Rudolf Presber
Der Untermensch und andere Satiren
Rudolf Presber

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Der Roman des Romans.

Es gibt naive Leute – ja wahrhaftig, obschon wir das zwanzigste Jahrhundert angeschnitten haben: es gibt sie! – die sich einbilden, einen Roman zu lesen, sei ein Vergnügen.

Zugegeben. Für manche Menschen zu gewissen Zeiten und in gewissen Verhältnissen ist auch das Romanlesen eine Beschäftigung, die an Mühe und Kraftverbrauch nicht ohne weiteres dem Steinklopfen an der Landstraße oder der Dressur von abessinischen Löwen oder einem Forschungsritt durch die Urwälder Zentralafrikas gleichzuachten ist. Ein Junggeselle, der sich im D-Zug Berlin-Basel-Genua aus Zolas Fécondité über den Nutzen der Ehe unterrichtet, eine junge Dame, die auf einer Bank »Nur für Kinder« im Kurgarten zu Ems in einem Roman Nataly von Eschstruths die ersten »interessanten Männer« kennen lernt, ein Ladenjüngling, der sich am Sonntag auf seinem hügeligen Plüschsofa von dem durch sechs Tage ununterbrochenen Verkauf von Bratbücklingen durch den Genuß von Hackländers »Europäischem Sklavenleben« restauriert – das alles sind in unserer Welt des Elends äußerst erfreuliche Typen, die uns die Wohltat geistiger Genüsse in angenehmster Art vor Augen führen. Auch der Dichterling, der zu wenig gesehen und erlebt hat, um anderer Menschen Schicksale zu schildern, und zu wenig gelernt hat, um solche Menschen vernünftig über Vernünftiges reden zu lassen, und der deshalb bei ingrimmiger Lektüre einen Roman Theodor Fontanes »philisterhaft« und eine Erzählung Paul Heyses »blödsinnig« findet – auch er ist ein liebenswürdiger Typus des daseinsfrohen Genußmenschen. Denn mit gehässigen Worten zu verfolgen, was man im Grunde so glühend beneidet, das bereitet zweifellos ein schönes und reines Vergnügen.

Von solchen Glücklichen, die sich also harmlos ergötzen, ist der Unglückselige sehr verschieden, der einen Roman als erquickliches Geistesfutter für andere aussuchen soll, sagen wir zum Beispiel einen Roman zum Abdruck für eine Zeitung; denn er muß seufzend damit rechnen, daß dem Herrn Schultze in der Ottostraße gar nicht gefällt, was der Frau Meyer in der Grindelallee ein besonders großes Gespaßel bereitet, und daß der Frau Schuster in Eppendorf wenig zusagt, was der Herr Schneider in Barmbeck mit unbeschreiblichem Behagen den lieben Seinen nach dem Nachtmahl zur Beherzigung und Seelenerfrischung in seiner ausdrucksvollen Weise vorliest. Er muß damit rechnen, daß –

Aber anstatt aufzuzählen, mit was solch ein armer Mann in seinen gequältesten Stunden rechnen muß, lassen Sie mich Ihnen lieber einige schlichte Tagebuchblätter überreichen, die ein Freund von mir, Feuilletonredakteur eines gelesenen Blattes, vor einigen Monaten zurückließ, als er, an seinem Beruf verzweifelnd, rasch entschlossen über das große Wasser ging, um in Kentucky Garn und Knöpfe zu verkaufen oder um in Paraguay aus toten Ochsen den köstlichen Fleischextrakt herzustellen, oder um am Mississippi mit Regenwürmern nach Karpfen zu angeln, was weiß ich! – Jedenfalls, er entfloh, er entkam; und ich begehe kaum eine verwerfliche Indiskretion, wenn ich die Papiere dieses Mannes, dessen Namen ich bereits nicht genannt habe, hier ausbreite und veröffentliche, documents humains, aus denen hervorgehen wird, daß das Romanlesen zuweilen eine Beschäftigung sein kann, mit der verglichen das Schneeschippen der Verbannten in den sibirischen Bergwerken ein lustiges und unterhaltsames Gesellschaftsspiel genannt werden muß.

* * *

Über seine krasse Leidensgeschichte hat mein bedauernswerter Gewährsmann die ergreifenden Verse geschrieben, die im dreiunddreißigsten Gesang der »Hölle« der große Dante den Grafen Ugolino della Gherardesca sprechen läßt:

»Teilst du nicht meinen Schmerz, so teilst du keinen:
Und denkst du, was mein Herz mir kund getan,
Und weinest nicht, wann pflegst du dann zu weinen?!«

Und dann beginnt er in dem schönen Freimut des Entfliehenden seine Bekenntnisse: Im März 97 hab' ich für unsere Zeitung einen neuen Roman ausgesucht. Es waren helle, lachende Frühlingstage. Die Amseln sangen schon, und faustdicke Veilchensträußchen kosteten fünfzehn Pfennig. Sie rochen freilich nicht. Das konnte mir gleichgültig sein, denn von Anfang Oktober bis Ende Mai hab' ich immer den Schnupfen, weil auch in unserem Bureau schlecht und unregelmäßig geheizt wird . . . Einerlei, es war Frühling.

Meine sehnsuchtsvolle Lenzstimmung beeinflußte zweifellos ein wenig meine Auswahl unter den Romanen. Nachdem ich zwei sehr blutige Bücher dankend zurückgeschickt hatte und ein drittes geschriebenes (!) bis zur Seite 521 gewissenhaft durchgelesen hatte, um dann zu erfahren, daß es bereits anderweitig zum Abdruck verkauft sei, kam mir ein prächtiger Frühlingsroman in die Hände. Er spielte auf Sizilien. Spielte in den saftiggrünen Vignen am Fuße des Ätna, der noch immer polternd seine Funken in den Himmel schickt. Alles war voll Licht und Sonne, voll Mandelduft und Meeresrauschen. Ein prächtiges Buch! Und die Helden: zwei Naturkinder, junge Weinbauern aus Taormina, beide, er und sie. Sie hieß Gemma, ich erinnere mich noch. Die Sache ging unglücklich aus; aber noch auf ihren Gräbern blühte der Frühling . . .

Ende März 1897 ließ ich den Roman drucken. Elf oder zwölf Fortsetzungen waren erschienen, und ich verfolgte den Fortgang mit den Augen der Liebe; dann hatte ich die Freude, das folgende Anerkennungsschreiben bei meiner Morgenpost zu finden:

»Sehr geehrte Redaktion! Gestatten Sie einem Ihrer ältesten Leser, Ihnen die Bemerkung zu machen, daß er es unbegreiflich – um nicht zu sagen unverantwortlich – findet, daß Sie derartiges Zeug – ich schreibe Zeug! – drucken können, wie den gegenwärtig durch Ihre Spalten laufenden Roman. Ich will ein deutsches Blatt lesen. Kein italienisches! Was geht mich überhaupt Sizilien an? Was Taormina? Ich war nie dort; ich komme nie hin. Also! Lassen Sie Ihre Geschichten meinetwegen in Grüneberg spielen oder in Kyritz an der Knatter, aber – Taormina? Wer interessiert sich dafür! Ich dächte doch, auch der Roman sollte national sein. Oder etwa nicht? Gibt es denn keine Schicksale mehr innerhalb der schwarz-weiß-roten Grenzpfähle, die zu beschreiben wären? (Anmerkung meines Freundes: Hier meint der freundliche Schreiber offenbar die Schicksale, die zu beschreiben wären, nicht die Grenzpfähle, wie man logischerweise aus der kühnen Konstruktion entnehmen mußte –) Eine gute teutsche Kost tut dem teutschen Magen not. Auch in litteris et artibus! Meine bedingte Hochachtung B . . . L . . .«

Ich war geknickt. Also undeutsch! Nein, das sollte mir nicht mehr vorgeworfen werden!

Bei der Auswahl des nächsten Romans ließ ich ein Buch sofort ausscheiden, weil sein Held im siebenten Kapitel so undeutsch war, auf vier Wochen nach Paris zu reisen. Ein anderes, weil der Großvater der Heldin ein Spanier war. Teutsch, ganz teutsch sollte der Roman diesmal sein.

Endlich hatte ich einen. Er spielte zur Zeit der Freiheitskriege, am Rhein. Es wurde ein bißchen viel geschworen, gelobt und prophezeit darin, aber immerhin, es war eine hübsche Geschichte voll Begeisterung und nicht ohne schöne menschliche Züge. Die Franzosen kamen sehr schlecht weg darin. Napoleon und der leibhaftige Satanas waren so ziemlich ein und derselbe. Auch ein paar zarte lyrische Stellen, Silvesternacht bei Caub usw. mit einem Wort: hübsch, stimmungsvoll und außerordentlich deutsch.

Am 1. Mai 97 gab ich den Roman in Druck. Am 9. Mai bereits – im Kalender steht »Hiob« – hatte ich den Vorzug, aus dem lieben Leserkreise die nachstehende Belehrung zu erfahren:

»Mein Herr! Wenn Sie etwa vorhaben im Feuilleton Ihrer Zeitung fernerhin Geschichtsrepetitionen für Quarta vorzunehmen, so bitte ich im Namen zahlreicher Abonnenten um gütige Benachrichtigung. Wir wollen nämlich dann abbestellen. Daß der alte Blücher in der Neujahrsnacht 1813/14 über den Rhein gegangen ist, und zwar bei Caub, das weiß ich. Daß Fürst Schwarzenberg unterdessen durch die Schweiz nach Frankreich marschierte, weiß ich auch; und ob damals einer von den Österreichern – wie Ihr dämlicher Roman behauptet – eine Braut in Caub gehabt hat oder nicht, das ist mir einesteils egal und andernteils höchst gleichgültig. Von einem Roman, den eine gelesene Zeitung zum Abdruck bringt, darf man doch sozusagen erwarten, daß er ein Bild der Zeit gibt, in der wir selbst leben. Ich frage bloß sanft: wozu? Blücher ist tot, das werden Sie kaum bestreiten. Lassen Sie also Blüchern den Quartanern, die Jahreszahlen und Gedichte von Kopisch auswendig lernen müssen. Wir wollen was wissen, von dem, wo lebt. Mit den ollen Kamellen haben sich schon unsere Großväter zur Zufriedenheit abgefunden. Nichts für ungut, das ist so meine Meinung. Ergebenst A. d. L.«

Nun war's also wieder nicht recht. »Von dem, wo lebt,« wie mein freundlicher Berater sich ebenso sinnig als deutlich auszudrücken beliebte, sollte der Roman handeln. Schön. Ich nahm die Lehre an.

Ich ging auf die Suche nach einem Buch von dem wo lebt, nach einem ganz modernen Roman, und da ich nach meinem persönlichen Geschmack ein Feind aller allzu derben und blutigen Handlung bin, so wählte ich schließlich, nicht ohne Herzklopfen, eine Erzählung von außerordentlich seiner Psychologie. Eine Dame aus der großen Welt – das war so ungefähr die Handlung – hat jahrelang neben einem Manne, einem kalten Egoisten, hingelebt, ohne sich darüber klar zu werden, daß sie ihn nur mit den Augen ihrer beratenden Verwandten gesehen und eigentlich nie geliebt hat. Auf einer Sommerreise begegnet ihr durch Zufall ein Mann, dem ihr liebebedürftiges Herz zufliegen muß. In einer schwachen Stunde, berauscht von seinen leisen, zärtlichen Worten, von fernherklingender Melodie und vom Wellenschlag des brandenden Meeres, gewährt sie ihm in tiefer Selbstvergessenheit einen einzigen Kuß. Es soll der Abschied sein für immer. Ein niedriges Subjekt hat die Szene beobachtet, hinterbringt alles dem Gatten, der nun den Nebenbuhler zum Duell fordert und niederschießt. Dann erklärt er ihr höhnisch, daß er sie nie geliebt und nur ihres Geldes willen geheiratet hat. Da verläßt sie ihn in einer Winternacht und reist in das einsame, verschneite Landstädtchen am Harz, um dort einer alten, weißhaarigen Frau, der Mutter des toten Geliebten, eine treue, unglückliche Tochter zu sein . . . So war ungefähr der Inhalt. Das Ganze war sehr vornehm gehalten, und ich alter, hartgesottener Sünder, der reichlich seine dreihundert Romane schon im Leben gelesen hatte, war ordentlich weich bei der Lektüre geworden. Ich war sehr stolz auf meine Wahl: »undeutsch« war die Geschichte nicht; eine »Geschichtsrepetition« war's auch nicht – also!

Am 12. Juni gab ich den Roman in Druck. Am 26. Juni – »Jeremias« stand im Kalender – wollte ich eben zu Tische gehen, als mir folgendes Schreiben gründlich den Appetit benahm:

»Ich bitte eine früher hochgeschätzte Redaktion, mich aus der Liste Ihrer seinerzeit hochgeschätzten Zeitung umgehend streichen zu wollen. Diese notwendige Mitteilung möchte ich nicht abgehen lassen, ohne der Redaktion meinen tiefsten Abscheu ausgedrückt zu haben über die schmachvollen Sitten- und Seelenzustände, denen sie neuerdings zynisch das Wort zu reden für nötig befindet. Ich habe bisher noch immer meinen heranwachsenden Töchtern, Anna und Elise, die Lektüre Ihres Romanes gestatten können, ja wir haben uns zuweilen vor dem Zubettgehen gemeinsam daran erfreut. Was aber sollen meine Töchter, Anna und Elise, denken, wenn ihr leiblicher Vater sie zu einer Lektüre anhält, in der die schamlose Verworfenheit und schier undenkliche Sittenverrohung Orgien und Triumphe feiern. Im siebenten Kapitel Ihres Romanes wird in unzweideutiger Weise die Ehe gebrochen; es werden sündige Worte gesprochen und sündige Gefühle getauscht. Dies alles auch noch nach Sonnenuntergang und im Freien! Wenn ich meine Töchter, Anna und Elise, so erziehen wollte, könnte ich ihnen ja am Ende gar ›Die Wahlverwandtschaften‹ oder ähnliche Schmutzereien zu lesen erlauben. Das verhüte der Himmel! Meine Töchter, Anna und Elise, sollen dereinst in die Ehe treten, wie meine liebe selige Frau vor fünfundzwanzig Jahren in die Ehe mit mir trat; da sie mir am Hochzeitsabend sagte: ›Heinrich, wenn uns nun der Himmel ein Kindchen schenkt, woher wissen wir, daß es uns gehört?‹ Nein, mein Herr, ich hatte ein Stück Welt gesehen, bin zweimal in Königsberg gewesen und einmal sogar – allerdings nur für einen Tag zum Begräbnis eines Onkels – bis nach Boppard am Rhein gekommen; aber solche verwerfliche Gesinnung, wie sie aus der liederlichen Geschichte spricht, die Sie abzudrucken sich nicht entblöden, habe ich denn doch – wenigstens in Verwaltungskreisen – nirgends angetroffen. Nirgends, sag' ich Ihnen! Ich bitte also von heute ab die Zusendung Ihres Blattes einzustellen und mit seinem unsauberen Inhalt andere Familien zu vergiften.

Mit der Ihnen gebührenden Wertschätzung

K. K.

. . . Ich brauche kaum zu sagen. daß mir auch dieser Roman vom Tage Jeremiä an keine Freude mehr gemacht hat. Ich konnte mich nicht von dem Gedanken losmachen, daß die beiden lieben Mädchen Anna und Elise bereits durch die genossenen »Fortsetzungen« Schaden genommen hätten an ihrer Seele, und ich beschloß, tief zerknirscht, bei Auswahl des nächsten Romans vor allem auf Moral zu sehen. Freilich »undeutsch« und »historisch« durfte er ja auch nicht sein.

Nachdem ich unter diesen drei einschränkenden Gesichtspunkten beim Lampenschein oft bis gegen Morgen Romane geprüft und bereits vierundzwanzig dicke Bände seufzend gelesen und verworfen hatte, fand ich endlich das Gewünschte, fand ich das Sittenreine und Erfreuliche, das zweifellos auch Anna und Elise ohne ernstliche Gefährdung ihrer Tugend lesen konnten. Es war eine friedliche, segensreiche Geschichte, die nicht ohne Schwung die Freundschaft verherrlichte. In dem Roman kam nur ein weibliches Wesen vor, eine Tante des Helden, die im ersten Kapitel bereits ihren siebzigsten Geburtstag feierte. Ein erotisches Moment war also entschieden ausgeschlossen. Um ehrlich zu sein: ein jugendliches Dienstmädchen – reizlos, aber vom Lande – kam noch darin vor; die wurde auf Seite 341 von einem leichtfertigen Freunde des Helden – ich schäme mich's zu sagen – in die Wange gekniffen. Nach Übereinkunft mit dem Verfasser des Romans strich ich diese frivole Stelle; vielmehr, ich ersetzte die anstößige Gestalt durch einen alten Diener. Dadurch wurde die Zärtlichkeit auf Seite 341 überflüssig.

Am 2. September gab ich den neuen Roman in Druck. Ich hatte keine ruhige Stunde mehr. Ich war sicher, daß in absehbarer Zeit wieder so ein Brief kommen müßte von einem, der kein Mitleid hatte mit meiner rastlosen und gewissenhaften nächtlichen Geistesarbeit. Es dauerte lange diesmal, mehr als drei Wochen. Da endlich, am 26.  September – »Cyprianus« stand im Kalender – kam ein Brief, dem ich sofort nichts Gutes ansah.

Große, grobe, verärgerte Schriftzüge. Auf meinem Namen ein Klecks. Der Nachname verwischt und falsch geschrieben. Streusand auf den Buchstaben – Streusand hab' ich nie leiden können. Und dann unfrankiert. Aber ich nahm den Brief doch an, ich ahnte, daß er mir das Strafporto wert sein würde. Ich erbrach die Hülle und las:

»Donnerwetter! Ist es denn jetzt Vorschrift geworden, daß die Romanschreiber die Gehirnerweichung haben? In welchen Katakomben haben Sie denn diesen Schmöker abgehängt, den Sie jetzt nachdrucken? Das ist wohl ein Ladenhüter aus der Reisebibliothek der Heilsarmee? Dagegen ist ja der kleine Ploetz 1. Teil bis zu den unregelmäßigen Verben der reine Boccaccio! Menschenskind, schlafen denn Ihre Setzer nicht ein, wenn sie das Zeug setzen müssen? Und haben Ihre Korrektoren, die den Rührbrei zweimal kauen müssen, noch keinen Selbstmordversuch gemacht? Ne, hören Sie, da drucken Sie doch lieber gleich das schöne Kochbuch von Henriette Davidis, in einzelne Kapitel zerschnitten, oder die Standesbücher von Nieder-Selters ans dem Jahre 1722 oder die Vorschriften für Weichensteller auf bayrischen Staatsbahnen vom 5. Mai 1862! Mit dem, was Sie da 'nen Roman nennen, kann man ja achtzigjährige Invaliden aus dem Armenhaus vertreiben. Ne, mein Lieber, ich habe jedenfalls genug von der Chose und verspüre nicht die geringste Lust, weiterzulesen, bis etwa die gute siebzigjährige Tante ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hat. Gott erhalte die alte Dame gesund! Grüßen Sie sie von mir. Und wenn Sie einen finden, der Ihnen die Geschichte zu Ende liest, bitt' schön, schicken Sie mir umgehend seine Photographie. Ich stift' sie ins Panoptikum zu den Kuriositäten. Oder in die Schreckenskammer. Ergebenst . . .«

Als ich den Brief zu Ende gelesen, knickte ich zusammen und die Verse aus dem Buch Hiob (Kap. 30 V. 15 und 16) stürmten durch mein armes Hirn: »Schrecken hat sich gegen mich gekehret und hat verfolgt, wie der Wind, meine Herrlichkeit. Und wie eine Wolke zog vorüber mein glückseliger Stand. Nun aber geußt sich aus meine Seele über mich. Und mich hat ergriffen die elende Zeit . . .«

 

 

Genug für heute aus dieser Selbstbiographie eines pflichttreuen Mannes, der schließlich an seiner europäischen Kulturmission verzweifelnd über das große Wasser ging.

Mir aber, wenn ich sein Schicksal betrachte und überdenke, wie es beweglich aus diesen Blättern zu uns spricht, fällt eine Weisheit ein, die ich, wenn ich mich recht erinnere, einst in dem Schîfâ des Ibn-Sîna Avicénna, des Philosophen von Buchara gefunden, und die in freier deutscher Übersetzung etwa so lautete:

Und sprichst du Weisheit der Propheten,
Wie dich's gelehrt ein guter Geist,
Ein Narr wird dir entgegentreten
Und schreien: daß du närrisch seist.
Es hat Herrn Jedermanns Entzücken
Noch keinem Dauerruhm gebracht;
Und wenn dir alle Beifall nicken,
Dann frag' dich: – was du dumm gemacht.

Schade, daß ich des Entflohenen Adresse nicht weiß. Ich hätte ihm so gerne das Sprüchlein des Avicénna zum Troste nach Amerika gesandt.


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