hingegeben hatte, machte eine Anstrengung, um ihren Gästen gegenüber nicht unhöflich zu sein.

»Ich begreife nicht, wieso diese Frau in Paris eine solche Rolle spielen kann!«

»Sie ist Dänin,« bemerkte Gouillaux, »infolge ihrer Heirat ... und sie hat für Paris stets eine glühende Vorliebe gehabt.«

Ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, empfand Trevoux eine leise Scham, da man einen weiblichen Fall wie eine medizinische Kuriosität erläuterte. Er war aus sehr gutem Hause, war von einer mondänen, aber tadellosen Mutter erzogen; war gläubig, begleitete seine Mutter am Sonntag zur Messe, und die Liebe war für ihn nicht ein sinnliches Erlebnis, sondern Sache des Gewissens. Er wußte gar nichts vom Leben, aber er wußte zumindest dies eine, daß er nichts wußte, und daß man wissen muß ... Die Bemerkungen von Gouillaux weckten in ihm eine etwas verachtungsvolle Neugierde.

»Und wer sind die Pariser, die von dieser Person ausgezeichnet wurden?« fragte er.

»Es ist deren beinahe eine Legion! Offiziere, vor allem aber Schauspieler, Zöglinge der Schule der Schönen Künste, je jünger, desto besser ... nie über dreißig Jahre! In Paris machte sie einen jungen, sehr bedeutenden Arzt halb verrückt. Auch Mercueil war ihr Günstling, aber er blieb es nur so lange, bis er für einen seiner Schlüsselromane hinreichend Stoff gesammelt hatte. Unlängst verabschiedete sie einen jungen Musiker, Dugor, dessen junge Ehe sie zerstörte. Er wollte sich zuerst töten und ist jetzt in einer Heilanstalt.«

»Ist denn diese Großfürstin so böse?« fragte Trevoux.

Es war Albine, die antwortete:

»Oh, keineswegs!«

»Die Gräfin hat recht,« bekräftigte Gouillaux. »Hilda besitzt einen sehr gutmütigen Charakter, aber man muß sich nur vorstellen, welches Durcheinander die Liebe Hildas in einem bürgerlichen Haushalt anrichten kann. Sie weiß gar nichts von der praktischen Wirklichkeit, sie findet es ganz natürlich, daß ihr Dugor eine Perle um 30.000 Francs anbietet, oder daß er einige Wochen hindurch mit ihr einen venetianischen Palast bewohnt. Dugor war im Handumdrehen ruiniert, und dies hat ihn verrückt gemacht. Die Großfürstin erfuhr es zu spät, sie empfand Gewissensbisse und seit dieser Zeit ist Frau Lelièvre beauftragt, vor Beginn einer neuen Leidenschaft Auskünfte über die Vermögensverhältnisse des Amoroso einzuziehen ...«

»Wenn sie die Großfürstin über die Einkünfte von Ramon Genaz unterrichten kann,« rief Berthe lachend, »so ist sie eine sehr geschickte Person!«

»Nichts dümmeres, stumpfsinnigeres als diese Frau Lelièvre!« grollte Gouillaux. »Aber es wäre schwer, über Genaz die Wahrheit zu erfahren, man weiß nicht, woher er kommt, man kennt nicht seinen wahren Namen – dennoch würde niemand seinen Reichtum bezweifeln. Er hat eine schöne Villa, er empfängt in fürstlicher Art, er hat ein Auto um hunderttausend Francs, er hat das Gesicht eines Hidalgo, sehr viel Haar, und er tanzt wie ein Ballettmeister der Oper, besser noch ... seit Vestris hat niemand so gut getanzt wie Genaz! Und das ist schon lange her!«

»Na ... es wird ein früherer Tanzlehrer sein,« sagte die Gräfin.

»Weiß man nicht ... er bestreitet es! Übrigens hat er nie bezahlte Stunden gegeben. Wenn man ihn anfleht, so läßt er sich zu einer Privatstunde herbei, aber er nimmt kein Honorar ...«

»Aber dafür schlägt er einem eine wunderbare Kombination vor ... ein Geschäft, einen vorteilhaften Kauf, eine Nippsache im Werte von fünfzig Louisdors, die er um das Doppelte anrechnet ...«

»Ich sehe, daß Sie gut unterrichtet sind!« sagte Trevoux.

»Die Sache ist meiner Freundin Courtessin passiert, daher weiß ich es. Aber finden Sie nicht, daß wir über dieses interessante Paar lange genug geschwätzt haben?«

»Nein, Gnädigste,« sagte Gouillaux etwas angriffslustig, »wir haben noch nicht die Moral aus dieser galanten Fabel ›Die Großfürstin und der Tänzer‹ gezogen ...«

Berthe und Albine, die Gouillaux sehr genau kannten, blickten einander blitzschnell an. Trevoux fragte:

»Es gibt da eine Moral?«

»Jawohl ... diese hier! Hilda ist das, was sie Mercueil genannt hat, ein weiblicher Don Juan ... sie hat sich über jegliche Moral hinweggesetzt, hat ihren sinnlichen Appetit befriedigt, so gut und reichlich sie es konnte, allzureichlich! Aber heute nähert sie sich den Vierzig, und sie bemerkt, daß es nicht Liebe war.«

Er stand auf, um sich besser verständlich zu machen, und lehnte sich gegen den Kamin.

»Ramon Genaz ist für Hilda nicht mehr das sinnliche Vergnügungsobjekt, wie es früher Dutzende für sie waren, auch kein Vergnügen des Geistes, das sich nach dem Liebesgenuß einstellt, wie es die Künstler waren, ein Dugor, ein Mercueil, ein Decanet. Damals verkostete Hilda Sinnenfreude mit intellektuellem Snobismus vermischt. Aber was Ramon betrifft, so liebt sie ihn, sie liebt! Oh, darüber habe ich Gewißheit! Der Schlaukopf nennt sie seine ›Göttin‹ und spielt den Schüchternen. Er mimt Hochachtung und Schamhaftigkeit! Und Hilda, der so etwas völlig neu ist, liebt ihn wahnsinnig ... sie denkt nur an ihn, ist eifersüchtig, möchte beständig um ihn herum sein, sie leidet, und dieser Kummer läßt ihr den Traum eines unerhörten Glückes aufleuchten ... Sie möchte für diese erste und wahre Liebe noch Jungfrau sein ... Sie begreift jetzt das Glück, sein ganzes Leben einem einzigen Wesen zu widmen, ihm alles zu opfern.«

»Solche Prinzessinnen hat es schon gegeben!« warf Trevoux ein.

»Und sie werden auch nicht aussterben. Was ich bemerken wollte, ist dies, daß sich die wahre Liebe gegen die Vierzig offenbart, und mit dieser Liebe taucht etwas anderes auf, das man seit zwanzig Jahren vergessen hat, das Gesetz der Moral und Sitte, welches man abgeschafft glaubte, und an diesem Gesetz geht der weibliche Lüstling zugrunde ... es ist die Statue des Kommandeurs für ihn, für Don Juan, die den Sünder erdrückt ...

»Doch ich fühle, daß ich Sie langweile ... verzeihen Sie mir! Ich habe ganz vergessen, daß mich der Direktor der politischen Abteilung am Quai d'Orsay schon seit einer halben Stunde erwartet ...«

Es war seine Art, sich ironisch zu geben, um sich gegen die Ironie der andern zu schützen. Aber er hatte gefühlt, daß seine Zuhörer ihm in einer eisigen Stille zugehört hatten. Er küßte die Hände der Damen und sagte zu dem Offizier:

»Ich nehme Sie im Auto mit, wie wir es ausgemacht haben. Ich glaube, daß Sie im Kolonialministerium zu tun haben?«

»Ja,« erwiderte Jean, nachdem er in den Augen von Berthe eine stille Einwilligung gelesen hatte, »aber da Sie es eilig haben, begleite ich Sie nur bis zum Quai d'Orsay.«

Sie verließen den Salon, gefolgt von den Blicken der beiden Frauen.

»Wirklich,« sagte die Gräfin nach einem Schweigen, »er ist reizend ...«

»Gouillaux?«

»Dieser Schwätzer? Dieser vermeintliche Ironiker? Nicht doch! Es gibt solche Schwätzer in jeder Botschaft, in ganz Europa ... nein, nein, ich sprach von Trevoux ...«

»Nicht wahr, daß er ein lieber Junge ist?« erwiderte Berthe.

Sie war aufgesprungen und hatte sich auf einen Schemel gesetzt, neben Albine, griff nach den Händen der Freundin, verschränkte sie über den Knien der Gräfin, legte ihr Gesicht darauf und blickte zu Albine mit einem verwirrten Lächeln auf.

»Während uns dieser Schwätzer seine ausgeklügelten Ideen vortrug,« sagte sie dabei, »habe ich sehr gelitten, weil ich fühlte, daß Jean litt. Er hat ein edles vornehmes Wesen, er ist so aufrichtig, so vertrauensvoll. Er fühlte undeutlich, daß man uns beschmutzen wollte ... dich und mich, und er hat für mich so viel Achtung ...«

»Meine kleine Berthe,« sagte Albine lächelnd, »du verdienst ja diese Achtung ...«

»Ich sollte es hoffen,« sagte sie mit einer entzückenden Naivität ... »Ich war ein halbes Jahr verheiratet, mit einem Manne, der ... na, lassen wir das! Und seit meiner Scheidung habe ich die Keuschheit einer Nonne bewahrt – trotzdem ist mein Ruf zweifelhaft! Was soll man denn noch mehr tun, großer Gott?«

»Man muß weniger schön und weniger begabt sein ... ah, wie schön du heute bist!« setzte die Gräfin hinzu, während sie sich ein wenig zurücklehnte, die beiden Hände auf die zarten Schultern Berthes legend und ihr Gesicht betrachtend, wie man ein kostbares Bild bewundert. »Es ist etwas so Strahlendes an dir, das noch vor einem Augenblick nicht vorhanden war, als Jean noch nicht zurückgekehrt ist ...«

Ein sehnsüchtiger Seufzer hob den schönen Busen, die Augenlider senkten sich verwirrt.

Die Gräfin betrachtete sie lächelnd. Dann sagte sie ernst werdend:

»Ah ... ich habe vorhin Gouillaux etwas hart behandelt, er ist ein Ironiker, aber sehr klarblickend. Es ist schauerlich, wie richtig er sieht! Es war nicht ein Zufall, daß er über die Liebe sprach, die in das Leben einer Frau einbricht, welche sich seit langem von den Moralgesetzen losgesagt hat. Er wollte uns Furcht machen ... dir und mir.«

Berthe riß erstaunt die Augen auf.

»Daß er mich gemeint hat, darüber bin ich mir klar, denn er sieht ja, daß Jean und ich ... Aber warum sollte er auf dich gezielt haben?«

»Ja, er meinte auch mich. Hast du bemerkt, daß er während der ganzen Mahlzeit von allen Personen gesprochen, über alle Personen gelästert hat, die Samstag in Celtic's waren, aber nur von einem sprach er nicht, der an seinem Tisch saß ... der sein Gast war, sein Freund.«

»Ah ... dieser Herr ... Vaugrenier?«

»Roger Vaugrenier ... Gouillaux lauerte darauf, daß ich als Erste von ihm sprechen, Auskünfte über ihn verlangen würde. Aber ich habe mich gehütet!«

»Er denkt doch nicht, daß du die Geliebte dieses Mannes bist?«

»Nein, aber dieser Mann hat ihm wahrscheinlich von mir gesprochen, hat ihn ausgefragt. Gouillaux weiß, daß ich Roger heute empfangen soll ...«

»Ah ... er wird kommen?«

»Ja, um vier Uhr ...«

Berthe Lorande sprang graziös auf die Füße, wie eine Akrobatin, sah auf ihre mit Brillanten besetzte Armbanduhr, verglich sie mit der Stutzuhr über dem Kamin und sagte:

»Es ist bald vier Uhr ... ich lasse dich allein ...«

Albine war ebenfalls aufgestanden ... Sie war viel größer als Berthe, so daß sie das zarte Parfüm der Haare ihrer Freundin fühlte.

»Komm' heute in die Oper,« sagte sie zu ihr. »Ich möchte nicht allein sein.«

»Einverstanden,« sagte Berthe.

Sie schritten eng umschlungen durch den großen, ziemlich dunklen Salon und blieben vor der Doppeltür stehen, die auf die Freitreppe des kleinen Palastes hinausging.

»Ja,« murmelte Berthe, als ob sie zu sich selbst spräche, »wenn man sieht, wie die Leidenschaft in dem Herzen eines Mannes auflebt, wie sie von ihm ganz Besitz ergreift, wie jede Maske fällt. Ah, das ist eine schöne abenteuerliche Fahrt, und du wirst diese Fahrt unternehmen ... wiederum ... Das Leben hat nur durch solche Fahrten einen Wert, den einzigen Wert! Glücklich diejenigen, die sich auf den Weg machen ... ich könnte es nicht!«

»Wirklich nicht?«

»Ach ... du weißt es ja! Ich liebe die Liebe leidenschaftlich, aber als Zweck an sich, und ich verzweifelte, weil mich die Liebe stets enttäuschte. Man nennt mich kokett, grausam, und doch bin ich völlig aufrichtig, ich habe noch nie den Mann gefunden, der mein Wesen ergänzt hätte ... Saulnois ...«

»Ist's damit zu Ende?«

»Ja, ganz zu Ende, was mich betrifft. Er will aber noch nicht alle Hoffnung aufgeben ...«

Sie sagten nichts mehr, blieben sinnend vor einander stehen. Berthe sprach zuerst:

»Erinnerst du dich,« sagte sie mit leiser Stimme, während ihre Augen aufglühten, »erinnerst du dich an das Kloster von Maorta?«

»In Korsika? Damals, als wir von unserer Mittelmeerfahrt zurückkehrten?«

»Erinnerst du dich an die Kapelle?«

»Ja ... die zwei Nonnen, die vor dem ausgestellten Sakrament beteten. Die eine barg ihr Gesicht in beiden Händen, die andere zeigte es stolz, ein schönes, junges, blasses Gesicht, das wie von dem Glanz der Hostie erleuchtet war.«

»Du hast mir damals gesagt: ›Mir war es, als wenn mich ein Engel mit dem Flügel gestreift hätte. Ich werde eines Tages hieher zurückkommen‹.«

Albine lächelte.

»Man sagt derlei Dinge, wenn man ganz benommen aus einer Kapelle heraustritt, in eine schöne Landschaft! Aber ich gestehe, daß ich jetzt nicht daran denke, in ein Kloster zu gehen! Warum sprichst du jedoch von Maorta? Ist deine alte Clarisse auf dem Wege, dich zu bekehren?«

»Nein ... die Frömmigkeit von Clarisse ist sehr diskret, sie begnügt sich damit, für mich zu beten. Aber Trevoux wurde fromm erzogen, er hat noch einen Beichtvater!«

»Du wirst die Stärkere sein, wenn du ihn wirklich liebst. Doch liebst du ihn auch?«

»Ich zittere, an ihm zu entdecken, daß er vielleicht nicht der Auserwählte ist,« erwiderte sie, ihr fröhliches Lachen wiederfindend. »Ich fühle jedenfalls, daß es diesmal etwas Neues ist. Ich fühle anders ...«

»Was denn?«

»Alles, was nicht ihn betrifft, wird für mich wesenlos.«

Albine fragte weiter, ernst und aufmerksam:

»Und was fühlst du noch?«

»Den Wunsch, ihn niemals mehr zu verlassen, beständig um ihn zu sein ...«

»Und dann?«

Sie murmelte, fast unhörbar:

»Ich empfinde brennend den Schmerz, nicht jünger zu sein als er, ihm nicht mein ganzes Leben schenken zu können ... die Jahre, die ich vor ihm lebte, scheinen mir tot und unnütz. Doch warum fragst du mich dies?«

Albine erwiderte nichts. Sie schlang ihre Arme um Berthe und küßte sie mehrmals, heftig.

»Also heute Abend ... in der Oper.«

»Abgemacht.«

III

»Was haben Sie seit Samstag gemacht? Sind Sie wiederum in einem Dancing gewesen?«

»Ah, großer Gott ... nein! Es war Gouillaux, der mich Samstag fast mit Gewalt hingeschleppt hat.«

Albine saß wiederum in ihrem Lehnstuhl neben dem Kamin. Vaugrenier hatte ihr gegenüber Platz genommen; der niedrige Sitz, den Berthe vor einer Weile innehatte, trennte das Paar. Vaugrenier trug einen blauen Cheviotanzug, der offenbar von einem Militärschneider geschnitten war, er hatte starke Schuhe, braune Handschuhe, eine Kravatte aus dem Louvre ... Aber der auffallend edle Schnitt seines Gesichtes, die kraftvolle Ruhe seines Körpers gaben ihm eine seltsame Eleganz, welche jede raffinierte Frau sofort erkannte. Es waren die Kleider, die unschön waren, aber nicht er selbst. Als Ulysses aus dem Schilf in einer Hülle aus Laub hervortrat, fand ihn Nausikaa gar nicht lächerlich ...

Die Stutzuhr zeigte zehn Minuten nach vier Uhr.

Als Roger gesagt hatte: »Es war Gouillaux, der mich hingeschleppt hat,« schwieg er plötzlich. Die Gräfin, die ihn nicht aus den Augen ließ, erriet, daß er die bittere Kritik, welche er auf den Lippen hatte, verschwieg. Und sie brachte das Gespräch auf einen anderen Gegenstand.

»Übrigens ... Sie müssen viel Arbeit haben. Haben Sie bereits einen Patientenkreis in Paris?«

»Nein, nur einige Freunde von einst, und dann einige Fremde, die mir Gouillaux zugebracht hatte. Er ist wirklich ein guter Freund. Anderseits überlege ich mir die Vorschläge einer Agentur, mich in einem Bezirk als Privatarzt niederzulassen. Ich könnte die Klientel des jetzigen Arztes erhalten, der mir auch seine Wohnung abtreten würde. Es ist im Quartier Montparnasse ...«

Dabei fragte er sich innerlich: »Warum erzähle ich ihr das? Es ist ungeschickt von mir! Und warum bin ich denn eigentlich gekommen?«

Von diesen wirr flutenden Gedanken entging Albine fast gar nichts. Sie sagte sich, es sei notwendig, ihn noch eine Weile in dieser Verlegenheit zu lassen, und nickte nur dann und wann interessiert. Vaugrenier, innerlich gegen sich fluchend, daß er geschwätzig sei, fuhr fort:

»Da mich also meine Patienten nicht sehr in Anspruch nehmen, und da mir überdies die Pariser Vergnügungen wenig zusagen, so arbeite ich für mich ...«

»In einem Laboratorium?«

»Nein, ich schreibe ein Buch.«

»Oh,« rief die Gräfin ehrlich erstaunt, »und worüber?«

Er wollte es sagen, als ihn eine plötzliche Scham zurückhielt.

Nein, es war unmöglich, in diesem eleganten Boudoir, gegenüber dieser vornehmen Dame, auch nur den Titel des Manuskriptes zu sagen, über dem er täglich mit wahrer Wut brütete!

»Eine rein medizinische Frage, die nur die Spezialisten interessiert.«

Trotz ihrer Feinfühligkeit war Albine Frau und deshalb sehr neugierig. Was konnte denn dieser Titel sein, den man nicht sagen wollte? Sie wollte nochmals fragen, aber zum Glück beherrschte sie sich und sah gleichgültig drein.

»Ich habe gestern abends viel von Ihnen gesprochen ... mit jemandem, der sie kennt und schätzt. Es war bei den Artaud de Léon, in der Rue St. Dominique ...«

»Ich kenne keine Familie Artaud,« fiel ihr der Doktor trocken ins Wort.

Und dabei dachte er wiederum: »Was fällt mir ein, so unangenehm zu sein? Sie ist entzückend und anmutig.« Albine schien seine schroffe Bemerkung nicht gehört zu haben und fuhr fort:

»Es war der General Helgot Desmarais ... Ihr einstiger Chef. Er hat mir sehr viel Lobendes über Sie gesagt, das ich gar nicht wußte ...«

Vaugrenier unterbrach sie mit einemmal, sehr brüsk, heftig, aber mit einer wilden Anmut:

»Frau Gräfin ... lassen wir dieses Thema! ...«

Albine betrachtete den jungen Mann, der jetzt mit einer solchen Heftigkeit sprach, und er konnte das etwas bewundernde und doch ironische Mitleid sehen, welches sich in dem Lächeln der schönen Frau barg ...

Als er Atem schöpfen mußte, murmelte sie:

»Ja ... der Krieg war schrecklich ...«

»Noch schrecklicher sind die Folgen,« sagte er verbissen. »Ja, man müßte eine Flugschrift schreiben ›Die Greuel des Friedens‹ ... Ich habe diese Greuel gesehen, letzten Samstag in Celtic's ... Dieser Goldregen, für Vergnügungen, die der Rothäute würdig sind, und für einen Fraß, den nicht die elendeste Herberge bieten würde! Dieses Gedränge von Gaunern, Profitgeiern, Intellektuellen, wirklichen Ehrenmännern, Dieben und Zuhältern, dieser groteske Kult für die Helden des Tages, für einen Tänzer wie Links, für angebliche Damen der großen Welt, die ärger sind als Kurtisanen, ärger als die Kokotten, und die nicht einmal die Entschuldigung haben, daß sie jung und schön sind.«

Atem und Speichel gingen ihm aus. Während er plötzlich abbrach, dachte Albine ernst: ›Gouillaux hat ihm vorgepredigt ... und hat ihm Böses über mich gesagt! Aber warum kränkt es mich so sehr? Gerade weil es dieser junge, unerfahrene Mensch sagt?‹ Ihr freies, stolzes Herz krampfte sich zusammen, wie vor dem Griff einer Totenhand. Es entstand eine Pause und sie blickten einander an. Roger sah den schmerzlichen Ausdruck, der über das Gesicht der Gräfin gehuscht war, und seine Aufregung fiel mit einem Schlag. Er war wütend auf sich selbst, daß er dieser Frau wehe getan hatte – einer Frau, die ihm bei einer zufälligen Begegnung ihre Sympathie bezeugte.

»Sie sind sehr hart und sehr entschieden in Ihrem Urteil!« sagte Albine mühsam.

Sie hatte sich so weit in der Gewalt, um ihre Tränen zurückzuhalten, aber diese verhehlten Tränen gaben dem Blick einen andern Ausdruck. Roger bemerkte dies. Er gehörte zu jenen Hitzköpfen, die eine Frau nicht weinen sehen können, und er begann zu stottern:

»Ich habe das gesagt ... Sie begreifen ... weil man gerade davon spricht, denn sonst ... ich denke nie an solche Sachen. Das geht mich ja nichts an, ich verstehe nichts davon. Und ich wollte auch nicht sagen, daß man sich etwas vergibt, wenn man Celtic's aufsucht. Gouillaux versichert, daß Frau Saulnois eine sehr achtbare Dame ist, und sie befand sich auch dort ...«

»Und wenn eine so achtbare Dame wie Frau Saulnois dort speisen kann, so ist es mit noch größerem Rechte mir und meinen Freundinnen erlaubt, nicht wahr?«

»Oh ... Frau Gräfin, ich habe mich so schlecht ausgedrückt ... ich wollte sagen ...«

Er wußte gar nicht mehr weiter, hielt inne und wurde feuerrot. Aber er konnte seine Augen von dem Gesicht der schönen Frau nicht abwenden, angstvoll nach einer Miene spähend, die ein Lächeln ankündigen würde. Albine sah ihn eine Weile schweigend an, ohne jeden Zorn. Sie kannte viel zu gut die Psychologie der Männer, um nicht zu wissen, daß die brutale Ungeschicklichkeit Rogers sie einander viel schneller nähern würde als zehn Besuche in vorschriftsmäßiger Form. Und nun war er ganz beschämt, während sie ihre Kaltblütigkeit zurückgewonnen hatte. Sie sagte ihm sanft:

»Wenn ein Mann von Ihrem Alter, Ihrer Stärke und Ihren moralischen Eigenschaften eines solchen Zornausbruches fähig ist, so beweist dies, daß er selber sehr bitter am Leben gelitten hat.«

»Ja ... ich habe am Leben gelitten,« murmelte Roger. Aber er bereute dieses halbe Geständnis und setzte stolz hinzu:

»Ich habe, wie jeder andere auch, genug gelitten, um zu wissen, daß die menschliche Gesellschaft nicht vollkommen ist. Ich bin ein uneheliches Kind. Meine Mutter ging als Sprachlehrerin nach England und wurde dort verführt ... ich glaube durch den Vater ihres Zöglings ... einen hochangesehenen Gentleman! Ich trage den Namen meiner Mutter. Oh ... ich will gar nicht behaupten, daß dies etwas Tragisches sei! Wir leben ja nicht mehr in der Zeit des Herrn Dumas fils! Ein braver Mann, ein Arzt, der ein Freund meiner Mutter war, nahm sich meiner an, denn meine Mutter starb, als ich noch ganz klein war. Ich kann also mein Schicksal weder loben noch es beklagen. Man tat mir Gutes und Böses, natürlich etwas mehr Böses ... das ist ja menschlich. Ich trage diesen Leuten gar nichts nach, nicht einmal meinem Vater, den ich nicht kenne. Die Gesetze sind sehr schlecht gemacht und die Gesellschaft erstickt sozusagen in dieser Zwangsjacke, es entsteht ein Handgemenge, in dem die Kleinen und Schwachen zu Boden getreten werden ...«

»Glauben Sie aber, daß man diese Gesetze ändern kann?« fragte Albine sehr aufmerksam.

»Gewiß, da man sie ja einst gemacht und der Menschheit aufgezwungen hat!«

»Zum Beispiel also ... den Verführer eines jungen Mädchens sehr hart bestrafen?«

»Bestrafen? Die Schwere des Gesetzes noch drückender machen? Nein, wir gehen ohnehin an zu vielen Regeln und Vorschriften zugrunde. Lesen Sie manchmal die Schriften des heiligen Paulus? Dieser Heilige hat ganz gut eingesehen, daß die Verbrechen aus den Gesetzen herkommen, und er hat es den Pharisäern seiner Zeit tüchtig gesagt. Wenn mein Vater und meine Mutter einander liebten, so hatten sie tausendmal recht, einander anzugehören, aber was schlecht und verbrecherisch ist, etwas, das sich auf nichts anderes stützt als auf Habsucht und Selbstsucht, das ist das Gesetz der Geschlechtsmoral, welches aus einem freien und berechtigten Liebesakt ein Verbrechen macht ...«

»Ich bin sicher,« sagte Albine, »daß Ihr Buch diesen Stoff behandelt!«

»Wie! Sie haben es erraten!?«

»Man spricht nicht mit so viel Feuer und Hingebung von etwas, an das man nicht Tag und Nacht denken würde! Und wie wird der Titel lauten?«

»Er lautet: ›Gegen die Geschlechtsmoral!‹«

Diese Worte, die er vor einer Weile nicht auszusprechen wagte, kamen ihm ganz natürlich auf die Lippen, aber trotzdem schien ihm der Klang sonderbar, in diesem Boudoir, gegenüber einer schönen Frau.

»Entschuldigen Sie, daß ich von solchen Sachen spreche. Ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich kein Gesellschaftsmensch bin, ich bin ein Mann des Studiums, und der Tat. Aber ich weiß, daß ich linkisch und langweilig bin. Verzeihen Sie mir.«

Die Gräfin lächelte. Diejenigen Frauen, die lange schön geblieben sind und sich nun für einen jungen Mann entflammen, mischen unwillkürlich in diese Liebe etwas Mütterliches. Sie fühlte sich versucht, diesen großen Jungen in ihre Arme zu nehmen, ihn zu wiegen, ihn zu trösten. »Wie bezaubernd er ist!« dachte sie.

»Nein, linkisch sind Sie gar nicht,« erwiderte sie. »Sie sind heftig, jäh, aber das ist nicht linkisch und langweilig ... nein, Sie sind gerade das Gegenteil! Die Leidenschaftlichen verwunden, verletzen manchmal, aber sie langweilen niemals. Was Sie über die Gesetze sagten, mag richtig sein, aber die Gesetze wurden von Männern gemacht, an den Männern ist es, sie zu ändern. Wir Frauen sind dazu verurteilt, diese Gesetze, die keineswegs unser Gewissen belasten können, zu erdulden. Wir haben stets versucht, uns gegen solche Gesetze indirekt zu wehren, wir versuchten ein Kompromiß, um nicht der völligen moralischen Sklaverei zu verfallen ...«

Die Tür öffnete sich in diesem Augenblick. Der Diener brachte auf einem tragbaren Tisch den Tee herein. Dies unterbrach das lebhafte Gespräch der beiden. Roger dachte:

»Alles, was Gouillaux erzählt hat, beruht auf Wahrheit. Sie ist eine Tochter von Pierre de Mestrot, der adelig war und sich zum Maler ausbilden wollte. Er hatte diese Tochter aus einer Liebschaft mit einem Straßenmädchen, das ihm Modell stand ... Albine wuchs sehr frei auf. Mit achtzehn Jahren machte sie eine geheimnisvolle Reise ins Ausland, mit einer etwas anrüchigen Freundin, dieser Henriquette Dupont, ihrer Lehrmeisterin im Aquarellmalen. Bei diesem Umherzigeunern erfolgte dann die plötzliche Ehe mit dem Grafen Anderny, der seither starb. Dann, als Witwe, verbrachte sie einige galante Jahre in Paris und auf Reisen. Und dies nennt die Gräfin ein Kompromiß zwischen den Forderungen des Herzens und den sozialen Gesetzen! Na, wenigstens spielt sie sich mir gegenüber nicht auf die Tugendheldin hinaus! Sie hat einen gewissen Mut, um so besser!«

Das waren seine Gedanken ... Aber warum hatte das kühne Geständnis Albinens, so unerschrocken in seiner diskreten Form, an die geheimsten Fibern seiner Seele gerührt und ihm einen bohrenden Schmerz zugefügt?

 

Als der Diener den Salon verlassen hatte, reichte Albine ihrem Gast ein Glas Porto und bereitete für sich eine Tasse Tee. Das Gespräch wurde für eine Weile banal; die herkömmlichen Redensarten, Anbieten, Dank, Ablehnung schwirrten um den Teetisch, und dabei verloren die beiden Gegner einander nicht einen Augenblick aus den Augen, spähten nach jeder Geste. Roger betrachtete das schöne Gesicht der Frau, das dichte Haar, den schimmernden Nacken und die Schultern. Das Kleid war ziemlich tief ausgeschnitten, man sah die breite, marmorne Brust ... faszinierend waren die Arme, bis zur Achsel sichtbar, in üppiger Rundung anschwellend, in dem herrlichen Glanz rauschender Seide, ohne ein Stäubchen von Puder. Und Roger mußte sich fast erbittert sagen, daß er nicht das mindeste Kennzeichen entdeckte, das ihm einen Schluß auf das mutmaßliche Alter dieser Frau erlaubt hätte.

»Gouillaux behauptet, sie hätte sich von einem berühmten Chirurgen in New York das Gesicht glattziehen lassen! Wenn es wahr ist, so wäre das eine geniale Arbeit, aber es ist nicht wahr. An diesem Gesicht ist nichts Künstliches. Die Frau ist nur ein großartiges Musterbeispiel unserer Rasse, die ihre ganze Energie aufbietet, um schön zu bleiben ...«

Er bemerkte, daß sie die Kuchen nicht berührt hatte und daß sie den Tee ohne Zucker trank.

»Die moderne Hygiene ist imstande, eine Frau von vierzig Jahren um zehn Jahre jünger zu machen. Das ist unser Gewinn gegenüber der vorhergehenden Generation ...«

Er hing gerade diesen Gedanken nach, als er dem offenen Blick der Gräfin begegnete, und er fühlte, daß sie alle seine Gedanken erraten hatte. Er wurde etwas rot. In diesen großen braunen Augen lag kein Falsch, man las darin die Sehnsucht, zu gefallen, und das machte die süße Reife einer Frau, die sich der Liebe erschließt, für einen jungen Mann unwiderstehlich. Roger fühlte sich plötzlich von einer Glückswelle überströmt. Wie kleinlich waren doch alle seine Moralpredigten gegen die moderne Gesellschaft, wie verstiegen war sein Stolz! Was war er denn eigentlich? Ein angehender Arzt, ohne Patienten, ohne Vermögen, und er gefiel dieser außerordentlichen Frau, die reich, schön und vornehm war, die man trotz der Lästerungen eines Gouillaux überall empfing, die im Vorjahr ein Lord heiraten wollte? Es ist wahr, daß man Vaugrenier schon geliebt hatte, daß sich ihm schöne Frauen plötzlich zueigen gegeben hatten, und daß er diese Liebe nie zu schätzen gewußt hat. Aber jetzt, zum erstenmal in seinem Leben, hatte er den glühenden Wunsch, zu gefallen, eine Frau zu erobern ...

Mit ihrer feinen Herzenskenntnis hatte die Gräfin Anderny diese widerstreitenden Gefühle erraten, und sie ermaß die Macht, welche sie bereits auf Roger ausübte. Sie zweifelte nicht mehr an der Zukunft. Der Gegner würde sich noch etwas sträuben, er würde sich dabei wehe tun, und jedesmal würde er weniger imstande sein, sich zu befreien. Denn trotz seiner Rächergesten erriet ihn Albine als einen sehr feinfühligen, empfindlichen Menschen, und sie sah auch andere Gegensätzlichkeiten in seinem Wesen, das Temperament eines Gläubigen und die Gesinnungsweise eines Nihilisten. Ah ... gegen eine derartige Natur müßte sie ankämpfen, und die Schwierigkeit dieser Eroberung gab ihr einen gleichsam idealen Wunsch, diesen Rebellen durch Zärtlichkeit zu besiegen, ohne dabei der Sinnlichkeit ihre Macht einzuräumen. Und während beide solchen widerstreitenden Gedanken nachhingen, begannen sie nach der Regel des mondänen Spieles ein tändelndes Gespräch über die Gruppe ihrer gemeinsamen Bekannten. Sie taten es mit der leichten Ironie, die für derlei Gespräche die übliche Formel darstellt. Albine bemerkte, daß Roger seine Rolle mit Leichtigkeit spielte. Man sprach von dem Ehepaar Saulnois.

»Der Professor schien mir etwas gar zu eingebildet,« sagte Roger. »Er besitzt eine gewisse Redegewandtheit, aber sein Geist hat kurze Flügel. Die Frau ist ihm weit überlegen.«

»Sie haben sie sehr gut beurteilt,« erwiderte Albine. »Meine Cousine Jeanne ist außerordentlich begabt, und ihr Charakter wiegt ihre Intelligenz auf ... Der Erfolg ihres Mannes ist ihr eigenes Werk. Sie hatte eine Liebesheirat gemacht ... ein Mädchen aus adeliger Familie, Provinzadel, arm und schön, heiratet den Philosophieprofessor des dortigen Lyzeums. Damals schrieb Albert Saulnois gelehrte Bücher, die kein Mensch las. Sie hat ihn in Schwung gebracht, sie inspirierte ihm die Serie ›Psychologie einer französischen Provinz‹, die eine Auflageziffer wie ein spannender Roman erreichte. Sie hat ihn in der besten Gesellschaft eingeführt. Er wurde sozusagen der Modephilosoph für mondäne Kreise, ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften und wird eines Tages den vierzig Unsterblichen angehören. Dabei ist Jeanne eine vorzügliche Hausfrau, ihr Heim ist elegant und behaglich.«

»Gouillaux behauptet, daß diese Ehe nicht sehr gediegen ist,« bemerkte Roger.

Albine wurde eifrig:

»Gouillaux! Sie nehmen das Geschwätz dieses Menschen ernst? Er kann es der Gesellschaft nicht verzeihen, daß ihm einige Pläne, Heiratspläne mit sehr reichen Erbinnen, in Brüche gegangen sind!«

Etwas ruhiger fuhr sie fort:

»Jeanne ist eine treue Gattin, die nur ihren Albert liebt. Man möchte sagen, daß sie die andern Männer gar nicht bemerkt. Ihr Freund Gouillaux macht gerade jetzt diese Erfahrung, und das rührt ihm die Galle auf. Alle seine Verführerkünste, alle seine diplomatischen Schachzüge prallen an der ehelichen Ruhe dieser kleinen, etwas üppigen Frau ab. Er hat jetzt zu dem Mittel gegriffen, Jeanne eifersüchtig zu machen, indem er überall verbreitet, daß Albert seine Frau betrüge.«

»Ist das nicht wahr? Man sagt, daß Berthe Lorande ...«

»Das ist wiederum eine Erfindung von Gouillaux! Saulnois hatte einige mondäne Abenteuer. Es gibt in Paris Frauen, die sich an jeden berühmten Mann heranmachen, aber Berthe Lorande ist meine Freundin, und ich glaube sagen zu können, daß dieses reizende Wesen nie jenen Ausgleich zwischen der Sinnenlust und dem sozialen Gesetze schloß, von dem wir vorhin sprachen.«

»Aber ... ich glaube, daß Saulnois ...«

»Saulnois ist in Jeanne verliebt, wie so mancher andre, denn Berthe ist unwiderstehlich, wenn sie will.«

»Gouillaux wirft ihr vor, daß sie es gar zu oft will.«

»Wirft man einem Brillanten vor, daß er beständig Feuer widerstrahlt? Berthe ist wie eine Flamme von Leidenschaft und Lyrik! Diese Flamme zieht Männer und Frauen an. Die Männer verbrennen sich dabei die Flügel. Ist dies die Schuld von Berthe? Übrigens werden Sie Berthe kennenlernen ... ich werde sie einladen, mit Jean de Trevoux und seiner Mutter, die beide reizend sind ... nein, runzeln Sie nicht Ihre dicken Augenbrauen! Man muß nicht immer in Gesellschaft von Gouillaux sein, man würde ganz verbittert werden! Haben Sie so wenig Vertrauen in Ihre Grundsätze, daß Sie dem wahren Leben aus dem Wege gehen wollen?«

Roger, der langsam aufgestanden war, entgegnete:

»Wirklich, offen gesagt, Frau Gräfin ... ich fühle mich dieser Gesellschaft etwas fremd gegenüber. Meine Armut, meine etwas dunkle Herkunft, mein düsterer Charakter ...«

»Wiederum diese Romanphrasen! Die feinste Pariser Gesellschaft streitet sich um Leute Ihres Wertes, weil sie sonst vor Langeweile zugrunde gehen würde, aus Mangel an Ideen ... Und was die Herkunft betrifft ... ich selbst bin ein Kind der Liebe. Meine Mutter war ein Modell. Ich schäme mich dessen gar nicht und ich versichere Ihnen, daß mir dies nie eine Tür verschlossen hat. Und da Sie es wissen wollen, sage ich Ihnen offen, daß Sie ein sehr interessanter junger Mann sind und daß Sie viel Erfolg haben werden ... haben Sie nur Mut!«

Diese Worte hätten unter andern Umständen Roger in Wut versetzt, aber sie waren so anmutig gesagt, daß er sie wie eine Zärtlichkeit empfand. Er stammelte:

»Wie sollte man nicht Mut haben, Frau Gräfin, wenn Sie es sind, die einen ermutigt?«

Sie war ebenfalls aufgestanden. Sie standen einander gegenüber.

»Frau Gräfin,« begann Roger mit leiser Stimme, »ich war zu Anfang meines Besuches lächerlich und unkorrekt. Meine Natur ist nun einmal so! Wenn mir gewisse Ideen durch den Kopf gehen, weiß ich nicht, mit wem ich spreche. Aber ich würde von hier verzweifelt fortgehen, wenn Sie mir nicht sagen, daß Sie mir verziehen haben.«

Die schöne Hand der Gräfin legte sich leicht auf seinen Arm und Roger blickte wie gebannt darauf hin, während er Albine erwidern hörte:

»Natürlich, ich verzeihe Ihnen! Sie sind hier angekommen, ganz fieberig von dem Gift, das Ihnen Gouillaux eingeträufelt hatte. Der Ausbruch war vorauszusehen ... ich weiß nicht, was er Ihnen alles gesagt hat, jedenfalls viele giftige Verleumdungen! Es ist so bequem, wehrlose Frauen anzuklagen ...«

»Ja,« gestand Roger, »ich muß mich schämen, derartige Verleumdungen angehört zu haben. Ich werde es Gouillaux auch sagen ...«

»Hüten Sie sich, das zu tun! Dies muß unser Geheimnis bleiben. Es mißfällt mir gar nicht, Ihnen gegenüber diesen bösen Fuchs zu verspotten. Er hat heute hier zu Mittag gespeist und ich habe mich belustigt, in seinem Spiel zu lesen, während ich mein Spiel sorgfältig verbarg ...«

Aber Roger hörte nicht mehr auf sie. Die Berührung dieser weichen Hand, die während der einzelnen Worte seinen Arm stärker und schwächer drückte, brachte seine Nerven in Aufruhr. Es war nichts Brutales in dieser Erregung, nichts als der Wunsch, der Gräfin zu Füßen zu fallen oder den Kopf an ihre Brust zu legen. Aber trotzdem wagte er es nicht auszudenken, daß er eines Tages die Kühnheit haben würde, diesen schönen Körper zu umfangen. In dem Augenblicke, als er Abschied nahm, fand er nichts als diese gestammelten, beinahe kindlichen Worte:

»Sie werden mich eines Tages im Stiche lassen ...«

Sie war auf diese Worte so wenig gefaßt, daß sie ganz bestürzt war. Sie fuhr etwas zurück und preßte nervös ihr kleines Taschentuch an die Augen. Beide waren in einer Erregung – wie durch einen gemeinsamen magnetischen Strom zu einander gezogen – und das Tiktak der Stutzuhr maß ihnen, Sekunde für Sekunde, eine unvergeßbare Minute stummen Glückes zu ...

Albine faßte sich zuerst:

»Diejenigen, die mich gut kennen ... ich spreche nicht von Gouillaux ... die wissen auch, daß ich ein treues Herz habe! Auf Wiedersehen!«

Sie reichte ihm die Hand, die er diesmal küßte. Sie sah ihm zu und dachte:

»Welche Anmut alle seine Bewegungen haben! Selbst wenn er verwirrt ist, benimmt er sich gar nicht linkisch ...«

Er war bereits bei der Tür angelangt, als sie sagte:

»Kommen Sie recht bald! Telephonieren Sie mir am Morgen, ich werde dann meine Tür für jedermann schließen, ausgenommen für Sie ...«

Sie sah, daß einen Augenblick lang wiederum über dieses gequälte Gesicht ein Widerschein seiner widerspenstigen, mißtrauischen Seele glitt. Dann schmolz das böse Licht hin, er beugte die Stirne und murmelte resigniert:

»Ja ... ich werde bald kommen ... ich weiß es nur zu gut!«


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