Henrik Pontoppidan
Der Teufel am Herd
Henrik Pontoppidan

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das große Gespenst

Man hat sich an einem schönen Sommerabend auf einem Spaziergang oben auf einem Hügelabhang zur Ruhe niedergelassen und hört von hier aus eine Kirche in der Ferne die Vesperglocke läuten. Die Stille in der Natur, die heimkehrenden Viehherden, die goldene Fata Morgana des Himmels und dieses eben hörbare Glockengeläut, das hin und wieder einmal ganz wegbleibt, ruft eine eigenartige Schwermut, ein schwärmerisches Einsamkeitsgefühl wach, in dem sich eine unbestimmte Empfindung von Schuld regt. Es will einem schließlich scheinen, als habe man sich wirklich etwas Ernsthaftes vorzuwerfen. Man fängt allen Ernstes an, sein Gewissen zu erforschen, irgendeiner verborgenen oder vergessenen oder übersehenen Schuld nachzuspüren. Alle kleinen Übertretungen des Tages, jedes unbedachte Wort, das einem entschlüpft ist, jedes kleine Versäumnis oder Unrecht schwillt hier in der Dämmerungs-Einsamkeit phantastisch an und macht das Herz beklommen und unruhig. Aber dann wird die Aufmerksamkeit durch eine Schwalbe abgelenkt, die vorüberfliegt. Die Gedanken kommen zur Ruhe, und man sitzt eine Weile da und ergötzt sich an den kühnen Achten, die der kleine Vogel während seines nervösen Fluges in der Luft beschreibt. Aber sobald er außer Sicht ist, versinkt man unwillkürlich wieder in die gedrückte Stimmung, und allerlei unheimliche Schuldempfindungen steigen aus der Tiefe der Seele auf.

Bis sich wieder etwas zeigt, was die Sinne weckt und das Nachdenken aus dem Alpdruck der Stimmung befreit. Diesmal ist es ein kleiner Hirtenbube, der irgendwo in der Nähe mit Zurufen eine Herde Kühe über die Felder hintreibt. Und abermals sitzt man da und lächelt vor sich hin – mit einem schwermütigen, einem bitteren Lächeln. Eine Unruhe, ein düsteres Ohnmachtsgefühl ist im Gemüt zurückgeblieben. Man ertappt sich dabei, daß man mit Neid den kleinen barfüßigen Jungen verfolgt, der da so sorglos einhergeht und mit seiner Peitsche knallt – und doch ist man vielleicht selber noch vor kaum einer halben Stunde, eine Melodie vor sich hinsummend, munter des Weges gegangen und hat die Blumen am Grabenrande mit dem Stock abgemäht.

Und die Sonnenröte da draußen erblaßt, und die Nacht kommt herangeschlichen. Einer nach dem andern tauchen die Sterne auf gleich himmlischen Spähern. Grau und öde liegt die Erde und dampft schwach in der Abendkälte. Man selber beginnt zu frieren, kann sich aber doch nicht überwinden, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Man ist in der Gewalt seiner Stimmung. Man steht unter dem Bann der Ohnmacht. Der Abendstern, der an dem grünbleichen Himmel zittert, scheint so vertraulich da oben von der Ewigkeit her zu winken. »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid!« scheint er zu trösten. »Hier oben ist Ruhe und Friede!«

Während die Dunkelheit steigt, sitzt man widerstandslos da mit einem Gefühl unheilbarer Melancholie und läßt sich von dem Tode beschwatzen.

Wer weiß? Vielleicht geht man wirklich nach Hause und erhängt sich.

– – Es liegt hier unter dem bleichen Himmel des Nordens ein Basilisk und lauert auf die schwachen Augenblicke unseres Nachdenkens. Just wenn wir in unseren glücklichsten Träumen sitzen, schleicht sich das Ungeheuer über uns und lähmt uns mit seinem giftigen Stachel. Zuerst spüren wir vielleicht nur ein kleines kaltes Erschauern in der Seele, eine augenblickliche Schwere in den Gedanken. Aber bald legt sich die Finsternis um uns, und ehe wir es wissen, werden wir in den Schattenarmen des Todes gewiegt.

 

In einer einsam gelegenen Häuslerstelle draußen an der Grenze des Kirchspiels wohnten der alte Sören Konsted und sein Weib.

Sören war ein gottesfürchtiger Mann, eine stille, nach innen gekehrte Natur; unter Fremden konnte er einen etwas verzagten Eindruck machen, dafür behauptete er aber zu Hause seine hausväterliche Autorität mit alttestamentarischer Strenge. Mariane, seine Frau, war eine einfältige Seele, unterdrückt und abgestumpft durch ein Leben in Sklaverei. Beide waren sie Geschöpfe von Zwergenart, zusammengesunken und mit großen Gesichtern, in denen von dem ein wenig leeren Frieden zu lesen stand, der über so alte Menschen kommt, wenn der Kampf ums Dasein ausgestritten ist und das Leben ihnen keine Schwierigkeiten mehr zu überwinden bietet.

An einem Samstagabend im September war Sören, seiner Gewohnheit gemäß, früh zur Ruhe gegangen. Er hatte schon ein paar Stunden auf dem inneren Platz in dem breiten Bett gelegen und, das Gesicht der Wand zugekehrt, geschlafen, als die Uhr zehn wurde und die Bornholmer Uhr in der Ecke mit einem rostigen Schnarren zum Schlagen ansetzte, wie ein alter Mensch, der sich räuspern muß, ehe er sprechen kann. Mariane ging zu dieser Zeit noch, halbentkleidet, umher und pusselte in der Stube und der anstoßenden kleinen Küche mit einem Lichtstumpf in einem Profit herum. Sie hatte ihn gerade auf den Eßtisch zwischen den Fenstern hingestellt und war damit beschäftigt, ihren großen, fast kahlen Hinterkopf mit einem Tuch zu umwickeln, dessen Enden sie mit ein paar Nadeln über dem Scheitel befestigte.

Dies nächtliche Pusseln war eine alte Gewohnheit von ihr, aus der Zeit, als die Kinder noch zu Hause waren und sie gewöhnlich die halbe Nacht aufsitzen mußte, um ihre Kleider auszubessern. Da war damals so viel, was geflickt und gestopft werden mußte, und Sören duldete keine Nachlässigkeit. Jetzt waren alle Kinder fort, waren ihrer Wege in die Welt hinausgezogen. Nur die jüngste Tochter, Grete, war im Kirchspiel geblieben und diente auf dem Pfarrhof. Von den andern war der eine Korporal in Randers, die zweite Meierin in Heining, der dritte arbeitete als Zimmergesell in Viborg, und auf allen diesen fremden und fernen Stätten bewegte sich die alte Frau in ihrer einfältigen Phantasie, wenn sie so umherging und in der Einsamkeit pusselte.

Endlich hatte sie sich für die Nacht zurecht gemacht, netzte ein paar Fingerspitzen und löschte das Licht aus. Bei dem blauweißen Schein des Mondes, der zwei leuchtende Fenstervierecke auf den dunklen Lehmfußboden zeichnete, setzte sie sich auf den Bettrand, zog die Strumpfschäfte halb über die adergeschwollenen Beine nieder, band ein altes, wollenes Tuch um den Magen und kroch in das Bett hinauf. Unter vielem Stöhnen gelang es ihr, die steifen Glieder unter dem Federbett zurecht zu legen, dann faltete sie die runzeligen Hände über der Brust und betete ihr Abendgebet:

»Nun sag ich dir Dank, lieber Gott, für Gesundheit und Wohlfahrt. Befrei uns von Sünden und bewahr uns vor Versuchungen, Amen! Regier du mein Herz und befrei meine Hände von dem Bösen. Um deines lieben Sohnes Jesu Christi willen. Amen! Dasselbe sag ich für dich. Per: für dich, Sophie: für dich, Hans Jörgen und für dich, kleine Grete. Gott im Himmel, nimm uns all' in deinen gnädigen Schutz.«

Mitten während dieser halblaut gemurmelten Anrufung war ein dunkler Körper vom Fußende des Bettes auf die Erde gesprungen. Es war die Katze, die oben auf dem Federbett gelegen und sich gewärmt hatte und nun das Bedürfnis empfand, sich zu strecken. Mit gekrümmtem Rücken und erhobenem Schwanz stand sie da unten in dem einen Lichtviereck und sprühte Funken aus ihren grünen Augen, wie eine dämonische Offenbarung. Schließlich fing sie an zu miauen.

Mariane beschwichtigte sie – Sören hatte im Schlafe ein ungeduldiges Grunzen von sich gegeben. Aber die Katze hungerte nach Mäusen. Der Mondschein da draußen lockte und erregte ihren Bluthunger. Sie setzte sich neben die Tür und blieb dort sitzen, den Schwanz standhaft um die Pfoten gekringelt, und jammerte kläglich.

Da half kein Drohen. Mariane mußte aus dem Bett heraus und sie hinauslassen.

Während alles dessen war wieder eine Stunde vergangen. Die Bornholmer Uhr in der Ecke fing wieder an zu stöhnen wie ein alter Mann und hustete elf müde Schläge heraus. Draußen war es ganz still. Die Landstraße lag weit ab, und es rührte sich kein Wind.

Mariane hatte sich wieder unter dem Federbett zurechtgelegt, und jetzt, wo sie ärgerlich geworden war und ihre Gedanken sich mit der Katze beschäftigen konnten, fand sie bald Ruhe. Ihren eingebündelten Kopf sicher gegen den Rücken des Mannes gelehnt, als wenn er dort seinen natürlichen Ruheplatz hätte, schlief sie bald darauf ein zu ihren grauen und armseligen Träumen.

 

Zur selben Zeit ging ein junges Liebespaar engverschlungen den Feldweg an einem mit Buschwerk bestandenen Graben entlang: ein hübscher, gut gewachsener Bursche mit einem Rest von Haltung aus der Soldatenzeit her und ein redseliges kleines Mädchen, das auf eine eigene, tapfere Weise ihre Beine unnatürlich lang machte, um Schritt mit ihm halten zu können.

Es waren Grete, Sören Konsteds jüngstes Kind, das auf dem Pfarrhof diente, und ein Knecht dort aus dem Dorf – Niels Haid hieß er.

Grete hatte ihr Kopftuch abgenommen. Sie schwenkte es während des Gehens in der Hand und guckte ihrem Bräutigam verliebt in das Gesicht hinauf, wobei sie ununterbrochen schwatzte und lachte. Sie hatten sich ganz kürzlich verlobt, und aus gewissen Gründen mußten sie ihre Verbindung vorläufig noch geheim halten, und jetzt hatten sie sich drei Tage nicht gesehen, daher war da ja so viel zu erzählen und so viel aufgesparte Zärtlichkeit, die Luft haben mußte.

Zu beiden Seiten erstreckten sich große Stoppelfelder, über denen das weiße Mondlicht wie ein Reif lag. Auf dem Wege, wo sie gingen, herrschte dahingegen Schatten von den Dornbüschen am Grabenrande; hier konnten sie gehen, ohne gesehen zu werden, falls draußen auf der Landstraße jemand kommen sollte. Im Notfalle konnten sie sich auch in den Büschen verstecken. Und es galt, vorsichtig zu sein. Sie wußten, wie strenge die Pfarrersleute das nächtliche Schwärmen verurteilten.

Niels Haid war einer der schönsten Burschen im Kirchspiel, und Grete hatte ihn lange im geheimen geliebt. Sie war krank vor Kummer geworden, wenn sie von ihm hörte, daß er bald mit dem einen, bald mit dem andern von den Mädchen, die sich nicht schämten, sich anzubieten, gut Freund geworden sei. Obwohl sie wußte, daß es eine Vermessenheit war, und sie selber auch nicht geglaubt hatte, daß es etwas nützen könne, hatte sie es in ihrer Herzensnot nicht lassen können, den lieben Gott zu bitten, daß er ihr seinen Sinn zuwenden möge. Als dann Niels vom Dienen nach Hause kam, war das Unglaubliche geschehen. Ganz von selber waren seine munteren Augen an den andern vorüber und zu ihr hin geglitten. Eines Tages, als sie sich vor der Tür des Kaufmanns begegneten, hatte er ihr seine Meinung gesagt.

Niels erklärte die Sache so, daß er nun vernünftig geworden sei und nicht mehr nach dem Äußern gehe. Die schönsten Mädchen würden in der Regel die schlechtesten Frauen – sagte er ganz offenherzig; und Grete war gar nicht böse geworden. Sie hatte ihr Leben lang soviel über ihr fuchsrotes Haar und ihre Sommersprossen hören müssen, daß sie nahe daran war, sich für ein reines Ungeheuer zu halten. Ihr einziger Vorzug, das wußte sie, war, daß sie ein ordentliches Mädchen war und ein Mensch, der arbeiten konnte.

Eine Schönheit war sie nun auch wirklich nicht, und ein wenig stiefmütterlich hatten die Natur und das Schicksal sie im ganzen behandelt. Sie hatte den einfältigen und demütigen Sinn der Mutter geerbt und hatte bisher mehr von der Trübsal des Lebens als von seiner Freude kennen gelernt. Daher vermochte sie auch noch nicht, ihrem Glück und ihrer Dankbarkeit einen ganz natürlichen Ausdruck zu verleihen, sondern war leicht ein wenig ausgelassen und albern in ihrem Benehmen Niels gegenüber.

Daß sie ihre Verlobung nicht gleich veröffentlicht hatten, war eine Folge ihres ausdrücklichen Wunsches. Sie war vorläufig viel zu glücklich, um an den Triumph des Neides zu denken, der ihrer unter den anderen Mädchen der Gegend harrte, auf der anderen Seite aber hatte sie der Gedanke beunruhigt, was ihre Eltern und namentlich, was die Pfarrersleute wohl dazu sagen würden. Niels erfreute sich ja nicht des besten Rufes von früher her. Sie hatte es deswegen für das Richtigste gehalten, daß er sich erst einige Male bei den Mittwochs-Zusammenkünften im Pfarrhause blicken lassen sollte, damit man sehen könne, daß es ihm ernst sei mit seiner Besserung. Übrigens hatten sie gerade heute abend beschlossen, daß sie jetzt Ringe kaufen wollten.

Plötzlich zuckte sie zusammen und blieb stehen. Es war ihr, als hätte sie Schritte ganz in der Nähe gehört.

»Es kommt jemand«, sagte sie und duckte sich.

Niels sah sich um.

»Da ist niemand.«

»Herrjemine, was wurd' ich bange«, sagte sie.

Sie gingen nun weiter, aber Grete war nachdenklich geworden.

»Es ist sonderbar . . . denn ich hab' ganz deutlich ein Paar Holzschuhe gehört«, sagte sie nach einem längeren Schweigen. Und ein wenig später, als Niels schon eine ganze Weile von anderen Dingen geredet hatte, fügte sie hinzu: »Hast du gehört, was die Leute sagen, daß Jesper spukt?«

»Wer sagt das?«

»Hans Madsens Trine. Sie soll ihn Sonnabend nacht in seinem Leichenhemd quer über Per Ousen seine Koppel haben gehen sehen.«

»Ach was, Unsinn! Du glaubst doch nich' so was?«

»Nein, nein – das weiß ich ja doch.«

»Siehst du, das is man bloß, weil Jesper ein so unglückliches Ende genommen hat. Denn müssen die alten Weiber immer gleich Geschichten machen.«

Der, von dem sie sprachen, war der Schmied des Dorfes, der kürzlich gestorben war, und über den sich vorher allerlei Gerede in der Gegend verbreitet hatte. Er war mit einer liederlichen und versoffenen Person verheiratet gewesen, und da er selbst ein ordentlicher und strebsamer Mann war, so hatten sie in beständigem Unfrieden gelebt. Dann war die Frau gestorben, und von dem Tage an war er schwermütig geworden und hatte schließlich selbst zu trinken angefangen. Die Leute meinten, er habe Gewissensbisse gehabt, weil er seine Frau zuweilen reichlich hart angefahren und ihr wohl auch hin und wieder eine Ohrfeige verabreicht habe. Eines Morgens fanden sie dann die Schmiede geschlossen. Er hatte sich drüben im Holzschuppen erhängt.

Ein paar Stunden waren sie nun hier im Schatten am Grabenrande entlang auf und nieder gegangen. Wohl zum zwanzigsten Mal erreichten sie das Ende des Weges, dort wo er in die Landstraße mündete; aber jetzt blieb Grete stehen. Der Mond stand schon am westlichen Himmel, sie wagte nicht, länger draußen zu bleiben. Hier mußten sie sich trennen.

»Nu muß ich nach Hause, Niels«, sagte sie verzagt.

»Hat es solche Hast?« fragte er.

»Ja, ich muß nu gehen.«

»Na ja, – wenn es denn sein muß.«

Aber es war schwer, von ihm zu lassen. Sie hatte beide Arme um seinen Hals geschlungen, und er preßte sie fest an sich.

»Ach, süßer Niels«, sagte sie.

»Du sollst es bald gut bei mir haben.«

Endlich gelang es ihnen denn, sich das letzte Gute Nacht zu sagen. Niels blieb auf dem Wege stehen, während Grete über die Landstraße dahin eilte und weiter an dem Graben entlang, drüben auf der andern Seite, um auf einem Umwege ungesehen nach dem Pfarrhof zurückzugelangen. Ein einziges Mal wagte sie sich auf das Feld in das Mondlicht hinaus, um ihm mit ihrem Kopftuch zuzuwinken, und Niels schwenkte als Antwort seinen Holzschuh, den er gerade ausgezogen hatte, um etwas Erde herauszuschütteln.

Erst als sie ganz verschwunden war, kam er auf die Landstraße hinaus und ging nun nach Hause, nach dem Hof, wo er diente. Grete hörte seine festen Soldatenschritte sich auf dem harten Wege entfernen. Sie war stehen geblieben, um sie bis zuletzt verfolgen zu können, und das Herz im Leibe sang ihr vor Dankbarkeit und Freude.

Aber das Unglück war in dieser Nacht auf den Beinen.

 

Der Pfarrhof lag in einer Talsenkung am linken Ende des Dorfes. Es war eine von diesen alten herrenhofartigen Amtswohnungen, die jetzt im Begriff sind zu verschwinden, ein Wirtschaftshof mit weitläufigen Stallungen und Scheunen, mit Schafhürden und Schweinekoben, mit Schuppen und Wagenremise, das Ganze umsäumt von einem Park von mehreren Tonnen Landes.

Es gehörte noch immer ein gutes Stück Ackerland zu der Pfarre, aber der jetzige Inhaber hatte die Wirtschaft an zwei von den Bauern im Dorfe verpachtet. Die großen Wirtschaftsgebäude standen entweder ganz leer oder wurden von den Pächtern als Speicher benutzt. Der Pfarrer und seine Frau waren ein altes Ehepaar, alle Kinder waren von Hause, so waren denn keine andern Dienstboten auf dem Hofe als Grete und ein alter Mann, der den Garten besorgte, Holz hackte und dergleichen mehr.

Gretes Kammer lag für sich hinter der Küche. Das Fenster ging nach dem Küchengarten oder »Kohlgarten«, wie er genannt wurde, und auf diesem Wege war sie in letzter Zeit häufig am Abend hinausgeschlichen, um ihren Bräutigam zu treffen. Sie hatte schwere Anfechtungen aus dem Grunde gehabt. Sie hielt große Stücke auf die Pfarrersleute, von denen sie nur Gutes erfahren hatte, und immer hatte sie sich auch selbst gelobt, daß es das letztemal sein sollte. Jetzt fürchtete sie obendrein, daß die Pfarrersfrau angefangen habe, Unrat zu ahnen. Neulich, als sie vergessen hatte, Salz an die Grütze zu tun, hatte ihre Herrin gesagt: »Ich glaube, du hast Heiratsgedanken, Grete.« Die Worte hatten sie so erschreckt, daß ihr schwarz vor den Augen geworden war.

An diesem Abend war sie seit halb zehn Uhr von Hause fort gewesen. Zu der Zeit war sie, mit einem Licht in der Hand, in ihre Kammer gekommen, und da hatte sie Niels' leises, flötendes Gezwitscher da draußen vom Gartenzaun her gehört – das verabredete Signal, auf das sie ängstlich und doch mit einer saugenden Sehnsucht jeden Abend wartete.

Sie war gerade mit ihrer Abendarbeit fertig geworden und war auch drinnen im Zimmer gewesen und hatte Gute Nacht gesagt – es war ihr daher ganz unmöglich, der Versuchung zu widerstehen. Zum Zeichen, daß sie ihn gehört hatte und kommen wolle, löschte sie schnell das Licht aus; und wenige Minuten später kroch sie durch das Fenster. Damit niemand sie zusammen sehen sollte, suchten sie jeder seinen Weg nach der Feldgrenze hinaus, wo sie ihr Stelldichein hatten, und hier vergaß sie allmählich ihre Anfechtungen, und zwar so gänzlich, daß sie von den Pfarrersleuten und dem Pfarrhof schwatzen konnte, ohne daß deswegen auch nur eine Wolke ihren Glückshimmel verdunkelt hätte.

Aber jetzt, wo sie allein war, gewann das Gewissen wieder Macht über sie. Im selben Augenblick, als das letzte Geräusch von Niels' Schritten auf der Landstraße verhallte, wurden ihr die Beine so schwer. Sie ging langsam über einen Brachacker, der an den Pfarrgarten stieß und sich an dem Zaun entlang schlängelte an der Seite, die am entferntesten von dem Schlafzimmer der Pfarrersleute lag.

Als sie die langen, mondweißen Mauern zwischen den Bäumen hindurchschimmern sah, stand sie still, um zu lauschen. Aber da drinnen war alles ruhig, alle Lichter waren ausgelöscht. Man hörte keinen anderen Laut als ein leises Klappern der Schnur an der Flaggenstange auf dem Blumenrasen vor der Gartenstube.

Sobald sie wieder Luft schöpfen konnte, kroch sie über den Zaun. Ja, sie wurde so kühn, daß sie auf Socken ganz in den Garten hineinschlich an eine Stelle, wo ein Baum mit Sommeräpfeln stand. Lange stand sie und betrachtete die großen, gelben Früchte. Eigentlich durfte sie sie gar nicht anrühren. Trotzdem suchte sie den größten und reifsten aus, den sie erreichen konnte, und steckte ihn in ihre Tasche. Der war für Niels. Für sich selbst nahm sie einen von denen, die im Grase lagen. Sie merkte jetzt, daß sie hungrig geworden war, und sie fing gleich an zu essen.

Im Schutz der Mondschatten, die sich auf den Rasenflächen rundeten, ging sie langsam denselben Weg zurück, den sie gekommen war, schlich durch den Küchengarten und ging an ihr Fenster, das sie angelehnt hatte stehen lassen.

Ein Ruck durchfuhr sie. Sie war kurz davor, einen lauten Angstschrei auszustoßen. Das Fenster war geschlossen und der Haken von innen befestigt.

Die Angst befiel sie wie ein Krampf. Sie stand einen Augenblick ganz starr, die Ellenbogen gegen den Körper gepreßt, und starrte mit runden Augen vor sich hin. Und doch hatte sie längst vorausgesehen, daß es so kommen würde.

Sie war im Grunde gar nicht überrascht. Sie hatte sich nur nie so recht die Folgen einer Entdeckung klargemacht, weil sie in der letzten Zeit überhaupt eine Scheu gehabt hatte, alle ihre Gedanken ganz zu Ende zu denken.

Als sie nach Verlauf von ein paar Minuten wieder zu sich kam, ging sie mit schleichenden Schritten weiter – erst an dem geschlossenen Hoftor vorüber und dann an dem Stallgebäude entlang. Ihr war eingefallen, daß ihre Herrschaft vielleicht obendrein noch aufsaß und auf ihre Heimkehr wartete. Und das traf zu. Von einer zwischen den Wirtschaftsgebäuden gelegenen Pforte aus, von der sie den Hofplatz übersehen konnte, sah sie, daß noch Licht im Wohnzimmer war.

Sie hatte sich in ihrer Angst an eine unsinnige Hoffnung angeklammert, vielleicht hatte der alte Jens Madsen – der Knecht –, der ausgewesen war und bei der Heimkehr zufällig das offene Fenster sah, ihr nur einen Streich spielen wollen. Aber die zwei Fenster, die ihr mit einem blutroten Schein von den Gardinen entgegenleuchteten, gaben ihr Gewißheit. Der Pfarrer wie auch seine Frau gingen sonst regelmäßig Schlag zehn zu Bett. Und die Uhr mußte über zwölf sein.

In ihrer Verzweiflung floh sie auf das Feld hinaus und fing an, in einem Kreis rund herum zu gehen, bis sie laut stöhnte. Ach Gott! Was sollte sie tun? Was sollte sie nur einmal tun? – Zu Niels konnte sie nicht gehen und ihn um Rat fragen, da er die Kammer mit einem anderen Knecht teilte. Und nach Hause zu den Eltern wagte sie erst recht nicht zu kommen. Was würde der Vater sagen?

Sie sah ihn vor sich, so wie er sie empfangen hatte, als sie vor einem Jahr von der Pfarrersfrau gedungen war. Auf seine sonderbare Weise hatte er ihr die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Gott hat dir eine große Wohltat erwiesen, Grete. Mache dich dessen nun auch verdient!« Sie entsann sich, daß diese Worte sie ein wenig gekränkt hatten. Sie fand, sie hatte keine Ermahnung nötig gehabt. Aber sie hatte einen zu guten Glauben von sich selbst gehabt, und das strafte sich. Nun war das Unglück da.

Aber wie hatte sie sich auch nur so schändlich vergehen können. Sie begriff es gar nicht mehr. Die Pfarrersleute waren doch immer so über alle Maßen gut gegen sie gewesen. Noch neulich hatten sie ihr ohne jegliche Veranlassung eigengemachtes Zeug zu einem Kleid geschenkt. Nie hatte sie ein böses Wort von ihnen gehört. So zum Beispiel neulich, als sie das Unglück gehabt hatte, den Henkel von der Mundtasse des Pfarrers abzuschlagen. Die Pfarrerin war ja freilich sehr böse geworden und hatte gehörig gescholten, aber der Pfarrer selbst hatte auch nicht ein böses Wort gesagt, hatte sie nur so tief betrübt angesehen mit seinen herzensguten Augen. Konnte man sich wohl bessere Menschen denken? – Und so hatte sie ihnen nun alle ihre Wohltaten gelohnt!

Sie hatte sich in ihrer Verwirrung immer weiter vom Pfarrhof entfernt. Ohne es zu wissen, hielt sie noch immer den halb verzehrten Apfel in der Hand. Als sie ihn entdeckte, warf sie ihn schluchzend von sich. Eine Diebin war sie auch!

Sie setzte sich schließlich auf einen Erdwall nieder und hielt sich die Schürze vor die Augen. Sie kam sich wie der schuldbeladenste Mensch in der Welt vor.

Was sollte sie nun machen? Nach dem Pfarrhof zurückkehren wollte sie nicht. Was konnte das auch nützen? Sie würden sie natürlich auf der Stelle fortjagen. Wie oft hatte sie die Pfarrersfrau nicht sagen hören, wenn von einem Mädchen die Rede war, das des Nachts auslief, so eine Person würde sie auch nicht einen Augenblick in ihrem Hause dulden. Mit Schande würde sie aus ihrer Stellung weggejagt werden. Schon morgen würden die Leute herumgehen und über sie reden. Die Frauen im Dorfe würden ordentlich zu reden haben, würden sich allerlei Gewerbe beieinander machen, um etwas zu erfahren. Oline und die lange Jörgine und die andern Mädchen, die sie um ihren Dienst beneidet hatten, die konnten jetzt lachen. Sie konnte sie deutlich sehen, wie sie vor den Haustüren standen und die Köpfe zusammensteckten und so recht aus Herzensgrund lachten.

Aber das alles konnte noch angehen. Weit schlimmer war es mit ihren Eltern und Geschwistern. Wenn sie an die dachte, ward ihr Inneres zu einer einzigen Wunde. Sie war namentlich bange vor dem Vater, der so ehrliebend war, und der so stolz auf seine Kinder gewesen war, um des Erfolges willen, den sie alle gehabt hatten. Nun war es aus mit dem Staat!

Und am allerschlimmsten war es fast, daß morgen gerade Sonntag sein mußte. Wenn der Pfarrer aus der Filialkirche heimkehrte, pflegte er ihr immer einen Gruß von den Eltern zu bringen, die dort den Gottesdienst besuchten. Wie würde dieser Gruß diesmal lauten? . . . Sie konnte sich deutlich vorstellen, was an diesem Vormittag geschehen würde, wenn der letzte Gesang gesungen war und der Pfarrer sich – seiner Gewohnheit gemäß – draußen in der Vorhalle aufstellte, um allen Kirchenbesuchern die Hand zu reichen, wenn sie fortgingen. Zu allerletzt würden auch ihre Eltern kommen, der Vater mit dem großen Gesangbuch unterm Arm und hinter ihm die Mutter in ihrem grünen eigengemachten Kleide und dem Fransenschal. Und der Pfarrer sieht sie betrübt an und sagt: »Liebe Freunde! Es tut mir herzlich leid, euch sagen zu müssen, daß eure Tochter des Vertrauens nicht würdig gewesen ist, das wir ihr erzeigt haben. Wir können sie daher nicht länger in unserm Haus behalten.« – Auch die Gesichter der Eltern sieht sie deutlich. Der Vater hat seine dicken Brauen in die Höhe gezogen; um seinen Mund bebt es, und er sagt nicht ein einziges Wort. Und hinter ihm steht die Mutter gesenkten Hauptes, niedergedrückt von Kummer und Scham. – –

Sie sprang auf und ging laut weinend noch weiter fort. Aufs Geratewohl lief sie über die Felder hin. Sie wünschte, daß sie tot wäre. Nie wieder konnte sie eine glückliche Stunde haben. Und was würde Niels sagen? Auch über ihn würde es hergehen. Und dann würde er sie vielleicht verstoßen, und er war ja in seinem guten Recht dazu. Denn sie hatte ja noch weit gräßlichere Sünden auf ihrem Gewissen. – –

Sie war plötzlich wieder stehen geblieben, von einer noch schrecklicheren Angst gepackt. Es war ihr eingefallen, wie sie Niels heimlich an sich gelockt hatte, indem sie zu Gott um seine Liebe flehte. Aber war es nicht so, daß, wer sich mit einer vermessenen Bitte an Gott wandte, sich dem Teufel verschrieb? Ja! Sie wußte, daß sie einmal davon gehört oder gelesen hatte.

Und nun war die Strafe gekommen! Nun bekam der Teufel seinen Lohn!

Mehrere Stunden trieb sich das arme Mädchen auf den Feldern umher und wagte nicht heimzukehren. Zweimal war sie sogar in der Nähe des Pfarrhofes, um zu sehen, ob noch Licht im Wohnzimmer war. Das erstemal floh sie sofort beim Anblick der beiden roterleuchteten Fenster, und zwar, obwohl es ihr in Wirklichkeit ein kleiner Trost und eine Beruhigung war zu wissen, daß man sie noch erwartete. Das zweitemal – eine Stunde später – war es überall dunkel und da war es ihr, als sei sie damit für immer aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen. Diese lange Reihe dunkler Fenster, dieser große, schweigende, mondweiße Hofplatz wirkten auf sie wie ein Gottesurteil.

Sie stand einen Augenblick da und starrte um sich. Ohne es selbst zu wissen, nahm sie Abschied von dem allen. Dann ging sie still von dannen.

Sie ging weiter und weiter, bis sie vor Ermattung auf einem umgekippten Pflug irgendwo draußen auf einem entlegenen Felde niedersank. Der Mond war im Begriff unterzugehen. Blutrot und aufgedunsen hing er über dem dampfenden öden Moor draußen im Westen. Die Finsternis würde bald kommen. Der Himmel war schon voll von Sternen.

Müde und schwerfällig, halb träumend saß sie da, den Kopf zwischen den Händen, und starrte auf das flache Land hinaus. Da draußen im Nebel wohnten ihre Eltern.

Sie konnte gerade den dunklen Dachfirst von dem Heim ihrer Kindheit über dem Dampf entdecken. Auch die alte Pappelweide konnte sie sehen, und sie mußte daran denken, daß dahinter das Loch mit dem schwarzen Moorwasser lag, vor dem sie als Kind so bange gewesen war. Erst jetzt verstand sie diese sonderbare Angst. Sie war eine Vorahnung davon gewesen, wie es ihr ergehen würde.

Ganz still saß sie da und beschloß zu sterben. Was blieb ihr auch wohl weiter übrig? Von Gott und Menschen verstoßen, konnte sie nicht leben. – Aber auch um der Eltern und der Geschwister willen würde es am besten sein, wenn sie sich aus der Welt schaffte. Dann würden die Leute nicht häßlich gegen sie sein und sich nicht über die Schande freuen, die ihnen widerfahren war, sondern sie würden ihnen Teilnahme erweisen und tröstende Worte sagen. Und Niels, der würde sie wohl bald vergessen. Er hatte einen so leichten Sinn, und da waren ja mehr als genug, die ihn haben wollten. Welches Glück würde ihnen auch wohl beschieden sein? Es hätte ja nie etwas anderes als Unglück aus einer so sündigen Liebe kommen können.

Wenn sie nur nicht diese Angst vor dem Wasser gehabt hätte! Aber das Ganze würde ja nur die Sache eines Augenblicks sein. Sie hatte gehört, man brauche nur langsam bis 35 zu zählen. Dann stieg das Blut einem vor die Augen, und dann war es vorbei. Denn es gab keine Hölle – das hatte der Pfarrer selbst gesagt. Es war nur ein ewiges Auslöschen für die Verdammten. Und gerade das war es, was sie sich jetzt einzig und allein wünschte.

Sie hatte die Augen nicht von dem dunkeln Dachfirst da draußen im Moornebel gewandt. Aber der Blick war halbwegs erloschen. Sie fühlte sich schon wie jemand, der dieser Welt nicht mehr angehört. Die Ewigkeit hatte für sie schon begonnen. Sogar rein körperlich hatte sie ein Gefühl, nicht mehr zu existieren.

Aber indem sie nun suchte, sich zum letzten Abschied von dem Heim und von den Eltern zu sammeln, kam sie nach und nach wieder zu sich. Unzählige halbvergessene Dinge aus den glücklichen Tagen der Kindheit wurden in diesen Augenblicken wieder so eigentümlich lebendig in ihr und gaben sie dem Leben zurück. Sie sah sich selbst als kleines Kind auf der steinernen Türschwelle sitzen und mit ihren vielen Schneckenhäusern spielen. Sie dachte an ihren ersten Schultag, auf den sie sich so sehr gefreut hatte, der aber zu einer so großen Enttäuschung für sie geworden war, weil die großen Jungen sie ihres roten Haares wegen »Fuchs« genannt und sie gefragt hatten, ob sie nicht bange sei, daß es aufbrennen könne. Sie erinnerte sich, daß sie weinend nach Hause gekommen war; aber die Mutter hatte sie mit einem Süßmilchkuchen getröstet. – Dann dachte sie an damals, als sie fieberkrank daniederlag, und alle Menschen glaubten, daß sie sterben müsse. Aber der Vater hatten jeden Abend an ihrem Bett gebetet, so daß sie sich erholte.

So wechselte ein Bild nach dem andern vor ihren Augen. Die Erinnerungen schlugen eine Engelswacht um ihre wildschweifenden Gedanken. Und plötzlich legte sie den Kopf in ihre Hände nieder und fing wieder an zu weinen. Sie wollte doch so ungern sterben.

Da zuckte sie heftig zusammen. Es war ihr, als habe sie Schritte hinter sich gehört. Sie erhob den Kopf, wagte aber nicht, sich umzusehen. Es waren dieselben gespensterhaften Holzschuhschritte, die sie schon einmal in dieser Nacht vernommen zu haben glaubte. »Der Schmied«, stöhnte es in ihr.

Sie sprang auf und lief fort.

 

Draußen in der kleinen Häuslerstube der Eltern hatten die leuchtenden Fensterabzeichnungen des Mondes sich vom Fußboden an die Wand hinauf begeben und von dort weiter hin bis nach den Fenstern selbst. Der allerletzte, matte Schimmer erstarb gerade oben auf dem Fensterbrett. Hinten im Bett schliefen die beiden Alten mit Keuchen und Schnauben.

Gegen drei Uhr erwachte Mariane; es war ihr, als hätte sie jemand wimmern hören. Sie legte sich auf den Rücken herum und lag so eine Weile und lauschte. Als sie dann aber eine Schmeißfliege an dem einen Fenster summen hörte, meinte sie, daß es dieser Laut sei, den sie im Traum vernommen und für Weinen gehalten habe. So wandte sie sich denn um und schlief weiter.

Eine Einbildung war es nun aber dennoch nicht gewesen. Draußen auf der steinernen Schwelle vor dem Hause saß eine vor Kälte zitternde Gestalt und kroch ganz zusammen. Es war Grete, die hier Zuflucht vor den Halluzinationen der Todesangst gesucht hatte. Sie saß, die Schürze gegen den Mund gedrückt, da; aber nicht immer gab sie sich Mühe, den Laut ihres trockenen jammernden Weinens zu unterdrücken. Ein paarmal ließ sie sich sogar hinreißen, nach der Mutter zu rufen – ganz leise freilich, nur mit einem Flüstern nach der Mauer hin, und doch mit einer winzigen Hoffnung, gehört zu werden, gleichzeitig aber auf dem Sprunge, bei dem geringsten Laut von da drinnen zu entfliehen.

Vom Hausgiebel her kam die Katze geschlichen. Sie bemerkte sie nicht, bis sie sich mit schmeichlerischer Vertraulichkeit an ihren Beinen scheuerte. Anfangs starrte sie sie mit verwirrtem Schrecken an und wagte nicht, sie anzurühren. Sie wußte nicht gleich, ob es nicht am Ende wieder eine böse Geistererscheinung war. Aber als die Katze zu spinnen anfing, nahm sie sie in ihren Schoß und preßte die Wange gegen ihren warmen Körper, ja in ihrem Bedürfnis nach dem Mitwissen eines lebenden Wesens fing sie an, mit ihr zu plaudern, wie mit einem kleinen Kinde, flüsterte ihr zu, daß sie die Eltern und Geschwister bitten müsse, nicht böse auf sie zu sein, sagte, daß sie sie alle zusammen grüßen und ihnen erzählen solle, daß sie so unglücklich gewesen sei.

Plötzlich schleuderte sie das Tier von sich. Sie hatte den Vater da drinnen husten hören – und im selben Augenblick entfernte sie sich in wilder Flucht vom Hause.

Schon bei dem zweiten Hahnenkrähen, noch ehe es hell geworden war, ward Mariane von Unruhe ergriffen, sie stand auf, um ihr langes Tagewerk in Angriff zu nehmen. Sören dahingegen blieb liegen, weil es Sonntag war. Er befolgte überhaupt genau das Gebot der Pflicht, den Feiertag heilig zu halten, und ließ sich in letzter Zeit sogar den Morgenkaffee ans Bett bringen.

Erst um 7 Uhr stand er auf. Nachdem er sich rasiert und das Haar gekämmt hatte, zog er seine Feiertagskleider an, um zur Kirche zu gehen. Schlag 9 Uhr machte er sich, das große Gesangbuch unterm Arm, auf den Weg.

Mariane konnte ihn diesmal nicht begleiten, weil sie einen Schinkenknochen auf dem Feuer hatte. Sie war außerdem jetzt auch schlecht zu Fuß; der Weg zur Kirche fing an, ihr beschwerlich zu werden, und sie suchte gern einen Vorwand, um zu Hause zu bleiben. Sören dahingegen war der gewissenhafteste Kirchgänger der Gemeinde. Es war sein Stolz, sagen zu können, daß er seit Jahren keinen Gottesdienst versäumt hatte.

Bald nachdem er gegangen war, begegnete Mariane etwas, worüber sie später nicht gern sprach. Von dem Hause, das einsam auf den großen Moorwiesen lag, führte ein Steig an einen kleinen, halb zugewachsenen See, nur zwanzig Schritt entfernt. An einer in das Gestrüpp von hohem Röhricht und Schilf ausgehauenen Stelle war eine kleine Waschbrücke angebracht, und Mariane kam gerade mit Wäsche gegangen, die gespült werden sollte, als sie plötzlich stehen blieb. Drinnen in dem Schilf rührte sich etwas. Es war, als wenn ein großes Tier dort überrascht worden sei und nun entfloh.

Die alte Frau kehrte schweigend um und ging mit ihrer Wäsche nach dem Hause zurück. Sie konnte leicht bange werden, wenn sie so allein zu Hause war. Sie sprach nie darüber, denn sie wollte natürlich nicht eingestehen, daß sie abergläubisch war; und hinterher schämte sie sich dann auch ihrer Furcht. Aber in ihrer Einsamkeit murmelte sie oft ein hastiges Gebet oder vielleicht eine Beschwörung vor sich hin, wenn sie etwas sah oder hörte, was sie sich nicht erklären konnte.

Als Sören nach Hause kam, fragte er gleich in der Tür nach Grete.

Mariane sah ihn einfältig an. Grete? Was war das für ein Unsinn? Es war ja allerdings ihr freier Sonntag – sagte sie –, aber das Kind kam ja nie vor nachmittags nach Hause.

»Na, ich fand ja auch gleich, daß es so schnurrig war«, sagte Sören und erzählte nun, daß der Pfarrer nach ihr gefragt habe und förmlich erstaunt darüber gewesen sei, daß sie nichts von ihr gesehen hatten.

Mariane meinte, der Pfarrer habe sich natürlich geirrt.

»Er hat am Ende gedacht, daß er Abendgottesdienst abgehalten hätt'.«

»Ja, so wird es wohl sein«, sagte Sören.

»Na, dann woll'n wir man in Gottes Namen einen Happen essen.«

Nach der Mahlzeit gönnte sich Sören eine kurze Ruhe. Dann tranken sie wieder Kaffee, und als Mariane in der Küche fertig geworden war und sich ein wenig zurecht gemacht hatte, begann die gewöhnliche Hausandacht, die zum Sonntag gehörte. Mit einstudierter Feierlichkeit nahm Sören am Tischende Platz, verschiedene aufgeschlagene Bücher vor sich: die Bibel, das Gesangbuch und Mallings Predigtensammlung. Mariane setzte sich mit einem Strickstrumpf auf die Bank unter den Fenstern.

Sören Konsted war keineswegs ein Scheinheiliger. Seine Frömmigkeit war ernsthaft gemeint und durchaus aufrichtig. Aber in aller Unschuld empfand der kleine Mann eine eitle Freude darüber, der Verkünder des heiligen Wortes in seinem Hause zu sein. Deshalb war er nun auch ein wenig unzufrieden damit, daß Grete noch nicht gekommen war. Es war ein wenig dürftig, keine anderen Zuhörer als Mariane zu haben. In alten Zeiten, als alle Kinder zu Hause waren und die Stube füllten, hatte er sich weit mehr erbaut gefühlt.

Er strich sich mit der Hand über sein rasiertes Kinn und begann den Text des Sonntags aus dem Gesangbuch zu verlesen. Er bediente sich hierbei eines salbungsvollen, schleppenden Kanzeltones, eine Anleihe von dem vorhergehenden Pfarrer des Kirchspiels, der überhaupt sein bewundertes Vorbild als Verkünder gewesen war. Seine dicken Brauen zogen sich während des Lesens ununterbrochen auf und nieder, und nach jedem Punktum schloß er die Augen auf Hühnerweise mit einem stummen »Amen«. Zuweilen konnte er freilich auch ganz aus seiner Rolle fallen, zum Beispiel, wenn er sich die Nase mit den Fingern schneuzte oder eine unvorschriftsmäßige Pause machte, um sich von einem Aufstoßen zu befreien. Aber dergleichen Unterbrechungen störten die Andacht nicht, weder für ihn selber noch für Mariane, geschweige denn für die Katze, die oben auf dem Fensterbrett zwischen den Blumentöpfen saß und sich sonnte, und die mit ihrem verschlossenen Gesicht voll Aufmerksamkeit zu lauschen schien.

Sören legte das Buch hin und faltete die Hände, um ein Gebet zu sprechen. Im selben Augenblick ertönten draußen Schritte. Mariane wandte sich nach dem Fenster um und sah, daß es der Pfarrer war.

»Gott bewahre uns!« rief sie aus. »Is' Grete was passiert?«

Der Pfarrer war ein kleiner, schwarzhaariger Mann mit einem Gesicht, das nichts als Bart und Brille war. Er blieb in der Tür stehen, die Hand auf der Klinke und sah sich mit einem unruhigen und suchenden Blick um.

»Ist Grete nicht hier?« fragte er mit leiser Stimme.

Sören war aufgestanden.

»Nein, sie ist nicht gekommen«, sagte er, ohne seine Angst merken zu lassen. »Wollen Herr Pastor sich nicht setzen?«

Es ward einen Augenblick still im Zimmer. Der Pfarrer ging auf einen Stuhl zu und setzte sich schwerfällig hin. Jetzt mußte also alles erzählt werden!

Es war nicht leicht für ihn, es zu sagen. Er war selbst so ergriffen, daß es ihm schwer wurde, sich zu einem geordneten Bericht zu sammeln. Auch wußte er nur, was er aus dem Knecht herausgebracht hatte, der ihm als Gretes Bräutigam bezeichnet worden war. Niels Hald war gleich am Morgen nach dem Pfarrhof beschieden worden, er hatte ihr Stelldichein eingestanden und auf glaubwürdige Weise erzählt, daß sie sich um Mitternacht in bestem Einvernehmen getrennt hatten. Es sei daher nach allem zu urteilen, allein die Entdeckung und die Furcht vor den Folgen, die ihr Verschwinden veranlaßt habe.

Er suchte, so gut er konnte, die beiden Alten zu trösten, die die Unglücksbotschaft ohne ein Wort hingenommen hatten. Er sagte, Grete habe möglicherweise bei irgendeiner Freundin Zuflucht gesucht. Wie verkehrt sie sich auch benommen habe, so sei ihr Versehen doch nicht derartig, daß man es der Jugend nicht verzeihen könne – das wisse Grete auch sehr wohl.

»Wenn die erste Angst sich gelegt hat, wird sie hoffentlich zur Besinnung kommen«, sagte er und meinte hiermit das Nachdenken und die Vernunft, auf die ihr Vertrauen in Augenblicken der Angst und der Reue zu setzen, er den Leuten im allgemeinen nicht zu empfehlen pflegte.

Die alten Eltern hörten ihm gar nicht mehr zu. Schweigend und gleichsam ausgelöscht saßen sie da und starrten. Erst als der Pfarrer aufstand, um zu gehen, überkam sie die Unruhe von neuem. Sören sagte: »Wollen Herr Pastor nich 'n Schluck Bier haben? Mariane, lauf doch hin und hol –«

Aber der Pfarrer lehnte dankend das Anerbieten ab. Er drückte ihnen herzlich die Hand und sagte, er würde sich bald wieder nach ihnen umsehen. Dann entfernte er sich eiligst.

Weitere Hoffnung, Grete am Leben zu finden, hatte er in Wirklichkeit nicht. Es war dies einer der Punkte, über die sich zu verwundern er in seiner Eigenschaft als Seelsorger beständig Gelegenheit hatte, nämlich, daß die Menschen dem Tode gegenüber so geringe Widerstandskraft besaßen. Er verstand das nicht. Gerade in dem scheinbar so frischen, lebensfrohen dänischen Volk, dessen tägliches Leben so ruhig verlief, gehörten die Selbstmorde sozusagen zur Tagesordnung. Hier war ein Seelenrätsel, das er oftmals vergebens zu ergründen bemüht gewesen. Selbst hier in seinem eigenen freundlichen und fruchtbaren Kirchspiel, wo niemand in irdischem Sinne Not litt, ja, wo die meisten im Überfluß saßen, selbst hier gab es nicht viele Häuser, in denen sich nicht irgendwo auf dem Boden oder in einem Wirtschaftsraum eine dunkle Ecke fand, um die die Bewohner am liebsten einen Umweg machten, weil sie eine blutige Erinnerung barg. So zum Beispiel neulich noch mit dem Schmied Jesper. Ein strebsamer und allgemein geachteter Mann, noch verhältnismäßig jung, den Gott eben erst von einer unglücklichen Ehe erlöst hatte. Plötzlich geht er hin und entleibt sich auf die unheimlichste Weise in seinem Holzschuppen. Warum? – Niemand verstand es.

Er blieb einen Augenblick oben auf dem Gipfel des Hügels stehen und sah wehmütig über das Land hinaus. Es war Abend geworden. Im Osten und Westen ertönte von seinen beiden Kirchen herab die Vesperglocke. Unter munteren Zurufen wurde das Vieh von der Wiese heraufgetrieben. Welch ein Friede! dachte er. Welch ruhiges Glück!

Da drüben auf dem großen, reichen Gehöft, dessen zahlreiche Fenster wie eine Reihe blanker Goldmünzen schimmerten, lebte seit vielen Jahren das glücklichste Ehepaar. Sie waren munter und gesund und hatten viele Kinder, die alle gut geraten waren. Da befiel die Frau plötzlich eine tiefe Schwermut, und eines Abends ging sie in den Milchkeller hinab und schnitt sich den Hals mit einem Brotmesser durch. Und aus welchem Grunde? Niemand verstand es.

 

Nach des Pfarrers Heimkehr wurden sogleich Leute ausgesandt, um nach Grete zu forschen. Man durchsuchte noch am selben Abend sämtliche Mergelgruben und andere Wasserlöcher in der Nähe des Dorfes mit Brandhaken. Am folgenden Morgen wurden die Nachforschungen fortgesetzt, und da fand man in der Nähe des Hauses ihrer Eltern ein geblümtes Kopftuch, das sich als das ihre erwies. Es hing zwischen dem Röhricht am Rande des Sees, als sei es dort bei einer hastigen Flucht hängen geblieben und zurückgelassen.

Jetzt fand man auch den Abdruck ihrer Schuhe in dem lehmigen Schlamm. Man konnte diese Spuren über die Felder nach beiden Seiten hin verfolgen, und es war klar, daß sie lange das Haus umkreist, und daß sie einen Schlupfwinkel in der Nähe der Waschbrücke gehabt hatte, wo das Röhricht auf einer größeren Strecke ganz niedergetreten war.

Der See wurde gründlich durchsucht, und Gretes Bräutigam leitete selbst die Arbeit. Der große, starke Bursche weinte wie ein Kind. Er war ganz untröstlich und sprach fortwährend davon, daß er Grete folgen wolle.

In der kleinen Häuslerstube war den ganzen Tag ein Aus- und Einlaufen von Bekannten, die kamen, um ihre Teilnahme zu beweisen und ihre Hilfe bei den Nachforschungen anzubieten. Einige kamen auch schlecht und recht aus Neugier oder weil sie dachten, daß bei einer solchen Gelegenheit doch etwas »abfallen« müßte. Trotz ihres Kummers und ihrer Scham vergaßen Sören und Mariane auch nicht, was der Anstand erforderte. Die Kaffeekanne und die Tabakstüte kamen nicht vom Tisch. Sören war schweigsam und verlegen, während Mariane so sonderbar umherschwankte, fast wie eine Betrunkene.

Indessen kam ein umherwandernder Wollhändler ins Dorf und erzählte, daß noch am Morgen ein wahnsinniges Mädchen drüben im benachbarten Kirchspiel gesehen worden sei. Zuerst hatten ein paar Aalfischer sie des Nachts im Mondschein erblickt, während sie am Bach entlang streifte; als sie sich ihr aber näherten, war sie entflohen. Später hatte ein Mann einen Schimmer von ihr drüben in den Wäldern gesehen, wo sie verwirrt und mit aufgelöstem Haar umhergelaufen war, als werde sie verfolgt.

Es wurde sofort eine Mannschaft nach dem benachbarten Kirchspiel hinübergesandt, und man stellte nun eine geordnete Jagd auf alle Hecken und Gestrüppe an. Aber auch dieser Tag verlief trotzdem ohne Ergebnis. Erst am nächsten Vormittag fand man Gretes Leiche in einem kleinen See tief drinnen im Walde. Sie lag dort in seichtem Wasser und hatte die Schürze über das Gesicht geworfen, ehe sie sich hineingestürzt hatte.

Bei dem Begräbnis einige Tage darauf hielt der Pfarrer eine Rede, die einen starken Eindruck auf das ganze große Gefolge machte. Er war selber tiefbewegt und sprach wie immer milde und liebevoll. Wie er selber sagte: er gehörte nicht zu diesen finsteren Verdammnispredigern, die in eines jeden Sünders Grabe den Absturz zur Hölle sehen. Er nannte überhaupt nicht oft diese Marterstätte, die man auch nicht mehr mit Erfolg einer modernen, aufgeklärten Gemeinde gegenüber anwenden konnte.

Dahingegen sprach er viel vom Gewissen und von dem entsetzlichen Grauen des Sündenbewußtseins. Mit schonender Anspielung auf die letzten Leidenstage des unglücklichen Mädchens suchte er seinen Zuhörern die Hölle zu vergegenwärtigen, die sich die Menschen in ihren eigenen Herzen schaffen durch Ungehorsam gegen die göttlichen Gesetze, gegen die innere Stimme, die Gottes eigene, mahnende Stimme sei, und die allein uns vor Verirrung schützen könne.

 


 << zurück weiter >>