Henrik Pontoppidan
Der Teufel am Herd
Henrik Pontoppidan

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Bürgermeister Hoeck und Frau

Ein Doppelporträt

Eine kleine Stadt im Festgewand. Flaggen in allen Straßen. Wimpelgeschmückte Schiffe im Hafen. Eine Ehrenpforte vor einer großen, modernen Villa am Rande der Stadt. Über dem Ganzen ein blendender, klarer Aprilhimmel, zitternd von Licht. Auf dem Erdboden nicht ein Schatten.

Ein Volksaufzug war gerade durch die Hauptstraße gezogen mit einem Schutzmann und vier Messingmusikanten an der Spitze, auf dem Wege zur Villa hinaus. Ein paar Köter standen noch mitten auf dem Fahrwege und bellten hinterdrein. –

Bald darauf wurde ganz leise an der Haustürglocke in dem stillen Hause des Bürgermeisters in einer Seitenstraße geschellt. Eine ältere Haushälterin öffnete ein Fenster ein wenig und guckte heraus. Draußen auf der steinernen Treppe stand die kleine, breithüftige Apothekerfrau, einen großen Strauß gelber Narzissen in der Hand.

Die Haushälterin ließ sie eine Weile warten, ehe sie öffnete. Mit einem stummen Gruß führte sie sie in das Eßzimmer, wo die betraute Dienerin in dieser Zeit täglich Leuten Auskünfte erteilte, die kamen, um sich nach dem Befinden ihrer kranken Herrin zu erkundigen.

»Wie geht es denn, liebe Mamsell Mogensen?«

»Es ist jedenfalls nicht besser«, antwortete die Mamsell, wie jemand, der mehr weiß, als er sagen will. »Frau Bürgermeisters Schwester aus Deutschland ist heute gekommen.«

»So, ist das wirklich wahr? Ich hörte ja schon bei Sörensen & Lund, daß eine fremde Dame mit dem Morgenzug gekommen sei, die so ausländisch aussähe. Da hab' ich mir dann das Meine gedacht. Hat sie sich sehr verändert?«

»Die Frau Majorin?«

»Ja.«

Die Haushälterin zuckte nachsichtig mit den Mundwinkeln.

»Das kann ich doch nicht wissen, Frau Bergmann. Zu meiner Zeit ist die Frau Majorin nicht hier gewesen.«

»Ach nein, nein, – was ich rede. Aber Sie können mir glauben, Mamsell Mogensen, sie war schön in ihrer Jugend. Wie eine Königin anzusehen! Und Sie können mir glauben, hier herrschte Kummer und Herzeleid, als dieser gräßliche Deutsche mit ihr auf und davon ging. Die Leute konnten sich nun übrigens nie einig darüber werden, welche von den beiden Schwestern die schönste sei. Ich für mein Teil hab' nun freilich immer auf Ihre Herrin hier gehalten. – Glauben Sie, daß ich heute zu ihr hinein kann?«

»Nein, das glaube ich nicht. Frau Bürgermeister hat eine schlechte Nacht gehabt. Aber ich kann ja mal fragen.«

»Ach ja, tun Sie das, liebe, gute Mamsell Mogensen, das ist nett von Ihnen. Vielleicht könnte es Frau Bürgermeister auch amüsieren, etwas von dem Fest zu hören. Ich komme eben gerade von dem Handwerkerzug. Ja, Sie haben wohl die Musik gehört?«

»Ich hab' genug mit meinen eigenen Angelegenheiten zu tun, Frau Bergmann, wenn man eine Verantwortung hat –«

»Ja, ich verstehe es so gut. Es liegt in dieser Zeit viel auf Ihren Schultern, Mamsell Mogensen.«

»Man tut ja seine Pflicht.«

»Aber Sie sollten nun doch sehen, daß Sie heute ein wenig hinauskommen und sich den Staat ansehen. Die Villa soll ja heute abend illuminiert werden, wenn wir gegessen haben. Und die Regimentsmusik aus Randers ist bestellt, die soll spielen. Das muß man Jörgen Ovesen lassen, wenn er etwas tut, so tut er es so, daß es sich hören und sehen lassen kann.«

»Soll ich Frau Bürgermeister die Blumen bringen, die Frau Bergmann da hat?«

»Ja, wollen Sie das? Es tut mir nur so leid, daß sie so einfach sind.«

 

In einem großen Bett, das von der Wand frei in das große Schlafzimmer hinein stand, lag die kranke Frau ausgestreckt zwischen blauweißen, schimmernd reinen Bettüchern mit vielen Spitzeneinsätzen. Ein kleines dunkelrotes seidenes Schlummerkissen war unter ihren Nacken geschoben.

An der Seite des Bettes, nach dem Fenster zu, saß die Schwester in einem Korbstuhl. An der andern Seite stand einer von diesen niedrigen, mit Flakons und kleinen Kruken bedeckten Toilettentischen, über denen eine eigene, mysteriöse Stimmung ruhen kann, und die zusammen mit dem Spiegel und dem Spiegelbehang für die Frauen, wenn sie lieben, einen Altar der Liebe bilden. Auf Befehl des Arztes waren sonst alle überflüssigen Gegenstände aus dem Zimmer entfernt. Selbst die Gardinen waren abgenommen, um so viel Licht und so viel Luft wie nur möglich Zutritt zu verschaffen. Aber auf dies Heiligtum hatte die Bürgermeisterin nicht verzichten wollen. Die Vertraulichkeit ihres Spiegels hatte sie während ihrer langen Krankheit nicht entbehren wollen, und die vielen gewohnten Kleinigkeiten, die auf dem Tische standen, wollte sie auch zur Hand haben. Sie verdeckten außerdem so gut die Medizinflaschen und Pillenschachteln, die sie nicht sehen mochte.

Auf dem Tische standen auch noch vier langstengelige Rosen in einem Blumenglas. Ferner eine kleine silberne Schale mit Pfefferminzpastillen und Konfekt, wovon sie dem Arzt und andern, die zum Besuch kamen, anbot. Mitten zwischen alle diesem sah man endlich ein paar Bilder, darunter die Kabinettphotographie des Bürgermeisters.

Auch die wollte sie immer bei sich haben; und mit nassen Augen hatte sie sie in den vielen, langen Stunden angestarrt, die sie hier einsam gelegen und mit ihrer Todesangst und ihren Selbstanklagen gekämpft hatte. Selbst jetzt, wo die Schwester bei ihr saß, verfiel sie ein paarmal in Sinnen, den Blick darauf gerichtet, und oft unterbrach sie ein wenig nervös die Unterhaltung, indem sie sagte, daß sie nun bald ihren Mann erwarten könnten.

Die Majorin von Rauch war eine Dame nahe den Vierzigern, vier Jahre älter als die Bürgermeisterin. Die beiden Schwestern waren ein paar schöne Frauen gewesen und – jede auf ihre Weise – glücklich über ihre Schönheit. Die Majorin, die kinderlos war, nahm sich noch brillant aus. Sie war ihrem Äußeren nach ganz die preußische Offiziersgattin, stramm geschnürt und üppig, ganz verdeutscht in ihrem Geschmack. In den feineren und weicheren Zügen der Bürgermeisterin hatten die Jahre, und namentlich diese monatelange, zehrende Krankheit tiefere Spuren hinterlassen. Über ihren einstmals so warmen, braunen Augen lag jetzt jener Spiegelglanz, der der erste Vorbote des Todes ist. Der schöne Mund, der die Form eines kleinen Herzens gehabt hatte, umrahmte blutlos stramm gezogen die vorstehenden, weißen Zahnreihen. Nur allein diese Zähne und das rotbraune Haar hatten den Zerstörungen der Krankheit noch standgehalten.

Die beiden Damen waren die Töchter eines Zollverwalters, der in den sechziger Jahren hier in dieser kleinen jütischen Fjordstadt, in der die jüngere später Bürgermeistersgattin werden sollte, ein lustiges Leben geführt hatte. Das war zur Zeit des Krieges, und ein Jahr nach dem Friedensschluß hatte sich die ältere Tochter zum großen Ärgernis der Leute in der Stadt mit einem der feindlichen Offiziere verheiratet, die während der Besetzung im Hause des Vaters in Quartier gelegen hatten.

Zum erstenmal seit achtzehn Jahren besuchte die Majorin jetzt ihr Vaterland. Die Schwester und den Schwager hatte sie während dieser Zeit nur ein einzigesmal gesehen, nämlich auf deren Hochzeitsreise vor vierzehn Jahren. Es war damals eine Begegnung in einem der großen Hotels am Corner-See zustande gebracht worden, wo Frau von Rauch sich in jenem Frühling aufhielt, um eine Luftkur durchzumachen nach einer ernstlichen Krankheit, über deren Natur sie sich übrigens nicht hatte äußern wollen.

Indessen hatten die Schwestern alle diese Jahre in stetem Briefwechsel gestanden, und das Wiedersehen an diesem Morgen war stürmisch bewegt gewesen.

Die Bürgermeisterin war jedoch ziemlich schnell müde und zugleich etwas abwesend geworden. Es war fast, als werde sie allmählich der Schwester gegenüber ein wenig scheu, infolge ihrer vielen Fragen. Oft tat sie, als überhörte sie sie, und jeden Augenblick suchte sie nach einem neuen Stoff für die Unterhaltung.

Schließlich war sie stumm geworden, und nun lag sie mit geschlossenen Augen da und ließ die Majorin von ihrem Leben in der Hauptstadt Deutschlands erzählen, ohne im Grunde zuzuhören.

Es wurde leise an die Tür gepocht. Mamsell Mogensen kam mit dem Strauß der Apothekerin.

»Was ist denn nun wieder?« fragte die Kranke ungeduldig.

»Frau Bergmann ist draußen. Sie fragt, ob sie hereinkommen darf und Frau Bürgermeister begrüßen.«

»Nein, nein – es ist unmöglich. Ich kann heute niemand empfangen. Sagen Sie Frau Bergmann das.«

»Frau Bergmann meinte, Frau Bürgermeister könnten am Ende Lust haben, etwas von dem Fest in der Stadt zu hören. Sie kommt gerade von dem Handwerkerzug.«

»Ach Beste – was mache ich mir aus den Torheiten! Ja, das dürfen Sie natürlich nicht wiedersagen, Mamsell Mogensen! Sagen Sie Frau Bergmann, es sei schrecklich liebenswürdig von ihr, aber ich fühlte mich zu müde.«

»Und dann soll ich diese Blumen bringen. Wollen Frau Bürgermeister sie hier stehen haben?«

»Ach nein – es sind so viele. Sie duften wohl auch zu stark. Setzen Sie sie ins Wohnzimmer.«

»Es ist beinahe schade«, sagte die Majorin, die aufgestanden war und jetzt den Strauß nahm. »Sie sind wirklich hübsch. Laß mich wenigstens ein paar herausnehmen und in das Glas da setzen an Stelle der Rosen. Die sind nicht mehr ganz frisch.«

»Ach nein, von denen will ich mich nicht gern trennen, die halten wohl noch ein wenig. Mein Doktor hat sie mir gebracht. Sind sie nicht reizend? Wollen Sie Frau Bergmann vielmals danken, Mamsell Mogensen. Und sagen Sie ihr, es tue mir schrecklich leid, aber ich kann heute niemand annehmen.«

»Was für eine Dame ist diese Frau Bergmann?« fragte die Majorin, als die Haushälterin gegangen war, »eine von deinen Freundinnen hier?«

»Sie ist die Frau des Apothekers. Aber das ist wahr – du mußt sie kennen. Erinnerst du dich nicht meiner alten Schulgefährtin Laurine Holm?«

»Ja – der Name klingt mir so bekannt.«

»Weißt du nicht noch . . . Mutter stellte sie uns immer als abschreckendes Beispiel auf – ›die Watschelgans‹ nannte sie sie.«

»Ach ja – freilich. Sie war sonst ganz hübsch, nicht wahr? Blond und mit einem schönen Teint. – Und die ist da draußen?«

»Ja, sie kommt fast täglich und fragt nach mir. Und wenn ich nicht zu elend bin, darf sie hereinkommen. Sie ist im Grunde lieb. Aber furchtbar ermüdend, weißt du.«

Trotz ihrer ernsten Sorge um die Schwester mußte die Majorin über sie lächeln. Sie dachte im stillen, in ihrem Verhältnis zu den Freundinnen hatte sich Anne Marie offenbar nicht verändert. Es war dieselbe launenvolle Gleichgültigkeit, mit der sie während des Heranwachsens die vielen Bewunderinnen und Gönnerinnen tyrannisiert hatte, die sie stets zu umschwärmen pflegten.

»Es würde mir eigentlich Spaß machen, deine Freundin zu begrüßen. Glaubst du, daß sie sich meiner noch erinnert?«

»Daß sie sich deiner erinnert? . . . Ach, du ahnst nicht, was für ein gutes Gedächtnis man in so einer kleinen Stadt hat. Wenn du wissen willst, was du hier heute vor fünfundzwanzig Jahren zu Mittag gegessen hast, so bin ich überzeugt, daß da irgend jemand ist, der es dir erzählen kann.«

»Und glaubst du, daß sie noch da draußen ist?«

»St!«

Die Kranke streckte die Hand aus. Sie hatte den Schall von Männertritten in der Wohnstube nebenan aufgefangen.

»Das ist mein Mann!« rief sie jubelnd aus – und der spärliche Rest von Blut, den ihr Körper noch besaß, schoß ihr in die Wangen.

 

Der Bürgermeister kam geradeswegs von einem Verhör auf dem Rathaus und war in Uniform. Er verbeugte sich formell vor der Majorin.

»Hoffentlich vertreibe ich Sie nicht?« sagte er, als er sah, daß sie sich anschickte zu gehen.

»Keineswegs«, entgegnete sie kurz. »Aber ich höre, daß sich in diesem Augenblick eine alte Schulgefährtin hier im Hause befindet, und ich habe Lust bekommen, sie zu begrüßen. Sie verzeihen wohl.«

Der Bürgermeister verneigte sich abermals mit einer etwas gezwungenen Höflichkeit.

Vom Bett her hatte seine Frau indes schon die Hand nach ihm ausgestreckt. Wegen der Anwesenheit ihrer Schwester war es ihr übrigens ein wenig unangenehm, daß er in Uniform war. Sie wußte nicht, wie es zugehen konnte, aber trotz seiner hohen und aufrechten Gestalt kleidete ihn die Uniform nicht. Sie hatte außerdem sofort gesehen, daß ein wenig von dem Aufhängsel im Nacken hervorlugte.

Als er nach der Entfernung der Majorin an ihr Bett trat, strahlte ihr Antlitz vor Zärtlichkeit. Sie nahm seine große, sonnengebräunte Hand und legte die Rückseite mit den geschwollenen Adern gegen ihren Mund, sie gleichsam heimlich küssend.

»Weißt du, daß wir uns heute fast noch gar nicht gesehen haben?« fragte sie.

»Ich habe nicht stören wollen. Es ist ja so natürlich, daß du und deine Schwester eine Menge miteinander zu bereden gehabt habt.«

»Du störst niemals. Wie oft soll ich dir das denn noch sagen? Ich habe dich heute den ganzen Vormittag gerade so sehr entbehrt. Ist es nicht sonderbar, ich glaube fast, ich sehne mich weniger, wenn ich allein bin, als wenn ich Gesellschaft habe – selbst wenn es meine eigene Schwester ist.«

»Du hast dich gewiß mit dem Sprechen überanstrengt«, sagte er, statt zu antworten – und sein bärtiges Gesicht, das wie aus altem Eichenholz geschnitten war, nahm einen noch kühleren, verschlosseneren Ausdruck an.

»Ich bin jetzt auch müde . . . und so unruhig«, seufzte sie, und preßte ihre Wange gegen seine Hand wie ein Kind, das Ruhe auf einem Kopfkissen sucht. »Lise und ich haben so viel von alten Zeiten gesprochen . . . von unserer Hochzeitsreise . . . damals, als wir uns in Bellagio trafen. Der wunderbar schöne Abend unten am See. Weißt du wohl noch?«

»Ja, wir hatten schönes Wetter«, erwiderte er in einem trocknen Ton und zog – sanft, aber bestimmt – seine Hand zurück.

Sie lag eine kleine Weile mit geschlossenen Augen, ohne zu sprechen. Sie hatte den kleinen Ruck bemerkt, der ihn bei ihrer Frage durchzuckt hatte.

»Willst du dich nicht ein wenig zu mir setzen?« fragte sie und machte eine Bewegung mit der Hand auf den Korbstuhl hin, ohne ihn dabei anzusehen.

»Ich habe diesen Augenblick keine Zeit. Ich war eigentlich auf dem Wege zu der Mogensen, um mir meinen Kakao geben zu lassen. Im Bureau sitzen Leute und warten auf mich. Um drei Uhr ist Empfang bei Jörgen Ovesen, und dort muß ich als Wortführer der Magistratsdeputation erscheinen.«

»Erzähle mir ein wenig vom Handwerkerzug. War etwas daran? Ich möchte so gerne davon hören!«

»Ich habe den Zug nur flüchtig von den Rathausfenstern aus gesehen. Er war ganz nett. Jörgen Ovesen hat das Ganze ja selbst arrangiert. Amüsant ist es übrigens, daß Zweifel darüber entstanden sind, ob wirklich heute sein Jubiläum stattfindet. Auf alle Fälle ist es ja aber eine gute Reklame für sein Geschäft.«

»Ist es wahr, daß er die Villa heute abend illuminieren will?«

»Ich habe es erzählen hören.«

»Wann sollst du da sein?«

»Um drei.«

»Und wieviel ist die Uhr jetzt?«

»Halb eins.«

»Du mußt mir versprechen, hereinzukommen und Adieu zu sagen, ehe du gehst.«

»Dazu werde ich kaum Zeit haben. Wie ich dir schon sagte, das ganze Bureau sitzt voller Leute.«

»Aber wenn ich dich so herzlich darum bitte!«

»Wie viele sonderbare Launen du doch bekommen hast, Anne Marie!«

»Du verstehst mich recht gut. Wenn ich nun hier läge und stürbe, während du weg bist?«

»Immer kommst du mit dieser dummen Rederei«, sagte er, schlug aber im selben Augenblick die Augen nieder vor dem sonderbar starren, angstvoll gespannten und ausharrenden Blick, mit dem sie zu ihm aufsah.

»Versprichst du mir denn zu kommen?«

»Ja – natürlich – wenn du so großes Gewicht darauf legst.«

»Denn du weißt ja doch, was der Doktor gesagt hat.«

Der Bürgermeister richtete sich ein wenig straffer auf.

»Nun ja, Doktor Bjerring«, sagte er überlegen. »Der sagt so viel. – Aber nun solltest du doch versuchen, ein wenig Ruhe zu finden. Du hast heute gewiß schon mehr gesprochen, als dir gut ist.«

Bald darauf ging er.

Die Kranke lag mit bebenden Lippen da und sah nach der geschlossenen Tür, durch die er verschwunden war – bis der Mund sich verzog und die Augen in Tränen schwammen.

 

Wenn sich Bürgermeister Hoeck in seinem Bureau bewegte, das in einem Seitenflügel des großen Gebäudes lag, war sein Wesen ungleich freier und auch wärmer, als wenn er sich in den Zimmern seiner Frau aufhielt. Er legte wohl niemals eine gewisse amtliche Feierlichkeit ab, und da sein Selbstgefühl außerordentlich zart besaitet war, mußte man ihn überhaupt mit etwas Vorsicht behandeln. Aber Leuten gegenüber, die nicht vergaßen, wer er war, machte sich oft eine einfache, milde und nachgebende Freundlichkeit geltend, was namentlich dazu beigetragen hatte, ihn in dem einfacheren Teil der Bevölkerung beliebt zu machen.

Gegen Verbrecher, selbst gegen die gefährlichsten, schamlosesten, zeigte er oft eine sonderbare Nachsicht. Dahingegen konnte er anständige Leute, selbst unter den angesehensten Bürgern der Stadt, beleidigen, indem er ihnen gegenüber mit der ganzen Strenge des Gesetzes auftrat, wenn es sich um kleine Übertretungen handelte, denen sie selbst gar keine Bedeutung beilegten.

Ein wenig unsicher fühlte man sich deswegen immer ihm gegenüber, und überhaupt waren die Ansichten über ihn recht geteilt. Darüber waren sich jedoch alle einig, daß er kein gewöhnlicher Polizeiochse war. Im Grunde war man sehr stolz auf ihn, gab zu, daß er selbst wie auch seine Frau der Stadt zur Zierde gereichten. In den ersten Jahren, ehe Frau Hoeck krank wurde, als sie jeden Nachmittag mit ihrem kleinen, hübsch gekleideten Töchterchen auf ihrem Spaziergang nach den Anlagen hinaus durch die Hauptstraße kam, war ihr Erscheinen eines der Hauptereignisse des Tages für alle diejenigen, die hinter den Wohnstubenfenstern saßen und die Spaziergänger in dem Spion beobachteten. Die stattliche Erscheinung des Bürgermeisters mit dem hochgetragenen Kopf, dem brünetten Gesicht und dem bereits fast ganz weißen Haar und Bart wirkte recht vornehm in dieser Umgebung, und über die Schönheit der Frau Bürgermeister herrschte nur eine Stimme neben der des Neides.

Auch aus anderen Gründen fühlte man sich durch sie beehrt. Bürgermeister Hoeck hatte früher dem Kriminalgericht in Kopenhagen angehört. Er galt für einen der scharfsinnigsten Untersuchungsrichter im Lande und war überhaupt einer der feinsten Namen in der juristischen Welt. Er trug den seltenen Titel Doctor juris, und es galt als selbstverständlich, daß er einmal einen Sitz im höchsten Gericht einnehmen würde. Man sagte, es sei gerade die Reihe an ihm gewesen, in den Purpur der Jurisprudenz gekleidet zu werden, als er sich zum allgemeinen Erstaunen als Bürgermeister in die kleine jütische Stadt versetzen ließ.

Er hatte sich seinen Freunden gegenüber den Anschein gegeben, als wenn es ein Opfer sei, das er – übrigens ohne große Selbstüberwindung – seiner Frau brachte, die sich nach der Gegend zurücksehnte, in der sie geboren war; und Frau Hoeck gab auch selbst keine andere Erklärung.

Fünf Jahre hatten sie nun hier fern von seinen Freunden und Geistesverwandten gelebt, ja, waren bei diesen schon halbwegs in Vergessenheit geraten, ohne sich jedoch jemals darüber zu beklagen oder es sich merken zu lassen, daß sie sich hier nicht aus eigener freier Lust und Neigung aufhielten.

 

Nachdem die Majorin von Rauch die kleine Apothekerfrau hinausbegleitet hatte, stand sie eine Weile an dem großen Eckfenster im Eßzimmer und trommelte mit ihren ringbeladenen Fingern auf dem Fensterbrett. Ihr Gesicht hatte einen sinnenden Ausdruck angenommen.

Daß ihre Schwester nicht glücklich in ihrer Ehe war, hatte sie lange geahnt, obwohl Anne Marie alles getan hatte, um es in ihren Briefen zu verheimlichen. Sie hatte sich nicht irreleiten lassen von der Reihe begeisterter und liebevoller Adjektive, mit der die Schwester beständig von ihrem Gatten gesprochen hatte. Zwischen den feinen, unruhig wogenden Schriftzügen hatte sie deutlich ein Entbehren herausgelesen, einen verborgenen Kummer, der mit den Jahren tiefer geworden war und schließlich in einer sich selbst aufgebenden Verzweiflung geendet hatte.

Da unten in Deutschland hatte sich die Majorin allmählich eine Meinung über die Sache gebildet. Bei ihren Erfahrungen aus den Kreisen, in denen sie sich selbst bewegte, und namentlich aus ihrer eigenen Ehe mit einem lebensgierigen Offizier, den sie schon im Jahre nach der Hochzeit auf einer Treulosigkeit ertappte, hatte sie alle Schuld auf den Mann gewälzt. Damals, als ihr Anne Marie die Versetzung ihres Gatten in die Provinz mitteilte und in dieser Veranlassung ausdrücklich schrieb, daß sie ihn nicht dazu angespornt, sondern sich nur den Wünschen ihres Mannes gefügt habe, faßte die Majorin diese Worte als einen Versuch auf, ihr eine demütigende Wahrheit vorzuenthalten. Wenn auch ihre vielen Lobesworte über den Mann den Gedanken an einen eigentlichen Treuebruch von seiner Seite ausschlossen, so konnte sie deswegen ja sehr wohl Grund gehabt haben, ihn den Versuchungen der Hauptstadt fern zu wünschen.

Aber nach ihrer Unterredung mit der Apothekerin fing sie an zu verstehen, daß es sich mit dieser Liebestragödie anders verhalten müsse. Die kleine Provinzdame hatte in den respektvollsten Ausdrücken vom dem Bürgermeister gesprochen und schien überhaupt keine Ahnung von einem ehelichen Unglück zu haben. Und übrigens mußte die Majorin sich auch selbst eingestehen, daß der Schwager eigentlich gar nicht dem Bilde entsprach, das sie sich aus der Entfernung von ihm als Familienvater gebildet hatte – zum Teil nach dem Vorbilde ihres eigenen, weinduftenden Eheherrn.

Aber was in Himmels Namen konnte denn nur geschehen sein?

Als sie nach viertelstündiger Abwesenheit in das Krankenzimmer zurückkehrte, fand sie die Schwester allein. Anne Marie hatte sich aus eigener Kraft auf den Ellbogen aufgerichtet und einen Handspiegel vom Toilettentisch genommen, um ihr Haar ein wenig zu ordnen.

»Weißt du, daß die Uhr fast eins ist?« fragte sie. »Wir können den Doktor jeden Augenblick erwarten. Willst du nicht ein wenig Eau de Cologne zerstäuben? Die Luft ist gewiß nicht gut.«

»Aber was ist dir, Anne Marie? Hast du geweint?«

»Kannst du das sehen? Habe ich rote Augen? Ich bin auch so müde.« Sie legte mit einer schwerfälligen Bewegung den Spiegel hin. – »Ich glaube, ich will etwas ruhen, bis der Doktor kommt.«

Sie wandte sich auf die Seite um, den Rücken der Schwester zugekehrt, während diese die Bettücher ein wenig ordnete und die Kissen unter ihrem Kopfe zurechtzupfte. Die Anstrengung, die es ihr immer kostete, die Arme zu erheben, hatte sie sehr mitgenommen. Unter allerlei gleichgültigem Geplauder senkten sich ihre Augenlider nach und nach. Schließlich schlummerte sie ein.

Frau von Rauch hatte wieder den Platz in dem Korbstuhl neben dem Bett eingenommen und blieb hier sitzen, ohne sich zu rühren. Sie war ganz bestürzt, als sie sah, wie grünlichfahl und angegriffen Anne Marie plötzlich geworden war. Überhaupt hatte sie die Schwester viel schwächer gefunden, als sie geglaubt hatte und wie sie nach ihren eigenen Äußerungen in den Briefen zu erwarten Grund gehabt hatte. Hier mußte ja wirklich etwas Ernstliches vorliegen.

Sie sah die Schwester deutlich vor sich, so wie sie damals ausgesehen hatte, als sie selbst sich verheiratete und abreiste. Wie reizend war sie doch! Halb noch Kind, kaum sechzehn Jahre alt, mittelgroß, harmonisch gebaut, in halblangen Kleidern mit einer kleinen Krinoline und kurzen Puffärmeln. Das schwere Haar war in der Form eines Kaffeekringels am Hinterkopf aufgesteckt, was sie übrigens nicht kleidete; aber aus dem letzten Winter entsann sie sich einer großen Sammetkappe mit Pelzbesatz, in der sie hingegen ganz unglaublich süß ausgesehen hatte. Immer war sie munter wie ein Vogel, voller Einfälle und Narrenstreiche, und doch ganz Dame, korrekt bis zum Äußersten, namentlich Herren gegenüber. Wie oft hatte sie sich über sie amüsiert, wenn Besuch da war und sie mit der vollendetsten Grandezza im Zimmer erschien, nachdem sie sich noch unmittelbar vorher draußen in der Küche mit dem Mädchen geprügelt hatte, das ihr verwehren wollte, eine Kompottschüssel auszulecken. Auch in körperlicher Hinsicht war sie früh entwickelt, und sie war selbst sehr interessiert gewesen zu verfolgen, wie ihre Brust sich rundete. Trotzdem sollten über vier Jahre hingehen, bis sie sich mit der ganzen Warmblütigkeit ihres kleinen Körpers einem Mann um den Hals warf.

Die Majorin erinnerte sich noch sehr deutlich des amüsanten, halbverlegenen Briefes, in dem sie ihr die Verlobung mitteilte. Sie gestand darin ganz offen, daß ihr Verlobter gar nicht hübsch sei. Und doch war sie offenbar sehr eingenommen gerade von seiner Person. Der damalige Kriminalgerichtsrat hatte sich ein paar Monate als Kommissionsrichter in Anlaß eines Mordes in der Stadt aufgehalten, und länger hatten sie sich nicht gekannt. Nachdem die Majorin seine Bekanntschaft bei jener Begegnung auf der Hochzeitsreise gemacht, hatte sie begriffen, daß das fremdartige Wesen und die eigenartigen Gewohnheiten des schweigsamen Mannes, die im Vergleich zu denen der Provinzbewohner leicht einen Schimmer von Vornehmheit annehmen konnten, dazu das Ansehen seiner Stellung und der Ruf, der seit der Entdeckung der Mordgeschichte seinen Namen krönte – daß das alles dazu beigetragen hatte, ihn in ihren Augen zu idealisieren.

Sie hatte seither oft daran gedacht, daß sie vielleicht niemals zwei so glückliche Menschen gesehen habe. Sie waren eine Woche wie ein paar richtige Landstreicher in den Bergen umhergestreift und hatten von hier aus einen schneefrischen Hauch mit hinabgebracht in die schwüle, mit Speisengeruch angefüllte Hotelstadt, in der sie selbst die Tage in Einsamkeit und Entbehren dahinschleppte. Anne Marie hatte ihr denn auch anvertraut, daß sie sich das Leben niemals so wunderbar schön gedacht habe, und den verzückten Ausdruck, mit dem sie das gesagt hatte, konnte sie seither nie wieder vergessen, – er hatte gleichsam eine Nadel in ihr Herz hineingebohrt. Der Eindruck von dem Gatten der Schwester hatte sich dahingegen im Laufe der Jahre ziemlich verwischt. Eigentlich erinnerte sie sich nur seiner Schweigsamkeit, in der eine gewisse Macht gelegen haben mußte.

Was war denn in der Zwischenzeit geschehen, das ihr Glück zerstört hatte?

Sie strauchelte auf einmal über eine alte Erinnerung. Sie entsann sich eines Vetters, des langen Alexanders, der im Bureau des Vaters angestellt war und täglich in ihr Haus kam. Er war sehr von Anne Marie eingenommen gewesen, die ihrerseits auch nicht gleichgültig war – wie sie überhaupt schon früh glücklich über die Huldigung der Männer gewesen. Aber der Bursche war ein Taugenichts, so faul und unzuverlässig, wie er hübsch war. Er mußte plötzlich aus der Stadt fortgeschafft werden, und sie sahen ihn seither nicht wieder.

Anne Marie, die damals in ihr sechzehntes Jahr ging, ließ einen Tag lang den Schnabel hängen und tat dann, als sei nichts geschehen. Und doch hatte sie ihn wohl niemals ganz vergessen. Die Majorin erinnerte sich jetzt, daß sie ihn mehrmals, auch nach ihrer Verheiratung, in ihren Briefen erwähnt und viel Mitgefühl mit ihm an den Tag gelegt hatte wegen seines traurigen Schicksals. Mit der eigentümlich mütterlichen Treue, die sie denen gegenüber bewahrte, für die sie einmal Zuneigung empfunden, hatte sie ihn sicher in aller Heimlichkeit auf seinen krummen Pfaden verfolgt, die ihn wohl mehr als einmal den dicken Mauern mit den eisernen Stangen sehr nahe brachten.

War es denkbar, daß dieser mißratene Vetter von neuem ihren Weg gekreuzt hatte? Man hörte ja zuweilen sonderbare Sachen von der unheimlichen, gespensterhaften Macht, mit der die erste Liebe selbst sonst ganz gefestigte Gemüter überrumpeln konnte.

Ach, Unsinn! Jetzt fiel es ihr wieder ein! Der Bursche war ja schon längst drüben in Amerika gestorben. –

Die Kranke öffnete die Augen wieder, sah sich verwundert um und fragte:

»Wieviel Uhr ist es?«

»Es hat eben halb zwei geschlagen. Die Uhr da drinnen im Zimmer hat dich wohl geweckt?«

»Dann müssen wir den Doktor für heute wohl aufgeben«, sagte sie noch halb im Schlaf, und wandte mit einem unwilligen Ausdruck den Kopf wieder ab, um weiterzuschlafen.

Nach einer Weile aber streckte sie ihre knöcherne Hand nach einem Hakon mit Kölnischwasser aus und strich mit dem Glaspfropfen über ihre Stirn hin.

»Wie warm es hier ist!« klagte sie. »Ich fühle mich gar nicht recht wohl.«

»Ich will ein Fenster öffnen.«

Jetzt verging wieder eine Weile mit allerlei Geplauder über das Wetter und die Leute in der Stadt, und schließlich über Ingrid, die zwölfjährige Tochter des Hauses, das einzige Kind, das in einem Pensionat in einer größeren, benachbarten Stadt untergebracht war. Die Majorin hatte es bisher so viel wie möglich vermieden, von ihr zu sprechen, weil sie sich denken konnte, daß es die Schwester angreifen würde; jetzt fiel es ihr aber auf, daß Anne Marie auch nicht ein einziges Mal das Kind erwähnt hatte, dessen Bild doch in einem silbernen Rahmen neben dem ihres Mannes auf ihrem Toilettentisch stand. Hiermit war sie abermals der Frage gegenübergestellt, welches Geheimnis diese Ehe barg, und diesmal auf eine Art und Weise, die nicht allein ihr schwesterliches Mitgefühl, sondern auch ein klein wenig allgemein weibliche Neugier in ihr wachrief.

Die Kranke hatte sich auf den Rücken gelegt und wandte das Gesicht dem Licht zu. Der Schlaf hatte sie erfrischt. Sie hatte sogar ein wenig Farbe auf den Wangen.

»Sag mir doch«, begann die Majorin nach einem Schweigen, »warum in aller Welt hat sich dein Mann eigentlich hierher in das kleine Mauseloch versetzen lassen, wo es doch offenbar keinen passenden Umgang für irgendeinen von euch gibt. Schon allein Ingrids Unterricht und ihrer ganzen Ausbildung wegen hätte es doch weit besser sein müssen, wenn ihr in Kopenhagen geblieben wäret.«

Anne Marie schien etwas beunruhigt durch die Frage, die freilich auch ein klein wenig kopfüber in die Unterhaltung hineingeplumpst kam. Indem sie ihre Augen von dem Fenster der Decke zuwandte, streifte ihr Blick die Schwester mit dem ein wenig scheuen und forschenden Ausdruck, mit dem sie sie schon einmal in Veranlassung ihrer vielen Fragen beobachtet hatte.

»Der Zeitpunkt war für Ingrid vielleicht nicht sehr günstig gewählt«, entgegnete sie. »Aber die Stelle war damals gerade frei, und das mußte ja den Ausschlag geben, wenn mein Mann doch hierher wollte. Übrigens bin ich selbst jetzt sehr gern hier. Ich entbehre Kopenhagen nicht im allergeringsten. Wenn ich nur gesund werden wollte. – Überhaupt, wenn es nur mit meinem Mann zusammen ist, können sie mich, wenn es sein soll, gern nach Grönland schicken.«

»Nun ja, dergleichen sagt man wohl. Und natürlich meint man es in gewissem Sinne auch. Aber ich finde nun doch, es muß ein schlimmer Übergang für dich gewesen sein. Du liebtest Kopenhagen doch so sehr.«

»Ach du, ich hatte wirklich gar keine Zeit, den Übergang zu fühlen . . . auf die Weise. Wir waren hier nach dem Umzug kaum in Ordnung gekommen, als der kleine Kay krank wurde. Und drei Monate später war der Junge tot.«

»Ja, das ist wahr! Du hast sein kleines Grab hier. – Du kannst mir übrigens glauben, es ist ganz sonderbar für mich gewesen, zu denken, daß du so einen großen, sechsjährigen Buben gehabt hast, den ich nie zu sehen bekommen würde. Er war ja so hübsch?«

»Hübsch? Das weiß ich nicht . . . Aber er war ein herrlicher Junge. Er hatte die Augen seines Vaters. So ernst und tief. So voller Gedanken.«

»Das muß eine harte Zeit für dich gewesen sein, kleine Anne Mi'e!«

»Ach ja, das war es eigentlich auch wohl«, sagte sie – sie lag da, die Hand unter dem Kopf und starrte unverwandt zur Decke empor. »Und doch. Es ist so sonderbar, denn oft meine ich, daß es im Grunde eine schöne Zeit war. Man kommt einander so innerlich nahe durch so ein großes Unglück. Alle alltäglichen Kleinigkeiten werden gleichgültig, alle kleinen Uneinigkeiten vergißt man. Und du ahnst nicht, welch ein Trost und welch eine Stütze mein Mann mir gewesen ist. Er wich nicht von mir in jener Zeit. Wenn ich ihn nicht gehabt hätte, wäre ich auch sicher wahnsinnig geworden. – Es ist beinahe unrecht, es zu sagen, aber ich finde oft, wenn ich an die Tage zurückdenke, daß er mir durch seine unendliche Liebe einen vollen Ersatz für das gab, was ich verloren hatte.«

Es entstand ein kurzes Schweigen nach diesen Worten. Die Majorin verfiel einen Augenblick in Sinnen. Draußen in dem blendenden Frühlingssonnenschein flötete ein unermüdlicher Star.

»Ich kann nun doch nicht verstehen, daß ihr hier den Verkehr nicht entbehrt«, begann die Majorin von neuem. »Ihr hattet doch gewiß viele gute und amüsante Bekannte in Kopenhagen. Ich entsinne mich noch, daß du von mehreren Kollegen deines Mannes schriebst, mit denen ihr häufiger zusammenkamt. War da nicht namentlich ein – wie hieß er doch gleich – ein Rat Lunding, glaube ich?«

»Nun ja, der war ganz amüsant«, antwortete Anne Marie ein wenig hastig. »Aber er entpuppte sich als schlechter Mensch. Mein Mann hatte es übrigens immer gesagt, daß er keinen guten Ruf habe. Dann kam da eine Geschichte mit einer verheirateten Frau, und in der letzten Zeit verkehrten wir gar nicht mehr miteinander.«

Die Majorin beobachtete sie mißtrauisch; ihr weiblicher Instinkt sagte ihr, daß sie hier einem Geheimnis auf die Spur gekommen sei. Sie konnte sich aber doch nicht entschließen, es gleich zu verfolgen. Halb aus Furcht, halb aus Verlegenheit brach sie ihr hinterlistiges Verhör ab.

»Wird es dir nicht zu kalt?« fragte sie. »Soll ich das Fenster nicht lieber schließen?«

»Ja, tue es nur. Der Vogel schreit auch so abscheulich.«

Die Unterhaltung glitt zurück zu den Verhältnissen dort in der Stadt und zu Ingrid, die aus Anlaß der Ankunft der Tante zu einem kleinen Besuch erwartet wurde.

»Wie ich mich darauf freue, sie zu sehen«, sagte die Majorin. »Du mußt sie ja schrecklich entbehren. Nicht wahr?«

»Furchtbar«, sagte die Mutter, indem das Wort gleichsam beschwerlich von einem Seufzer geboren wurde. Tränen waren ihr in die Augen getreten, und es zuckte von neuem um ihren Mund.

»Aber wäre es dann nicht besser für das Kind und auch für euch gewesen, wenn ihr sie zu Hause behalten hättet? Man muß doch auch hier Unterricht haben können. Wenn er auch nicht ersten Ranges ist, so kann man sich doch vorläufig damit begnügen. Wie richten sich denn die andern Familien in der Stadt ein? Frau Bergmann zum Beispiel? Schickt sie ihre Kinder auch fort?«

»Nein, nein. Die Schule hier ist wirklich tadellos. Und Ingrid hat sie auch bis vor einem Jahre besucht. Aber dann meinte mein Mann, es sei an der Zeit, daß sie von zu Hause fortkäme.«

»Ich finde, das ist so unsinnig. Namentlich jetzt, wo du krank bist. Du solltest ernsthaft mit deinem Mann darüber sprechen.«

»Glaubst du nicht, daß ich das getan habe?« – Sie lag mit geschlossenen Augen da, um die Tränen zu verbergen, die unter den Wimpern hervorzuquellen begannen.

»Ja, verzeih, daß ich es sage, aber ich finde es wirklich in hohem Maße unverständig von deinem Mann. Denn jetzt verstehe ich auch, daß du hier liegen und krank werden mußt, allein aus Sehnsucht nach dem Kinde. Das muß doch, weiß Gott, auch er begreifen können. – Willst du mir erlauben, mit ihm darüber zu reden?«

»Es nützt nichts. – Ich weiß es.«

Es lag etwas Unbeherrschtes, etwas verzweifelt Hoffnungsloses in diesem Ausruf, der die Majorin stutzen machte.

»Aber ich begreife es wirklich nicht«, sagte sie. »Du sagst doch, daß dein Mann sonst so bedacht und so verständig ist.«

Frau Anne Marie wandte zögernd das Antlitz der Schwester zu und sah sie lange und gleichsam beschämt mit ihren großen, tränengefüllten Augen an, während ihr Mund immer breiter wurde von zurückgehaltenem Weinen.

»Du hast also nichts bemerkt, Lise?«

»Was?«

»Daß mein Mann – krank – ist?«

»Krank? Ist dein Mann krank? Ich fand doch gerade, daß er so kräftig aussieht, im Verhältnis zu seinem Alter.«

»Nein, nicht auf die Weise . . . So meine ich das nicht. Du verstehst mich nicht.«

Sie wandte sich wieder ab, hob mit einer weltverzichtenden Bewegung beide Arme ein wenig in die Höhe und ließ sie todschwer auf die Bettdecke fallen.

»Niemand versteht mich!« klagte sie verzweifelt.

Die Majorin verstand in diesem Augenblick weniger denn je; aber sie wagte nicht, weiter zu fragen. Die Schwester hatte wieder diesen bläulichen Schein über dem Gesicht bekommen, der ihr so beunruhigend erschien.

Außerdem wurde sie jetzt auf andere Weise in Anspruch genommen. Anne Marie klagte wieder über Hitze und bat um etwas zu trinken. Dann sollte sie auch ihre Medizin nehmen, und ihre feuchten Hände mußten abgetrocknet werden. Die Majorin war ihr bei alledem behilflich. Sie wollte nicht erlauben, daß zu diesem Zweck nach Mamsell Mogensen geklingelt würde.

»Ich möchte dir ja so gern eine kleine Hilfe sein«, sagte sie und suchte durch ihren Ton den Worten eine tiefere Bedeutung zu verleihen. »Darum bin ich ja doch hergekommen, liebe Anne Mi'e!«

 

Mitten während dieser Störung kam der Doktor. Keine der Schwestern hatte sein Schellen gehört, auch nicht, daß er klopfte. Sie ahnten nichts, bis er im Zimmer stand.

»Also Sie kommen doch noch«, sagte Anne Marie ein wenig mißgestimmt. »Ich hatte Sie für heute schon aufgegeben. Das ist Doktor Bjerring. Meine Schwester, Frau Major von Rauch.«

Der Doktor war ein jüngerer, ein wenig verwachsener Mann, mit jener hoffärtigen Eleganz gekleidet, mit der dergleichen Menschen sich gern für ihr körperliches Gebrechen schadlos zu halten pflegen. Der Eindruck seiner Person war jedoch nicht gerade lächerlich oder abschreckend. Er hatte ein längliches, blasses und bartloses Gesicht mit großen, ganz hübschen Zügen, einen vorstehenden Unterkiefer, mit stark roten Lippen, dichte Brauen, tiefe, bläuliche Augenhöhlen und ein Paar strahlende, dunkle Augen mit jenem metallischen Glanz, der dem kundigen Blick den Frauenfreund verrät. Über dem Scheitel lag dünnes, tintenschwarzes Haar, das so aussah, als wenn es daraufgemalt wäre.

Er schien sehr unglücklich darüber, daß er sich die Ungnade seiner Patientin zugezogen hatte, und entschuldigte sich lebhaft, er sei unterwegs aufgehalten worden.

»Nun ja – nehmen Sie nur einen Stuhl, Herr Doktor. Und lassen Sie uns dann ein wenig von der Gesellschaft gestern abend hören. Von mir ist wirklich nichts zu sagen. Ich bin heute dieselbe wie gestern. Kein Appetit, keine Kräfte . . . nichts.«

»Und wie steht es mit dem Schlaf?« fragte er, indem er mit seinen langen, weißen Fingern ihr Handgelenk umspannte, um den Puls zu fühlen. »Hat das Pulver nicht geholfen?«

»Nicht im geringsten. Sie sind ein schlechter Doktor, der mir nicht helfen kann. Aber jetzt sollen Sie nicht mehr fragen. Heute will ich Ferien haben. – Und erzählen Sie ein wenig von der Soiree auf Krogstrup. Waren da viele Menschen?«

»Ja, es war ja, wenn ich mich so ausdrücken darf, diesmal das große Abendmahl des Hofjägermeisters. Da war wohl alles, was es hier in der Gegend an Herrenfracks gibt. Aber das ist wahr, der Herr Bürgermeister hatte eine Absage geschickt.«

»Ja, es war schade. Ich bat ihn so sehr, doch zu gehen und sich nicht an mich zu kehren. Es wäre ihm so gut gewesen, einmal von seinem Bureau wegzukommen. Dann hätte ich den Bericht auch ganz frisch haben können. – Nun, und die Damen? Waren da viele schöne Toiletten?«

»Ja, da waren wirklich mehrere Damen, die nicht sonderlich viel anhatten.«

»Hörst du, Lise? Der Doktor ist unmöglich. Und wen hatten denn Sie die Ehre, zu Tische zu führen?«

»Hofjägermeisters neue Gouvernante, Fräulein Lang.«

»Ach so! Sie soll ja hübsch sein, wie ich höre. Wie finden Sie sie?«

»Ganz nett.«

»Nicht mehr? Aber wohl lebhaft?«

»In gewisser Beziehung, ja. Fünf Viertelstunden hat sie den Mund nicht aufgemacht, außer um zu essen. Ich saß schließlich wirklich in einer wahren Angst da, daß ihr Korsett nicht halten würde.«

Die Kranke lachte vergnügt.

»Sie sind gräßlich, Herr Doktor! Aber würde sie nicht am Ende doch für Sie passen, dies Fräulein Lang? Du mußt nämlich wissen« – sie wandte sich an die Schwester – »daß ich mir alle erdenkliche Mühe gebe, um Doktor Bjerring eine Frau zu verschaffen. Ich empfehle ihm die schönsten und reichsten jungen Damen in der ganzen Gegend an. Aber es hilft alles nichts.«

»Herr Doktor Bjerring will sich vielleicht gar nicht verheiraten«, sagte die Schwester. »Es ist ja auch oft ein sehr gewagtes Spiel.«

»Ach, das ist eigentlich nicht gerade der Grund, meine gnädige Frau«, sagte der Doktor und sah zum Fenster hinaus. »Aber mit der Liebe geht es so wie mit den Theaterbillets: der Platz, den man gerne haben will, ist in der Regel schon besetzt.«

»Ja, Ausflüchte haben Sie immer zur Genüge«, sagte die Bürgermeisterin schnell. »Und heute abend wollen Sie schon wieder in Gesellschaft. Sie sind viel unterwegs in dieser Zeit. Ist es wahr, daß illuminiert werden soll und daß man ein Feuerwerk im Garten abbrennen will? Das wird ja großartig!«

So schwirrte die Unterhaltung munter wie in einem Salon. Auch die Majorin nahm lebhaft teil daran, allmählich ganz angeregt durch den kleinen Provinz-Lebemann.

Als er endlich ging, begleitete sie ihn auf die Diele hinaus. Sie wollte unter vier Augen mit ihm über den Zustand der Schwester sprechen. Hier draußen schüttelte er ernsthaft den Kopf und sagte, daß er eigentlich stündlich auf eine Krisis gefaßt sei. Die Kräfte seien ja sichtlich im Abnehmen begriffen; doch sei die Möglichkeit einer plötzlichen Besserung nicht ausgeschlossen, ja, es sei gar nicht undenkbar, daß die Bürgermeisterin eines schönen Tages aufblühen und ihre alte Gesundheit völlig wiedergewinnen würde. Diese Nierenkrankheiten seien unberechenbar. Man könne damit hundert Jahre alt werden, und sie könnten einen in einer Stunde totschlagen.

Auf dem Rückweg durch das Eßzimmer begegnete die Majorin dem Bürgermeister. Er kam aus seinen Zimmern und war in voller Gala. Mamsell Mogensen trug seinen Überrock hinter ihm drein.

Der Bürgermeister fragte, wie es »da drinnen« gehe, und die Schwägerin antwortete, Anne Marie habe sich gar nicht wohl gefühlt.

»Aber jetzt ist der Doktor hier gewesen, und das hat sie ein wenig belebt«, sagte sie.

Hierauf erwiderte der Bürgermeister nichts.

Es war seine Absicht gewesen, um keinen Verdacht bei der Schwägerin zu erwecken, gleich zu seiner Frau hineinzugehen und ihr Lebewohl zu sagen, so wie sie es gewünscht hatte. Jetzt begnügte er sich damit, ihr einen Gruß zu senden. Sobald er den Rock angezogen hatte, ging er.

Die Majorin kehrte nach dem Krankenzimmer zurück. Hier lag Anne Marie noch in derselben Stellung, die Hand unter dem Kinn, so wie sie und der Doktor sie verlassen hatten. Der Blick war den Fenstern zugewendet, und sie war so tief in Gedanken versunken, daß sie das Kommen der Schwester nicht sogleich in die Gegenwart zurückrief.

»Nun, wie findest du denn meinen Doktor?« fragte sie, als die Majorin wieder ihren alten Platz im Korbstuhl neben dem Bett eingenommen hatte. »Er ist ja gerade keine Schönheit, aber er ist wirklich so prächtig. Und du ahnst nicht, wie rührend er in seiner Fürsorge für den kleinen Kay war.«

»Hältst du ihn aber auch für einen tüchtigen Arzt? Denn das ist doch die Hauptsache.«

»Liebste, er gilt für einen wahren Wunderdoktor! Wenn er nicht mit diesem körperlichen Gebrechen behaftet wäre, hätte er sich niemals in der Provinz niedergelassen – das weiß ich ganz bestimmt. Du konntest wohl auch merken, daß seine Munterkeit nicht ganz echt war. Er ist in Wirklichkeit eine schrecklich schwermütige Natur. Es kann einem förmlich ins Herz schneiden, zu sehen, wie niedergeschlagen er zeitenweise sein kann, wenn man ihn unter vier Augen hat. Er hat zuweilen ein paar Stunden hier bei mir gesessen, nur weil er das Bedürfnis hat, mit einem Menschen zu reden, der ihn versteht. Hast du seine Augen wohl beachtet? Es liegt soviel Kummer darin, finde ich. – Jetzt hat es drei geschlagen.«

Die Uhr im Wohnzimmer hatte sie aufmerksam gemacht.

»Erwartest du jemand?« fragte die Schwester.

»Nein – niemand weiter als meinen Mann. Ihn erwarte ich immer.«

»Das ist wahr – dein Mann ist ausgegangen. Ich sollte dich von ihm grüßen.«

»Ist er gegangen?«

»Ja. Er habe es eilig, sagte er. Er wollte wohl zur Gratulation bei dem Jubilar. Er war in vollem Staat.«

Anne Marie wurde schweigsam. Sie schloß die Augen und wandte sich schließlich ab, wie um wieder ein wenig zu schlummern, zog auch die Decke bis über die Schultern hinauf, so daß das Gesicht fast verhüllt war, und lag ganz still da. Als sich aber die Schwester nach Verlauf einiger Minuten vorbeugte, um sich zu vergewissern, daß sie schlief, sah sie, wie eine Träne nach der andern an ihrer Wange herabrollte.

Da konnte sich die Majorin nicht länger beherrschen. Sie beugte sich über das Bett, nahm die Hand der Schwester und sagte:

»Anne Marie! Liebe Schwester! Sage mir doch – was dir fehlt. Vertraue dich mir doch an. Vielleicht kann ich helfen.«

»Nein, hier hilft nichts! Nichts!«

»Aber so rede doch trotzdem. Es wird dich erleichtern.«

»Was sollte es wohl nützen? Du verstehst es doch nicht. Und ich verstehe es ja selbst auch nicht.«

»Versuch es doch nur. Erzähl mir alles.«

»Ach du, es ist eine lange, lange Geschichte. Ich würde nie damit fertig werden.«

»Ich will schon geduldig sein. Bedenke, ich bin ja deine Schwester.«

»Ja!« sagte sie und preßte in Todesangst die Hand der Schwester gegen ihr Herz.

 

Anne Marie fing damit an, von ihrer verstorbenen Schwiegermutter zu erzählen, von der Justizrätin Hoeck, der Witwe eines braven Postmeisters. Sie war eine lange, hagere und selbstgerechte Dame gewesen mit sehr einseitig entwickelten geistigen Interessen. Sie stammte aus einer bekannten Pfarrersfamilie, war eine geborene Sidenius, worauf sie sich viel zugute tat. Rings umher im Lande hatte sie Brüder und Vettern und Halbvettern, die alle Geistliche waren und alle Bücher über erhabene Themata schrieben, worauf sie ganz besonders stolz war. Wie überhaupt die Familie Sidenius in ihren Augen die vor allen andern begnadete Familie war, der von der Vorsehung eine heilige Mission hier im Lande zuerteilt war, so verkörperten diese Schriften für sie das letzte, inspirierte Wort der Wahrheit über das große Rätsel des Lebens und des Todes. Worüber man auch in ihrer Gegenwart reden mochte, stets gelang es ihr, die Unterhaltung so zu drehen, daß sie Gelegenheit zu einer Bemerkung wie: »Hierüber hat mein Bruder Peter eine herrliche Betrachtung in seinen Sonntagsandachten geschrieben«, oder: »Diese Frage hat mein Vetter Johannes mit wunderbarer Klarheit und Tiefe in seinen Adventspredigten entwickelt«, hatte. Fand die Unterhaltung in ihrem eigenen Hause statt, so erhob sie sich sofort und holte das betreffende Werk aus dem Bücherschrank, worauf sie mit ihrer groben, männlichen Stimme lange Auszüge daraus vorlas, indem sie nach jedem Punkt ihren Zuhörern einen Blick über die Brille zuwarf, um ihre Bewunderung einzuheimsen.

Des Sohnes Wahl einer Lebensbegleiterin hatte tiefes Mißfallen und Bekümmernis bei ihr wachgerufen, und mit der unbestechlichen und rücksichtslosen Redlichkeit, die eine der Grundeigenschaften ihres Wesens war, hatte sie Anne Marie, geschweige denn dem Sohn selber, gegenüber kein Hehl hieraus gemacht. Obwohl Anne Marie ihrem Bräutigam zuliebe ihre ganze Kunst entfaltete, um sich bei der gestrengen Schwiegermutter einzuschmeicheln, hatte ihr diese doch gleich bei ihrem ersten Besuch gerade heraus gesagt, sie sei eine »unerzogene kleine Zierpuppe«, und sie halte es für ihre Pflicht, aus Rücksicht auf das Glück des Sohnes, ihre Erziehung in die Hand zu nehmen, »um zu versuchen, einen Menschen aus ihr zu machen«.

Die Schwiegermutter wohnte in Kopenhagen, und um des lieben Friedens willen hatte Anne Marie geschwiegen und sich in ihre Bevormundung geschickt. Mit engelhafter Geduld hatte sie als junge Frau Abend für Abend dagesessen und ihre endlosen Vorlesungen angehört, während sie verzweifelt mit einem krampfhaften Verlangen zu gähnen kämpfte. An dergleichen Unterhaltungen war sie aus ihrem Elternhause nicht gewöhnt, wo man des Abends Rambuse gespielt oder Erik Böghsche Lieder zum Klavier gesungen hatte. Aber sie liebte ihren Mann bis zur Verschämtheit, und sie fürchtete den Einfluß, den der Zorn oder das Mißfallen seiner Mutter auf seine Liebe haben können.

Allmählich war das Verhältnis denn auch ein wenig besser geworden, aber zu einer wirklichen Vertraulichkeit der Schwiegermutter gegenüber kam es doch niemals. Anne Marie konnte sich ihr nicht mit einem modernen Hut oder einem Paar neuen Handschuhen, oder auch nur mit einem so recht lebensfrohen Lächeln zeigen, ohne daß sie gleich mißtrauisch wurde und ein peinliches Verhör begann. Und da Anne Marie sehr empfindlich gegen Kritik war, sobald sie sich um ihr Äußeres drehte, kam es ein paarmal zu recht heftigen Szenen zwischen ihnen. Namentlich wat es der alten Dame, die selbst ein Gesicht wie ein erfrorener Apfel hatte, eine Quelle steten Ärgers, daß Anne Marie in einem eigenen, instinktiven Trotz nicht auf ihr weibliches Vorrecht, Schönheitsmittel zu benutzen, verzichten wollte.

»Dergleichen Jux ist für Dirnen – nicht für ehrbare Frauen«, hatte ihr die Schwiegermutter wohl hundertmal ganz empört vorgehalten.

Namentlich dies Verhältnis suchte Anne Marie ihrer Schwester zu erklären, die übrigens durch ihre Briefe schon etwas davon kannte. Von ihrem Manne sagte sie, daß er sich anfangs ritterlich auf ihre Seite gestellt habe in dem Kampf mit der Schwiegermutter, und diese oft mit großer Bestimmtheit zurechtgewiesen habe. Es habe niemals eine große Liebe zwischen ihm und dieser Mutter bestanden, die ihn in seinen Knabenjahren mit ihren ewigen Ermahnungen ermüdete, und von der er sich deswegen auch – äußerst ehrgeizig, wie er überhaupt stets gewesen war – schon in einem frühen Alter unabhängig gemacht hatte, indem er sich durch eigene Arbeit die Mittel zu seinem Unterhalt verschaffte.

Aber nach der Mutter Tode – erklärte sie – habe sie eine Veränderung in seinen Gefühlen gespürt. Er fand immer mehr an ihr auszusetzen. Es war, als ob das Mißtrauen und das Mißvergnügen der Mutter in ihn gefahren seien als ererbte Gemütsleiden. Seine Tätigkeit als Polizeibeamter habe auch das ihre dazu getan, glaubte sie. Daß er sich beständig mit Verbrechern und Verbrechen beschäftigte, hatte ihn allmählich dahin gebracht, überall Betrug und Verstellung zu wittern. Es war förmlich eine fixe Idee bei ihm geworden. Schließlich habe er eines Tages in einer krankhaften Erregung den Einfall bekommen, daß das Kind fort solle, weil sie seiner Ansicht nach einen schädlichen Einfluß auf die Kleine habe. Ingrid war mit ein paar Äpfeln nach Hause gekommen, die ihr einer der großen Jungen des Kämmerers geschenkt hatte, und er hatte hierin eine unpassende Annäherung von seiten des Kindes gesehen. Das waren schreckliche Tage gewesen!

Sie sprach hastig und kurzatmig mit vielen Seitensprüngen und plötzlichen Pausen, wie jemand, der sein Geheimnis nicht länger zu bewahren vermag, aber sich trotzdem nicht entschließen kann, die volle Wahrheit zu sagen, und mit Absicht zu verwirren sucht. Auch vermied sie es während der ganzen Zeit, die Schwester anzusehen, wohingegen sie beständig ihre Hand mit einem krampfhaften, angsterfüllten Griff umklammert hielt.

Die Majorin strich ihr schweigend über das Haar. Sie hatte angefangen, den Zusammenhang zu erkennen, und mußte gegen eine heftige Gemütsbewegung ankämpfen. Das Unglück, das sie jetzt ahnte, war ja viel furchtbarer, als sie es sich vorgestellt hatte, so daß sie sich nicht entschließen konnte, mit weiteren Fragen in die Schwester zu dringen. Das Mitleid machte sie stumm.

Trotz der Selbstanklage, die deutlich aus Anne Maries unzusammenhängender Rede herauszuhören war, glaubte sie an keinen Fehltritt. Sie wollte ihre Hand dafür ins Feuer legen, daß Anne Marie sich nichts Ernstliches vorzuwerfen hatte. Das Verhältnis war viel trauriger. Ihre arme Schwester war das Opfer der Eifersucht eines wahnsinnigen Mannes. Und in ihrer Einsamkeit und Verzweiflung war sie auf dem besten Wege, sich selbst für schuldig zu halten.

Da wurde an die Tür geklopft. Es war Mamsell Mogensen mit ihrer großen, schneeweißen Latzschürze.

»Was gibts?« fragte die Majorin und erhob sich. Anne Marie war zu angegriffen, um selbst Bescheid anzunehmen.

»Herr Pastor Torm ist da. Er fragt, ob es Frau Bürgermeister paßt.«

»Ein Geistlicher?« sagte die Majorin überrascht und wandte sich dem Bette zu. »Das ist gewiß nicht gut für dich.«

»Ja, laß ihn nur kommen!« sagte Anne Marie. »Er ist so prächtig. Er kommt fast täglich her und sieht sich nach mir um.«

»Aber bist du jetzt nicht sehr angegriffen?«

»Freilich, aber gerade deswegen. Ich fühle mich immer so beruhigt, wenn Pastor Torm bei mir ist.«

»Bitten Sie den Herrn Pfarrer zu kommen«, sagte die Majorin ein wenig kurz.

Pastor Torm war ein hübscher, alter, weißhaariger Mann, der von Sauberkeit glänzte.

»Wer sind denn Sie?« fragte er verwundert bei dem Anblick der Majorin. Er war seit fünfzehn Jahren Geistlicher hier in der Stadt gewesen und kannte alle Bewohner bis zu den Hunden und Katzen auf der Straße.

»Das ist meine Schwester«, stellte Anne Marie vor. »Frau Major von Rauch.«

»So«, sagte er gleichgültig. »Ach so . . . Nun ja . . . Rauch, ja.«

Pastor Torm hatte kein Interesse für Fremde. Was außerhalb der Grenzen seiner eigenen Gemeinde lag, existierte nicht für ihn.

»Wie geht es denn, liebe Frau Bürgermeister?« fragte er und setzte sich in den Korbstuhl neben dem Bett. »Ist es heute wohl nicht ein ganz klein wenig besser?«

»Nein, gar nicht. Ich fühle mich mit jedem Tage schwächer.«

Der Pfarrer schüttelte seinen kleinen silberweißen Kopf mit einem seufzenden Zischlaut.

»Wie mir das leid tut! Ich habe doch so innig für Sie gebetet, liebe Frau Bürgermeister.«

»Haben Sie das getan, lieber Herr Pastor? Ja, dann ist es Gottes Wille, daß es nicht wieder besser werden soll.«

»Sagen Sie das nicht! Gottes Ratschluß kennt niemand. Er geht so viele verborgene Wege, um zu unserm Herzen zu gelangen. Er legt oft seine Hand so schwer auf uns, damit wir die Bürde dieser eitlen Welt von uns werfen sollen. Darum sollen wir ihm ja auch für unsere Leiden danken. Vergessen Sie nicht, liebe Frau Bürgermeister, daß jede schlaflose Nacht Sie Gott näher bringt.«

»Ja, das habe ich gefühlt. Und das ist mein einziger Trost.«

»Ich komme gerade von Schlachter Andersen. Sie wissen, er hat den ganzen Winter krank gelegen. Es war nicht viel Hoffnung für ihn . . . er litt an Krebs . . . und nun heute morgen ist er sanft und still entschlafen.«

»Ist Schlachter Andersen tot!«

Anne Marie richtete sich ein wenig im Bette auf und sah den Pfarrer mit großen, runden Augen an.

»Ja – es war so schön. Von ihm kann man wahrhaftig sagen, daß ihm sein Leiden zur Wiedergeburt wurde. Vor seiner Erkrankung sah ich ihn niemals am Tische des Herrn, und es währte auch lange, bis es mir gelang, sein tief eingeschlummertes Sündenbewußtsein zu wecken. Aber in der letzten Zeit gab er sein Herz Gott ganz hin. Heute morgen um sieben Uhr wurde ich zu ihm gerufen, um ihm das heilige Abendmahl zu reichen, und ich kann wohl sagen, daß ich nie mit größerer Zuversicht zu einem Menschen gesagt habe: ›Dir sind deine Sünden vergeben‹. Wenige Minuten darauf entschlief er sanft, das Blut des Herrn auf den Lippen.«

Anne Marie hatte die Augen geschlossen. Jeder Todesfall machte in dieser Zeit einen solchen Eindruck auf sie, daß sie zu zittern begann.

»Pastor Torm«, sagte sie. »Wollen Sie mit mir beten?«

»Ja, liebe Frau Bürgermeisterin! Darum bin ich ja gekommen, nicht wahr? –«

Die Majorin hatte sich unterdessen zurückgezogen und war in das Wohnzimmer gegangen. Hier stand sie an einem der Fenster und trommelte heftig mit den Fingern auf das Fensterbrett, während der volle Busen sich mit den Sturmeswogen in ihrem Innern hob und wieder senkte. Die Tür zum Schlafzimmer war nur angelehnt. Sie konnte Anne Marie da drinnen das Vaterunser beten hören. Und sie war kurz davor, vor Kummer und Zorn in Tränen auszubrechen, als sie die Schwester da drinnen mit erhobener Stimme die Worte: »Und vergib uns unsre Schuld« sprechen hörte.

 

Diesmal war Pastor Torm auf des Bürgermeisters ausdrückliche Aufforderung gekommen. Die beiden Herren hatten sich auf der Treppe des Jubilars getroffen, und der Bürgermeister hatte dann gesagt, seine Frau fühle sich gar nicht wohl und würde sich gewiß freuen, ihn zu sehen. Die verzagten Äußerungen der Schwägerin über Anne Mariens Zustand hatten sein Gemüt in Unruhe versetzt. An und für sich überraschten sie ihn wohl nicht; er glaubte selbst, daß es mit starken Schritten dem Tode entgegenging, und er wünschte es auch gar nicht anders. Aber es war das erstemal, daß ihm seine Hoffnung von andern als von dem Doktor bestärkt wurde, und zu dessen Worten hatte er nun einmal kein Vertrauen.

Seinen Gratulationsbesuch machte er aus diesem Grunde so kurz, wie die Verhältnisse und pflichtschuldige Rücksichten es gestatteten. Mit einem besonderen Magistratsausschuß, dessen Wortführer er bei der Überreichung des Geschenks der Stadt, eines silbernen Kaffeeservices, war, trank er ein Glas Wein mit dem Jubilar und seiner Familie, worauf er sich entschuldigte und sich zurückzog.

Er hatte nun auch keine weiteren Sympathien für den gefeierten Helden des Tages, wenn er auch bereitwillig seine große Tüchtigkeit und seine Verdienste um das Aufblühen der Stadt anerkannte. Zu einem Zeitpunkt, als die abseits gelegene kleine Schifferstadt dem Untergang geweiht schien, war dieser siebzehn Jahre alt – vom Lande hereingekommen, als die treibende, fruchtbare Erdkraft, die ihr Erneuerer werden sollte. Der Sage nach hatte er seinen Einzug in die Stadt mit einem Achtschillingstück in der Tasche gehalten und sich dann vom Ladenburschen in einem alten, halbbankrotten Kaufmannshause heraufgedient, bis er, nach Verlauf von nur zehn Jahren, als dessen Chef endete. Mit der Mischung der Eigenschaften des Ochsen und des Fuchses, die unter dänischen Verhältnissen das große Geschäftstalent hervorbringt, hatte er den Handel der Stadt auf den Schwung gebracht, hatte die Schiffahrt gehoben, ihr Hinterland erschlossen und sich gleichzeitig selbst ein Vermögen von ungefähr einer Million erworben. Und doch konnte man eigentlich nicht sagen, daß er sich mit seinen Verdiensten brüstete. Er war ein schlichter, gemütlicher, auf seine Weise sogar kindlicher Mann mit einem offenen Herzen und einer mildtätigen Hand.

Dessenungeachtet empfand der Bürgermeister immer eine gewisse Verlegenheit, wenn er – so wie heute – auf Grund seiner Stellung gezwungen wurde, ihm eine Lobrede zu halten. Der breite, blonde Mann mit den hellblauen Augen, der starken Stimme und dem breiten jütischen Akzent wirkte rein physisch unbehaglich auf ihn. Fein war er nun eigentlich nicht, und wenn er auch nicht geradezu eine Unredlichkeit begangen hatte, so hatte er sich doch wie alle diese Leute häufig sehr nahe an der gesetzlich geschützten Grenze zwischen Mein und Dein bewegt. Die Transaktionen zum Beispiel, mittels deren er seinerzeit zu einem Zeitpunkt, wo die Sachen eine für seinen Prinzipal günstige Wendung nehmen zu sollen schienen, sich die Leitung des Handelshauses angeeignet hatte, waren in ein mystisches Dunkel gehüllt, das der Bürgermeister trotz eingehender Untersuchungen nicht zu durchdringen vermocht hatte.

Er machte sich deswegen auch Gedanken, daß sein Glückwunsch heute ziemlich trocken ausgefallen war. Glücklicherweise aber hatte der Realschuldirektor gleich nach ihm das Wort ergriffen und nicht an Redeblumen gespart.

Er ging nun oben auf der hochgelegenen Landstraße, die in einem Bogen um die Stadt führte und von wo aus man eine schöne, weite Aussicht über den Fjord und die Wiesen hatte. Doch war es nicht der Aussicht wegen, daß er in letzter Zeit diesen Weg zu seinen Spaziergängen bevorzugt hatte, sondern weil er hier ungestörter war als in dem kleinen Lustpark der Stadt. Auch ging er nicht allein des schönen Wetters wegen so langsam oder blieb so häufig stehen, um tief und gründlich zu atmen. Er fühlte heute noch weniger als sonst Sehnsucht, nach Hause zu kommen. Die Anwesenheit der fremden Schwägerin war ihm ungeheuer peinlich wegen der Erinnerungen, die sie wachrief.

Sie hatte ihn beim Frühstück mit Erinnerungen von ihrer Begegnung auf der Hochzeitsreise unterhalten, von Anne Maries Briefen aus der Verlobungszeit und von vielem andern, wovon er am liebsten nichts hören wollte. Die halb vergessenen Begebenheiten aus der Vergangenheit waren ihm wieder unleidlich nahe gerückt. Ihre Enttäuschungen und Sorgen lebten gespensterhaft von neuem auf wie Gicht in alten Wunden.

Er ging gerade hier auf demselben Wege, auf dem er vor vierzehn Jahren – an einem Frühlingstag ungefähr wie heute – ausgegangen war, in der Absicht, um Anne Mariens Hand zu werben. Ihre Eltern wohnten damals in einer alten, zerfallenen Holzvilla da oben unter dem Hügelabhang, wo jetzt das städtische Wasserbassin seinen Platz gefunden hatte. Es war keineswegs ein leichter Gang für ihn gewesen, und mit einer gewissen feierlichen Gerührtheit über sich selbst dachte er an diesen Tag zurück. Denn es konnte wohl als Beweis für den Ernst und die Aufrichtigkeit seiner Gefühle gelten, daß er, der damals so selbstbewußte Kriminalrat, sich hatte überwinden können, als Supplikant vor einen Mann zu treten, von dem alle wußten, daß er nur mit Hilfe seiner Klubfreunde vor Amtsentsetzung und Entehrung bewahrt worden war. Für ihn in seiner damaligen Stellung und mit seinen damaligen Zukunftsaussichten war es überhaupt ein wirkliches Opfer gewesen, ja fast ein Wagestück, Verbindung mit einer Familie anzuknüpfen, mit der sich der Stadtklatsch auch aus andern Gründen häufig beschäftigte und deren Ansehen keineswegs dadurch verbessert wurde, daß sich die älteste Tochter kürzlich mit einem preußischen Offizier verheiratet hatte.

Und doch war er sehr glücklich gewesen, als er an jenem Tag da draußen in der altmodischen hellroten Gartenstube saß, Anne Mariens kleine unruhige Hand in der seinen. Die Sonne schien festlich ins Zimmer hinein und sprühte Funken in den Sherrygläsern, als der Schwiegervater ihr Wohl ausbrachte.

Trotz seiner dreißig Jahre war er ziemlich unerfahren in der Liebe. In seiner Jugend, während die meisten seiner Freunde und Studiengenossen sich lustig im geselligen Leben tummelten und sich auf jedem Ball eine neue Verliebtheit antanzten, ging er ganz in seinem Studium auf, lebte ganz seiner Arbeit und seiner Zukunft. Er hatte nicht gewußt, daß der Kuß einer Frau eine solche Süße enthalten konnte. Anne Marie bezauberte ihn ganz mit ihren kleinen, unschuldigen Liebkosungen. Er ließ sich völlig gefangen nehmen von ihrer zärtlichen, zwitschernden Munterkeit.

Daß er nicht ihre erste Liebe war, ja daß Anne Marie in aller Unschuld verschiedene kleine Passionen gehabt hatte, das wußte er aus dem Stadtklatsch; aber das focht ihn damals nicht an. Was der Vergangenheit angehörte, sollte jetzt vergessen sein, und Anne Mariens Wesen hatte sich auch seit der Verlobung gar nicht so wenig verändert; sie war stiller geworden, Fremden gegenüber beherrschter. Scheinbar hatte es gefruchtet, was er sie eines Tages rücksichtsvoll hatte verstehen lassen, daß ein junges hübsches Mädchen sich dem Gerede aussetzte, wenn es sich den Leuten gegenüber zu zuvorkommend zeigte, und daß es sie seiner Ansicht nach nicht einmal kleide, wenn sie zu lebhaft und lächelnd war; sie sei gerade am allerschönsten, wenn ihr Antlitz ruhig sei; eine gewisse Zurückhaltung entstelle überhaupt weder Frauen noch Männer; sie verleihe Vornehmheit, Haltung, Anmut.

Jetzt, wenn er daran zurückdachte, verstand er nicht, daß er so hoffnungsvoll hatte sein können; und es war ihm ein neuer rechtfertigender Beweis für den Ernst seiner eigenen Liebe, daß er sich so gänzlich hatte verblenden lassen. Denn er hatte doch schnell eingesehen, welch eine – in moralischer Beziehung – unordentliche und unerzogene kleine Person sie war. Was konnte es nützen, daß sie allmählich lernte, sich in ihrem Auftreten ein wenig Zwang anzutun, wenn doch all ihr Denken darauf hinausging, Aufmerksamkeit zu erregen und sich vorteilhaft auszunehmen. Es waren noch nicht viele Tage seit ihrer Verlobung vergangen, als er schon anfing, die nervöse Unruhe zu spüren, die sie überall ergriff, wo Herren zugegen waren. Sie war auch noch immer mit ihren verschiedenen Anbetern dort in der Stadt beschäftigt. Ohne daß sie es wohl selbst ahnte, drehte sich ihre Unterhaltung, sogar ihm gegenüber, hauptsächlich um das, was ein Provisor Andersen, ein Bureauvorsteher Jörgensen oder ein Kommis Jensen bei dieser und jener Gelegenheit gesagt und getan hatten, und sie verriet, wie gut sie von ihren Augen Gebrauch gemacht hatte, indem sie nicht nur über ihre Figur und die Farbe ihres Haares und ihrer Augen genau Bescheid wußte, sondern auch die Form der Hände und Füße, ja alle Einzelheiten ihrer Kleidung kannte, und das alles in ihrer ausgelassenen Weise lobte oder lächerlich machte.

Es lag indessen etwas so Treuherziges in ihrem Interesse, daß er es nie fertig gebracht hatte, mit ihr darüber zu reden. Er wollte sich auch nicht der Gefahr aussetzen, daß sie ihn für eifersüchtig hielt. Außerdem fand er eine Entschuldigung für sie in ihrer Jugend und namentlich in der schlechten Beeinflussung ihres Elternhauses. Ihre Mutter war eine leichtfertige Person, für die nur das Äußere Wert besaß; sicher war auch hauptsächlich ihre Vergnügungs- und Putzsucht schuld daran, daß sich der Mann an der Amtskasse vergriff. Schön wie sie selber war, hatte sie ihre Töchter geradezu zur Eitelkeit erzogen. Anne Marie hatte ihm erzählt, wie sie und die Schwester stets ein Gefühl gehabt hatten, als befänden sie sich im Examen, wenn sie während ihres Heranwachsens die Eltern auf einem Spaziergang durch die Stadt begleiteten. Beständig ertönten die Ermahnungen der Mutter: »Halte den Kopf ein wenig höher, Anne Marie!« oder: »Strecke den Spann, Lise! Die Ellenbogen an den Leib, alle beide!«

So hatte er denn beschlossen, noch im nämlichen Sommer Hochzeit zu halten, um sie so schnell wie möglich aus dem Einfluß des Elternhauses und der provinziellen Verhältnisse zu entfernen. Aber schon auf der Hochzeitsreise war sein Vertrauen von neuem erschüttert worden.

Die Erzählungen der Majorin am Frühstückstisch hatten ihn gerade an eine solche Episode erinnert. Es war kaum vierzehn Tage nach der Hochzeit. Sie waren eine Woche lang allein oben in den Bergen umhergestreift, hoch oben in den Wolkenregionen, wo Anne Marie allmählich ihre jungfräuliche Scheu ganz überwunden und sich sogar ziemlich unbeherrscht ihrem starken Hingebungsbedürfnis überlassen hatte. Im Grunde war sie ohne allen Sinn für die Natur. Sie konnte höchstens ihre gröberen Effekte genießen, die meilenweiten Aussichten, die abgrundtiefen, schwindelnden Schluchten, betrachtete aber das feine Spiel des Lichtes und der Linien mit demselben Mangel an Verständnis wie ein Wilder. Wenn sie trotzdem so entzückt von der Reise gewesen war und fröhlich sogar sehr anstrengende Bergbesteigungen auszuhalten vermochte, so hatte das seinen Grund darin, daß die Natureindrücke, wie überhaupt alles, was sie erlebte, das erwachte Geschlechtsleben in ihr nährten, sich in erotische Wärme umsetzten. Der Sonnenregen über einem Gebirgssee, ein Sausen, das durch den Wald ging, das Geriesel eines verborgenen Quells, ja sogar Enttäuschungen und ein Reisemalheur wurden für sie nur der Anlaß zu einem erneuten Rausch liebeserfüllter Zärtlichkeiten.

Er hatte zuweilen ein wenig bedenklich dabei werden können. In der Liebe dieser schmächtigen, kleinen Frau lag etwas von der Unerbittlichkeit einer entfesselten Naturmacht. Es war wie ein Ausbruch aus einer glühenden Tiefe, wenn sie sich unter einem Feuerregen von Küssen an ihn schmiegte. Aber er selbst war viel zu bezaubert, fühlte sich zu beglückt durch ihre Zärtlichkeit und besaß außerdem damals noch zu wenig Erfahrung, um eine solche Frau richtig zu verstehen und sie zu fürchten.

An demselben Tage, an dem sie in die menschenwimmelnde Hotelstadt hinabgekommen waren, um die Schwester zu treffen, saßen sie des Nachmittags alle drei draußen auf einer Terrasse vor dem Hotel, als ein Herr kam und Frau von Rauch begrüßte und auf ihre Aufforderung hin schließlich Platz bei ihnen nahm. Es war ein Mann vom Leutnantstyp mit einem ganz netten, aber nichtssagenden Äußern – ein österreichischer Landjunker. Anne Marie war auf einmal eine andere geworden. Sie hatte wieder das nervös unruhige und gezwungene Wesen bekommen, das er so gut kannte; und als der junge Mann sofort begann, sie mit anzüglichen Höflichkeiten zu überschütten, war sie soweit davon entfernt, ihn zurückzuweisen, daß sie sich im Gegenteil durch ihr Lächeln seiner Courmacherei gleichsam feilbot. Sie verstand soviel Deutsch, daß sie einigermaßen eine Unterhaltung in dieser Sprache zu führen vermochte; im übrigen aber gab ihre sprachliche Unbeholfenheit dem jungen Ausländer nur Gelegenheit, sich von der liebenswürdigsten Seite zu zeigen und ihr Schmeicheleien zu sagen. So vollständig vergaß sie hierüber die Anwesenheit ihres Gatten, daß sie – die noch vor einem Augenblick heimlich seine Hand unter dem Tisch gedrückt, die vierzehn Tage lang nichts weiter empfunden hatte als ihn – nicht einmal einen Versuch machte, ihn in die Unterhaltung hineinzuziehen.

Um sie zu prüfen, erhob er sich unter dem Vorwande, daß er auf die Post gehen und nach Briefen fragen wollte. Sie blieb ruhig sitzen, nickte ihm lächelnd zu und sagte, sie wolle ihn hier erwarten. Als er nach Verlauf einer halben Stunde zurückkehrte, war der junge Mann eben gegangen. Er ließ sich nichts merken, und Anne Marie hatte anscheinend selbst nicht die geringste Empfindung davon, daß sie etwas Unrichtiges getan hatte. Keine Miene verriet, ob sie wußte, daß sie eine Mißstimmung bei ihm wachgerufen hatte. Als sie später am Abend einen Spaziergang im Mondschein am See entlang machten, lehnte sie den Kopf einschmeichelnd gegen seine Schulter und war sehr zärtlich. An jenem Abend tauchten ihm zum erstenmal ernste Zweifel über ihre Aufrichtigkeit auf.

Er hatte seither oft daran gedacht, daß er schon damals hätte voraussehen können, wohin ihre Natur sie führen mußte, und daß er sich hätte von ihr scheiden lassen sollen, ehe ein größeres Unglück geschehen war, ehe sie Kinder in die Welt gesetzt hatten. Aber sie verstand es, ihn wieder sicher zu machen. Außerdem hoffte er noch immer auf den Einfluß, den die neuen Umgebungen, in die sie jetzt als seine Frau eingeführt werden würde, auf sie haben mußten. Es zeigte sich indes, daß dieser Einfluß ganz anderer Art wurde, als er es erwartet hatte. Infolge ihrer Jugend und Schönheit erweckte Anne Marie überall berechtigtes Aufsehen, und sie nahm sofort – und mit unverhohlener Freude – die fadeste Courmacherei entgegen, ja selbst wenn sie nach seiner Ansicht nicht mehr passend war. Er konnte sich jedoch nicht entschließen, mit ihr hierüber zu reden. Bei seinem noch immer unerschütterten Glauben an die gute Natur in ihr, gelobte er sich selbst, Geduld zu üben, wie er auch seine Mutter ermahnte, ihr gegenüber nicht ungerecht zu sein.

Es war ihm übrigens auch nicht schwer geworden, ihr zu verzeihen, insofern er damals keinen Grund hatte, an ihrer Liebe zu zweifeln. Sie konnte ganz rührend sein in ihrem Glück und ihrer Dankbarkeit für ihr schönes Heim, für das er die Kosten ausschließlich getragen hatte. Kaum war er zur Tür hineingekommen, als sie ihm auch schon um den Hals fiel, und sie hatte ihn in der Regel schon unzählige Male geküßt, noch ehe er seinen Überrock abgelegt hatte. In ihrer Wonne über das Leben suchte sie jeden Tag zu einem Fest zu gestalten, auch für ihn; sie putzte sich und wandte ihre ganze weibliche Erfindungskunst an, um ihm zu gefallen.

Trotzdem fand er schließlich Gelegenheit, sie zu warnen, Fremden gegenüber zu entgegenkommend zu sein. Ganz ruhig, ohne den geringsten Unwillen, geschweige denn Eifersucht zu verraten, bat er sie, um ihrer selbst willen ein wenig vorsichtig zu sein. Er wiederholte, was er ihr schon in der Verlobungszeit gesagt hatte, daß es sie nicht einmal gut kleide, wenn sie so lebhaft sei. Trotz ihrer schönen Zähne sei sie am alleranziehendsten, wenn ihr Gesicht sich in Ruhe befände.

Sie hörte ihm ganz überzeugt zu, und die Unterhaltung endete damit, daß sie reuevoll und weinend an seiner Brust lag.

Am nächsten Abend wollten sie in eine große Gesellschaft gehen. Anne Marie sah entzückend aus mit ihrem entblößten Halse und den völlig nackten Armen, an deren Schaustellung im geselligen Leben er sich nicht ohne einige Schwierigkeit gewöhnt hatte. Kurz bevor sie fahren wollten, schlang sie diese Arme um seinen Hals, sah ihm mit einem ehrlichen Blick in die Augen und sagte:

»Heute abend wirst du keinen Grund haben, mir irgend etwas vorzuwerfen. Das verspreche ich dir!«

Dessenungeachtet war kaum eine Stunde vergangen, als sie bereits begann, durch ihre Lebhaftigkeit Aufsehen zu erregen. Die Herren scharten sich um sie und schmatzten vor Befriedigung. Um sie zu warnen und um zugleich den Leuten seine Sicherheit zu zeigen – er hatte nämlich gemerkt, daß man anfing, mitleidig zu ihm hinüberzusehen –, stellte er sich schließlich mitten zwischen ihre Kavaliere und nahm mit einem Lächeln teil an der Unterhaltung. Trotzdem bemühte sie sich nicht im geringsten, sich Zwang anzutun. Selbst als er eine ernste Miene aufsetzte, um ihr ein Zeichen zu geben, tat sie, als bemerke sie es nicht. Sie war wie besessen. Sie stand gleichsam unter dem Zwang eines Naturtriebes, den sie nicht zu beherrschen vermochte.

Als sie auf dem Heimwege im Wagen saßen, wartete er darauf, daß sie reden würde. Aber sie tat, als sei nichts geschehen, erzählte von den Damen der Gesellschaft und kritisierte die Herren. Er verstand sie damals erst halb. Ist dies Verstellung? dachte er. Oder ist es Selbstbetrug? Oder gibt es bei der Frau Gefühle und Seelenzustände, die der Mann nicht begreift und für die er keinen Namen hat?

Mit jedem Jahr war sie ihm ein größeres Mysterium geworden. Je länger sie miteinander lebten und je vertraulicher ihr Zusammenleben in gewisser Weise wurde, um so fremder ward sie ihm. Wenn er glaubte, sie endlich ganz zu kennen, konnte ein Wort von ihr, eine zufällige Bemerkung oder auch nur eine augenblickliche Nachdenklichkeit verborgene Gefühle entschleiern, fremde Seiten in ihrem Wesen, die dann wieder in Finsternis und Verborgenheit hinabtauchten. Ihr Inneres erinnerte an gewisse heiße Quellen, deren siedende Wasser in dem einen Augenblick unschuldig über der Erdoberfläche aufsprudeln und im nächsten mit prachtvollem Regenbogenglanz hoch zum Himmel emporsteigen, um dann ebenso plötzlich wieder herabzusinken und tief in der Erde zu verschwinden, sich in Abgründen zu bergen, deren Tiefe niemand zu ermessen vermag.

Er entsann sich, daß einmal, während sie bei Tische saßen, ein Brief an sie von einem ihrer jütischen Verwandten mit der Mitteilung von dem Tode eines Vetters drüben in Amerika gekommen war. Sie waren schon mehrere Jahre verheiratet gewesen, und Anne Marie hatte ganz offen von diesem Vetter erzählt, wie er in ihrer ersten Jugend im Hause ihrer Eltern verkehrt hatte und daß sie damals ein wenig verliebt ineinander gewesen seien. Er war daher sehr erstaunt, den starken Eindruck zu sehen, den die Todesnachricht auf sie machte – nicht gleich unmittelbar, sondern nach und nach. Sie wurde zuletzt ganz blaß, und er bemerkte, daß sie sich zwang, zu tun, als äße sie. Als er gegen Abend unerwartet aus seinem eigenen Zimmer in die Wohnstube kam, sah er, daß sie hastig etwas unter einer Zeitung verbarg. Und als er es zu sehen verlangte, weigerte sie sich und wurde sogar sehr heftig. Dann nahm er es selbst.

Es stellte sich heraus, daß es kleine Erinnerungen an den Vetter waren, einige verwelkte Blumensträuße, ein paar Ballschleifen mit darauf verzeichneten Daten, ein Knallbonbonvers und ähnliche Sachen, die sie in einer abgeschlossenen Schublade ihrer Schatulle verwahrt hatte. Er schalt sie wegen ihrer Kinderei, hauptsächlich aber, weil sie es vor ihm hatte verbergen wollen. Und abermals wiederholte sich nun die alte Szene. Nach einem schwachen Versuch, sich zu verteidigen, hörte sie ihn reuig an, warf sich ihm schließlich weinend um den Hals – und blieb dieselbe wie bisher.

Und doch fühlte er sich damals oft noch sehr glücklich. Anne Mariens Hingebung und Zärtlichkeit war in gewissem Sinne nie größer gewesen als gerade in diesen Jahren nach der Geburt der Kinder. Obwohl er so viel älter war als sie und bereits auf dem besten Wege zu ergrauen, weihte sie noch immer seiner Person selbst etwas von einem demütigen Kultus. Er selber war in jenen Jahren vielleicht noch verliebter in sie denn je zuvor. Die Geburten der Kinder hatten sie als Frau gereift, hatten sie üppiger und ihre Haut weißer gemacht. Mit Beschämung hatte er seither daran denken müssen, zu welchen Erniedrigungen seine Leidenschaft ihn oft verleitet hatte.

Ganz und ungeteilt besaß er sie trotzdem niemals. Selbst in den Augenblicken der Hingebung war er der Beschaffenheit ihrer Gefühle nicht immer sicher. Es gab Zeiten, wo er sogar das Empfinden hatte, nur ein bloßer Lückenbüßer zu sein. Langsam wurden ihm endlich die Augen völlig geöffnet.

Eines Abends, als sie aus einer Gesellschaft kamen und er selbst müde und abgespannt war, schmiegte sie sich an ihn in einem unbegründeten Zärtlichkeitsanfall, der ihn mißtrauisch machte. Indem er in Gedanken die Ereignisse des Abends Revue passieren ließ, fiel es ihm ein, daß er sie ein paarmal mit einem seiner Kollegen zusammen gesehen hatte, dem Rat Lunding, einem hübschen jüngeren Mann mit einem angenehmen Unterhaltungstalent. Sie waren ihm in der letzten Zeit häufiger im geselligen Leben begegnet und hatten ihn auch ausnahmsweise bei ihrem alljährlichen Juristendiner als Gast im eigenen Hause gesehen.

Er fand jetzt Veranlassung, ihr zu erzählen, was von dem zweifelhaften Charakter dieses Mannes gesagt wurde, der sich namentlich in seinem Verhältnis zu Frauen offenbarte. Sie wurde ein wenig ernsthaft bei seinen Worten und dankte ihm für das, was er ihr gesagt hatte.

»Ich hatte übrigens eine Ahnung davon«, sagte sie. »Er hatte eine Art und Weise, mich anzusehen, die mir nicht gefiel.«

Ein paar Wochen später geschah es, daß er während einer wichtigen Gerichtsverhandlung nicht zum Frühstück nach Hause kommen konnte. Aus dem Fenster des dem Industrieverein schräg gegenüberliegenden Restaurants, in dem er in solchen Fällen zu speisen pflegte, sah er Anne Marie jetzt drüben auf der andern Seite der Straße mit ihrer Notenrolle im Muff daherkommen. Es wunderte ihn, da es wenigstens eine halbe Stunde zu früh für ihren Gesangsunterricht war, und trotzdem schien sie Eile zu haben. Er bemerkte außerdem, daß sie ihren neuen Hut aufgesetzt hatte, obwohl das Wetter dunkel war und nach Regen aussah.

Er rief den Kellner, um zu zahlen, und folgte ihr dann eine Weile in einiger Entfernung, indem er sich in dem Menschengewimmel auf der andern Seite der Straße verbarg. In der Frederiksbergstraße sah sie nach einer Uhr in einem Ladenfenster und mäßigte darauf ihren Gang. Einen Augenblick später tauchte Lundings hohe, blonde Erscheinung vor ihr auf derselben Seite der Straße auf. Er begrüßte sie mit lächelndem Antlitz, und obwohl sie sich wieder den Anschein gegeben hatte, als ob sie eilig sei, hielt er sie dennoch an. Ein paar Minuten standen sie in eifriger Unterhaltung da, Anne Marie mit stark geröteten Wangen, jedoch immer ein paar Ellen von ihm entfernt, auf dem Sprunge, weiter zu eilen.

Im selben Augenblick stieg eine Erinnerung in ihm auf. Anne Marie hatte ihm vor einiger Zeit bei Tische erzählt, daß sie Lunding auf der Straße begegnet war, und sie hatte bei dieser Gelegenheit – mit einer Hinterlist, die ihm eigentlich erst jetzt so recht klar wurde – ihre Verwunderung darüber geäußert, daß Lunding so früh vom Gericht kommen könne. In seiner Arglosigkeit hatte er ihr denn erklärt, daß Lunding augenblicklich bei dem öffentlichen Gericht angestellt sei, das zu einer festgesetzten, frühen Stunde aufgehoben werde.

Trotz alledem beschloß er, vorläufig nichts weiter bei der Sache zu tun. Er konnte sich nicht überwinden, davon zu sprechen. Außerdem wußte er, daß Lunding gerade ein Urlaubsgesuch für eine Reise ins Ausland eingereicht hatte. Er wollte abwarten.

Eines Abends, mehrere Wochen später, saßen sie im Theater in einer Balkonloge, von wo aus sie eine freie Aussicht über das ganze, ausverkaufte Parkett hatten. Während des ersten Aktes bemerkte er, daß Anne Marie so unruhig saß und das Opernglas mehrmals auf einen der Außenplätze in dem dunkeln Teil des Parketts gerichtet hatte, und als er verstohlen dahin sah, entdeckte er Lunding, der dort vornübergebeugt saß und sich mit einer Dame auf dem Platz vor ihm unterhielt, mit einer Frau Ellinger, von der später bekannt wurde, daß sie ihn auf der Reise getroffen und sich schon hier auf ein Verhältnis mit ihm eingelassen hatte.

In der Pause, während der Anne Marie sehr still war, fragte er sie, ob sie Bekannte im Publikum bemerkt habe, worauf sie auf die natürlichste Weise Nein entgegnete. Als aber der Vorhang wieder aufgegangen war – und auch während des ganzen übrigen Teils des Abends –, wandte sie oft und mit wachsender Nervosität das Opernglas dem flüsternden Paar unten im Parkett zu, das die Finsternis in dem Zuschauerraum während der Vorstellung zu einer vertraulichen Annäherung ausnutzte.

Auf dem Heimwege bemerkte er leichthin:

»Assessor Lunding war heute abend im Theater. Du weißt, er war verreist. Hast du ihn nicht gesehen?«

Sie zögerte einen Augenblick.

»Nein, wo saß er?« fragte sie dann, als habe sie an etwas andres gedacht.

Es war das erstemal, daß er sie auf einer offenen Unwahrheit ertappte; aber er konnte sich noch immer nicht entschließen, etwas zu sagen. Er empfand Mitleid mit ihr. Er glaubte sehen zu können, daß sie diesmal selbst unter ihrem Mangel an Aufrichtigkeit litt, und er begriff ja auch recht gut, daß, wenn sie log, es teilweise geschah, weil sie sein Vertrauen und seine Liebe zu verlieren fürchtete, wenn sie die Wahrheit sagte.

Nicht lange darauf war es, daß die Bürgermeisterstelle hier in der Stadt durch Todesfall ledig wurde, und hierin erblickte er einen Wink von oben. Er hatte kein Vertrauen mehr, durch Überredung auf Anne Mariens Natur einwirken zu können. Auch ein Versuch mit der Religion hatte sich damals noch als ganz fruchtlos erwiesen. Sie war für sie nur eine Zerstreuung mehr geworden. Sie ging freilich regelmäßig zur Kirche und zum Altar, war aber, wenn sie nach Hause kam, mehr von dem Pfarrer als von der Predigt, mehr von der Gemeinde als von dem Gesang der geistlichen Lieder erfüllt.

Jetzt dachte er sich, daß eine Zurückverpflanzung in den heimischen Erdboden mit den verhältnismäßig unschuldigen Kindheitserinnerungen, wie auch überhaupt das ruhige, einförmige Leben einer kleinen Provinzstadt ihr behilflich sein würde, den Sinn zu sammeln und den Verirrungen ihrer Gedanken und Gefühle ein Ende zu bereiten. In der Hoffnung, die letzten, armseligen Bruchstücke ihres Liebesglücks retten zu können, hatte er dies schwere Opfer gebracht.

So völlig umsonst!

 

Der Bürgermeister hatte auf einer Bank Platz genommen, die unter einem Ahorn außerhalb der Kirchhofsmauer an der südlichen Einfahrt zur Stadt stand. Er saß da, die Hände auf seinem Stockknopf, den Blick schwermütig auf den Fjord und die breiten Wiesen gerichtet. Und doch sah er nichts. Seine Gedanken konnten sich nicht von der Vergangenheit losreißen. Eine bittere Erinnerung zog die andere nach sich. Auch packte ihn wieder einmal das Bedürfnis, sich so recht in sein Unglück zu vertiefen. Namentlich jedesmal, wenn Anne Mariens Krankheit eine Wendung zum Schlechteren zu nehmen schien, war es ihm ein Bedürfnis, von neuem seinen ehelichen Bankrott gewissermaßen aufzustellen.

Aber jetzt kreischte die Friedhofspforte neben ihm, und ein Mann in Trauerkleidung, mit gesenktem Haupte, erschien auf dem Wege. Es war der Buchhalter der Sparkasse, ein Mann in den mittleren Jahren, der vor ein paar Monaten seine Frau verloren hatte und noch jeden Tag nach beendeter Kontorzeit hier heraus an ihr Grab ging.

Er grüßte ehrerbietig mit seinem florumwundenen Zylinderhut und blieb stehen.

»Sitzen der Herr Bürgermeister da! Ja, hier ist eine schöne Aussicht.«

»Eine prächtige Aussicht, ja. Und welch ungewöhnliches Wetter heute.«

»Ja, und ein großer Tag für die Stadt, Herr Bürgermeister. Es ist auch so hübsch mit all den vielen Flaggen. Vielleicht wundern Sie sich, mich hier um diese Zeit zu treffen, während alle andern Leute auf den Beinen sind, um sich den Staat anzusehen. Aber ich habe keine Lust dazu. Für mich ist das Leben aus. Mein Heim ist in dem Grab da drinnen.«

»Ich weiß es. Sie haben einen schweren Verlust erlitten, Herr Jensen. Vielleicht gerade nicht den allergrößten, der einem Manne widerfahren kann . . . aber trotzdem, leicht läßt sich das nicht verwinden. Ich verstehe es so gut.«

»Es läßt sich nie verwinden, Herr Bürgermeister!«

»Ach nein, das glaube ich auch. Aber es gilt, seinen Kummer zu bezwingen, Herr Jensen. Verliert man sich in ihn, so wächst er einem leicht über den Kopf.«

»Ach, Herr Bürgermeister! Für mich ist doch alles vorbei! Meine Frau und ich waren so unsagbar glücklich. Zwanzig Jahre lebten wir Seite an Seite, und ich kann wohl sagen, daß wir uns alles gewesen sind. Kinder hat uns der liebe Gott nicht vergönnt, aber trotzdem paßten wir so ungewöhnlich gut zusammen. Wir hatten dieselben Interessen, denselben Geschmack in allen Dingen, schließlich auch dieselben Gewohnheiten, kann man wohl sagen. Wenn ich jetzt nach Hause komme, so ist alles leer, Herr Bürgermeister! Da ist nur der Kanarienvogel von meiner Frau, mit dem ich sprechen kann; und wenn ich die Lampe anzünde und mich mit einem Buche hinsetze, so lese ich bloß für mich allein, und daran habe ich keine Freude.«

Die Trauer des Witwers machte einen tiefen Eindruck auf den Bürgermeister, sie ließ ihn seine eigene, hoffnungslose Armut empfinden. Aus den Augen des Buchhalters, die von den Tränen zweier Monate geschwollen und entzündet waren, rollten große Tropfen in seinen ergrauten Backenbart hinab.

»Sind Sie nicht reichlich viel allein, Herr Jensen? Sie sollten sich gewiß ein wenig zerstreuen. Haben Sie denn den Handwerkerzug heute mittag auch nicht gesehen?«

»Ja, den habe ich gesehen. Die Sparkasse schloß ja zur Feier des Tages schon um zwölf. Ich fand einen ganz ausgezeichneten Platz in der Schmiedestraße . . . oben auf Weißgerber Hansens hoher Treppe, wissen Herr Bürgermeister. Es war ein unvergleichlich festlicher Anblick. Finden Herr Bürgermeister nicht auch?«

»Ja, der Zug war hübsch . . . außerordentlich hübsch.«

»Und ein großer Mann, den wir heute feiern! Ein Wohltäter der Stadt!«

»Freilich! Freilich!«

»Herr Bürgermeister sind natürlich heute abend auch auf dem Fest!«

»Nein, ich werde nicht hingehen. Meine Frau ist krank.«

»Ja, ja, was rede ich da für ungewaschenes Zeug. Man vergißt ganz. – Wie geht es denn der Frau Bürgermeister?«

»Es ist beim alten. Aber mit Gottes Hilfe wird es bald ganz gut sein.«

»Gott sei Dank! Das ist erfreulich zu hören. Denn wenn man selbst Witwer ist und weiß, was es heißt, das Liebste zu verlieren, so –«

»Wer führt Ihnen denn jetzt den Hausstand, Herr Jensen?« fragte der Bürgermeister ablenkend. »Sie können doch nicht ohne alle Hilfe sein.«

»Ja, vorläufig bin ich allein, ganz allein. Wenn ich nach Hause komme, so ist da alles leer, Herr Bürgermeister. Aber einen Menschen muß man ja im Hause haben, und nun hab' ich zum Mai eine Haushälterin gemietet. Mamsell Broager, die Herr Bürgermeister vielleicht kennen.«

»Ja, freilich, ist das nicht die, die einmal Mamsell auf Krogstrup war?«

»Ja.«

»Und die seither hier in der Stadt auf Kochen ausgegangen ist?«

»Ja, die ist es. Herr Bürgermeister haben doch nichts Unvorteilhaftes über sie gehört?«

»Nein, im Gegenteil. Ihre Kochkunst ist ja sogar berühmt. Da haben Sie sicher einen guten Griff getan.«

»Das glaube ich im Grunde auch. Ich habe freilich gehört, daß es mit ihrer Gesundheit nicht weit her sein soll, und das hat mich allerdings ein wenig stutzig gemacht. Aber sie sieht doch frisch und gesund aus.«

»Ja, soweit ich mich ihrer erinnere, ist sie sogar ein ungewöhnlich großes und kräftiges Frauenzimmer.«

»Das ist sie. Sehr ansehnlich von Gestalt.«

Der Bürgermeister stutzte ein wenig über den Ton. Er betrachtete ihn genauer. Ja, ganz recht! Auf dem Grunde der vom Weinen geschwollenen, noch tränenfeuchten Augen fing er einen kleinen lüsternen Schimmer auf.

»Wie lange ist es eigentlich jetzt her, daß Ihre Frau starb, Herr Jensen?«

»Freitag werden es gerade zwei Monate. Zwei lange, schreckliche Monate.«

»Sie sollen sehen, die Zeit wird Ihnen schon besser vergehen, wenn Sie erst Mamsell Broager im Hause haben. So lange wir selbst leben, übt das Leben seine Macht auf uns aus.«

»Wieso meinen Herr Bürgermeister?«

»Ach, ich meine nur, Sie dürfen nicht so verzagt sein. Das Leben ist mildtätig. Vielleicht ist Ihnen noch viel Freude vorbehalten.«

Der Witwer sah ihn immer noch verständnislos und doch ein wenig scheu an.

Aber der Bürgermeister schwieg. Sein Armutsgefühl war plötzlich wie weggeblasen. Er begriff jetzt, daß der Mann mitten in seiner aufrichtigen Trauer um die Frau schon in Gedanken die Vorzüge der andern geprüft und genossen hatte. Ehe ein Jahr verstrichen war, würden die beiden Hochzeit feiern, und der kleine Mann würde der glücklichste Bräutigam unter der Sonne sein.

Der Buchhalter lüftete abermals seinen florumhüllten Hut und verabschiedete sich ehrerbietig.

Der Bürgermeister sah ihm verächtlich nach. Bald darauf erhob er sich und ging nach Hause.

 

Als der Bürgermeister nach Hause kam, war es fast dunkel geworden. Anne Marie empfing ihn mit Vorwürfen, weil er gegangen war, ohne ihr Lebewohl zu sagen. Sie schien überhaupt ziemlich erregt. Sie sagte auch selbst, daß sie sehr angegriffen sei. Obwohl sie, nachdem der Pfarrer dagewesen, wieder eine Stunde geschlafen hatte, fühlte sie sich unruhig, kraftlos und unsagbar müde.

Die Majorin saß im Korbstuhl neben dem Bett. Der Bürgermeister stand an der andern Seite und hörte schweigend ihre Klagen an. Eine graue Dämmerung erfüllte das Zimmer. Nur auf dem Fußboden vor dem Ofen leuchtete das eben angezündete Holzfeuer.

Mamsell Mogensen kam herein und meldete, daß angerichtet sei.

Als die Majorin und der Bürgermeister bei Tische saßen, begann die erstere sofort und mit großer Heftigkeit über den Zustand der Schwester zu sprechen. Sie sagte, Anne Mariens Niedergeschlagenheit und ihr Mangel an Widerstandsfähigkeit seien sicherlich nicht ausschließlich die Folge ihrer körperlichen Leiden, und sie fragte schließlich – und zwar ziemlich herausfordernd –, ob nicht zum Beispiel die Sehnsucht nach der Tochter einen ungünstigen Einfluß auf den Verlauf dieser Krankheit haben könne.

Der Bürgermeister umging die Antwort mit ein paar allgemeinen Redensarten. Worauf er anfing, sich bei der Schwägerin nach den sozialen und politischen Verhältnissen in Deutschland zu erkundigen und sie zu fragen, ob sie sich noch immer zufrieden in ihrem neuen Vaterland fühle.

Hierauf antwortete die Majorin, daß die großen Staaten jedenfalls den kleinen gegenüber den Vorzug hätten, daß man einander dort nicht absolut nach den gangbaren Mustern zuschneiden wolle, sondern seinen Mitmenschen das Recht zugestände, sich ihrer eigenen Natur gemäß zu entfalten.

»Und dies Vorrecht haben Sie wirklich als einen Vorzug empfunden.«

»Ja, unbedingt.«

»Ich muß sagen, das erstaunt mich ein wenig.«

»Weshalb?« fragte die Majorin und errötete leicht.

»Ach – Aber vielleicht habe ich Sie mißverstanden. Welche Verhältnisse haben Sie dabei namentlich im Auge gehabt?«

»Alle Verhältnisse. Aber sicher ist namentlich die Ehe so ein Prokrustesbett, in dem viele von den besten Frauen der kleinen Staaten verbluten.«

Das brünette Gesicht des Bürgermeisters war förmlich länger geworden. Es hatte sich etwas Starres über seine Züge gelegt. Er fing an zu verstehen, was dahintersteckte.

»Es ist mir ja nicht unbekannt«, sagte er, ihr noch einmal von dem Braten anbietend, »wie man in dem modernen Europa die Ehe und ihre Pflichten auffaßt. Ich muß jedoch gestehen, daß eine solche Befreiung von allen Banden, wie man sie dort anstrebt, nicht meine Sympathie hat. Und ich glaubte offen gestanden, liebe Schwägerin –, daß sie auch nicht die Ihre haben könne.«

»Ich ziehe sie dessen ungeachtet jener ehelichen Treue vor, die sich wie ein Strick um den Hals ihres Opfers legt.«

»Außerdem« – fuhr der Bürgermeister fort, als wenn er die letzte Äußerung nicht gehört hätte – »verstehe ich nicht, warum Sie nur die Frauen als Opfer des ehelichen Zwanges nennen. Hätten Sie die Männer mitgenommen, würde ich Sie besser verstanden haben. Die Ehe ist weit davon entfernt, eine ideale Einrichtung zu sein; das will ich Ihnen gern einräumen. In meiner doppelten Eigenschaft als Polizeibeamter und Richter habe ich nur zu oft Gelegenheit, das bestätigt zu sehen. Die Natur hat ja leider die Frau und den Mann so verschieden geschaffen, daß viel Kultur –, oder wenn Sie mir das Wort gestatten wollen – viel Selbstverleugnung auf beiden Seiten dazu gehört, um ein Zusammenleben völlig befriedigend zu gestalten.«

»Ach, wenn es weiter nichts wäre! Gerade in der Verschiedenheit besteht ja die Anziehungskraft. Es ist unser instinktives Bedürfnis, uns zu ergänzen, das in unserer Leidenschaft zum Ausdruck gelangt. Und je größer der Reibungswiderstand ist, um so mehr Wärme!«

In diesem Augenblick kam Mamsell Mogensen mit dem Nachtisch aus dem Anrichtezimmer, und der Bürgermeister suchte die Unterhaltung in eine andere Bahn zu lenken. Aber die Majorin hielt krampfhaft an dem Thema fest und zwang ihn, sich zu äußern.

So sagte er denn, daß er für die Leidenschaft, die sie erwähnt habe, große Ehrfurcht hege. Ohne im übrigen auf irgend eine Weise ihre Begeisterung für den natürlichen Menschen zu teilen, wolle er einräumen, daß namentlich die erotische Passion eine große und heilige Macht sei, der gegenüber man nur zu resignieren habe. Aber nach seinen Erfahrungen sei es weit seltener dies erhabene Gefühl, das die ehelichen Miseren hervorrufe, als die vielen kleinen Treulosigkeiten des Leichtsinns, die fortwährenden kleinen Betrügereien der Eitelkeit und der Gefallsucht. Und man müßte wohl sagen, daß namentlich die Frauen in dieser Beziehung die meisten Angriffspunkte böten.

Die Majorin lachte unbeherrscht.

Besitzen die Männer nicht etwa auch ihre Eitelkeiten? Machten sich nicht selbst die besten unter ihnen oft lächerlich und verächtlich in ihrer Jagd nach Auszeichnungen und Einfluß? Und fragten sie ihre Frauen oder Bräute um Erlaubnis? Es sei doch im allgemeinen nur der sehr geringe Bruchteil eines Mannes, der für die Frau, die ihn liebte, übrig blieb. Wenn er nichts desto weniger verlange, sie ganz und ungeteilt zu besitzen und sie bis in ihre zufälligsten Gedanken, bis in ihre flüchtigsten Träumereien zu beherrschen, so sei dies eine Anmaßung, eine empörende Barbarei, genau so roh und unmenschlich wie die Frauenzwinger und die Keuschheitsgürtel des Mittelalters.

Die einzige Entschuldigung für solche Männer sei, daß sie in ihrer Lauheit keine Ahnung hätten von dem Born an Liebe, den eine Frau besitzen könne – der weit größer sei, als daß ihn der Mann selbst und eine große Schar von Kindern aufzunehmen imstande seien. Sie würde ganz einfach ersticken oder platzen, wenn sie nicht jedenfalls auf dem Wege der Phantasie von ihrem Überfluß verschenkte.

Der Bürgermeister antwortete mit einem leeren Lächeln, das seine ganze große, wohlbewahrte Reihe von Zähnen entblößte.

»Die Auffassung von Ihrem Geschlecht, die Sie hier entwickeln, scheint mir auf gefährliche Weise ins Absurde hinaus zu führen. Nach dieser Anschauung müßte ja die Dirne die ideale Frau sein. Was sie im übrigen wirklich auf dem besten Wege zu werden ist, wenigstens in der Literatur.«

Die Majorin warf ihre Serviette auf den Tisch.

»Ach, diese Pfarrermoral hier zu Lande – wie gut ich sie kenne!«

Der Bürgermeister sah schnell zu ihr hinüber und schwieg.

»Gesegnete Mahlzeit!« sagte er kurz darauf und erhob sich mit einer sehr kärglich zugemessenen Verbeugung.

Die Majorin blieb sitzen.

Sie bereute ihre Herausforderung nicht. Nicht nur war sie fest davon überzeugt, daß die Schwester sich nichts Ernstes vorzuwerfen habe, sie fühlte sich auch ganz sicher, daß Anne Mariens Entkräftigung nicht – wie der Doktor gemeint hatte – ihren Grund ausschließlich in den Nieren hatte, die ja immer schwach gewesen waren, sondern daß sie das unglückliche Opfer der Rachsucht eines wahnsinnig eifersüchtigen Mannes war.

Mamsell Mogensen hatte sich gleich entfernt, nachdem sie den Nachtisch angeboten hatte. Sie fühlte sich gekränkt, weil der Bürgermeister und die Majorin auf Grund ihrer Anwesenheit angefangen hatten, deutsch zu sprechen.

Draußen in der Küche machte sie sich dem Mädchen gegenüber Luft.

»Sie saßen da und zankten sich geradezu. Sie, die Deutsche, warf sich auf ganz ordinäre Weise in den Stuhl zurück, und der Bürgermeister sah in seinem Gesicht aus, als wenn er ein Herzleiden hätte, ganz aschgrau. Ich konnte sehen, wie seine Hände förmlich zitterten, als er von der Omelette nahm. Ich hab' ihn nicht so aufgeregt gesehen seit damals, als Ingrid sich die Äpfel von dem Kämmerer seinem großen Jungen gebettelt hatt'.«

 

Der Bürgermeister hatte sich in sein eigenes Zimmer begeben, das ganz für sich am Ende der Diele lag. Dort brannte eine Lampe auf dem Schreibtisch zwischen den Fenstern; aber der größte Teil des Zimmers lag im Halbdunkeln. Es war ein großer, länglicher, solide ausgestatteter Raum, der die Verbindung zwischen der Familienwohnung und den Bureaulokalitäten bildete.

Er ging auf dem weichen Teppich, der den Laut seiner Schritte dämpfte, im Zimmer auf und nieder. Sein Schatten glitt hin und her über die Bücherborde und den hohen weißen Kachelofen an der inneren Längswand.

Anne Marie hatte also die Schwester zu ihrer Vertrauten gemacht und sich über ihn beklagt. Natürlich; das hätte er voraussehen können. So wenig verstand sie sich selbst noch immer. Und was hatte sie denn erzählt? Und wieviel hatte sie verschwiegen?

Eine alte Uhr in der Ecke schlug sieben. Er blieb vor dem Schreibtisch stehen, wo Verhörsakten, notarielle Eingaben, Nachlaßberechnungen und unbeantwortete amtliche Schreiben sich in letzter Zeit derartig aufgehäuft hatten, daß er sich darüber schämte.

Es gab fast nichts, das ihn mehr demütigte und peinigte, als dieses, daß er, der einstmals pünktlich bis zur Kleinlichkeit gewesen war, nachlässig, ja unzuverlässig geworden war. Er konnte sich fast nicht mehr zu seiner Arbeit sammeln. Sobald er allein war, gingen die Gedanken ihre eigenen Wege. Er hatte sogar die Beschämung erlitten, daß zwei von seinen Urteilen aus dem letzten Jahr von den übergeordneten Gerichten verworfen worden waren.

Über die Stadt hin schallte der schläfrige Stundenschlag der Kirchenuhr.

Er blieb in Gedanken stehen, die Hand auf der Stuhllehne, den Blick auf die Lampenkuppel gerichtet. Er erinnerte sich eines Abends vor zwei und einem halben Jahr, als Anne Marie hier an seinem Tisch gesessen und ihm geholfen hatte, das Urteil in dem großen Brandstiftungsprozeß zu schreiben. Er selbst war im Zimmer auf und nieder gegangen und hatte diktiert.

Es war ungefähr zwei Jahre, nachdem sie hier in die Stadt gekommen waren. Er erinnerte sich, daß Anne Marie noch Trauer nach des kleinen Kay Tode getragen hatte.

Die große Hoffnung, mit der er hierher gekommen war, schien damals noch in Erfüllung gehen zu sollen. Und die Krankheit und der Tod des Knaben hatten ja dazu beigetragen, sie wieder zusammenzuführen. Die gemeinsame Sorge, der gemeinsame Kummer, die gemeinsame Hoffnung auf ein Wiedersehen hatten sie eine Zeitlang sehr innig miteinander verknüpft, und das Bewußtsein, wie teuer erkauft die Versöhnung diesmal gewesen war, umgab die Wiedervereinigung für sie beide mit einem Gepräge der Heiligkeit.

Im Grunde hatte er sich wohl niemals glücklicher gefühlt als diese ersten Jahre in der kleinen, toten Stadt, in der er sich außerhalb seines eigenen Heims wie in einem fremden Lande befand, dessen Sprache er nur so eben verstand. Anne Marie hatte gleichsam eine Läuterungsprobe durchgemacht. Die Trauer hatte ihr einen so schönen Ausdruck verliehen. Sie sagte es auch selbst, daß sie erst jetzt, wo sie den Ernst des Lebens kennen gelernt hatte, seinen Wert so recht verstehe. Auch trug die Trauerkleidung noch dazu bei, ihrer dunkelblonden Erscheinung einen neuen und feinen Liebreiz zu verleihen.

Sie waren damals immer zusammen, gingen täglich zusammen nach dem Friedhof hinaus, hielten sich aller Geselligkeit fern und lebten ganz füreinander. Ihren Haushalt hatte Anne Marie ja immer musterhaft geführt. In diesen Jahren ging sie völlig auf in ihren Pflichten als Gattin und Mutter.

Des Abends, wenn Ingrid zu Bett gebracht war, pflegte sie sich mit ihrer Handarbeit hierher zu ihm zu setzen, weil die Einsamkeit im Wohnzimmer sie bedrückte. Ihre Anwesenheit störte ihn auch nicht; im Gegenteil, es erhöhte ihm nur die Gemütlichkeit, wenn sie dort auf dem Sofa saß, und er arbeitete nie leichter, als wenn er das Geräusch des einförmigen Prickelns ihrer Nadel hörte; oder wenn sie im Zimmer kramte, um seine Bücher zu ordnen oder nach dem Ofen zu sehen.

Einmal, als er seine rechte Hand verletzt hatte, erbot sie sich sofort, sein Sekretär zu sein. In jenen Tagen vernachlässigte sie sogar ihren Haushalt, um sich ihm ganz widmen zu können. Er hatte gerade das Material zu dem weitläufigen Brandstiftungsprozeß gesammelt und war voll Ungeduld, die Sache zu erledigen und das Urteil zu schreiben. Sie mußten schließlich die Nacht mit zur Hilfe nehmen, um fertig zu werden, und in seinem Eifer dachte er nicht daran, daß er Anne Marie überanstrengen könne. Sie selbst sagte nichts; aber plötzlich fiel ihr die Feder aus der Hand und sie wurde ohnmächtig. Hinterher war sie ganz untröstlich, barg sich beschämt an seiner Brust und stammelte Entschuldigungen.

Er war auch während alles dessen so vertrauensvoll geworden, daß er nicht einmal mehr an die Möglichkeit eines Betruges glaubte. Am allerwenigsten dachte er an eine Gefahr in dem Verhältnis zu Doktor Bjerring. Anne Marie hatte oft von ihrem Unbehagen in bezug auf seine Person gesprochen und war seinerzeit trotz seiner anerkannten Tüchtigkeit unzufrieden damit gewesen, ihn als Hausarzt zu bekommen. Erst an jenem Tage, als er bei seiner Heimkehr aus dem Gericht den Doktor dort auf einer Visite vorfand und sah, daß ganz gegen die Gewohnheit Konfekt und Wein aufgetragen war, fing er an, Unrat zu ahnen.

Es hatte dann auch nicht lange gewährt, bis er Anne Mariens Interesse an dem kleinen, verwachsenen Mann und seinem Schicksal konstatierte. Er bemerkte, wie oft sie nicht von ihm, sondern von seinen Patienten sprach, von Leuten, die er mit Erfolg kuriert hatte und von dem, was man in der Stadt Gutes und Böses über ihn zu erzählen wußte. Er machte ein paarmal die Beobachtung, daß sie in Sinnen verfiel, wenn sie seinen Namen hörte; und wenn sich draußen auf der Straße ein Wagen näherte, konnte er, hinter seiner Zeitung verborgen, in dem gespannten Gesichtsausdruck, mit dem sie sich dem Fenster zuwandte, lesen, daß sie daran dachte, ob er es wohl sei, der in seinem Doktorwagen vorübergefahren kam.

Nach der Erkrankung des kleinen Kay war Doktor Bjerring zum erstenmal in ihr Haus gekommen. Er kam zu jener Zeit täglich, traf Anne Marie häufig allein, und hier – über dem Totenbett des Kindes – war der Keim zu diesem neuen Verrat gelegt worden.

Wahrscheinlich war sie sich aber doch erst später ihrer Gefühle bewußt geworden. Aber als das Trauerjahr um war und sie wieder anfingen, an der Geselligkeit des Städtchens teilzunehmen, war es jedenfalls nicht schwer für ihn gewesen, zu verfolgen, wie sich das Verhältnis ganz in Übereinstimmung mit den früheren entwickelte, wie sie seinen fadesten Schmeicheleien gegenüber widerstandslos wurde, von seinem törichten Gerede entzückt war und sich in der Phantasie ihren Schwärmereien immer zügelloser hingab. Gleichzeitig verbarg sie sich vor ihm und vor sich selbst wieder in einem Wust von kleinen Verschleierungen und Wahrheitsentstellungen, bis sie schließlich wirklich keinen Unterschied von Recht oder Unrecht mehr wußte.

Wie schon so oft, war er auch diesmal mit dem Gedanken umgegangen, sich von ihr scheiden zu lassen, aber er gab es auf, nicht des Skandals halber – was die Leute von ihm dachten, war ihm bis jetzt ziemlich gleichgültig –, aber aus Rücksicht auf Ingrid, die er ihr nach dem Gesetz nicht würde nehmen können und die in ihren Händen dem Untergang geweiht sein würde. Was würde ihm eine Scheidung außerdem auch wohl nützen? Sein Leben war doch rettungslos zerstört. Zukunft wie Vergangenheit waren ihm vergiftet. Jede gute Erinnerung war besudelt. Selbst vor der Erinnerung an seine Mutter mußte er sich schämen. Nur eins konnte die Schuld sühnen und den Schmerz mildern, ja vielleicht schließlich Vergessen bringen – der Tod.

 

Der Bürgermeister hatte sich endlich auf seinen Schreibtischstuhl gesetzt und die Abendpost zur Hand genommen, die ein Bote zur Bureautür hereingesteckt hatte. Zwischen verschiedenen dienstlichen Schreiben in großen blauen und gelben Umschlägen griff er gleich nach einem kleinen Brief mit kindlicher Aufschrift. Er war von der Tochter. Sie schrieb:

»Lieber Vater!

Ich bedanke mich vielmals, daß ich Sonnabend nach Hause kommen darf, weil Tante Lise da ist. Nun wollte ich dich gern fragen, ob ich nicht schon Freitag kommen darf. Wir haben nur Rechnen, Geographie und Handarbeit, das macht nicht soviel aus. Fräulein Andersen hat es mir erlaubt, wenn du es nur auch willst. Grüße die süße Mutti tausend Mal. Ich freue mich schrecklich.

Deine liebe        
Ingrid.«

Der Bürgermeister atmete mißbilligend durch die Nase. Er bereute, daß er ihr überhaupt erlaubt hatte, nach Hause zu kommen. Die Bekanntschaft mit dieser Tante war offenbar ganz überflüssig. Von einer weiteren Pflichtversäumnis konnte auf keinen Fall die Rede sein.

Er hatte eben den Briefbogen hingelegt, um ihr sofort zu antworten, als Mamsell Mogensen hereingestürzt kam, leichenblaß im Gesicht. Die alte Anstandsperson war so erschüttert, daß sie sogar vergessen hatte, anzuklopfen.

Sie bat ihn augenblicklich zu kommen. Die Frau Bürgermeister sei plötzlich sehr krank geworden. Sie liege wohl im Sterben.

Der Bürgermeister erschrak im ersten Augenblick selbst ernsthaft. Aber auf dem Wege zum Schlafzimmer fiel ihm ein, daß Anne Marie sie vor einiger Zeit des Abends alle auf ähnliche Weise erschreckt hatte, und zwar ohne anderen nachweisbaren Grund, als daß man den Doktor holen lassen sollte. Sie hatte wohl gewußt, daß Dr. Bjerring mit einer gewissen Frau Grabe, die bei Zollverwalters zu Besuch war und für die er sich, nach dem, was die Leute erzählten, lebhaft interessieren sollte, in einer Gesellschaft zusammen war. Diese Dame war, so viel er wußte, noch hier in der Stadt und nahm wahrscheinlich zu dieser Stunde ebenso wie Dr. Bjerring teil an dem Fest bei Jörgen Ovesen; und er vermutete, daß der Gedanke hieran Anne Marie wieder beunruhigt hatte.

Als er aber ins Schlafzimmer kam, sah er sogleich, daß hier wirkliche Not herrschte.

Anne Marie lag mit offenen, blinden Augen da und röchelte – erstarrt in einem Erstickungskrampf. Die Schwester stand über sie gebeugt und hielt ihre zitternden Arme. Das ganze Bett bebte.

»Ist zum Doktor geschickt?« fragte er Mamsell Mogensen, die ganz verwirrt mit gefalteten Händen mitten im Zimmer stand.

»Ja, Jens Kristian ist hingelaufen.«

»Mamsell! Geben Sie mir das Eau de Cologne-Flakon da!« kommandierte die Majorin. »Und einen Löffel!«

Sie ließ die Schwester mit der einen Hand los und badete ihre Schläfen und löste den Halsbund des Nachtkleides. Ein leiser, heiserer Schrei drang durch die zusammengeschnürte Kehle, und es erfolgte ein Erbrechen.

Bald darauf war der Anfall überstanden.

Schlaff und schweißbedeckt, mit geschlossenen Augen, sank Anne Marie ins Bett zurück. Es gingen noch einige Zuckungen durch ihren Körper, und sie atmete beschwerlich. Als sie die Stimme ihres Mannes hörte, machte sie einen Versuch, ihm die Hand hinzustrecken, aber sie vermochte es nicht; die Hand fiel tot auf die Bettdecke nieder, und gleich darauf versank sie in einen tiefen Schlummer.

Der Bürgermeister war so angegriffen, daß er sich an dem Fußende des Bettes festhalten mußte. Er ahnte, daß dies der Tod war.

»Wie ist es nur gekommen?« fragte er.

Die Majorin erzählte, Anne Marie habe während der letzten Stunde über heftige Kopfschmerzen und Beklemmungen in der Brust geklagt. Dann habe sie plötzlich einen Schüttelfrost bekommen und angefangen, sich zu erbrechen. Während dessen sei dann der Krampf eingetreten.

Der Bürgermeister wandte sich mit der Uhr in der Hand nach Mamsell Mogensen um.

»Ob Jens Kristian weiß, daß der Doktor bei Jörgen Ovesen ist?«

»Ja, Frau Bürgermeister sagte es selbst, als sie fühlte, daß sie krank wurde.«

Danach fragte der Bürgermeister nicht weiter, und es vergingen wohl zehn Minuten, ohne daß überhaupt gesprochen wurde. Von der sonst so stillen Straße her drangen viele Fußtritte herauf. Es waren Leute, die hinaus wollten, um die Illumination an dem anderen Ende der Stadt zu sehen.

Da fing Anne Marie von neuem an zu stöhnen. Die Augenlider hoben sich. Ein neuer Anfall war im Ausbruch.

»Kommt denn der Doktor noch nicht bald?« rief die Majorin verzweifelt aus.

Der Bürgermeister zog mit zitternder Hand noch einmal die Uhr hervor.

»Ich begreife es auch nicht. Ich meine, er müßte schon hier sein können.«

»Vielleicht ist der Knecht doch fehlgegangen. Lassen Sie doch das Mädchen hinlaufen.«

Der Bürgermeister sagte, er wollte lieber selbst zu einem alten, pensionierten Kreisarzt gehen, der im Hause nebenan wohne, und ihn bitten zu kommen. Falls er zu Hause sei, könne er im Laufe von wenigen Minuten hier sein.

Er hatte jedoch kaum das Wohnzimmer verlassen, als es schellte. Er ging deswegen in sein eigenes Zimmer, um dort zu warten, bis das Mädchen geöffnet hatte.

Er hörte, wie Doktor Bjerring seinen Überrock ablegte und durch das Eßzimmer hineinging.

Es verstrichen abermals zehn Minuten. Er war ein paarmal an der Tür, konnte sich aber nicht überwinden, nach dem Krankenzimmer zurückzukehren, so lange dieser Mann da drinnen war und die Untersuchung währte. Er war außerdem auch körperlich so angegriffen, daß er sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Jeden Augenblick setzte der Herzschlag aus, und er mußte zu seinen Naphthatropfen greifen, um sich aufrecht zu halten.

Da vernahm er Fußtritte und es wurde an die Tür, die nach der Diele zu führte, gepocht.

»Herein!«

Es war Mamsell Mogensen.

»Der Herr Doktor möchte gern ein Wort mit dem Herrn Bürgermeister reden.«

»Bitte schön!«

Doktor Bjerring war in Gesellschaftskleidung und hatte in der Eile vergessen, eine Blume aus dem Knopfloch zu entfernen. Er sagte nichts weiter als: »Ja« und machte mit tiefem Bedauern eine Bewegung mit beiden Händen.

»Sie glauben nicht, daß noch Hoffnung ist?« fragte der Bürgermeister.

»Leider nein, ich glaube es nicht.«

»Aber doch . . . vielleicht?«

»Nein, ich darf es Ihnen nicht verhehlen, Herr Bürgermeister, daß Ihre Frau Gemahlin kaum noch einige Stunden leben wird. Aber ich habe Sie ja darauf vorbereitet und Ihnen wiederholt gesagt, daß Sie die Krankheit Ihrer Frau Gemahlin wohl reichlich zuversichtlich beurteilten.«

»Ich weiß es. Sie haben sich keine Vorwürfe zu machen. Ich verstehe nur nicht . . . so plötzlich, wie es gekommen ist.«

»Es ist eine Blutvergiftung, die ich lange gefürchtet habe und die nun eingetreten ist. Sie kann in unglaublich kurzer Zeit tödlich wirken. Und die Frau Bürgermeister war ja außerdem schon von vornherein sehr entkräftet.«

»Und Sie meinen nicht, daß irgendetwas geschehen kann – nur zur Linderung?«

»Frau Bürgermeister hat ein beruhigendes Pulver erhalten, und im übrigen habe ich angeordnet, daß ein warmes Bad bereit gehalten wird für den Fall, daß sich der Krampf wiederholen sollte, was ich übrigens nicht glaube. Etwas anderes ist leider nicht zu machen.«

Der Bürgermeister stellte keine weiteren Fragen. Er konnte merken, daß der Doktor voller Ungeduld war, zum Fest zurückzukehren, und für den Augenblick mit seinen Gedanken mehr bei der schönen Frau Grabe als bei seiner Patientin weilte. Und ein tiefes Mitleid mit Anne Marie erfüllte ihn, die um dieses Menschen willen das Glück ihrer Häuslichkeit und den eigenen Frieden geopfert hatte und nun einsam starb wie jemand, dessen Leben zum Fluch geworden war.

»Ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagte er höflich. »Sie sind ja in Gesellschaft.«

»Ach, das macht nichts. Falls meine Anwesenheit nur irgendwelchen Zweck haben könnte, so –«

»Nein, nein. Nach dem, was Sie mir jetzt gesagt haben, verstehe ich, daß dies nicht der Fall ist.«

»Ich werde doch heute abend noch einmal einsehen. Ich denke gegen elf Uhr.«

»Ja, da Sie doch hier vorüber müssen, so . . . Ich meine, auf dem Heimwege von dem Fest.«

»Ja, freilich.«

 

– – Als der Doktor gegangen war, kehrte der Bürgermeister in das Krankenzimmer zurück. Schon in der Wohnstube drang ihm ein scharfer Moschusgeruch entgegen.

Anne Marie lag im Halbschlummer, erwachte aber, sobald sie seine Nähe ahnte. Sie schlug die Augen auf und starrte ihn mit wilder Angst in dem starren Blick an. Sie konnte schon nicht mehr sprechen. Auch das Gehör war fast verschwunden. Das letzte Wort, das sie gesagt hatte, war während des Besuchs des Doktors der Schwester mit Aufbietung aller Kraft ins Ohr geflüstert worden. Das Wort lautete: »Ingrid.«

Die Majorin erhob sich sofort, um ihn mit Anne Marie allein zu lassen. Auf eine eigene scheue Weise ging sie in einem Bogen um ihn herum, der Tür zu.

Sie begab sich in ihr eigenes Zimmer, das neben der Eßstube lag. Der Mond schien auf den Fußboden da drinnen, und sie zündete kein Licht an. Sie war in so heftiger Erregung, daß es ihr nicht möglich war, sich ruhig zu verhalten. Bald setzte sie sich auf das Sofa, bald ging sie im Zimmer auf und nieder, und schließlich warf sie sich ganz unbeherrscht über eine Stuhllehne und preßte das Taschentuch gegen ihren Mund, damit niemand ihr Schluchzen hören sollte.

»Mörder! Mörder!« schrie es unablässig in ihr.

Sie entsann sich nicht mehr, wann der Verdacht zum erstenmal in ihr aufgetaucht war! Aber als sie bei Tische das leere, leichenartige Lächeln sah, mit dem der Schwager ihre Bemerkung über die Krähwinkelmoral beantwortet hatte, wußte sie, daß er absichtlich Anne Maries Leben zerstört hatte, um sich für eingebildete Kränkungen zu rächen. Mit Wissen und Willen hatte er sie getötet. Mit der hinterlistigen Grausamkeit eines Wahnsinnigen hatte er Tag für Tag seine Rachsucht gesättigt, indem er sie unter seiner Kälte und Verachtung leiden und sich quälen sah. Und er hatte gewußt, daß es der Tod für sie werden würde. Es war ein Schleichmord, der hier begangen worden war. Er hatte gewußt, daß Anne Marie nicht ohne Liebe leben konnte.

Sie erhob sich und zündete endlich Licht an. Sie wollte fort von hier. Und zwar noch diese Nacht. Sie hatte nicht den Mut, unter demselben Dach mit diesem Menschen zu sein, nachdem Anne Marie ihre Augen geschlossen hatte. Um sich nicht zu einer blutigen Vergeltung hinreißen zu lassen, wollte sie fort, sobald der Tod eingetreten war. Mit dem ersten Zug wollte sie nach der Stadt fahren, wo Ingrid in Pension war, um dem armen Kinde den letzten Gruß der Mutter zu bringen.

Der Bürgermeister saß auf dem Stuhl neben dem Bett; er hatte nicht gesprochen, und Anne Marie würde auch nicht mehr imstande gewesen sein, etwas durch das Gehör aufzufassen. Nur vom Gesicht war ihr noch etwas geblieben. Das war unablässig auf ihn gerichtet; aber die Augen hatten keinen Ausdruck mehr, der Blick konnte nicht mehr für sie flehen, und der bleischwere Finger des Todes drückte beständig die Lider wieder zu.

Ihre Hand – ihre früher stets so unruhige kleine Hand – lag jetzt leblos auf der Bettdecke. Die Linke, die ihm zunächst ausgestreckt war, hatte sie aufwärts gewandt; sie lag da wie eine stumme Bitte um Barmherzigkeit.

Aber der Bürgermeister war gar nicht aufmerksam geworden auf dies stumme Lebenszeichen.

Dahingegen hatte er Doktor Bjerrings Rosen erblickt, die noch am Kopfende des Bettes auf dem Tische standen. Ebenso fesselte die kleine silberne Schale mit Konfekt seinen Blick; er entsann sich, wie Anne Marie sie sich einmal angeschafft, als sie erfahren hatte, daß der Doktor Wert auf dergleichen Leckereien legte, die deswegen seither niemals im Hause fehlten.

Stunden gingen dahin. Bei ihrem schwindenden Lebenslicht spähte Anne Marie noch immer vergebens nach einem kleinen Schimmer ehemaliger Liebe oder auch bloß nach Verzeihung in seinem Gesicht. Zuletzt hatte er freilich ihre Hand genommen, und wie er so unbeweglich vornübergebeugt und fahl dasaß, glich er fast selbst einem Sterbenden.

Draußen auf der Straße war es wieder lebendig geworden; die Leute kehrten von der Illumination zurück. Sie sprachen begeistert von Leuchtkugeln und Raketen und bunten Lampen.

Anne Maries Atem war fast unhörbar geworden. Die Augenlider hoben sich nicht mehr. Der Mund stand ein wenig offen.

Als die Majorin und der Doktor um Mitternacht ins Zimmer kamen, war sie tot.

 


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