Rudolf Presber
Der Untermensch und andere Satiren
Rudolf Presber

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Phantasien über einen Prospekt.

»Stör' ich dich?«

»Ach nein, ich wollte nur gerade . . .«

»Ach nein – ich wollte nur . . . !? Also zu deutsch: ich hätte zu keiner ungelegeneren Stunde kommen können.«

»Aber nein, so schlimm ist's wirklich nicht. Ich war nur gerade mal dabei, eine Anzahl Prospekte durchzusehen –«

»Prospekte? Von was?«

»Na, ich gondele nächstens los. Ferien müssen auch mal sein. Und da hab' ich mir 'ne Anzahl Prospekte kommen lassen, um mal auszuwählen, wohin ich am besten die Schritte lenke.«

»Und das willst du – gestattest du, daß ich mich doch einen Augenblick setze? Ja? Danke. Ich kann dir vielleicht von Nutzen sein – das willst du also aus all den gedruckten ›Prospekten‹ da ersehen?«

»Ja. Ich lese mir das alles mal durch, ziehe dann die Kreise immer enger und enger, behalte schließlich eine ganz kleine Anzahl übrig, aus der ich wieder den Platz wähle, der landschaftlich meinen Neigungen, und das Hotel, das in puncto Preise meinem Geldbeutel das angemessenste erscheint.«

»Hm. Na ja. Du müßtest eben kein Deutscher und kein Pedant sein (was unter Umständen ganz dasselbe ist), wenn du's anders machtest.«

»Du meinst, ich sollte mir lieber von Freunden raten lassen?«

»Nein, das meine ich ganz entschieden nicht. Herr Müller würde dir zu Rigi Kulm raten, weil er dort mal einen schönen Sonnenaufgang gesehen hat. Herr Schulze würde dir Ostende empfehlen, weil er dort bloß fünfhundert Frank verloren und die schöne Kitty vom Budapester Orpheum just in dem Moment kennen gelernt hat, als ihr vortrefflicher kleiner ›böhmischer‹ Baron von der Familie eingeheimst und zur Hebung seiner Intelligenz und seines Gesamtbefindens in eine Kaltwasserheilanstalt gebracht wurde. Und Tulpental würde dich nirgends anders hindirigieren, als nach Heringsdorf, weil es in der Familientradition der Tulpentale liegt, daß das Schicksal auf der Börse, die Kunst im ›Deutschen Theater‹ und die Gesundheit in Heringsdorf residiert. Wenn du dich an dem Platze, den dir ein anderer aussucht, wohl fühlen sollst, mußt du ihn erst bitten, aus seiner Haut zu fahren und sich daneben zu setzen.«

»Warum das?«

»Damit du in seine Haut fahren kannst, die sich an dem empfohlenen Platze so wohl gefühlt hat. Das ist die einzige Sicherheit. Kommst du in deiner eignen Haut, so hast du absolut gar keine Garantie, daß du empfinden wirst, wie Herr Müller, Herr Schulze oder Herr Tulpental.«

»Nicht so übel. Und aus diesem instinktiven Gefühl heraus habe ich auch keinen von den dreien gefragt. Auch sonst keinen. Ich habe mir einfach unter Kreuzband Prospekte kommen lassen und –«

»Und ziehst jetzt, wie Parzival ›durch Mitleid wissend der reine Tor‹ in die Welt. Darf ich mal so eins dieser köstlichen Reklameheftchen sehen?«

»Gewiß. Hier zum Beispiel Rosenberge, Hotel ›Zu den drei Kaisern.‹ Ich blätterte gerade darin. Es leuchtet mir sehr ein. Es scheint anmutig und nicht ohne Größe.«

»Wenn du erst dort bist, leuchtet's dir auch wieder hinaus. Rasch sogar. Ich kenn' es, dieses anmutige Rosenberge.‹

»Aber erlaub' mal, sieh dir doch das Bild auf dem Titelblatt an. Ein stattliches Hotel, eleganter Mittelbau, zwei Flügel. Der Wald ganz nahe, gleich dahinter die hohen Berge. Was mich noch ein bißchen abschreckt, ist der Verkehr vor dem Hotel. Vierspänner, Reiter, Radfahrer – Wenn man da nicht gerade ein Zimmer nach hinten zu bekommt, nach den Bergen zu, dann denk' ich mir's ein bißchen geräuschvoll.«

»Nun, was den Verkehr anbetrifft – darüber kann ich dich am Ende beruhigen. Das Bild entspricht nicht ganz der Wirklichkeit.«

»Aber das ist doch Photographie!«

»Behüte. Das ist nach einer Zeichnung, die vermutlich ein Verwandter des Wirts ›Zu den drei Kaisern‹ selbst gemacht hat. Denn ein Fernerstehender unterstünde sich kaum, so unverschämt zu lügen. Der Fahrweg vor dem Hotel ist in Wahrheit so schmal, daß die federlose Kutsche, die den Verkehr mit der nächsten, drei Stunden entfernten Bahnstation vermittelt, gerade allein mühsam darin rollen kann. Ein Vierspänner –? Grundgütiger! Illi robur et aes triplex circa pectus erat, der die Unverschämtheit hatte, einen Vierspänner dahin zu malen, wo außer friedlichen Kühen nur die obengenannte Kutsche, die zwei hartmäulige, vom Leben nichts mehr erwartende Fliegenschimmel ziehen, zu verkehren wagt.«

»Du bist jetzt lange nicht dort gewesen –«

»Zwei Jahre.«

»Nun siehst du! Vielleicht ist jetzt alles anders dort.«

»Ja, einiges ist anders. Ein Vetter von mir, der kürzlich, halbtot gefressen von den Mücken, fluchend wie ein Mameluck zurückkam aus diesem Paradies, hat mir's erzählt. Der Weg und ›Verkehr‹ ist derselbe geblieben. Der rechte Flügel des interessanten Hotels aber ist im letzten Winter durch Feuer zerstört worden. Dafür hat der linke Flügel – der linke Flügel – –«

»Nun? Der linke Flügel? Lach' doch nicht so albern!«

»Der linke Flügel hat nämlich nie existiert.«

»Nie – existiert –?«

»Nein. Er steht seit zehn Jahren auf dem Programm. Soll jedes Frühjahr in Angriff genommen werden. Aber es kommt nie dazu. Das Baumaterial ist so schwer zu beschaffen. Und dann – es liegt auch wirklich kein Bedürfnis vor. So viele Dumme finden sich nicht dort als Kurgäste ein.«

»Ich dächte doch, die Berge und der Wald – das sollte viele locken?«

»Berge – Wald? Ach so, diese edel geschwungenen Linien hinter dem Hotel?«

»Ja, sind die Berge etwa auch abgebrannt?«

»Das nicht. Sie sind da. Bloß die Entfernung hat der brave Zeichenknabe, der dieses herrliche Landschaftsbild aus dem Schatze seiner üppigen Phantasie gezaubert, nicht ganz richtig taxiert und wiedergegeben. Ein guter Fußgänger geht in drei bis vier Stunden vom Hotel bis zu diesen anmutigen Höhen, das heißt bis zum Fuße dieser Berge. Der Weg dorthin ist gänzlich schattenlos. Eine Strecke weit sind Pappeln gepflanzt, dann fallen auch diese kargen Schattenstreifchen fort. Wenn du also nach dem Frühstück weggehst, kannst du so zur Abendessenszeit wieder zurück sein. Die Gasthäuser, die du unterwegs triffst, haben eine sehr einfache Speisekarte: Speck – Eier – Eier und Speck – Speck und Eier. Wer's mag, wird's mögen. Die Sache hat nur das eine Gute, daß du das sogenannte Diner im Hotel versäumst.«

»Aber das ist doch gerade im Prospekt so rühmend hervorgehoben! Vier Gänge. Es schien mir fast zu viel.«

»Prospekt und immer Prospekt! Laß doch mal einen Schmierenkomödianten über sich selbst die Kritik schreiben! Da wirst du lesen, daß Matkowsky ihm nicht das Wasser reicht, und daß Kainz ihn nachweislich kopiert. Und erst einen Pianisten! Liszt ist ein Stümper, mit ihm verglichen; Rubinstein und Tausig waren Talentchen, aber der göttliche Funke, der ihn beseelt, fehlte gänzlich. Und solche Kritiken von sich selbst Entzückter über sich selbst – das sind die Hotelprospekte zur Reisezeit . . . Ein Diner von vier Gängen – hm, ja. Du kannst auch Rindfleisch und Salzkartoffeln und rote Rüben als drei Gänge auftragen. Eine Schüssel hübsch nach der anderen. Und wenn du die Heringe allein und auf frischen Tellern die Pellkartoffeln gibst, so hast du eben zwei ›Gänge‹ . . . Ja, siehst du, wie legst du seufzend deinen schönen Prospekt beiseite. Ich aber sage dir, wenn auch alles das wahr wäre, was er verheißt – das ist es nie und nimmer! – und wenn die Berge und die Vierspänner und das köstliche Diner da wären, ja für das Wichtigste gibt dir doch so ein Prospekt keinerlei Garantie.«

»Was nennst du das Wichtigste?«

»Kennst du das Wort aus dem ›Tell‹: Es kann der Beste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt . . . Der ›Nachbar,‹ siehst du, das ist das Schlimme! Weißt du, wenn du von Berlin aus auf vier Wochen in Rosenberge gemietet hast, wer neben dir bei Tische sitzen wird? Nein, das kannst du nicht wissen. Und, siehst du, erst an solcher Sommerfrischlertafel erfährt man die Wahrheit des Tellschen Spruches und lernt darauf schwören. Vor sechs Jahren war ich nervös, sehr herunter. Ich sollte so eine Art Mastkur in der Rhön durchmachen, in einem kleinen Kurhaus; miete gleich für sechs Wochen und sitze beim ersten Mittagessen neben einem Kaufmann aus dem Posenschen, der ein halb grün halb lilafarbenes Muttermal auf der linken Backe hat, gerade auf der, die er mir zukehrt. Das ist an sich nichts Böses und nichts Unappetitliches. Aber ich habe das in meinem ganzen Leben nicht sehen können, ohne sofort allen Appetit zu verlieren. Der tüchtige Mann war an demselben Tage gekommen und blieb – auch sechs Wochen. Als ich abreiste, magerer, als ich gekommen, und eben zwei Schinkenbrötchen für unterwegs kaufte – die ersten, auf die ich mich freute – steckte er den Kopf aus dem Nebencoupé und war hoch erfreut. An der nächsten Station stieg er um, in mein Coupé. Die Brötchen hab' ich dem Schaffner geschenkt . . . Aber das ist noch gar nichts. Wenn du erst, wie ich mal, neben einer alten Dame sitzst, die eben ihren Mann verloren und von nichts anderem spricht, als wie er an der Riviera sterbend im Sonnenschein gesessen, wie er selbst gar nicht an sein Leberleiden glaubte, sondern meinte, er spüre nur einen alten Bruch; wie er dann kurz vor seinem Tode sagte: ›Karoline, hier riecht's nach Ölsardinen. Das erinnert mich an unsere Verlobung. An jenem Abend gab's auch Ölsardinen . . .,‹ das war sein letztes Wort. Dann hat sie – nämlich Karoline, die alte Dame – ihren Getreuen in Eis über den Gotthard gebracht. In Chiasso und in Basel ist das Eis erneuert worden, in dem Eduard – er hieß Eduard – lag. Karoline hat selbst die Verpackung überwacht. Jetzt liegt er in Nieder-Zwehren bei Kassel, links vom Eingang, dritte Reihe, rechts das fünfte Grab. Ich bin nie dagewesen, aber ich finde es im Schlaf. So oft hat sie mir's erzählt. Und die Geschichte von dem Eis – jedesmal, sobald Eis auf den Tisch kam. Und dazu hat sie geweint, daß alle Leute von der Tafel zu uns hingesehen haben. Das kann ich schon in den Tod nicht ausstehen! Und ich bekam böse Blicke, als wäre ich der rohe Patron gewesen, der immer in diesem frischen Schmerz mit taktlosen Fragen stocherte. Ganz das Gegenteil! Ich lenkte immer ab. Aber sie kam von jedem Thema zu Eduard zurück. Sagte ich: ›Sehen Sie doch die schönen Nelken,‹ so seufzte sie: ›Eduard hat sie auch so geliebt.‹ Sagte ich: ›Ich habe heute mal ein paar Briefe nach Hause geschrieben,‹ so nickte sie wehmütig mit dem Kopf: ›Eduard schrieb stets nur auf die rechte Seite.‹ Sagte ich: ›Gestern abend war der Sirius wunderschön zu sehen,‹ so lächelte sie in seliger Erinnerung: ›Eduard hatte als Junggeselle einen Hund, der hatte auch einen griechischen Namen . . .‹ Ich sage dir, ich bin kein schlechter Kerl, aber wenn ich diesen Eduard hätte wecken und prügeln können, ich will für nichts einstehen! . . . Das ist aber alles noch nichts gegen den Weltreisenden, neben dem ich acht Tage lang in Grindelwald saß, bis ich ausriß. Der Kerl hatte die ganze Welt gesehen, aber er sprach nur von – dem Ungeziefer, das er überall gefunden. Ich sage: ›Sie waren auch in Jerusalem?‹ Und er: ›Sie machen sich keinen Begriff, was es dort für Wanzen in den Hotels gibt.‹ Ich lenke ab: ›Aber zuletzt waren Sie in Kalifornien? Das muß ja ein Paradies sein!‹ Und er: ›Das schon. Aber dort gibt's eine Zecke, blutdürstiger und gefährlicher als alle Zecken der Alten Welt. Diese Biester beißen, sag' ich Ihnen! Das ist ein Gefühl, wie von zehn Stecknadeln. Den Tieren saugen sie sich an die Augenlider fest. Die Menschen zwicken sie in die Beine . . .‹ Nach acht Tagen war meine Phantasie gefüllt mit Zecken, Wanzen, weißen Ameisen, Spinnen, Skorpionen und ähnlichem Getier. In Luzern hab' ich mich auf eine Hautkrankheit untersuchen lassen. ›Bloße Einbildung,‹ lachte der Arzt, ›Sie sind ganz gesund.‹ Es waren eben die Zecken des Weltbummlers, die mich zwickten . . . Nein, mein Lieber. Nicht nach Prospekten reisen! Die Prospekte machen die ältesten Oberförster erröten. Und dann: sie garantieren dir nie, wer dein Nachbar wird. Fluchtbereit sein ist alles.«


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