Henrik Pontoppidan
Der Teufel am Herd
Henrik Pontoppidan

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Der königliche Gast

Wenn Leute, die in dem lauten Treiben einer Großstadt herumgewirbelt werden, hin und wieder einmal – vielleicht mit einem kleinen Sehnsuchtsseufzer – an das Leben draußen auf dem Lande denken, schwebt ihnen in der Regel ein Dasein mit einem Gottessegen an Zeit vor. Sie stellen sich eine unendliche Reihe von ruhig dahinfließenden Tagen vor, wo jede Minute mit einer feierlichen Umständlichkeit verrinnt, ähnlich der, mit der eine Bornholmer Uhr in der Stube einer alten Bauersfrau die Ewigkeit abmißt.

Und doch ist ja in Wirklichkeit die Zeit nirgends flüchtiger, erscheint einem das Leben nirgends kürzer als gerade auf dem Lande. Wenn auch die einzelnen Tage träge genug sein können in ihrer Einförmigkeit, schon die Wochen sind geschäftig – die Jahre fliegen. Und eines schönen Tages ist das Leben dahin gefahren, und das Ganze ist vorbei wie ein Bruchstück eines Sommer- oder Winternachtstraumes.

Wenn der junge Arzt Arnold Höjer und seine kleine hübsche Frau daran dachten, daß sie schon volle sechs Jahre in Sönderböl gewohnt und genau ebenso lange verheiratet waren, mußten sie vor Erstaunen lachen. Sechs Jahre! Es war ihnen, als könnten unmöglich mehr als einige wenige Monate vergangen sein seit jener unvergeßlichen Sternennacht, als sie mit der Postkutsche hierhergekommen waren. Und sie hatten doch in der dazwischenliegenden Zeit drei Kinder in die Welt gesetzt, und ihr Heim, das damals ein gleichgültiges Stück Handwerkerarbeit war, das noch nach der Kalkgrube roch, war der Mittelpunkt der ganzen Welt und die Schwelle zum Himmelreich geworden.

Sie stammten beide aus der Hauptstadt, und mitten in ihrem großen Liebesglück waren sie zu Anfang still verzweifelt gewesen. Die vielen neuen Verhältnisse und fremdartigen Gebräuche, die baumlose jütische Landschaft selbst, mit der Unmenge von Himmel, machten sie beklommen wie ein Paar verirrte Küchlein.

Frau Emmys Augen hatten sich mit Tränen füllen können, wenn sie an alles das dachte, was sie verlassen hatte, und daß vielleicht schon jetzt niemand sie mehr vermißte. Wenn Arnold auf Krankenbesuche gegangen war, setzte sie sich in sein Zimmer mit einem bedrückenden Gefühl von Verlassenheit und tat nichts weiter als darauf warten, daß er zurückkehren würde.

Wie sonderbar kam ihr das jetzt vor, wenn sie daran zurückdachte! Daß sie wirklich so kindisch gewesen war! – Da hatte sie am Fenster gesessen, die Hand feierlich unter der Wange, und auf den dunklen Heidehügel hinausgestarrt mit einem schwindelnden Gefühl, als sei sie allein auf einem fremden Erdball zurückgelassen, weit draußen in dem unendlichen Weltenraum. Weniger konnte es nicht tun!

Nach einem einsameren Ort als Sönderböl hätte man aber auch lange suchen können. Es waren drei Meilen bis zur nächsten Station; eine Postkutsche besorgte die Verbindung mit der Außenwelt, aber selbst von der sahen sie nichts. Die große, gelbe Kutsche mit dem scharlachroten Kutscher, die sonst ja die düstere Landschaft ein wenig hätte beleben können, kam bei der Aus- wie bei der Rückfahrt zu nächtlicher Stunde durch das Dorf. Sie illuminierte jetzt nur ihre Träume, wenn sie in dunklen Nächten auf der Landstraße vorüberrumpelte und den Schein ihrer Laterne über das Rouleau des Schlafzimmers hinschleppte.

Das Dorf selbst bestand nur aus sieben, acht mageren Bauernhöfen und der doppelten Anzahl Armeleute-Hütten. Nicht einmal eine Pfarrersfamilie behauste es, sondern nur einen Schullehrer, der sich obendrein als arger Krakeeler entpuppte. Daß sie sich hier niedergelassen, hatte denn auch keineswegs seinen Grund in irgendwelcher Vorliebe für diese Gegend. Aber die Bewohner hatten einen Arzt dorthin gewünscht, und Arnold, der bereits im dritten Jahr verlobt war, hatte sich fieberhaft nach einem selbständigen Wirkungskreis gesehnt, um heiraten zu können.

Während des ersten Jahres hatten sie zuweilen Besuch von Verwandten und Freunden gehabt, die neugierig waren zu sehen, wie sie sich da draußen in ihrem Mesopotamien eingerichtet hatten. Aber schon im zweiten Jahr wurden die Besuche seltener, und da entbehrten sie sie auch nicht mehr. Weit schneller, als sie es hatten erwarten können, waren sie mit ihren neuen Lebensverhältnissen vertraut geworden und hatten sich Freunde unter der Bevölkerung angeschafft. Jetzt, nach Verlauf von sechs Jahren, empfanden sie ihre Einsamkeit gar nicht mehr.

Sie hatten ganz einfach keine Zeit mehr dazu. Emmy ging völlig in ihrem Haushalt und ihren Kindern auf; und wenn Arnold nicht auf Krankenbesuch aus war, hatte er genug im Garten zu tun, oder er stand drüben im Holzschuppen und schwitzte, sintemal er um der lieben Gesundheit willen selbst sägte und spaltete, was sie an Brennholz beschaffen konnten. Außerdem bekamen sie täglich ein paar Zeitungen zur Unterhaltung, und im Winter waren sie auf eine Lesemappe abonniert, die ihnen alle vierzehn Tage ein Lispfund von der hervorragendsten Literatur der Jahreszeit ins Haus brachte.

Es stand denn auch in ihren Gesichtern geschrieben, und zwar mit Linien und mit Farben, daß sie gediehen und zufrieden waren. Hinter dem Bretterzaun, der ihr Haus und ihren Garten umgab und Schutz gegen den Weststurm gewährte, schufen sie sich ein kleines irdisches Eden, wo ein kleiner Kain und ein kleiner Abel von der Sonne und dem Wind gebräunt wurden, während eine einjährige kleine Evastochter mit blonden Locken Huckepack auf ihrer Mutter Rücken ritt und allerlei nützliche und fruchtbare Tiere draußen auf dem Hofplatz und in den Wirtschaftsgebäuden herum schnatterten, glucksten und grunzten.

Wären nicht ihr Nachbar, Schullehrer Sörensen, und seine glasäugige Madame gewesen, so würden sie sich vollkommen glücklich gefühlt haben.

Eines Tages im Februar, nachdem sie seit längerer Zeit nichts von ihren Kopenhagener Angehörigen gehört hatten, kam ein Brief von Emmys beiden Cousinen und einem Vetter, die ihren Besuch auf Fastnacht anmeldeten.

Es war dies gerade nicht die beste Jahreszeit, um ihre Herrlichkeiten zu zeigen. Im Garten lag Schnee; und der Platz innerhalb der vier Wände war allmählich ziemlich beschränkt geworden, so daß es schwer hielt, genügend Schlafstätten zu beschaffen. Aber Emmy wußte immer Rat.

Wie ein wahrer Tausendkünstler tummelte sie mit Sofas und Betten herum und machte auch in der Küche größere Anstalten. Die Fremden sollten keinen anderen Eindruck haben, als daß sie willkommen seien, sagte sie. Und außerdem faßte sie es als eine Art Mission auf, den Kopenhagenern zu zeigen, welch ein tüchtiger und gesunder Mensch man hier draußen auf der jütischen Heide werden konnte.

Aber der Teufel hatte an dem Tage, als die Gäste erwartet wurden, seine Hand mit im Spiel. Das Haus stand festlich bereit zum Empfang, und die Bettücher waren schon auf Stühlen um die Öfen herum aufgehängt, um abzudampfen, als ein Telegramm mit einer Absage kam. Es waren im letzten Augenblick Hindernisse eingetreten. Der Besuch mußte auf ein andermal verschoben werden.

Arnold machte gerade einen Krankenbesuch, als das Telegramm kam. Emmy nahm es in Empfang und mußte lachen, so ärgerlich sie auch in Wirklichkeit war. Schnell entschlossen erteilte sie den Mädchen Befehl, alles wieder an seinen gewohnten Platz zu stellen.

Als Arnold um die Mittagszeit nach Hause kam, war das Haus schon wieder in Ordnung gebracht, und um einen gar zu unbeherrschten Ausbruch des Verdrusses abzuwehren, empfing sie ihn mit einem strahlenden Lächeln in der Tür.

Aber es half alles nichts. Arnold war ein Brausekopf, der sich bei jeder Widerwärtigkeit persönlich gekränkt fühlte. Als er das Telegramm gelesen hatte, wurde sein von der Witterung gerötetes Gesicht aschfahl bis über den Bart hinaus; und er schimpfte über die unverschämte Rücksichtslosigkeit.

Emmy dachte im Grunde genau so wie er; aber sie konnte dergleichen nun einmal nicht so tragisch nehmen.

»Jetzt reden wir nicht mehr darüber, Arnold!« sagte sie schließlich. »Komm jetzt nur herein und iß. Essen haben wir nun wenigstens genug im Hause, das weiß ich.«

Nach Tische saßen sie wie gewöhnlich zusammen in Arnolds Zimmer und hielten Dämmerstunde, während das Kindermädchen die kleinen Jungen im Eßzimmer jenseits der Diele beaufsichtigte. Arnolds Gemüt hatte sich beruhigt. Er saß – wohlgesättigt – mit einer langen Pfeife im Schaukelstuhl am Ofen und hatte es sich in Schlafrock und Filzpantoffeln bequem gemacht.

Emmy saß am Fenster, ihr kleines Mädchen auf dem Schoß. Die dicke Kleine lag auf dem Rücken und strampelte wohlbehaglich mit den nackten Beinchen, während die Mutter sie trocken legte. Draußen fiel dichter Schnee. Es hatte den ganzen Tag ein klein wenig geschneit, aber jetzt war es Ernst damit geworden. Draußen auf dem Fenstergesims und oben auf den Fenstersprossen lag schon eine fingerdicke Verbrämung. Aber es erhöhte nur das Gefühl der Sicherheit und Traulichkeit, daß der Winter selbst es so warm und dicht für sie machte.

Emmy hatte keine Zeit gehabt, sich umzukleiden. Sie war noch in ihrem Morgenkleide und hatte das Haar mit einem Stück schwarzen Schleiers verhüllt. Sie war im Laufe der Jahre ein wenig nachlässig in bezug auf ihr Äußeres geworden, obwohl sie in der Ehe keineswegs verloren hatte. Ihre kleine, üppige Gestalt mit den dunkelbraunen Augen und den starken Brauen – »die Eule« hatten ihre Freundinnen sie in alten Zeiten genannt – hatte sich ziemlich unverändert gehalten, hatte höchstens mütterliche Formen und noch weichere Umrisse bekommen.

»Weißt du was«, sagte sie mit einem langen, müden Gähnen. »Ich glaube, wir sollen es uns nicht so leid sein lassen, daß sie nicht gekommen sind. Es wäre am Ende gar nicht so nett gewesen mit der Einquartierung. Ich kann es jetzt merken, daß ich mich in den letzten Tagen gar nicht so recht heimisch in meinen eigenen Stuben gefühlt habe.«

Arnold wandte den Blick von seinen Tabakswolken ab und mußte lächeln. Wie das so häufig geschah, hatte sie ausgesprochen, woran er gerade gedacht hatte. Wenn er nicht erst eben vom Stuhl aufgestanden wäre, um sich ein Streichholz zu holen, so hätte er ihr einen Kuß für die Worte geben mögen!

Nun saßen sie eine Weile plaudernd da. Sie sprachen über das, was sich ringsumher im Dorf zugetragen hatte, beredeten ihre eigenen häuslichen Angelegenheiten, sprachen über die Magenverhältnisse der Kinder, über eine neue Hühnerrasse, die sie in der Gegend einführen wollten – Gesprächsstoffe, über die ihre Gedanken auszutauschen, infolge des aus dem Geleise geratenen Zustandes im Hause, ihnen die rechte Gelegenheit gefehlt hatte.

Plötzlich rief Emmy aus:

»Das ist ja wahr! Das habe ich dir noch gar nicht erzählt! Ich sah heute vormittag den alten Thorvald Andersen mit einem Papier in die Schule hineingehen. Glaubst du, daß das die Adresse gewesen sein kann?«

Die Pfeifenspitze entfiel Arnolds Mund ganz. Sein Gesicht nahm einen Augenblick einen dummstaunenden Ausdruck an. Er saß lange da, ohne ein Wort zu sagen.

Aber als er die Sprache wieder gefunden hatte, war seine Stirn ganz bis an die Haarwurzeln hinauf von Runzeln durchfurcht wie ein gepflügter Acker.

»Das will ich dir aber sagen, Emmy. Wenn Schullehrer Sörensen Ernst macht mit der Adresse und sie an den Gemeindevorstand einschickt, dann gibt es hier Krieg. Ich will sein ekelhaftes Spülwasser nicht in unserm Graben haben. Wendet er sich an den Gemeindevorstand, so melde ich die Sache bei der Gesundheitskommission. Und ich werde, so wie das letztemal, eine Eingabe aufsetzen, die Hand und Fuß hat. Darauf kannst du dich verlassen!«

»Ja, wenn du das nur tun wolltest! Hua! Ich gönne dem sommersprossigen Kerl, daß er mal ordentlich einen auf den Hut kriegt! Du! Hab' ich dir das übrigens schon erzählt? Gestern, als ich drüben beim Kaufmann war, wer meinst du wohl, stand da mitten im Laden – Frau Adolfine in höchst eigener Person. Tableau! Du hättest sie nur sehen sollen! Eins, zwei, drei dreht sie mir den Rücken zu. Ich tat natürlich, als hätte ich es nicht gemerkt, ging zu ihr hin und sagte guten Tag und fragte, wie geht es Ihnen, und was machen die Kinder? – Es war eine Komödie, das kannst du dir denken!«

Aus der Eßstube drang Weinen und Gezänk herüber. Die Dämmerung hatte die Jungen schläfrig gemacht. Emmy stand auf, um Licht da drinnen anzuzünden und gleichzeitig die Kleine zu Bett zu bringen.

Als sie zurückkam, hatte Arnold selbst die Hängelampe angesteckt und die Gardinen vor das Fenster gezogen. Er stand da und stopfte seine Pfeife am Rauchtisch, wandte aber das Gesicht nach dem Zimmer hin.

»Weißt du, woran ich eben denke, Emmy? Wir sprachen neulich davon, daß es hier in unserm Wohnzimmer ein wenig voll geworden sei. Was meinst du dazu, wenn wir das Bücherbord ein wenig weiter nach der Tür heranrückten und den ovalen Sockel mit der Gipsbüste hier in die Ecke hineinstellten. Das würde das Ganze beleben!«

»Du bist wirklich schrecklich, Arnold! Ich sollte denken, wir hätten in den letzten Tagen genug hier im Hause herumrumort! Laß mich doch wenigstens erst einmal zur Ruhe kommen!«

»Nun, du brauchst dich deswegen doch nicht gleich so zu ereifern. Es ist ja nur ein Vorschlag.«

»Ja, aber es ist wirklich eine förmliche Manie bei dir geworden. Ich glaube, du leidest an der Umziehkrankheit.«

»Und du bist eine echte Bruthenne geworden, Emmy. Du kannst es bald nicht mehr leiden, daß man auch nur einen Stuhl im Hause an einen andern Platz stellt.«

»Nein – wozu sollte man das auch wohl tun?«

Arnold lachte.

»Weißt du wohl noch, als ich im vergangenen Jahr den Vorschlag machte, die Laube der Aussicht halber nach Westen hinüber zu setzen? Damals widersetztest du dich doch auch gleich mit Hand und Fuß – du sagtest, es sei dort zugiger, was ich bestritt. Gib doch zu, daß ich recht hatte.«

Nun war die Reihe zu lachen an Emmy. Sie ging hin und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Nein, lieber, guter Arnold – das kann ich wirklich nicht zugeben. Es war da ja den ganzen Sommer hindurch nicht zum Aushalten vor Zug. Das kannst du doch nicht vergessen haben.«

»Ich habe nicht vergessen, daß du bei dieser Behauptung bliebst. Aber das ist etwas ganz anderes.«

Sie wandte sich von ihm ab.

»Ach, das meinst du ja gar nicht. Du willst nur nicht eingestehen, daß du dich geirrt hast. Das habe ich dir schon unzählige Male gesagt.«

»Hör einmal, Emmy, wenn du bei dieser dummen Behauptung beharrst, breche ich eines schönen Tages die ganze Laube ab. Ich hab' es wirklich satt, diese Geschichten mit anzuhören. Dann kannst du mitsamt den Kindern sehen, was aus euch wird!«

Er nahm eine Zeitung und setzte sich an den Tisch, den Rücken ihr zugewandt. Sie hatte angefangen abzustauben, und jetzt summte sie eine Melodie vor sich hin, was sie zu tun pflegte, wenn sie beleidigt war und ein Unwetter in ihr heraufzog.

Da ward die Spannung der Stimmung durch das Geklingel eines Schlittens unterbrochen, der vor dem Hause hielt.

»Du sollst gewiß zu einem Patienten kommen«, sagte Emmy. Und versöhnlich fügte sie hinzu: »Bei dem Wetter!«

Arnold hatte den Kopf erhoben.

»Das müssen Pastors sein! Hörst du es nicht? Es sind Pferde mit Glocken!«

Es vergingen ein paar Minuten. Dann klemmte sich die Kleinmagd auf Socken durch die Tür, die von der Diele hereinführte und war so benommen, daß sie nicht einmal die Laterne hingestellt hatte. Atemlos erzählte sie, es sei ein fremder Herr da draußen, der fragte, ob die Herrschaften zu Hause seien.

»Hat er seinen Namen nicht genannt?«

»Ne, er hat bloß nach Herr Doktor und Frau Doktor gefragt.«

»Ach, das wird wohl der Landesinspektor, der Schwager des Pfarrers, sein.«

»Ne! Es is einen ganz fremden Minschen. Und ein fürchterlich feiner Herr, glaub' ich. Am End' is' es der neue Bischof, der hier vergangen Jahr auf Visitaschon war.«

»Ach – Unsinn!« sagte Arnold, sah aber dennoch mit Bekümmerung an sich nieder.

Auch Emmy ward unruhig bei dem Gedanken an ihre Kleidung, die nicht darauf berechnet war, sich vor Fremden sehen zu lassen.

»Du mußt hier bleiben und ihn empfangen«, sagte sie und verschwand eiligst durch die Tür zum Wohnzimmer.

Arnold legte die Pfeife weg und raffte den Schlafrock zusammen, um so weit wie möglich die Mängel seiner Toilette zu verbergen. Durch die halbgeöffnete Tür sah er draußen auf der Dielenwand den Schatten eines korpulenten Mannes, der mit Hilfe des Mädchens ein Paar große Pelzstiefel von den Füßen zog und hinterher einen Reisemantel abstreifte.

Nach einer Weile erschien die ganze Persönlichkeit in der Tür.

Es war ein mittelgroßer Mann von ungefähr fünfzig Jahren mit einem Kranz graubrauner Locken um eine hohe, kahle Stirn. Ein außerordentlich gut gekleideter Mann in langem, schwarzen Rock mit großen seidenen Aufschlägen. Ein Mann, der trotz seines ungewöhnlichen Umfanges keineswegs einen lächerlichen oder abstoßenden Eindruck machte. Ein Mann mit Haltung. Im Grunde ein ganz schöner Mann, frisch und rotwangig, mit ein Paar lebhaften, hellbraunen Augen und einem jugendlichen Mund voll großer, weißer Zähne.

»Ich habe die Ehre, Herrn Dr. Höjer zu begrüßen?« fragte er, als ihm Arnold entgegengegangen war.

»Ja, bitte schön – wollen Sie nicht Platz nehmen!«

Sie setzten sich jeder auf eine Seite des Tisches unter die Hängelampe, und jetzt, wo Arnold ihn in voller Beleuchtung sah, bekam er einen noch jüngeren Eindruck von ihm. Er schätzte ihn – trotz der Wohlbeleibtheit – höchstens auf etwa Vierzig. Die Ähnlichkeit mit dem neuen Bischof konnte er soeben erkennen. Aber sonst war auch nicht das geringste an dem Mann, was an Geistlichkeit erinnerte. Hätte er nicht einen kleinen gestutzten Schnurrbart und eine entsprechende Fliege unter der Unterlippe getragen und wäre nicht seine Kleidung und sein ganzes Auftreten so vollkommen die eines Gentleman gewesen, so hätte er ihn unbedingt für einen Schauspieler bei irgendeiner Wandertruppe gehalten.

»Sie kommen aus Jerrild?« fragte er, indem er sich darüber wunderte, daß der andere sich noch immer nicht vorgestellt hatte.

Den Ausdruck in dem Gesicht des Fremden verfinsterte flüchtig ein Stutzen. Es war, als wolle er eine unangenehme Überraschung verbergen. Im nächsten Augenblick lächelte er wieder mit seinen sämtlichen weißen Zähnen.

»Sie setzen mich wirklich in Erstaunen, Herr Doktor! Ich begreife nicht, wie Sie wissen können –. Ich muß Sie ja fast im Besitz jenes magischen Spiegels glauben, von dem die Märchen erzählen.«

»Ach nein, die Erklärung ist wirklich ganz einfach. Pastor Jörgensen ist der einzige hier in der Gegend, der mit Schlittenglocken fährt. Die Bauern haben alle zusammen Schellen.«

»Ach so!«

Der Fremde sah gleichsam verlegen zur Seite und schwieg einen Augenblick.

»Ja, dann kann ich wohl nur lieber gleich beichten. Aber zuvor müssen Sie mir gestatten, einen Wunsch zu äußern, der Ihnen vermutlich sehr sonderbar erscheinen wird. Ich möchte Sie nämlich bitten, Herr Doktor, mich von einer Vorstellung meines staatsbürgerlichen Menschen zu entbinden und mir zu erlauben, schlecht und recht als ein namenloser Reisender vor Sie hinzutreten. Ja, ich sehe, Sie stutzen. Sie denken vielleicht sogar, daß Sie einen Verrückten vor sich haben. Aber ich versichere Ihnen, ich habe wirklich ganz vernünftige Gründe für mein Anliegen.«

»Daran zweifle ich nicht«, erklärte Arnold mit einem verlegenen Lächeln. Die Kunstsprache des geselligen Lebens war ihm fremd geworden. Er wußte nicht recht, ob die Worte des Mannes buchstäblich zu nehmen seien oder vielleicht nur eine elegante Redensart waren.

»Sie werden wohl verstehen, Herr Doktor, daß wenn ich versuche, eine Entschuldigung – oder doch wenigstens eine Erklärung – für meine dummdreiste Anwesenheit hier zu geben – für meine unverschämte Zudringlichkeit, wie Sie wahrscheinlich in Ihrem stillen Sinn denken werden –«

»Aber keineswegs!« murmelte Arnold, immer unsicherer werdend.

»Nun ja! Kurz und gut: Pastor Petersen in Jerrild ist mein alter Freund aus der Kinderzeit –«

»Petersen?« sagte Arnold. »In Jerrild gibt es keinen Pastor Petersen!«

»Wie beliebt? Ach so – ja – das ist ja wahr! – Das können Sie natürlich nicht wissen. Aber eigentlich heißt er Petersen.«

»Heißt Pastor Jörgensen Petersen?«

Der Fremde lachte laut.

»Ja, das heißt, so haben wir alle, seine alten Jugendgefährten, ihn immer genannt! Es kam daher, weil er sich einmal – halb im Scherz übrigens – über seinen ordinären Namen beklagte. Da kamen wir auf den Einfall, daß wir ihn in Zukunft Petersen nennen wollten. Und wir waren so entzückt von dem Witz, daß wir ihn später nicht wieder haben vergessen können. – Ich habe meinen lieben Kindheitsfreund seit vielen Jahren nicht gesehen, und es ist schon lange mein Wunsch gewesen, ihn eines schönen Tages in seinem Pfarrhausidyll zu überraschen. Aber ich bin nicht glücklich gewesen in bezug auf die Wahl des Tages. Als ich heute nachmittag nach Jerrild kam, war die Familie eben ausgefahren, und man erwartete sie erst im Laufe der Nacht zurück.«

»Ah – jetzt verstehe ich!« sagte Arnold.

»Ja, Herr Doktor, ich will ehrlich bekennen, daß ich zu den geselligen Naturen gehöre. Die Aussicht, einen langen Winterabend mutterseelenallein in einer Reihe fremder Zimmer zubringen zu sollen, brachte mich zur Verzweiflung. Da kam ich denn auf die verwegene . . . nein, auf die verworfene Idee, in die Umgegend zu fahren und menschliche Barmherzigkeit anzuflehen. Ich erkundigte mich bei den Dienstboten und erfuhr, daß in einer Entfernung von einer Meile die liebenswürdige und gastfreie Familie eines Arztes wohne – ja, und nun sitze ich hier und bin ganz beschämt über meine unerhörte Kühnheit.«

»Dazu ist nicht der geringste Grund vorhanden. Sie brauchen sich deswegen wirklich nicht entschuldigen.«

Der Fremde verneigte sich vor ihm mit einem herzlichen Ausdruck von Dankbarkeit.

»Ich gebe mich wirklich der Hoffnung hin, daß Sie mir gestatten werden, Sie einige Stunden mit meiner Anwesenheit zu belästigen. Der Kutscher hat den Befehl erhalten, sobald der Mond aufgeht, anzuspannen und mich zurückzubefördern.«

»Sie sind uns sehr willkommen. Es sollte mich freuen, wenn unser Heim Ihnen einen kleinen Ersatz für das Entbehren Ihrer Freunde bieten könnte.«

»Ach, davon bin ich schon ganz überzeugt! Aber nun werden Sie wahrscheinlich sagen, daß dies alles noch keine Erklärung dafür ist, daß ich Ihnen gegenüber so gern inkognito bleiben möchte. Nennen Sie es meinetwegen eine Laune von mir, einen kindischen Einfall, eine fixe Idee. Und doch, lieber Herr Doktor, werden Sie wohl verstehen können, daß ich – wirklich ernstlich bedrückt von meiner unverzeihlichen Aufdringlichkeit, wie ich es bin – mich in dieser Vermummung Ihnen gegenüber weit freier fühlen werde.«

Arnold fand den Einfall trotz allem höchst extravagant, wußte aber nicht recht, was er sagen sollte. Der Fremde nahm sein Schweigen für Zustimmung, und indem er – jetzt ganz unbefangen – seinen starken Körper in den Stuhl zurücklegte, fuhr er fort:

»Sagen Sie mir doch, bitte, einmal, lieber Herr Doktor, welche Freude könnte es Ihnen im Grunde bereiten, wenn ich mich als Großhändler Mogelstrup aus Aarhus oder Baumeister Falittenberg aus Kopenhagen vorstellen wollte? Ich bin überhaupt der Ansicht, je mehr das Persönliche bei einer Unterhaltung ausgeschaltet wird, um so freier und angeregter plaudert es sich. Jegliches Im-voraus-wissen grenzt sofort einen mehr oder weniger engen Vorstellungskreis ab, der dieselbe Wirkung auf den Gedanken ausübt wie der bekannte Kreidestrich auf ein Huhn. Geben Sie mir darin nicht recht? Und außerdem – heute ist Fastnacht! Wir haben geradezu eine Art Verpflichtung, unter der Maske aufzutreten. Die strengen Gesetze des Alltags sind für eine kurze, glückliche Weile aufgehoben. Habe ich nicht recht?«

»Selbstredend!« sagte Arnold mit seinem verlegenen Lächeln – »wenn es Ihr Wunsch ist. Aber irgendwie müssen wir Sie doch nennen. Wir können einen Namen oder doch wenigstens einen Titel nicht ganz entbehren.«

»Nun, so nennen Sie mich . . . ja, zum Beispiel . . . nennen Sie mich Prinz Karneval!«

Sie fingen beide an zu lachen, Arnold halb wider seinen Willen. Er fühlte sich abermals auf unangenehme Weise dem Manne gegenüber unsicher und zugleich bedrückt durch seine gesellschaftliche Überlegenheit.

Er hatte außerdem Emmy mit einiger Unruhe im Wohnzimmer, zu dem die Tür nur angelehnt war, hantieren hören. Sie hatte die Lampe angezündet, das Klavier geöffnet und Stühle an ihren Platz gerollt. Jetzt erschien sie plötzlich in der Tür in ihrem braunen Sonntagskleide mit der Busenschleife.

Er konnte es ihr sofort ansehen, daß sie einen Teil ihrer Unterhaltung gehört haben mußte. Obwohl der Fremde sich mit der größten Höflichkeit vor ihr verbeugte und überhaupt die angenehmste Überraschung verriet, blieb sie in der Tür stehen und beantwortete seinen Gruß mit einer äußerst knapp bemessenen Neigung des Hauptes. Gleichzeitig sandte sie ihrem Gatten einen Blick aus den Augenwinkeln zu, der besagte: Du hättest ihn nicht annehmen sollen. Schick ihn doch weg!

Er hatte in der Tat die größte Lust, ihrer Anweisung Folge zu leisten. Aber es war eine eigene Sache, einen guten Freund von Pastor Jörgensen aus der Tür zu werfen, namentlich, da ja sonst eigentlich nichts an dem Benehmen des Mannes auszusetzen war. Und – wie der Fremde gesagt hatte – es war ja Fastnacht.

Er wußte daher nichts anderes zu tun, als auf seinen Scherz einzugehen. Nach schwachen Kräften versuchte er sich auf dem humoristischen Gebiet und sagte:

»Darf ich dir einen zelebren Gast: Seine königliche Hoheit Prinz Karneval, vorstellen!«

Emmy sah von dem einen zu dem andern hinüber und machte kein Hehl daraus, daß sie sich gekränkt fühlte. Sie hatte wirklich das meiste von dem gehört, was der Fremde zu Arnold gesagt hatte; und von der Kleinmagd hatte sie außerdem erfahren, daß er zwei große Handkoffer mit sich führte und sie ohne weiteres gebeten hatte, diese in das Fremdenzimmer zu stellen. Nie im Leben war ihr eine solche Frechheit vorgekommen.

Der Fremde trat offen vor sie hin und wiederholte mit vielen beredten Handbewegungen seine Entschuldigungen und Erklärungen. Sie sah ihn mißtrauisch an und antwortete ihm nicht; aber er schien gar keine Mißstimmung zu bemerken. Als sich Emmy nach Verlauf einiger Minuten schweigend (und mit einem erneuten Seitenblick auf Arnold) ins Wohnzimmer zurückzog, faßte er dies gar als eine stillschweigende Aufforderung auf, den Schauplatz zu verlegen, und folgte ihr ritterlich, indem er sich in Lobeserhebungen über die Traulichkeit der Zimmer und die ganze Einrichtung des Hauses erging.

Arnold kam verlegen hinterdrein. Auch er fand, daß der Scherz jetzt lange genug gewährt hatte. Aber der Fremde ging lächelnd umher und dachte offenbar nicht im geringsten mehr daran, seine Schuldigkeit zu tun.

Jetzt blieb er am Klavier stehen. Er hatte ein altes Familienbild entdeckt, das an der Wand über dem Instrument hing. Er sprach von den gut abgestimmten Farben, fragte, wen es vorstelle, bemühte sich, den Namen des Malers zu erraten und fand fast sogleich den richtigen, obwohl das Bild keineswegs von einem Meister stammte.

Sollte er Künstler sein? dachte Arnold überrascht und sah zu Emmy hinüber, die sich mit demonstrativem Nachdruck mit einem Strickstrumpf in die Sofaecke gesetzt hatte.

Der Fremde wollte weitergehen, als plötzlich das Klavier seine Aufmerksamkeit fesselte.

»Ah – ein altes Marschallinstrument!« rief er entzückt aus. »Nein, das ist doch wirklich amüsant! Ich lernte in meiner Kindheit die ersten, fünftönigen Übungen auf so einem Instrument, und ich habe seither die Klänge geliebt! Gestatten Sie, daß ich es versuche?«

Ohne eine Erlaubnis abzuwarten, nahm er Platz auf dem Sessel, der jämmerlich stöhnte unter dem Gewicht seiner zwei-, dreihundert Pfund.

Emmy und Arnold sahen einander hilflos an. Emmys große Eulenaugen waren voller Flehen. Was sollten sie doch nur mit diesem verrückten Menschen anfangen?

»Die gnädige Frau spielt natürlich?«

»Meine Frau hat die Musik an den Nagel hängen müssen«, antwortete Arnold für sie. »Eine Hausfrau hat ja nur selten Zeit für dergleichen.«

»Aber das ist doch wirklich schade. Denn das Instrument ist gut. Es muß nur etwas mehr gespielt werden.«

Er hatte die Finger ein paarmal über die Tasten laufen lassen und fing nun an zu spielen. Es war Schuberts scherzhaftes Menuett, das Emmy Ton für Ton kannte, da sie es selbst einmal mit ihrem Musiklehrer eingeübt hatte. Sie beurteilte aus diesem Grunde sein Spiel rein fachmäßig und war ganz überwältigt von seiner meisterhaften Technik und der Bravour des Vortrags.

Was sie dachte, entfuhr ihrem Munde unversehens in demselben Augenblick, als er schloß:

»Sie sind Musiker . . . Komponist etwa?«

Er erhob sich lächelnd und verneigte sich, die Hand auf dem Herzen:

»Meine gnädige Frau! Ich bitte demütigst, daß Sie mir aufs Wort glauben möchten. Ich bin wirklich der, für den ich mich ausgebe. Nicht wahr – dann kennen Sie meine berühmte Familie? Mein Großvater ist der ehrwürdige Herr Eulenspiegel. Mein Vater hieß Hans Quast. Und Harlekin ist mein Vetter. Meine Heimat ist das Schlaraffenland, und ich bin Reisender in den bekannten gebratenen Tauben, die einem jeden, der den Mund nur genügend weit aufmachen will, von selber in den Mund fliegen!«

Arnold fiel wieder mit seinem kurzen, angestrengten Lachen ein. Emmy hingegen stellte sich nach wie vor ganz unempfänglich für seine Witze. Sie bereute, daß sie überhaupt mit ihm gesprochen hatte. Nicht im entferntesten verriet ihre gekränkte Hausfrauenmiene, daß sie ihn trotzdem recht unterhaltend fand.

Während er spielte, hatten die Jungen neugierig aus dem Eßzimmer hereingelugt, und die Kleinmagd hatte einen Wink bekommen, sie zu entfernen und zu Bett zu bringen. Jetzt wurde die Tür wieder leise geöffnet, aber diesmal erschien niemand.

»Kannten Sie das, was ich spielte, meine gnädige Frau?« fragte der Fremde.

»Ja. Es war Schuberts Menuett«, antwortete sie in gleichgültigem Ton. Sie konnte sich nicht enthalten zu zeigen, daß sie Bescheid wußte, ärgerte sich aber gleichzeitig darüber, daß sie sich wieder mit ihm eingelassen hatte.

»Stellen Sie Schubert sehr hoch?« fragte Arnold, indem er sich ihm näherte. Er war ganz ohne Musikverständnis, hatte aber die kleine Schwäche, in allen Verhältnissen als der Sachverständige aufzutreten.

»Ja, ich habe ihn sehr gern. Er hat eine so herzensgute Laune. Aber zur Zeit ist Petschoff mein Lieblingskomponist. Dieser geniale junge Russe. Sie kennen ihn doch?«

Emmy hatte den Namen noch nie gehört und schwieg deswegen. Arnold hingegen sagte:

»Welche von seinen Kompositionen stellen Sie am höchsten?«

Der Fremde besann sich einen Augenblick und sah ein wenig verschmitzt aus. Dann rief er aus, indem er die Hände ausstreckte:

»Den Totentanz! Ich kann die wunderbaren Einleitungstakte niemals hören, ohne tief aufgewühlt zu sein. Ich denke mir, so ungefähr muß die große Reveille klingen, die am jüngsten Tag uns Siebenschläfer alle aus den Gräbern erwecken soll. Es ist eine Reise geradewegs in den achten Himmel hinein!«

Die Eßstubentür tat sich endlich ganz auf. Die ältliche Köchin hatte dort auf der Lauer gestanden. Unter dem Vorwand, sich Bescheid über das Abendessen holen zu wollen, plumpste sie herein, um den Fremden näher in Augenschein zu nehmen und überhaupt darüber ins reine zu kommen, was für sonderbare Dinge sich eigentlich dadrinnen zutrugen.

Von ihrer Sofaecke aus winkte ihr Emmy ungeduldig ab.

Aber das Mädchen ließ sich nicht abweisen. Sie blieb an der Tür stehen, die großen, gelben Augäpfel starr und mißtrauisch auf den fremden Mann gerichtet.

»Ane, Sie können gern gehen«, mußte Emmy schließlich sagen. »Ich werde schon herauskommen und Ihnen Bescheid sagen.«

Dann trottete sie schmollend ab.

»Haben Sie nicht Lust, ein wenig von dieser Danse macabre zu spielen?« fragte Arnold.

»Ach, ich bin nur ein elender Dilettant! Aber wenn Sie fürlieb nehmen wollen –«

Er setzte sich wieder auf den Klaviersessel, machte versuchsweise einen Anlauf in Form einer Reihe von Akkorden, hielt dann aber inne, schüttelte den Kopf und erhob sich. Indem er stehen blieb, eine Hand auf das Klavier gelegt, ließ er den Blick unruhig und verlegen durch das Zimmer schweifen.

»Ja, nun denken Sie natürlich wieder, daß ich ein sonderbarer Patron bin. Aber ich habe eine Bitte an Sie. Wollen Sie mir nicht gestatten, die Lichter in dem Kronleuchter dort anzuzünden? Die sämtlichen Lichter! Und dann muß ich dringend um Erlaubnis bitten, mich umkleiden zu dürfen – ich war vorhin so frei, meine Reiseutensilien in Ihr Fremdenzimmer bringen zu lassen. Ich will Ihnen nämlich sagen, ich bin – wie bereits gesagt – nur Dilettant, und es ist mir ganz unmöglich, in die rechte Musikstimmung zu kommen, wenn ich nicht in Dress bin.«

Emmy und Arnold zuckten förmlich zusammen. Unwillkürlich sahen sie einander an. Jetzt waren sie nicht mehr im Zweifel darüber, daß bei dem Mann eine Schraube los war.

Er ging durch das Zimmer und fing an, sich ruhig zu erklären. Mit Petschoffs Musik – sagte er – sei es ihm ungefähr so ergangen, wie es einem seiner Freunde mit Shakespeares Dichtung erging, der er lange Zeit nicht das geringste Interesse hatte abgewinnen können, jedenfalls nur wenn er sie auf dem Theater aufgeführt sah. Diesem Freund wurde einmal der Rat erteilt, er solle sich eines Abends in Gala werfen und seine Zimmer mit Licht und Blumen schmücken, als erwartete er hochvornehme Gäste, um sich dann in den Stunden vor Mitternacht hinzusetzen und »Wie es euch gefällt« zu lesen. Er befolgte den Rat und hatte später eingestanden, daß sich ihm in jener Nacht nicht allein Shakespeares Poesie, sondern überhaupt die Poesie der ganzen Welt in all ihrer Herrlichkeit offenbart habe.

»Und so ergeht es wohl den meisten von uns armen Sterblichen mit den Gaben der Kunst. Und vielleicht mit dem Leben überhaupt. Wenn man nicht selbst ein wenig von dem Teufel im Leibe hat, versteht man nichts von dem Werk eines Genies. Auch nichts von des lieben Gottes Werk. Das habe ich – wie gesagt – ganz besonders in bezug auf Petschoffs Musik erkennen müssen.«

Er war, sich die Hände reibend, auf dem Teppich auf und nieder gegangen und hatte, während er sprach, zu der Decke emporgesehen. Jetzt blieb er vor Emmy stehen und sagte, indem er den Kopf flehend auf die Seite legte:

»Würden Sie es mir sehr übelnehmen, meine gnädige Frau, wenn ich Sie an das allerliebste mittelmeerblaue oder himalajafarbene seidene Kleid erinnerte, das Sie sicher irgendwo in dem Grabesdunkel des Kleiderschrankes hängen haben, wo es nur Motten und andern Kreaturen der Finsternis zur Freude gereicht? Und Sie, verehrter Herr Doktor, würden Sie etwas dagegen haben, sich in Frack und weiße Binde zu kleiden in Veranlassung dieses kleinen Petschoffschen Auferstehungsfestes? Würden Sie mir überhaupt gestatten, in allen Grenzen des Anstandes natürlich, das Haus hier heute abend ein wenig auf den Kopf zu stellen? Es ist ja Fastnacht! Und ich habe Ihnen gesagt, wer ich bin. Also dürfen Sie mich nicht vor den Kopf stoßen.«

Seine klaren, hellbraunen Ziegenbockaugen schweiften mit einem verführerischen, lockenden Blick zwischen ihnen hin und her. Als niemand von ihnen eine Antwort gab, empfahl er sich, indem er – sich ehrerbietig verneigend – der Hoffnung Ausdruck verlieh, daß er sich im Besitz von ein wenig der Überredungskunst zeigen möge, die man einem gewissen Herrn zuschrieb, von dem es hieß, daß, wenn man ihm erst einen kleinen Finger gereicht habe . . .

Noch in der Tür verneigte er sich zweimal und sagte lächelnd:

»Auf Wiedersehn!«

Kaum war er fort, als Emmy vom Sofa aufsprang, das Strickzeug wegwarf und zu ihrem Mann hinüberlief.

»Es ist ganz schrecklich! Was sollen wir nur machen? Er ist ja total verrückt!«

»Ja, ganz richtig im Kopf ist er offenbar nicht.«

»Wer glaubst du, daß er ist?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Aber ich entsinne mich, daß Pastor Jörgensen einmal von einem seiner Freunde sprach – ich glaube, es war ein Gutsbesitzer –, der während der Studentenzeit bei einem Ausflug in den Wald vom Wagen fiel und seither immer ein wenig wunderlich geblieben war.«

»Du hättest ihn nicht empfangen sollen. Das war nicht richtig.«

Sie sagte dies mit einem Gesichtsausdruck, der ihn unwillkürlich veranlaßte zu lächeln, weil er ihn in rührender Weise an ihre nervösen Mädchentage erinnerte, wo sie sich von allem einschüchtern ließ und immer gleich Schutz bei ihm suchte.

»Ich glaube, er hat dir wirklich bange gemacht«, sagte er und schlang den Arm um sie. »Dein Herz pocht schneller.«

»Ja, aber willst du mir, bitte, sagen – was wir machen sollen?«

»Ach, wir müssen ihn mit ausgesuchter Freundlichkeit behandeln. Wir wollen doch um keinen Preis dem Pfarrer Grund geben, sich zu beklagen, daß wir seinen Gast nicht ordentlich empfangen haben. Geh du nun hinaus und sag in der Küche Bescheid. Wir bekommen ja außerdem hierdurch eine passende Verwendung für all unser gutes Essen. Wir wollen Rotwein und Sherry auf den Tisch stellen, da wir es ja nun doch einmal im Hause haben.«

»Ja, du glaubst aber doch selbst, daß der Mann verrückt ist!«

»Nun – verrückt: das ist wohl ein reichlich krasser Ausdruck. Es ist vielleicht eine kleine Schraube bei ihm los: das wird wohl das Ganze sein. Im übrigen macht er ja einen sehr sympathischen Eindruck, finde ich. Und er ist ganz unterhaltend. Und nun will er uns ja etwas vorspielen. Wie hieß doch der Russe noch?«

Emmy antwortete zerstreut. Sie hatte die Hand noch immer um seinen Nacken geschlungen und schmiegte sich wie in Angst fest an ihn.

Arnold fuhr fort, sie zu beruhigen:

»Er spielt ja gut. Es ist wirklich eine erstaunliche Fertigkeit. Und es kann ja ganz amüsant werden bei so einem kleinen Musikfest. Es ist in der Hinsicht in den letzten Jahren ja ziemlich kärglich bei uns bestellt gewesen.«

Emmy hatte seinen oberen Westenknopf gefaßt, der über dem zusammengebundenen Schlafrock hervorlugte.

»Aber es kann doch nicht dein Ernst sein, Arnold – Du willst doch nicht verlangen, daß ich – so wie er es wünschte – mein rosaseidenes Kleid anziehen soll?«

Arnold mußte lachen.

»Nein, das verlange ich wirklich nicht! . . . Obwohl, du! Warum eigentlich nicht? Ich hätte wohl Lust, dich einmal wieder in Staat zu sehen. Du hast das Kleid seit der großen Gesellschaft bei deinem Onkel nicht wieder angehabt – weißt du wohl noch? Und, mein Gott, es ist ja Fastnacht! – Ja, du siehst mich an. Aber es ist wirklich mein Ernst!«

»Ach, das kannst du doch nicht meinen, Arnold! Es würde ja Torheit sein . . . ganz wahnsinnig!«

Sie zerrte an dem Westenknopf und wurde immer unruhiger.

Aber nun war er ganz erpicht darauf, ein Fest zu veranstalten. Er schlang auch den andern Arm um sie und wollte sie zu einem Kuß zwingen.

»Ich sage dir, es ist mein Ernst! Ich bekomme wirklich Lust, einmal über die Stränge zu schlagen. Hörst du, Emmy! Ich will dich in deinem seidenen Kleide sehen.«

»Nein, nein – es nützt nichts, Arnold! Es geht nicht an. Bedenke doch, ich bin eine alte Frau! – Was würden die Mädchen wohl dazu sagen?«

»Die Mädchen?«

»Ja. Morgen würde das ganze Dorf darüber reden.«

Diese Voraussage kühlte ihn einen Augenblick ab. Er sah im Geiste Schullehrer Sörensen herumhausieren und die Neuigkeit mit seinem schiefen, schadenfrohen Lächeln kolportieren. Aber diese Aussicht reizte ihn auf der andern Seite nur noch mehr.

»Laß die Leute reden! Was geht das uns an? Es ist ja übrigens eine gute althergebrachte Bauernsitte, am Fastnachtsabend Scherz zu treiben. – Komm! Nun gehen wir beide hin und machen uns fein!«

»Nein, Arnold. Ich tue es nicht. Das Kleid paßt mir natürlich auch gar nicht mehr.«

»Was macht das? Wir wollen doch nicht auf einen Kommerzienratsball.«

»Und dann ist es ausgeschnitten.«

»Ja, was schadet das? Du bist doch am allerschönsten in deinem weißseidenen Kleide, das der liebe Gott dir selbst genäht hat. – Au!«

Sie hatte ihm einen Klaps auf das Ohr gegeben.

»Willst du gefälligst hübsch artig sein!«

Er lachte und schlang ausgelassen beide Arme um ihre Beine, um sie fortzutragen.

»Es ist ja wahnsinnig! Arnold! . . . Arnold!« fuhr sie fort zu rufen, während sie zappelnd – ohne jedoch ernsten Widerstand zu leisten – sich an die Schlafstubentür führen ließ. »Seid ihr denn alle beide gleich verrückt?«

Plötzlich ließ er sie los, und sie fuhren auseinander. Die Eßstubentür hatte geknarrt. Die alte Ane kam wieder auf ihren Flickenpampuschen hereingeschlumpt, um nach dem Abendessen zu fragen. Sie hatte offenbar etwas gehört, denn sie blieb an der Tür stehen, den häßlichen Hängemund ganz verdutzt weit aufgesperrt.

Arnold war wütend und fuhr auf sie ein, um sie auszuschelten. Aber Emmy, die sofort ihre ganze Ruhe wiedergewonnen hatte, legte sich ins Mittel und erteilte dem Mädchen mit ihrer gewohnten Bestimmtheit und hausmütterlichen Umsicht ihre Befehle. Die gepökelten Enten, sagte sie, sollten zusammen mit den Salaten kalt aufgetragen werden, und es sollte Schlagsahne zu der Pflaumentorte geschlagen werden. Die Butter sollte in Kugeln angerichtet und der Käse in Würfel geschnitten und beides auf einer zusammengefalteten Serviette angerichtet werden –

»Denn wir feiern heute abend ein Fest!« sagte Arnold mit übertriebener Lebhaftigkeit. »Haben Sie ganz vergessen, daß heute Fastnacht ist, Ane?«

 

In jener sternenhohen Herbstnacht vor sechs und einem halben Jahr, in der Arnold und Emmy als Neuvermählte mit der Postkutsche in Sönderböl anlangten und ihr großes Gepäck in aller Eile auf der Landstraße vor dem Hause abgeladen werden mußte, befand sich in dem Haufen von Koffern und anderen Habseligkeiten ein funkelnagelneuer Reisekorb, über dem Emmy mit besonderer Sorgfalt wachte und den sie gleich im Hause in Sicherheit brachte.

Diesen Korbkoffer öffnete sie auch am nächsten Tage zuallererst, als sie anfing, auszupacken und ihr Hab und Gut in dem neuen Heim unterzubringen. Er enthielt die Heiligtümer ihres Jungfrauenstandes, in erster Linie alle Hochzeitserinnerungen: Das Brautkleid, den Schleier und den Myrthenkranz, außerdem das Bukett, das Arnold ihr vor der Trauung geschickt hatte, die Speisenfolge und die gedruckten Lieder, die bei Tische gesungen worden waren, alle Briefe Arnolds und kleinen Geschenke aus der Brautzeit, endlich das wertvollste von ihrer persönlichen Aussteuer, darunter ein rosaseidenes Kleid mit weißem Spitzenbesatz, das sie in einer Familiengesellschaft am Tage vor der Hochzeit getragen hatte.

Während des ersten Jahres hatte sie in den langen, leeren und einsamen Stunden, wenn Arnold weg war, oft ihre Zuflucht zu diesen Kleinodien genommen. Sie saß dann auf dem Rande der ausgezogenen Schublade und ließ die festlichen Gemütsbewegungen der Hochzeitsvorbereitungen wie im Traum durch ihren Sinn ziehen. Oder sie probierte ihre hübschen Kleider vor dem Spiegel an, schmückte das Haar mit Blumen und Kleinodien – kurz sie benahm sich auf eine Art und Weise, über die sie seither oft gelacht hatte und die ihr verschroben erschienen war. Wie sie zu sagen pflegte: sie hatte jetzt Gott sei Dank an etwas anderes zu denken und hatte andere Sachen, zu denen sie ihre Schubfächer gebrauchen mußte. Sie konnte sich noch ganz deutlich entsinnen, ja, sie konnte es förmlich fühlen, wie ihre Gedanken sich im Laufe der ersten Schwangerschaft von dem Entschwundenen ab- und dem Künftigen zugewendet hatten. Jahr für Jahr mußten neue Schubladen in Kommoden und Schränken leergeräumt werden, um Platz für die Kindersachen zu schaffen.

Als sie deswegen jetzt das seidene Kleid herausholen wollte, mußte sie in einer alten Pappschachtel, die oben auf dem Kleiderschrank stand, danach suchen; und als sie das Kleid sah, gab sie sofort den Gedanken auf, es anzuziehen, und erklärte plötzlich sehr bestimmt, daß sie die Narrenstreiche nicht mitmachen würde.

Bei Arnold war der Mut in Wirklichkeit auch gesunken. Schon allein das Ablegen des Schlafrocks und das Hervorsuchen des Gesellschaftsanzuges machten ihn nüchtern. Aber jetzt würde es zu fatal sein, den Scherz aufzugeben. Um sich selbst anzufeuern, fing er denn an, Emmy auszuschelten. Sie sollte sich jetzt nicht anstellen! Wenn auch das Kleid ein wenig zerknittert und etwas altmodisch im Schnitt war – was machte das? Das ganze sei ja nur ein Karnevalscherz.

Aber Emmy wollte nichts davon hören. Sie setzte sich verstimmt auf den Rand des Bettes und lehnte es sogar ab, ihm bei dem Suchen nach dem weißen Schlips zu helfen.

Draußen in der Küche fand zu gleicher Zeit ein bewegter Auftritt statt.

Die alte Ane schlurfte auf ihren Flickenpantoffeln herum und murrte vor sich hin, wie sie es zu tun pflegte, sobald nicht alles nach ihrem eigenen, dicken Kopf ging. Sie kam gerade, die kalten Enten auf einer Schüssel, aus dem Keller heraus und erteilte der Kleinmagd den Befehl, den Kochtopf aufs Feuer zu stellen, als der Fremde plötzlich in vollem Putz, eine Rose im Knopfloch, in der Tür erschien.

Sie sank in das eine Knie und stöhnte laut auf. Es fehlte nicht viel, so hätte sie die Schüssel fallen lassen. Sie hätte nicht aufgebrachter sein können, wenn der Böse in leibhaftiger Gestalt plötzlich hinter ihr gestanden hätte.

Er blieb in der Tür stehen und nickte ihr freundlich zu.

»Lassen Sie sich nicht stören! Ich wollte nur sagen . . . Ich sehe, Sie haben angefangen, den Tisch im Eßzimmer zu decken. Aber es ist ziemlich kalt da drinnen und auch nicht recht gemütlich. Ich möchte vorschlagen, daß Sie im Wohnzimmer decken. Sie können das Eßzimmer dann als Anrichtezimmer benutzen.«

Ane stellte die Schüssel mit einer Wucht auf den Küchentisch, daß sie förmlich klirrte.

»Ich laß mir bloß was von Herr Dokter und von Frau Dokter sagen – daß Sie das man wissen!«

Er sah sie einen Augenblick fest an.

»Ich weiß sehr wohl, daß ich hier im Hause nichts zu sagen habe«, entgegnete er darauf in unverändert freundlichem Ton. »Es ist nur ein Vorschlag, den ich Ihnen mache. Aber ich bin übrigens fest überzeugt, daß die Frau Doktor ihn billigen wird. Haben Sie also die Güte zu tun, was ich Ihnen sage. Und sollten Sie zufällig irgendein Gefäß aus altem Silber oder schönem Porzellan – eine Vase oder dergleichen – beschaffen können, wollen Sie es mir dann herausgeben.«

»Ich weiß garnich', was hier vor sich geht«, sagte das alte Mädchen, vor Wut und aufsteigender Angst dem Weinen nahe. »Na, meinetwegen! Ich will nichts nich mehr damit zu tun haben.«

Sie riß die Schürze ab und warf sie auf den Küchenstuhl, humpelte dann in die Mädchenkammer und knallte die Tür hinter sich zu.

Der Fremde zuckte die Achseln.

Dann winkte er der Kleinmagd, die sich in der Ecke hinter dem Herd verkrochen hatte. Sie war ein Kind von fünfzehn Jahren, ein kleiner rotwangiger Flachskopf mit ein Paar großen, luftblauen, einfältig vergnügten Augen.

»Komm einmal her, mein Kind!« sagte er einschmeichelnd.

Sie gehorchte, als sei sie hypnotisiert. Freimütig stellte sie sich vor ihn hin, das Kinn in die Luft, die Arme am Leibe herabhängend, wie ein Schulkind, das vor seinem Lehrer steht.

»Komm jetzt zu mir herein. Wir beide wollen zusammen den Tisch decken. Aber es muß ganz still abgehen. Kein Geräusch! – Laß mich einmal sehen, was du an den Füßen hast!«

Sie streckte wie auf Kommando ihren rechten Fuß vor und zeigte, daß sie auf Socken ging.

»Das kann gehen! Aber auch kein Schwatzen! Vergiß das nicht! Es soll eine Überraschung sein, weißt du. – Warte einmal! Wie heißt du?«

»Abelone.«

Er streichelte ihr die Wange.

»Das ist ein guter Name. Ein festlicher Name. Aber nun hör einmal, mein Kind! Du hast doch wohl ein andres Kleid, das du anziehen kannst, als dies alte Schüsseltuch? Ein schwarzes Kleid, nicht wahr? Und eine reine, weiße Schürze? – Gut! Dann komm mit mir!«

Drinnen im Wohnzimmer hatte er schon in aller Stille die ersten Vorbereitungen getroffen. Er hatte die steif in Reih und Glied auf den Fensterbrettern stehenden Blumen weggenommen und sie sorgfältig zur Ausschmückung des Zimmers rings umher angebracht. Der runde Tisch wurde vor dem Sofa weggerollt und mitten in der Stube unter den Kronleuchter gestellt, und nun bekam Abelone den Befehl, hier zu decken.

Anfänglich ging es zum Verzweifeln. Sie war gehorsam wie ein Automat, aber freilich wie einer, der verkehrt eingestellt ist. Beständig mißverstand sie seine Befehle, weil er, da die Schlafstube ganz in der Nähe lag, nicht zu sprechen wagte, sondern sich mit Zeichen und Gebärden begnügen mußte. Als sie einmal Bescheid erhielt, Weingläser zu holen, schlüpfte sie ganz geschwind in die Küche hinaus, kehrte aber mit dem Staubbesen zurück; und als er eine Blumenschale verlangte, kam sie mit einem Wassereimer herbei.

Plötzlich hörte man eine Tür gehen. Draußen auf dem Schlafstubengang ertönten hastige Schritte. Er blieb erschreckt stehen und spitzte die Ohren. Aber die Schritte flogen vorüber und verschwanden.

Arnold ging da draußen in Hemdärmeln und mit einem Licht in der Hand. Er war auf dem Wege nach dem Dachboden, wo sein Frack irgendwo in einer der Rumpelkammern hing. Er ging und summte eine Melodie vor sich hin, war aber in Wirklichkeit in fürchterlicher Laune. In seinem innersten Innern hatte er ein unangenehmes Gefühl von Verlegenheit, er wünschte den fremden Eindringling und seine Karnevalsscherze zum Teufel.

Da oben in der Dunkelheit und Einsamkeit des Speichers ging er endlich in sich. Mit der glücklichen Empfindung, sich von einem ungemütlichen Zwangsgedanken zu befreien, sah er ein, daß Emmy recht hatte: er war im Begriff, sich rettungslos zum Narren zu machen.

Er ließ den Frack hängen und ging ruhig und entschlossen wieder hinab.

Aber es lag nicht mehr in seiner Macht, dem Gang des Spieles Einhalt zu gebieten. Als er in die Schlafstube zurückkehrte, wurde er hier von einem unerwarteten Anblick empfangen, der seinen Sinn zu hellen Flammen entfachte.

Emmy hatte dem Zauber des rosa Seidenen doch nicht widerstehen können. In seiner Abwesenheit hatte sie versuchsweise das Kleid angezogen und stand nun auf den Zehenspitzen und reckte sich, um sich dünne zu machen, so daß sie den Gürtel zuhaken konnte.

»Aber nein!« – Unwillkürlich streckte er beide Arme in die Höhe. – »Emmy! Du bist ja großartig!«

Sie konnte die Haken kaum schließen. Ihre Wangen glühten. Sie war so bange gewesen, daß er sie lächerlich finden und sie auslachen würde.

»Findest du, daß es mich noch kleidet?«

»Brillant, mein Schatz! Ganz großartig! Und es paßt dir ja noch ganz gut. Sonderbar, daß du dich nicht mehr verändert hast!«

»Meinst du, daß ich dies hier auch nehmen soll?«

Sie entnahm einer roten Schachtel zwei Eichenblätter aus Silber mit kleinen Tautropfen aus Diamanten. Sie bildeten zusammen ein Diadem.

Arnold stellte sich hinter sie und sah über sie hinweg in den Spiegel, während sie den Schmuck im Haar befestigte.

»Kennst du das wohl noch?« fragte sie.

»Ob ich es noch kenne! . . . Nein, wie lange das her ist!«

»Findest du, daß ich es tragen kann?«

»Vorzüglich! Ganz ausgezeichnet! Du wirst ja eine Märchenprinzessin! Ich versichere dir, Emmy, du bist nie schöner gewesen!«

Sie errötete von neuem. Und in einem plötzlichen Ausbruch von Glücksgefühl beugte sie sich zurück, legte beide Hände um seinen Kopf und drückte seinen Mund auf den ihren.

»Noch einmal«, sagte sie lachend.

Und sie küßte ihn wieder, so daß ihm fast der Atem verging.

Im selben Augenblick berührte eine Hand das Klavier im Wohnzimmer.

Erschreckt fuhren sie auseinander. Sie waren beide nahe daran gewesen, ihren sonderbaren Gast zu vergessen.

»Das ist ja schrecklich!« sagte Emmy. »Er ist schon da!«

»Ach was! Nun unterhält er sich ja mit Klavierspielen!« tröstete Arnold.

Und zu den Tönen einer prachtvollen, festmarschähnlichen Musik vollendeten sie ihre Toilette. Aber Arnold mußte ja noch einmal auf den Dachboden hinauf. Und außerdem mußte er Emmy fortwährend Handreichungen tun, ja sogar einmal mit Nadel und Faden einspringen. Und das alles hielt um so mehr auf, als dergleichen sofort die Veranlassung zu einem neuen Austausch von Küssen und allerlei anderen verliebten Schäkereien wurde, ganz als wären sie noch in den Flitterwochen.

Arm in Arm unternahmen sie schließlich die letzte Musterung vor dem Spiegel. Aber an der Tür zum Wohnzimmer mußten sie noch einmal einen kleinen Kampf mit der Verlegenheit bestehen. Unter einem gezwungenen Lachen suchten sie sich gegenseitig zu bewegen, zuerst hinein zu gehen. Bis Arnold plötzlich die Tür aufriß und mit Emmy am Arm hineinsegelte.

Da erstarrten sie beide, und das Lachen ging in einen Ausruf des Verwunderns über. Sie erkannten ihr eigenes Zimmer nicht wieder.

Nicht nur in dem Kronleuchter unter der Decke, sondern auch in einigen Wandlampetten, die seit der ersten Kindtaufe nicht benutzt waren, brannten Lichter. Und überall waren Blumen. Mitten auf dem Tische stand eine große Schale mit wunderschönen gelben Rosen, zwischen denen reife Pfirsiche und blaue Trauben hervorlugten. Über das Tischtuch waren kleine Veilchensträuße gestreut.

Der Fremde hatte sich vom Klavier erhoben. Die Hand auf dem Herzen, begrüßte er sie ehrfurchtsvoll.

»Meine gnädige Frau! Verehrter Herr Doktor! Sie werden es mir hoffentlich verzeihen, daß ich mich so ganz unberufen selber zum Zeremonienmeister bei diesem kleinen improvisierten Fest aufgeschwungen habe. Ich bitte auch um Verzeihung, daß ich mir erlaubt habe, ein wenig Tafelschmuck anzuwenden, den ich in meinem Koffer mitgebracht hatte, um nicht mit ganz leeren Händen zu meinem geistlichen Freund zu kommen.«

Die beiden hatten aufgehört, sich über irgend etwas zu wundern. Während Emmy um den Tisch herumging, wie ein Kind um einen Tannenbaum, blieb Arnold an der Tür stehen, beide Hände in die Seite gestemmt, und ließ die geblendeten Augen durch das ganze Zimmer schweifen. Und plötzlich brach er in schallendes Gelächter aus.

Er ging zu seinem Gast hinüber und drückte ihm die Hand.

»Königliche Hoheit!« sagte er, indem er sich tief verbeugte – und es lag nichts Verlegenes mehr in seiner Munterkeit – »darf ich Sie bitten, meine Frau zu Tische zu führen!«

 

Sie hatten jetzt ungefähr eine Stunde bei Tische gesessen und waren bis zum Dessert gelangt. Die kleine rosenwangige Abelone, die das Aufwarten besorgte, sah allerliebst aus in ihrem schwarzen Konfirmationskleide und der weißen Latzschürze; aber ihr Aufwarten war zum Lachen und zum Weinen. Einmal strauchelte sie sogar über das lange Kleid, so daß ein paar Teller über den Fußboden hinflogen. Und erst recht verwirrt wurde sie, als weder der Doktor noch ihre Herrin ihr Vorwürfe von der Art machten, wie sie ihnen sonst lose genug auf der Zunge zu liegen pflegten. Der Doktor stimmte sogar ein Lachen an und rief: »Da capo!«

Die alte Ane stand hinter der halbgeöffneten Tür zum Eßzimmer auf der Lauer. Sie hatte auf die Dauer ihre Neugier nicht zügeln können. Sie hatte sogar zuletzt selbst Hand angelegt beim Decken des Tisches. Aber jetzt war sie wieder ganz außer sich vor Empörung über das, was sie hier sah und hörte.

Der Fremde führte fast die ganze Zeit das Wort. Arnold konnte kaum weiter vor Lachen, und Emmy hatte sich gleich von Anfang an schweigend verhalten. Sie hatten es beide allmählich aufgegeben, Klarheit darüber zu erlangen, wer er war. Sie machten sich nicht einmal mehr etwas daraus, es zu erfahren. Es genügte ihnen, daß er sie mit seiner Unterhaltung beständig hoch emportrug zu der Märchenstimmung des Augenblicks, und sie ergötzten sich an seinen Erzählungen und seinen vielen scherzhaften Einfällen.

Emmy fühlte sich aber doch nicht ganz sicher und war auf ihrem Posten. Seine Anekdoten wurden zuweilen reichlich kühn. Trotzdem mußte sie darüber lächeln, wenn auch im verborgenen. Seine ruhige Art und Weise zu erzählen, die ganze drollige altmodische Redeform, die ihm eigen war, legten gleichsam einen Flor über das Anstößige.

Trotz all seiner Redseligkeit wirkte er auch auf keine Weise anmaßend oder lärmend. Im Gegensatz zu Arnold, der anfing, ein wenig umnebelt zu werden, schien er nicht sonderlich vom Wein beeinflußt zu sein. Die Farbe seiner vollen Wangen war nur noch ein wenig tiefer geworden, und der Schelm in den klaren Ziegenbockaugen hatte sich gleichsam etwas weiter hervorgewagt. Er glich einem alternden Satyr, wie er dasaß und mit seinem traubenroten Mund lächelte, während die graubraunen Haarlocken wie ein herbstlicher Weinlaubkranz von dem blanken Scheitel abstanden.

Emmy hatte sein Versprechen, daß er ihnen etwas vorspielen wolle, nicht vergessen. Als die Dessertteller nun herumgesetzt waren und Abelone endlich entbehrt und die Tür zum Eßzimmer geschlossen werden konnte, erinnerte sie ihn daran.

Er machte auch keine Einwendungen. Nur bat er sich vorher eine Gunstbezeugung aus. Er hielt um die Erlaubnis an – wie er sich ausdrückte –, sie alleruntertänigst als Königin des Festes krönen zu dürfen.

Sie verstand nicht gleich, was er meinte, und sie fühlte sich nicht ganz sicher bei seinen immer gewagter werdenden Einfällen. Aber wie immer, wenn sie nicht sogleich antwortete, faßte er ihr Schweigen als Einwilligung auf. Er hatte im voraus die Fruchtschale einiger der schönsten und größten Rosen beraubt, und diese befestigte er nun mit leichter und geschickter Hand in ihrem Haar, so daß sie einen goldenen Kranz unter dem silbernen Diadem bildeten.

Anfänglich gefiel ihr das nicht recht. Es war ihr unangenehm, seinen dicken Körper so in der Nähe zu haben und seine Finger in ihrem Haar zu fühlen. Sie fürchtete auch, daß Abelone hereinkommen könne. Aber nachdem sie sich in den Mienen der andern gespiegelt und gesehen hatte, daß die »Krönungstracht« sie kleidete, leistete sie keinen Widerstand mehr. Arnold war ganz erfüllt von Bewunderung. Er schlug die Hände zusammen und äußerte sich laut und völlig unbeherrscht über ihre wunderbare Schönheit. Um die Illusion vollständig zu machen, kam er auf den Einfall, daß sie auch gesalbt werden müßte. Er sammelte eine Hand voll Rosenblätter und ließ sie langsam auf sie herabrieseln, und sie blieben auf ihrem Kleide liegen gleich strahlenden Pailletten.

Sie ging allmählich ganz unbefangen auf ihre Rolle ein und sagte schließlich mit Königinnenmiene:

»Und nun Musik!«

Der Fremde erhob sich sofort und verneigte sich tief vor ihr.

»Ich bin Euer Majestät allerdemütigster Diener!«

Aber statt zum Klavier hinzugehen, verschwand er durch Arnolds Zimmer auf die Diele hinaus und kehrte mit einem langhalsigen perlmuttereingelegten Instrument, einem Zwischending zwischen einer Mandoline und einer Laute, zurück.

Emmy war ein wenig enttäuscht. Arnold hingegen klatschte in die Hände und rief Bravo.

»Eure königliche Hoheit sind auch Sänger?« sagte er.

»Ein ganz klein wenig in aller Unschuld!«

Zuerst sang er ein französisches, dann zwei verliebte kleine italienische Lieder in Volksweisenton. Seine Stimme war nur klein und obendrein recht trocken. Aber die Lebensfülle des Vortrags und vor allem die virtuosenhaft glänzende Begleitung brachten eine große Wirkung hervor.

Arnold, der nur wenig von dem Text verstand und keinen rechten Genuß von Musik hatte, wurde schnell unaufmerksam. Er saß gegen den Stuhlrücken gelehnt da und fingerte lächelnd in seinem Bart herum, während er zu Emmy hinübersah, mit einem Blick, der feucht war von Wein und Verliebtheit. Er fing jetzt an, genug von dem fremden Mann zu haben. Er sehnte sich danach, wieder allein mit Emmy zu sein. Sie wollten dann das Fest ganz für sich fortsetzen und in noch kühneren Formen. Die Mädchen sollten so schnell wie möglich zu Bett geschickt werden. Nur die brennenden Lichter sollten Zeugen ihres Sardanapalschen Nachtfestes sein!

Der Fremde hatte ein neues Lied angestimmt, diesmal eins in seiner Muttersprache. Es war ein Lied von dem Gott des Märchens, der, in einen Narrenmantel vermummt, in der Welt umherzog und schlaftrunkene Eroten und schwermütige Satiren von dämmrigen Böden und aus dunklen Kellern herausbeschwor, wohin die Langeweile des Alltagslebens sie verjagt und mit Schimmel bedeckt hatte. Die Melodie war frisch und voller Humor, und jeder Vers endete mit einem sechszeiligen Refrain:

»Ja, das Leben, das geht seinen schiefen Gang,
Macht schwarz zu weiß,
Macht laut zu leis,
Und wendet alles, kurz wie lang.
Tra–Tra! Da kommt der Herr Bajatz,
Stellt alles auf den rechten Platz!«

Arnolds feuchte Augen hatten Emmy nicht losgelassen, die mit der Hand unter dem Kopf lauschte. Er saß da und dachte daran, daß auch sie wohl nicht sonderlich aufmerksam war, daß sie sich so wie er selber nur danach sehnte, den lästigen Gast und sein Lirumlarum loszuwerden. Es lag etwas von einer liebesträumenden Mänade über ihr, so wie sie dasaß, den nackten Ellbogen auf dem Tisch und die Hand unter dem blumengeschmückten Nacken. Die großen Augenlider waren gesenkt. Um den Mund lag ein stillstehendes, ein geheimnisvolles Lächeln.

Er versuchte, ihren Blick zu sich hinüberzulocken, indem er sie unter dem Tisch leise mit seiner Stiefelspitze anstieß. Er fand auch ihren Fuß; aber obwohl er sie allmählich ganz hart stieß, sah sie nicht auf. Da zog er langsam seinen Fuß zurück und wurde mißtrauisch.

Nach einer Weile, als das Lied beendet war, erhob sich der Fremde, sein Glas in der Hand, und brachte in zierlichen Wendungen ein Wohl auf das bocksfüßige Gefolge des Märchengottes aus; auf alle diese kleinen Herzensdiebe und Verstandsräuber und Schlafstörer, die in dem königlichen Haushalt der Natur eine ähnliche Bestimmung erfüllten wie gewisse Fäulniskeime in den edlen Champagnerweinen: sie schenkten dem Trunk des Lebens das Bukett und machten ihn moussieren.

Er verneigte sich vor Emmy. Und ohne sich zu besinnen, erhob sie ihr Glas und stieß es mit einem strahlenden, einem entzückten Ausdruck, der Arnold auf einmal ganz nüchtern machte, gegen das seine.

Der Fremde wandte sich nun auch zu ihm:

»Prost, Herr Doktor! Es lebe das Verderben! Auf das Aroma des Lebens und des Todes!«

Aber Arnold rührte sein Glas nicht an, er starrte vor sich hin, als hätte er nichts gehört.

»Aber was hast du auf einmal?« fragte Emmy. »Du bist doch nicht krank geworden?«

Er hatte beide Hände in die Taschen gesteckt und antwortete nicht.

Einen Augenblick wurde es unheimlich still. Da zog der Fremde seine große goldene Uhr heraus und sagte, daß er leider jetzt aufbrechen müsse. Es sei schon viel zu spät geworden. Sein Kutscher müsse drüben im Krug eingeschlafen sein und die Zeit vergessen haben. Noch einmal erhob er sein Glas und dankte ihnen beiden herzlich für den unvergeßlichen Abend.

Man erhob sich schweigend – Emmy mit einer verdrießlichen und beschämten Miene –, und der Gast nahm Abschied.

Als Arnold ihn hinausbegleiten wollte, suchte er das gleichsam ein wenig ängstlich abzuwehren.

»Bemühen Sie sich doch bitte nicht, lieber Herr Doktor. Es ist kalt da draußen auf der Diele. Und Sie haben ja gesehen, daß ich mich ausgezeichnet auf eigene Hand zurechtfinde.«

Aber Arnold war schon wieder ruhiger geworden und wollte seine Schuldigkeit bis zuletzt tun. Als sie auf die Diele hinausgekommen waren, erbot er sich auch, nach dem Krug hinüberzuschicken und den Schlitten holen zu lassen, was der Fremde jedoch auf das bestimmteste ablehnte.

»Das fehlt noch, daß ich Ihnen auch noch die Umstände mache. Sie sehen ja hier« – er zeigte auf seine großen, pelzgefütterten Stiefel und lachte –, »ich bin gut gestiefelt. Das sind die berühmten Siebenmeilenstiefel, wissen Sie.«

Während er seine Sachen im Fremdenzimmer zusammenpackte, blieb Arnold auf der Diele stehen. Der Abschied war kurz, und von Arnolds Seite trug er das Gepräge kühlster Höflichkeit. Kaum daß er sich überwinden konnte, ihn zu bitten, Pastor Jörgensen einen Gruß zu überbringen.

Als er in sein Zimmer kam, stand Emmy hier. Sie hatte sich hinter den Schaukelstuhl in das entgegengesetzte Ende des Zimmers gestellt und erwartete offenbar eine Erklärung; die Tür zum Wohnzimmer war geschlossen, vermutlich damit die Mädchen, die da drinnen mit dem Abdecken beschäftigt waren, nichts hören sollten.

Aber er ging quer durch das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Durch das Wohnzimmer ging er in die Schlafstube, um seinen Schlafrock anzuziehen. Als er auf dem Rückwege aufmerksam darauf wurde, daß die Lichter noch im Kronleuchter an den Wänden brannten, stieg ihm sein Zorn als vollkommene Verzweiflung zu Kopfe.

»Aber zum Teufel auch! So löscht doch die Lichter aus!« brüllte er. »Seid ihr denn ganz von Sinn und Verstand! Löscht die Lichter aus – sage ich!«

Als er in sein Zimmer zurückkam, stand Emmy noch auf demselben Fleck.

Sie hatte gleich zu Anfang sein Benehmen bei Tische als Folge eines Rausches aufgefaßt und sich herzlich seiner geschämt. Erst hinterher ward es ihr klar, daß etwas anderes vorliegen müsse. Es war etwas in ihr selber – eine kleine Unruhe in ihrem Gewissen –, das sie in der Beziehung geleitet hatte.

Sie sah auch allmählich ein wenig verlegen aus. Und es lag keine rechte Festigkeit in dem gekränkten Ton, mit dem sie jetzt fragte:

»Was soll dies alles nur heißen? . . . Was ist nur geschehen, Arnold?«

Er wandte den Kopf zu ihr herum, als entdeckte er sie erst jetzt, und maß sie langsam von Kopf zu Fuß.

»Du hast es ja gehört! Ich sagte, sie sollten die Lichter da drinnen auslöschen. Es hat doch keinen Sinn, die Lichter die ganze Nacht hindurch brennen zu lassen.«

Er hatte eine Tischlampe aus dem andern Zimmer mit hereingebracht. Er setzte sich vor seinen Schreibtisch und schlug sein Tagebuch auf, als wollte er sich daran machen, Rechnungen auszuschreiben.

Emmy stand da, die Arme auf die Stuhllehne gestützt. Sie beugte sich vor und fing an, sich langsam hin und her zu schaukeln. So bedrückt sie sich auch fühlte, konnte sie sich doch kaum eines Lächelns enthalten. Es rief so viele muntere Erinnerungen in ihr wach, als sie ihn so sah. Sie hatte fast vergessen, wie gut er aussehen konnte, wenn er so recht gründlich böse auf sie war.

Sie entsann sich jetzt auch, auf welche Weise sie ihn in alten Zeiten zu besänftigen pflegte, wenn er sich von ihr oder von andern zurückgesetzt glaubte. Nachdem sie ihm etwas Zeit gegeben hatte, sich zu sammeln, setzte sie sich unbefangen auf die Seitenlehne des Stuhles, und den Arm um seinen Hals schlingend, sagte sie:

»Arnold – habe ich etwas getan, was dir nicht recht ist?«

Aber die Wirkung war eine ganz andere als in der Brautzeit. Er stieß sie sehr unsanft von sich und bat sie, ihn mit ihrer Zärtlichkeit zu verschonen.

»Aber Arnold –!«

Sie war jetzt allen Ernstes beleidigt und schalt ihn gehörig aus. Aber da wandte er sich nach ihr um, mit einem so verzerrten Gesicht, daß sie unwillkürlich verstummte.

»Du siehst doch, daß ich beschäftigt bin! Nun hast du dich doch wohl für heute abend auch genügend amüsiert!« – Und indem er sie ein paarmal mit verächtlichem Blick von oben bis unten ansah, fügte er hinzu: »Du hast es auch wohl sehr nötig, zur Ruhe zu kommen. Du bist so exaltiert. Der fremde Herr hat offenbar keinen günstigen Einfluß auf dein Nervensystem gehabt.«

Sie erhob auf einmal den Kopf und sah ihn erstaunt und betrübt an. Sie wartete darauf, daß er die letzten Worte zurücknehmen würde. Als das nicht geschah, sagte sie leise, indem sie ihm den Rücken wandte:

»Du solltest dich schämen!«

Nach einer Weile verließ sie das Zimmer.

Als sie in die Schlafstube kam und vor dem Spiegel stand, schämte sie sich plötzlich ihrer selbst und ihrer Halbnacktheit. Sie hüllte sich in den Frisiermantel und nahm beschämt die Rosen aus dem Haar. Aber sie tat es zögernd und mit einem verstohlenen Mitleid mit sich selber, so wie man Abschied von einem zu schönen Traum nimmt. Dann ging sie in die Kinderstube nebenan, um sich nach den Kleinen umzusehen, erteilte darauf den Mädchen die letzten Befehle durch die Tür nach dem Küchengang hinaus, verschloß die Tür und kehrte in das Schlafzimmer zurück.

Hier standen die beiden Betten friedlich Seite an Seite von der Wand in das Zimmer hinein mit zurückgeschlagenen Steppdecken. Unter der Decke brannte die rosa Ampel. Sie hatte sie selbst angezündet, als sie sich ankleidete; sie war sonst seit vielen Jahren nicht benutzt worden. Jetzt war das festliche Licht ihr unangenehm. Sie zog sie herunter und löschte sie aus.

Dann setzte sie sich mißmutig vor den Spiegel und machte sich daran, ihr Haar aufzulösen. Sie zürnte Arnold nicht mehr, obwohl sie es nicht begriff, daß er es hatte übers Herz bringen können, ihnen beiden die Freude dieses Abends zu verderben. Aber sie hätte das voraussehen müssen. Sie wußte ja aus alten Zeiten, wie sonderbar er sein konnte. Deswegen verzieh sie ihm auch seine Kränkung. Wenn er die Sache erst beschlafen hatte, würde er ganz von selbst einsehen, wie lächerlich sein Verdacht gewesen war, und ihn bereuen.

Sie entkleidete sich langsam und ging zu Bett. Aber sie ließ das Licht doch noch eine Weile brennen. Erst nach Verlauf einer ganzen Stunde hörte sie Arnold hereinkommen. Da tat sie, als schliefe sie.

 

Am nächsten Vormittag hatten sie sich noch nicht ausgesöhnt. Emmy hatte den ganzen Morgen vollauf zu tun gehabt, das Haus nach der gestrigen Störung wieder in Ordnung zu bringen, außerdem war ein lärmender Streit zwischen den Mädchen entbrannt wegen eines goldenen Zwanzigkronenstücks, das der Fremde auf dem Waschtisch im Logierzimmer hinterlassen hatte. Die alte Ane, die ihren eigenen geheimen Verdacht in bezug auf die fremde Mannesperson hegte und noch immer Schwefel in den Stuben roch, wagte nicht, ihren Anteil an diesem Gelde in Empfang zu nehmen, gönnte aber auf der andern Seite Abelone auch nicht einen Öre mehr als das Drittel, das ihr von Rechts wegen zukam. Unter dieser schweren Pein war sie noch wütender als sonst, und Emmy mußte ein Mal über das andre in die Küche hinaus und Frieden stiften.

Arnold war zu einer Häuslerfamilie weit draußen auf der Heide geholt worden und konnte erst am Spätnachmittag wieder zurückerwartet werden. Als Emmy ihre häuslichen Arbeiten endlich beendet hatte, und die Kinder ihren Nachmittagsschlaf hielten, fing sie an, sich einsam zu fühlen, und sehnte sich nach seiner Rückkehr. Sie pflegte diese ungestörte Stunde zu ihren Haushaltsabrechnungen zu verwenden, hatte aber an diesem Tage keine Ruhe zu dergleichen Arbeit. Es war das erstemal in ihrer Ehe, daß eine so ernste und andauernde Mißstimmung zwischen ihnen geherrscht hatte. Arnold hatte ihr nicht einmal guten Morgen gesagt und war weggefahren, ohne sich zu verabschieden.

Sie setzte sich schließlich so wie in längst entschwundenen Tagen an das Fenster in seinem Zimmer, von wo aus sie die Landstraße mit ihren Telegraphenstangen ganz bis an die Heidehügel hinan übersehen konnte. Sie saß da, einen Strumpf über dem Arm und einen ganzen Korb mit Wollsachen vor sich, und warf hin und wieder einen sehnsuchtsvollen Blick den Weg entlang.

Es war ein stiller grauer Tauwettertag ohne Himmel, und dies öde Wetter wirkte gerade hier in hohem Maße niederdrückend, wo man daran gewöhnt war, Tag und Nacht den Westwind katzenfreundlich an dem Haus entlangstreichen und an Türen und Fenstern miauen zu hören. Ein schläfriges Tropfen vom Dach war das einzige, was die bedrückende Stille belebte.

Hin und wieder gingen Leute im Schneeschlamm vorüber; aber ganz gegen ihre Gewohnheit beachtete sie gar nicht, wer es war. Selbst als sie Schullehrer Sörensen mit seinen wackelnden X-Beinen über den Weg gehen sah, glitt sein Bild nur ganz schattenmäßig durch ihr Bewußtsein, gleichzeitig mit einer flüchtigen Vermutung, daß er nun wohl wieder mit dieser Adresse unterwegs sei.

Sie saß da und dachte über etwas nach, was sie zu Arnold sagen wollte, wenn er endlich in sich gegangen war und sie um Verzeihung gebeten hatte. Sie wollte nicht kostbar tun oder ihm eine Szene machen. Sie wünschte ihn in Wirklichkeit auch gar nicht anders, als er war. Sie konnte nicht wieder vergessen, wie ihn sein Auftritt als Othello gekleidet hatte, und sie wollte ihm auch in Zukunft gern seine männlichen Torheiten verzeihen. Aber sie wollte Monsieur beim Ohr nehmen und ihm zeigen, daß er kein Recht dazu hatte, sie zu beargwöhnen, daß sie einen so schlechten Geschmack entfalte und einen älteren und kahlköpfigen Musikanten mit Posaunenengelwangen einem Manne wie ihm vorziehe. Vielleicht würde sie ihn auch an damals erinnern, als sie verlobt waren und er ihr den Ring zurückschickte, nur weil sie auf einem Studentenball zwei Tänze mit einem andern getanzt und sich mit Eistorte hatte traktieren lassen. Hier in Sönderböl hatte Arnold oft selbst darüber geredet und sich über seine Torheit entsetzt.

Aber auch an ihn, den Fremden, dachte sie zuweilen, während sie dort am Fenster saß und spähte. Sie suchte irgendeine Gelegenheit auszutüfteln, wie sie mit dem Pfarrhause in Verbindung kommen konnten, um auf diese Weise zu erfahren, wer er war. Sonderbar war es übrigens, wie schwer es ihr wurde, zu begreifen, daß er noch immer existierte und sogar nicht weiter entfernt war, als daß er deswegen jederzeit leibhaftig zur Tür hereintreten konnte. Das Geschehen des Abends verschwamm für sie schon wie etwas, was sie nur geträumt hatte; und so wollte sie es sich auch am liebsten vorstellen. Namentlich genierte es sie, daran zu denken, daß er jetzt vielleicht da drüben im Pfarrhause umherging, dieselben Narrenpossen für ein anderes Publikum vorbereitete und – auf seine stille und listige Weise – sich den Schein gab, als sei er verliebt in die Pfarrersfrau.

Es war schon spät am Nachmittag, als Arnold heimkehrte. Die Kinder waren längst von ihrem Nachmittagsschlaf aufgestanden. Sie hatte sich mit den Jungen in die Wohnstube gesetzt und zeigte ihnen Bilder.

Das Herz schlug ihr bis an den Hals, als sie ihn hörte. Während sie zerstreut die Fragen der Knaben beantwortete, lauschte sie seinen Schritten, und es war ihr, als könnte sie hören, daß er versöhnlicher gestimmt war.

Er sagte denn auch guten Tag, als er hereinkam und bat – wenngleich ein wenig kurz – um sein Mittagessen. Sie überlegte einen Augenblick, ob sie mit ihm ins Eßzimmer gehen solle. Aber sie blieb sitzen und begnügte sich damit, den ältesten der Jungen mit einem Bescheid an die Mädchen in die Küche hinauszuschicken. Es war doch wirklich seine Sache, den ersten Schritt zu tun!

Als Arnold gegessen hatte, kam er auch wieder herein, offenbar in der Absicht, eine Annäherung zu machen. Vorläufig mußten die Kinder als Brücke zwischen ihnen dienen. Er fuhr ihnen liebkosend über das Haar, fragte, was für Bilder sie da hätten und womit sie sich sonst heute amüsiert hatten. Schließlich mischte sich Emmy mit ein paar gleichsam hingeworfenen Worten in die Unterhaltung. Bei dem bloßen Klang ihrer Stimme – leise und unsicher wie sie war – löste sich der letzte Bodensatz von Bitterkeit in seinem Gemüt auf. Und als die Jungen nach einer Weile zu ihrem Vesperbrot hinausgerufen wurden und sie alleine blieben, ging er zu ihr hin und legte seine Hände um ihren Kopf.

»Wollen wir es dann vergessen sein lassen, Emmy?«

Sie wandte, statt einer Antwort, ein paar tränenerfüllte Augen und einen stummen Mund zu ihm empor. Und der Mund verzog sich in die Breite und zitterte wie bei einem Kinde, dem man ein Leid angetan hat und das mit dem Weinen kämpft.

»Nun, nun! Nur keine Szenen mehr!« ermahnte er sanft und bewog sie auch wirklich – zur Besiegelung des Friedens – zu einem Lächeln.

Über die Ereignisse des gestrigen Tages wurde freilich kein Wort geredet, und überhaupt hatten sie keine Gelegenheit, weiter miteinander zu reden. Noch ehe Arnold seinen Kaffee getrunken hatte, hielt schon wieder ein Wagen vor der Tür.

Emmy begleitete ihn, gegen ihre Gewohnheit, ganz auf die kalte Diele hinaus und legte eine große Sorgfalt an den Tag, daß er sich auch gut einpacken solle. Und als er am Abend wieder zurückkehrte, hatte sie die Mädchen zu Bett geschickt und stand selbst mit der Laterne in der Tür, um ihn aus seinen wärmenden Hüllen herauszuschälen.

Aber die Schlange war nun doch einmal in ihr kleines Paradies hineingeschlüpft und hatte sie verführt, von dem Baume der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen. Ab Arnold am nächsten Tage in der Dämmerung von einem Krankenbesuch im Dorf heimkehrte, stutzte er, denn aus dem Wohnzimmer drang ihm Klavierspiel entgegen. Sein Herz begann zu pochen. Er biß sich in den Bart. War es möglich . . .? Sollte er es sein?

Er ging auf den Zehenspitzen in sein eigenes Zimmer hinein und stand dort still und lauschte. Die Tür nach dem Wohnzimmer war geschlossen, aber er konnte allmählich aus dem tastenden Vortrag heraushören, daß es Emmy war, die spielte. Aber sein Argwohn war nun einmal geweckt. Und nun erkannte er, trotz der suchenden und sehr unvollkommenen Wiedergabe, eine der schmachtenden französischen oder italienischen Melodien, zu denen der Fremde gesungen hatte.

Er riß die Tür jäh auf und ging hinein. Sie hatte ihn offenbar nicht kommen hören. Es war ihm wirklich geglückt, sie zu überraschen, und er konnte sehen, daß ihre Gedanken auf Abwegen gewesen waren. Sie hörte sofort auf zu spielen. Und indem sie sich erhob, sah sie schnell von der Seite zu ihm auf, mit einem scheuen und forschenden Blick im Auge.

Ohne ein Wort zu sagen, ging er in das Schlafzimmer und zog seinen Schlafrock an. Als er zurückkam, stand sie am Fenster und sah hinaus. Ohne sich umzuwenden, fragte sie ihn, ob sie die Lampe anzünden solle. Er antwortete: »Nein.«

»Es ist etwas Neues, dich am Klavier zu sehen«, sagte er nach einem längeren Schweigen, von dem Lehnstuhl in der Ecke am Ofen herüber. »Was war es, das du vorhin spieltest?«

»Ach – es waren nur Fingerübungen.«

Es quälte sie, ihm etwas vorlügen zu müssen. Es war das erstemal seit vielen Jahren, aber sie wußte nichts anderes zu antworten. Sie hatte es im Gefühl, wie hoffnungslos es sein würde, den Versuch machen zu wollen, ihm ihre Gefühle zu erklären.

Sie verstand sie ja nicht einmal selbst recht.

Sie würde nicht imstande sein, ihm zu sagen, was sie so schwermütig machte. Und wo findet man auch wohl das Wort, das dieses geheime Flattern des Gedankens um das Fremde und Verbotene so recht erklärt, das Wort für dies Staubkörnchen angestammter Verderbnis, das die Liebe der Frau so sprudelnd frisch bewahrt und ihr ihre Süße verleiht?

Arnolds anhaltendes Schweigen machte sie schließlich bange. Die fröhlichen Stimmen der Kinder, die aus dem Eßzimmer schallten, steigerten diese Angst nur. Es war ihr, als legten sich mit jeder Minute des Schweigens Meilen zwischen sie und die anderen. Sie hatte eine Empfindung, als entschwänden sie ihr mehr und mehr hinter einer ungeheuren Kluft aus Finsternis und Kälte. Gleichzeitig fühlte sie, wie sich Abgründe in ihrem eigenen Innern auftaten. In wachsendem Schwindel starrte sie hinab in die verborgenen und ungeahnten Winkel des menschlichen Herzens, wo die Dämonen ihr Reich haben.

Sie wandte sich um, und ihr Auge suchte Arnold. Er saß zusammengesunken dort im Lehnstuhl mit einem so bleichen Gesicht, daß es im Halbdunkel leuchtete.

Da faßte sie sich ein Herz. Nach einer Weile stand sie neben ihm und legte ihm schüchtern die Hand auf die Schulter.

»Arnold –«

Mehr brachte sie nicht heraus. Er packte sie beim Arm und schleuderte sie mit einer brutalen Kraft von sich, so daß sie hinfiel.

»Dirne!« fauchte er.

Sie war mitten im Zimmer umgesunken. Wirr vor Überraschung, Zorn und Scham und außerdem von einem Wollustgefühl, das ihr neue Angst in das Blut trieb, blieb sie auf den Knien liegen, die Hände vor dem Gesicht. Erst nach Verlauf einer Minute war sie imstande, sich zu erheben. Langsam ging sie in das Schlafzimmer, das Gesicht beständig mit den Händen verbergend.

 

Zwei Tage darauf kam Arnold draußen über die Heide gefahren, einen tüchtigen Weststurm im Rücken. Er saß zurückgelehnt in seinem Doktorstuhl und hatte den Pelz gut über die Ohren gezogen. Es war nicht viel weiter von ihm zu sehen als sein Bart und dann ein Paar graue wollene Fausthandschuhe. Die schwere hölzerne Pfeife, die Hand und Mund wie der Henkel einer Krücke zu verbinden pflegte, war an diesem Tage nicht da. Verlassen lag sie in der Seitentasche des Reisestuhls und ließ das Mundstück hängen. Nicht einmal der Tabak, der ihn doch sonst immer in allen Widerwärtigkeiten des Lebens hatte trösten können, wollte ihm in diesen Tagen helfen.

Er hatte jetzt seit anderthalb Tagen nicht mit Emmy gesprochen. Aus Rücksicht auf die Kinder und die Dienstboten hatten sie bei den Mahlzeiten zusammengesessen, wie sie überhaupt jeden Bruch der Hausordnung vermieden hatten. Aber nach Tische waren sie regelmäßig jedes in sein Zimmer gegangen. Seit dem ersten Abend, als Emmy weinend im Bett gelegen und leise nach ihm gerufen hatte, war auch von ihrer Seite nicht der leiseste Versuch zu einer Annäherung gemacht worden.

Was er für sie empfand, war freilich nicht mehr Zorn, sondern Mitleid. Er entschuldigte sie, weil sie eine Frau war, das heißt ein Wesen mit einem abnormen Gefühlsleben und einem daraus fließenden, verwirrten Gedankengang. Er war nicht einmal sicher, ob sie nicht angefangen hatte, sich als die Gekränkte zu betrachten. Es lag etwas in dem Trotz, den sie ihm in der letzten Zeit entgegengebracht hatte, was darauf schließen ließ. Und das würde ihr ja nur ähnlich sehen! Wie deutlich entsann er sich ihrer aus den alten Zeiten, wo sie auf die unschuldigste und glaubwürdigste Weise auf ihrem Leugnen beharren konnte, selbst wenn er beide Hände voll von Beweisen gegen sie hatte!

Er machte denn auch niemand als sich selbst für die Enttäuschung, die er erlitten hatte, verantwortlich. Wie er jeden Augenblick zu sich selbst sagte: er war nicht um ein Haar besser gewesen als die vielen verliebten Ehemänner, deren Verblendetheit er selbst so häufig auf dem Theater und in Wirklichkeit mit ausgelacht hatte. Er hatte sich in seinem häuslichen Glück ein Idealbild von seiner Frau geschaffen und auch sie dahin gebracht, daß sie daran glaubte. Jetzt war der Glorienschein verflogen, und er mußte die Wahrheit des Wortes erkennen, daß auf dem Herzensgrunde selbst der unschuldigsten Frau eine giftige Natter im Winterschlaf liegt. Es kam nur auf Zufälligkeiten an, ob sie ruhig weiterschlafen oder zum Leben erweckt werden und Verderben bringen würde.

Er hatte Totenschau über einen armen Häusler draußen auf der Heide abgehalten und befand sich jetzt auf dem Heimwege. Er pflegte auf dieser öden Strecke, wo man selten jemand begegnete, einen kleinen Schlummer abzuhalten. Aber auch der Schlaf ließ ihn diesmal im Stich. Er empfand auch kein Bedürfnis, die Telegraphenstangen zu zählen oder vielstellige Zahlen im Kopf zu addieren, was er zuweilen auf seinen langen Fahrten tun mußte, um die Langeweile zu vertreiben. Wie das Leben selbst ihm ein fremdes Gesicht zugewandt hatte, so war ihm auch die Natur in diesen Tagen neu geworden. Die große kahle Landschaft und der mächtige Wolkenhimmel zogen seine Gedanken mit einer Macht an, wie er sie lange nicht gekannt hatte. Während er dort vom Sturm umhüllt saß, wurden in seinem Sinn große, feierliche Stimmungen wiedergeboren, die das Herz bewegten und die Gedanken fruchtbar machten.

Er hatte überhaupt so halbwegs angefangen, sich zurechtzufinden und in seine Einsamkeit einzuleben, die er als unabwendbar betrachtete. Es gab Augenblicke, wo er – obwohl er das auf keine Weise anerkennen wollte – nahe daran war, den Schiffbruch seines Glücks als eine Befreiung zu empfinden, oder wo er doch Ersatz dafür in jener entsagenden Wehmut fand, die das Gemüt der Unendlichkeit erschließt.

Aber der Gedanke an den fremden Mann war der Pfahl in seinem Fleisch, der ihn seine Schande nie lange vergessen ließ. Ehe er ihn nicht sicher aus der Gegend fort wußte, würde er keinen Frieden finden. Obwohl er einräumen mußte, daß er ihm nichts Wesentliches vorzuwerfen hatte, waren seine Gefühle für ihn doch von einer solchen Beschaffenheit, daß eine erneute Begegnung verhängnisvoll werden konnte.

Der Wagen war jetzt über die äußersten Heidehügel hinausgelangt. In schnellem Trab ging es nach Sönderböl hinab. Das Dorf lag da unten auf den schneebedeckten Feldern mit seiner Mühle, seinem Molkereischornstein und seinem roten Doktorhaus, ganz so, wie er es Hunderte von Malen hier oben vom Hügelabhang herab hatte liegen sehen, und doch so ganz verändert. Es stieg an diesem Tage keine kleine trauliche Glücksstimmung in ihm auf beim Anblick seines Heims. Sein Paradies war in die Erde versunken und an dessen Stelle lag diese trostlose Gruppe von Häusern auf der dem Winde zugänglichen Fläche – ein Stück entkleideter Wirklichkeit, so durch und durch trübselig und verkommen, aber auch so feierlich groß in seiner wilden Nacktheit.

Als er das erste Gehöft im Dorf erreichte, wurde der Wagen von einem großen weißhaarigen Bauern angehalten, der mit ihm zu reden wünschte.

Es war derselbe Thorvald Andersen, den Emmy vor einigen Tagen mit einem Papier in der Hand hatte zum Schullehrer hineingehen sehen.

Der Mann war ihm ergeben, weil er einmal seiner Frau in einer schweren Krankheit beigestanden hatte. Er lag außerdem in beständigem Streit mit Lehrer Sörensen wegen einiger Schulstrafgelder, die er vor vielen Jahren hatte bezahlen müssen. Und doch war er immer sehr bedenklich, wenn es sich darum handelte, Partei für Arnold gegen den Schulmeister zu ergreifen in den Streitigkeiten, die ihre nachbarliche Feindschaft zwischen diesen streitbaren Jütländern um sich her aussäte. Lehrer Sörensen entstammte einer Bauernfamilie und gehörte also zu seinen Standesgenossen, und obwohl er weder seinen Gottesglauben noch seine politische Überzeugung teilte, wurde er dennoch heimlich von ihm wie von seinen andern Gegnern bewundert wegen seiner großen Schlauigkeit und seines Talents, unter der Maske der Freundschaft sich zu dem empfindlichsten Punkt seines Widersachers hindurchzufingern und dann ohne Barmherzigkeit zuzustoßen.

Arnold verstand sofort bei dem ersten Blick auf das Gesicht des Bauern, daß er ihm ein Geständnis ablegen wollte.

Er mußte beinahe lachen über seine Verlegenheit. Die ganze Sache war ihm so herzlich gleichgültig geworden.

Der Mann fing damit an, sich zu entschuldigen, daß er ihn aufhalte, obwohl er Besuch zu Hause habe.

»Besuch?« fragte Arnold.

Ja, er habe wenigstens vor kurzem Pastor Jörgensens geschlossenen Wagen durch das Dorf fahren sehen. Er halte jetzt beim Krug.

Um sich nicht zu verraten, zog Arnold sein Taschentuch heraus und putzte mehrmals seine Nase. Er rückte im Doktorstuhl hin und her und fing schließlich an, eine Melodie vor sich hin zu summen. Ein paar Minuten ertrug er es, der hackenden Erklärung des Mannes zuzuhören. Dann unterbrach er ihn kurz und erteilte dem Kutscher den Befehl, weiterzufahren.

Daheim im Wohnzimmer traf er wirklich Besuch. Pastor Jörgensen schwänzelte mit flatternden Rockschößen in der Stube herum. Seine Frau saß mit dem Hut auf dem Kopf hinter dem Tisch. Er sah sofort, daß sie es waren. Auch über Emmy, die im Lehnstuhl in der Nähe der Pfarrersfrau saß, flogen seine Augen, ohne sie zu sehen. Sein Blick schweifte umher, auf der Suche nach jemand, der nicht da war.

Von dem Augenblick an, wo Emmy ihn kommen hörte, hatte sie auf Wache gesessen, um seinen Gesichtsausdruck im selben Nu beobachten zu können, wo er eintrat. Und mit Triumph im Gemüt und einer hervorsickernden Lüsternheit im Blute sah sie die Eifersucht in seinen suchenden Augen brennen.

Pastor Jörgensen stellte sich vor Arnold hin und griff ihm mit beiden Händen in die Aufschläge seines Jacketts, als wolle er mit ihm tanzen. Er gehörte zu den Menschen, die selbst in fremder Leute Stuben beständig auf der Wanderung sein müssen und jeden Augenblick erschreckt nach der Uhr sehen und erklären, daß sie jetzt wirklich fort müssen, und die man doch niemals los wird. Da stand er nun auf und erzählte Arnold, was er Emmy bereits zweimal auseinandergesetzt hatte, daß er und seine Frau den Wunsch hätten, sie am nächsten Sonntag zusammen mit einigen andern Leuten aus der Umgegend bei sich zu Tische zu sehen. Sie hätten, sagte er, die Einladung selbst überbringen wollen, könnten aber nur einen Augenblick bleiben, da sie einen Besuch machen wollten.

Arnold dankte für die Einladung auf eine Art und Weise, die sowohl ja als auch nein bedeuten konnte.

Nun wurden Wein und Kuchen gebracht und die Unterhaltung entwickelte sich zu einer der gewöhnlichen Visitenunterhaltungen, die schnell in Redensarten erstarren und jeden Augenblick ganz ins Stocken zu geraten drohen. Der Pfarrer klagte, zu Arnold gewandt, über seinen Rheumatismus in der Schulter, und seine Frau erzählte Emmy von ihren Dienstmädchen. Keiner von ihnen hatte bisher auch nur mit einem Worte ihres fremden Freundes Erwähnung getan.

Arnold saß stumm da und kochte vor Wut. Was er am allermeisten gefürchtet hatte, war also eingetroffen. Der Schimpf, den er und das ganze Haus erlitten hatten, war von dem Fremden verraten, und einzig und allein aus Feingefühl erwähnten die Pfarrersleute seinen Besuch in keiner Weise.

Er wußte schließlich nicht mehr, wo er mit seinen Augen bleiben sollte. Er fürchtete namentlich, Emmys Blick zu begegnen. Wäre er mit ihr allein gewesen, er hätte sie zu Boden geschlagen. In ihm schrie es: Dein Name ist entehrt! Dein Heim ist dem Gerede der Leute preisgegeben! Deine Zukunft ist vernichtet!

Wohlan! Dann konnte auch das übrige seinetwegen zum Teufel gehen! Jetzt wollte er frisch von der Leber reden!

Um den Pfarrer zu zwingen, von dem fremden Manne zu sprechen, ersann er eine List. Er brachte wieder das Gespräch auf Pastor Jörgensens Rheumatismus in der Schulter und sagte, er habe sich den wahrscheinlich neulich abends auf dem Ausflug in dem argen Schneegestöber geholt.

Aber der Pfarrer verstand ihn nicht. Er sei wahrhaftig nicht im Schneewetter draußen gewesen, sagte er.

Arnold lächelte mit unverhohlenem Mißtrauen.

»Wie können Sie das nur sagen, Pastor Jörgensen! Ich weiß ja doch, daß Sie am Fastnachtsmontag ausgewesen sind!«

»Aber lieber Doktor! Was sind das für Beschuldigungen! Amalie, du bist mein Zeuge, daß ich am Montag nicht zur Tür hinausgewesen bin.«

»Nein, mein Mann ist wirklich zu Hause gewesen. Wer hat ihn denn anderswo gesehen?«

Arnolds erregte Augen liefen noch eine kleine Weile forschend zwischen ihnen hin und her. Aber es war auf die Dauer nicht möglich, daran zu zweifeln, daß ihre Überraschung ungeheuchelt war. Sie verpflanzte sich dann auf einmal auf ihn. Sein Gesicht verzog sich plötzlich zu einer Maske. Und unwillkürlich sah er zu Emmy hinüber.

Sie saß in dem Stuhl zurückgelehnt und spielte mit den Fingern auf den Armlehnen. Sie schien gar nicht erstaunt, wenn auch ein wenig sinnend, und sah mit einem übermütigen Lächeln zum Fenster hinaus.

Arnold mußte nun mit einer Erklärung herausrücken. Er erzählte von dem Besuch des fremden Mannes, von seinem falschen Vorgeben, seiner Weigerung, seinen Namen zu nennen, und machte schließlich eine genaue Schilderung seines Äußern. Die Pfarrersleute waren beide wie aus den Wolken gefallen. Pastor Jörgensen fühlte sich außerdem ein wenig beleidigt.

»Lieber Doktor – wie konnten Sie doch nur so naiv sein? Nach dieser Beschreibung, die sie von dem Manne gemacht haben, begreife ich nicht, wie Sie ihn allen Ernstes für einen Freund von mir haben halten können!«

Arnold entschuldigte sich, so gut er es in der Verwirrung des Augenblickes vermochte. Er erklärte, der Pfarrer habe ihm einmal von einem Jugendfreund erzählt, der von einem Wagen gefallen sei und sich seither ein wenig sonderlich benommen habe.

»Ach, der arme Marius! Aber der ist ja schon seit vielen Jahren tot! – Nein, dies ist ein frecher, ein schändlicher Betrüger gewesen! Nie im Leben hab' ich etwas Ähnliches gehört!«

Emmy hatte währenddessen eine Häkelarbeit hervorgeholt und häkelte fleißig, scheinbar ohne sich weiter für die Unterhaltung zu interessieren.

Sie verstellt sich! dachte Arnold, der sie im geheimen bewachte. Diese Ruhe ist erheuchelt! Ich kenne sie! Sie will mich sicher machen!

Der Pfarrer drehte sich im Zimmer herum und fuhr fort sich aufzuregen:

»Der frechste Betrüger! An Ihrer Stelle würde ich die Sache sofort bei der Polizei melden. So ein Gauner verdient, daß man ihn beim Kragen kriegt und ihn gehörig durchprügelt! Hat man je so etwas gehört! Sie können mir glauben, es ist einer von diesen zudringlichen, gewissenlosen Handlungsreisenden gewesen, einer von diesen abscheulichen Probenreitern, die nun auch angefangen haben, es hier auf dem Lande unsicher zu machen. Er hat sich gewiß ein Gratisabendessen verschaffen wollen. Das sieht diesen Menschen so recht ähnlich!«

Arnold ergriff den Gedanken mit Begier, um ihn als vergiftete Waffe zu benutzen. Er sagte, er habe während der ganzen Zeit einen Argwohn gegen den Kerl gehegt. Im ersten Augenblick habe er ihn für einen heruntergekommenen Schauspieler gehalten oder auch für einen umherreisenden Kneipensänger; aber er müsse dem Pfarrer recht geben, es sei wohl eher einer von diesen Herren Reisenden gewesen, die den ordinären Geschmack mit einer gewissen oberflächlichen Politur übertünchten, aber der Schrecken aller wirklich gebildeten Menschen seien. Es habe in der Tat etwas von dieser falschen Eleganz über dem Mann gelegen, wie man sie sich in Provinzhotels und Kopenhagener Tingeltangels aneignete.

Emmy saß da und hatte Mitleid mit seinen wütenden Anstrengungen, den eingebildeten Nebenbuhler niederzumachen. Aber auf der andern Seite fand sie doch Gefallen daran. Die blutdürstigen Worte fielen auf ihr Herz wie heiße Liebeszeichen. Aber wie wenig er sie doch verstand! Probenreiter! Kneipensänger! Ach, du lieber Gott, das war ihr ganz gleichgültig; sie empfand nicht das geringste Verlangen, dem Manne wiederzubegegnen. Es war ja nur lächerlich, wenn sie sich neulich in einem Augenblick der Verwirrung selbst Vorwürfe wegen dieses gemütlichen Dicksacks gemacht hatte. Für sie würde er allein sein und bleiben, wofür er sich selbst ausgegeben hatte: Prinz Karneval, der ihr noch einmal, für eine Nacht, das Reich des Märchens erschlossen und sie zu dessen Königin gekrönt hatte.

Pastor Jörgensen riß zum zehnten Mal seine Uhr aus der Tasche:

»Amalie – wir müssen fort!«

Im selben Augenblick ließ er sich mit der Uhr in der Hand auf einen Stuhl niederplumpsen. Er mußte etwas Sonderbares erzählen, was ihm gerade einfiel. Er könne sich noch entsinnen, daß er in seiner Kindheit seine Eltern von einer ganz ähnlichen Begebenheit bei einem Förster irgendwo oben in Jütland habe erzählen hören, wo sich ein fremder Mann unter einem falschen Vorwand in den Schoß der Familie eingedrängt und sich dort mehrere Tage als ihr Gast gütlich getan habe.

»Aber diese Begebenheit nahm dort freilich ein weit tragischeres Ende«, schloß er, indem er sich erhob. »Sie war – soweit ich mich erinnere – die Veranlassung zu einer höchst traurigen Familienkatastrophe. Wenn ich nicht irre, ging der Förster sogar hin und erschoß sich.«

Arnold wußte wieder nicht, wo er mit seinen Augen bleiben sollte. Während der Pfarrer seine Erzählung fortsetzte, versank er einen Augenblick in tiefes Mitleid mit sich selbst. Emmy verstand das sogleich. Trotz seiner gesenkten Augenlider durchschaute sie ihn ganz und erriet alle seine trübseligen Gedanken. Und in ihrem Herzen wallte eine zärtliche und stürmische Freude auf. Ihre Brust tat ihr weh, so pochte es dadrinnen vor Sehnsucht, jetzt allein mit ihm zu sein. Ach, wie wünschte sie, daß diese fremden Menschen doch verschwinden möchten! Dann wollte sie gerade auf ihn zugehen und beide Arme fest um ihn schlingen, so daß er sich ihrer Küsse nicht erwehren konnte. Und sie wollte ihn nicht eher freigeben, als bis er alle seine häßlichen Worte und Gedanken zurückgenommen und richtig begriffen hatte, daß sie ihn nie heißer und mit innigerer Dankbarkeit geliebt hatte als gerade in diesen letzten Tagen.

Aber die Pfarrersleute blieben noch eine halbe Stunde; und als sie endlich glücklich abgefahren waren, kamen die Kinder aus dem Eßzimmer hereingestürmt und hinter ihnen drein die alte Ane, die wie eine Hexe grunzte, weil sie mit dem Mittagessen hatte warten müssen – und so war der gelegene Augenblick zu einer Versöhnung diesmal verpaßt. Sobald sie gegessen hatten, ging Arnold in sein Zimmer.

Emmy stand ganz mutlos, eine Leere in den Augen, da und sah ihn die Tür hinter sich schließen.

Aber am Abend, als die Kinder zu Bett gekommen, und es im Hause still geworden war, hörte Arnold von seinem Zimmer aus, daß sie sich an das Klavier setzte. Sie spielte erst ein paar Tonleitern und andere Fingerübungen und nahm dann plötzlich – wie infolge eines kühnen Entschlusses – dasselbe Musikstück wieder auf, bei dem er sie neulich überrascht hatte, als sie sich bemüht hatte, es nach dem Gehör herauszufinden.

Was soll das nur bedeuten? dachte er unruhig. Er fing an, ängstlich zu werden über ihr fortgesetztes Trotzen.

Diesmal spielte sie die Melodie fast ohne Stocken durch. Es war beinahe, als hätte sie sie in den dazwischenliegenden Tagen geübt. Und nun fing sie, weiß Gott, an, dazu zu summen. Es war, so weit er es unterscheiden konnte, das Lied, das der Fremde gesungen hatte, das Lied von dem lieben Gott oder dem Teufel oder wer es nun war, der eines schönen Tages eine irdische Gestalt annahm und als Narr verkleidet unter den Menschen umherzog und Wunder tat. Er entsann sich noch des Refrains:

»Ja, das Leben, das geht seinen schiefen Gang,
Macht schwarz zu weiß,
Macht laut zu leis,
Und wendet alles, kurz wie lang.
Tra-Tra! Da kommt der Herr Bajatz,
Stellt alles auf den rechten Platz!«

Er blieb in Gedanken versunken sitzen, die Hand unter dem Kopf, während sie fortfuhr, da drinnen zu spielen. Es klang wie ein Versuch zu verlocken. Nach und nach arbeitete sich auch ein kleines Lächeln um seinen bärtigen Mund hervor, ein bleiches und trübseliges Lächeln. – Ach ja, warum auch nicht? So arm er auch geworden war, so wünschte er seine eingebildeten Reichtümer doch nicht zurück. Und er liebte Emmy ja in Wirklichkeit jetzt nicht weniger als früher, wenn auch auf eine andere Weise. Oft in diesen Tagen hatte er sogar gemeint, daß seine Liebe wahrer und tiefer geworden sei, seit er sie wieder in ihrer ganzen menschlichen Schwäche kennengelernt hatte. – Und er selbst war ja schließlich auch nicht ohne Fehler. Es diente ihr wirklich ein wenig zur Entschuldigung, daß es gewiß nicht immer ganz leicht mit ihm umzugehen war. Sie hatte sicher nicht ganz selten Grund gehabt, sich über seine Reizbarkeit und seinen Mangel an Rücksicht zu beklagen. – Auf alle Fälle: sie konnten einander ja doch nicht entbehren. Gerade jetzt bedurften sie einander mehr denn je als Stütze, mußten sie versuchen, in gegenseitiger Nachsicht zusammenzuhalten, wenn nicht das ganze Leben für sie in die Brüche gehen sollte.

Er erhob sich langsam, um zu ihr hineinzugehen. Er wollte ihr offen sagen, was er in diesen ruhigen Augenblicken des Besinnens gefühlt und gedacht hatte. Aber gleich in der Tür blieb er stehen und stutzte. Es war dunkel in dem Zimmer. Nur die Klavierlichter brannten. Sie zeichneten nach beiden Seiten ihre Silhouette in mannigfacher Gestalt auf den Fußboden und auf den Wänden ab. Es war, als sei die Stube von Schatten bevölkert.

Emmy fuhr fort zu spielen; aber er konnte es ihrem Rücken ansehen, daß sein Kommen sie nervös machte. Ihre Unruhe rührte ihn. Vorsichtig ging er durch das Zimmer, und als er einen Augenblick hinter ihr gestanden hatte, legte er schweigend seine Hände um ihren Kopf. Ohne sogleich das Spiel zu unterbrechen, beugte sie sich hintenüber und sah ihm glückstrahlend in die Augen. »Kommst du endlich!« sagte sie leise.

Ihre Hände sanken herab. Wie ein überwältigtes Kind schmiegte sie sich an ihn, während Freudentränen unter den geschlossenen Augenlidern hervorsickerten.

 

Es war Schullehrer Sörensen der große Ärger vorbehalten, daß, als er endlich nach jahrelanger, fuchsschlauer Arbeit Arnold Höjer gehörig eingekreist hatte und nun mit der Schulabflußwasser-Angelegenheit den letzten, kräftigen Schlag gegen seine Autorität dort in der Gegend richten wollte, Arnold ihm und seinen Verschworenen ins Gesicht lächelte, und zwar mit einer Liebenswürdigkeit, mit einer so teilnehmenden Sanftmut, daß man Lavst Sörensen heißen und zu den starken Jütländern gehören mußte, um sich nicht verlegen und beschämt zu fühlen.

»Lieben Freunde!« sagte er zu den beiden Sendboten, die am Tage nach Pastor Jörgensens Besuch feierlich antraten, um ihm den Beschluß der Majorität in der Sache mitzuteilen. »Reden wir doch nicht mehr über die Bagatellen. Ich beuge mich selbstverständlich der Entscheidung der Bevölkerung.«

Er trieb seine Liebenswürdigkeit sogar so weit, daß er die beiden Männer zu Kaffee und Zigarren einlud. Und Frau Emmy schenkte ihnen den Kaffee selbst ein und gab ihnen hinterher Apfelsinen und Feigen für ihre Kinder mit.

Lavst Sörensen fand in alledem gleich einen neuen Grund, sie zu verdächtigen und für seine eigene Bauernbildung in die Trompete zu stoßen:

»Ja, hab' ich es nich' ümmer gesagt? So sind nu mal diese Stadtminschen. Die schlingern hin und her mit ihren Launen und Stimmungen. Ich bedaure die Leute.«

Sein Urteil erhielt eine – für seine Mission sehr günstige – Bestätigung durch die Gerüchte, die allmählich über das Leben in dem Hause des Arztes durchsickerten. Man hatte schon von dem sonderbaren Fastnachtsfest gehört, das dort gefeiert worden war; und Leute, die in letzter Zeit des Abends vorübergekommen waren, hatten Musik herausschallen hören und Licht in allen Fenstern gesehen, als wenn da jeden Abend Gesellschaft wäre. Andere hatten von den Dienstboten des Hauses erfahren, wie sich der Doktor und seine Frau den einen Tag vom Morgen bis zum Abend küßten und den andern umhergingen, ohne ein Wort zueinander zu sagen, und überhaupt wie ein Paar Neuvermählte lebten.

Nun wurde die Neugier noch mehr wachgerufen durch den Bericht von dem ungeladenen Fastnachtsgast und seinen Verdiensten. Und da Doktors selbst offenbar keine Schritte tun wollten, um des Betrügers habhaft zu werden, so fing man an, die Nachforschungen auf eigene Hand um so eifriger zu betreiben. Aber im Kruge, wo er den Schlitten eingestellt, hatte man weder die Pferde noch den Kutscher gekannt, und dieser, ein kleiner, brünetter Bursche, hatte nichts sagen wollen, sondern hatte nur dagesessen und gegreint und Nüsse mit seinen großen Affenzähnen geknackt. Auch weder in der Stadt noch in den umliegenden Dörfern hatte man Aufklärungen erlangen können. Niemand kannte einen Schlitten wie den beschriebenen. Niemand hatte ihn gesehen. Er war wie spurlos in der Luft verschwunden.

Während alles dessen war es für die Leute eine leichte Sache, sich darüber zu einigen, daß mit dem jungen Doktorpaar eine Veränderung vor sich gegangen war, und zwar eine, die ihnen keineswegs zum Vorteil gereichte. Selbst die Pfarrersleute fingen an, sich von ihnen zurückzuziehen, nachdem Emmy in der Gesellschaft im Pfarrhause mit entblößten Schultern erschienen war und bei derselben Gelegenheit sich zuvorkommender gegen den neuen Provisor in der Apothekenfiliale erwies, als es ihrem Mann offenbar gefiel und als es auch passend war.

»Ich verstehe mich nicht mehr auf die Menschen«, sagte Pastor Jörgensen bekümmert. »Es ist, als wären alle guten Geister auf einmal aus dem früher so traulichen und gemütlichen Doktorhause geflohen. Es ist ja auch ganz unverkennbar, daß sie sich beide nicht mehr glücklich fühlen.«

Dies letztere hatte gewissermaßen seine Richtigkeit.

Die kleinen, freundlichen, rundlichen Hauselfen, die bisher so unverkennbar einen jeden in dem kleinen Doktorheim umschwebt hatten, waren zur Zeit landflüchtig geworden. Und hinter dem festlichen Aufzug von Eroten und Faunen, der dort jetzt sein Wesen trieb, offenbarte sich von Tag zu Tag deutlicher ein unheimliches Schattengefolge.

Oft wenn Emmy umherging und eine Melodie vor sich hinsummte und fröhlich war und sich mit den Kindern beschäftigte oder zum Fenster hinaussah, ob Arnold nicht bald käme, konnte sie plötzlich ein Mißmut befallen, eine Schlaffheit, die ihr alles gleichgültig machte. Zu andern Zeiten konnte die geringste Widerwärtigkeit sie in Tränen ausbrechen lassen. Wenn Arnold des Nachts geholt wurde, konnte sie nicht schlafen. Allerlei Schreckbilder, allerlei Selbstanklagen hielten sie wach. Und die Angst machte sie abergläubisch. Sie zündete die Nachtlampe an und setzte sich zitternd im Bett auf, die Hände um die in die Höhe gezogenen Knie geschlungen. Und jeder Laut, der durch die nächtliche Stille zu ihr drang, ward zu einer geheimen Botschaft, die ihr aus der Welt der Geister gesandt wurde. Oder sie stand auf und holte ihr Neues Testament, das noch aus der Konfirmationszeit stammte, aus der Schublade. Oder sie faltete die Hände kindlich unter dem Kinn, erhob die Augen und fand Ruhe in einem brennenden Gebet.

Währenddes humpelte Arnolds Gefährt schwerfällig dahin, draußen im Schneeschlamm oder unter strahlenden Froststernen. Auch er war ganz wach. Wehmütig lächelnd saß er in seinem Doktorstuhl und dachte an sie, das Herz voll Zärtlichkeit und Verzeihung. Es ging ihnen wieder so wie in den ersten Tagen ihrer Liebe: mit wieviel Bitterkeit sie sich auch trennen mochten, sobald sie fern voneinander waren, lebten sie in beständigem Sehnen. Arnold meinte zuweilen, rein physisch spüren zu können, wie ihn Emmys Gedanken mit Küssen oder Tränen begleiteten. – Saßen sie aber zu Hause beieinander, so konnte er auf der andern Seite ein Gefühl haben, als wenn hundert Meilen sie trennten. Nie mehr geschah es, wenn sie drinnen in seiner Stube Dämmerstunde hielten, daß sie lachen mußten, weil sie auf genau dieselbe Weise über dieselbe Sache gedacht hatten. Emmys Gedanken gingen jetzt ihre eigenen Wege, denen er nicht zu folgen vermochte, gingen zu Träumen über, die er nicht deuten konnte. Selbst nicht in den Augenblicken der Hingebung, in dem Rausch ihrer Liebe, war er ihrer ganz sicher. – Aber wie lieblich betrübt konnte sie dann sein, wenn die unvermeidliche Enttäuschung und Niedergeschlagenheit des nächsten Tages, die sie nicht kannte, ihn aus ihren Armen forttrieb! Wie süß konnte sie für jede Freude danken, die er ihr schenkte! Und wie rührend konnte sie in der Angst der Einsamkeit sein, mit der sie ihn in einer Nacht wie dieser erwartete!

Was wollte er denn im Grunde noch mehr? Wozu nach dem verlorenen Paradies des ruhigen und sicheren Besitzes seufzen, wenn er sich doch nicht benachteiligt fühlte? Er war zufrieden mit seiner friedlosen Liebe. Mit seinem schwermütigen Glück. Dankbar auch für seine einsamen Stunden, die ihm die Natur zur Vertrauten gegeben und ihm die Traumtiefe der Unendlichkeit hinter den ewig verheißungsvollen Sternen des Nachthimmels erschlossen hatte. –

Nun, nach einer Weile beruhigte sich beider Sinn.

Die kleinen Ereignisse des Alltags fingen von neuem an, sie in Anspruch zu nehmen. Der Lebenslauf glitt in das gewohnte Geleise zurück. Aber wie sehr sich auch der Gesichtskreis allmählich wieder für sie verengte, man merkte es ihnen doch noch lange an, daß das Märchen ihr Haus besucht hatte, und die Leute fühlten sich noch immer nicht so recht wohl bei ihnen. Wie Pastor Jörgensen sagte: Es war, als wenn es da überall zöge. Man habe immer ein Gefühl, als säße man bei offnen Türen.

Und wirklich lag beständig eine gewisse Unruhe und Rastlosigkeit über ihrem Treiben. Aber noch immer geschah es von Zeit zu Zeit, daß die Schwärmerei sie von neuem erfaßte. Es kam über sie wie ein Raptus, der seine Zeit haben mußte, wie der Schnupfen im Herbst und das Fieber in den Hundstagen. Und weit häufiger als es Arnold – geschweige denn sonst jemand ahnte, gerieten Emmys Gedanken auf Abwege und stahlen sich in das Märchenland hinein. Noch als alte Frau mit weißem Haar stand sie manch liebes Mal in der Einsamkeit am Fenster mit einem traumfernen Blick in den dunklen Eulenaugen und starrte hinaus auf den Sonnenuntergang und den großen Gewitterhimmel, an dem Erdkugeln aus zerrissenen Wolken unaufhaltsam von Westen her dahinsegelten, ein Bild der Ruhelosigkeit des Ewigen.

 


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