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5

Tiefe Stille herrschte im grünumrankten Hause; alles lag in festem Schlaf. Mitternacht war eben vorüber. Da huschte ein leichter Schritt über den Gang und die Treppenstufen – eine verhüllte Frauengestalt, ein kleines Bündel in der Hand. Aus der Kapuze von rothem Tuch schaute ein reizendes blasses Mädchengesicht. Unten an der Hausthüre stand Iwan mit einer Laterne und einem vollgepackten, gewaltigen Korbe.

»Komm nur fort!« flüsterte Desirée. »Eile dich und sei vorsichtig!«

»Aber Herr wird böse sein! Und kleine Stiefel« – hier fiel ein zärtlicher Blick aus seinen Augen auf die Füße des jungen Mädchens – »werden müde werden. Weg ist weit, Iwan's Stiefel besser! Sie gehen durch Meer von Feuer für junge Herrin.«

Er hatte einen Fuß gehoben, und der Umfang des Stiefels ließ trotz des ernsten Moments ein Lächeln über ihre Lippen gleiten.

»Sei ruhig … ich habe dem Herrn geschrieben. Es gilt, ein Menschenleben zu retten! Hast du nichts vergessen?«

»Flasche Wutki in der Tasche.«

Iwan schloß während dieser Antwort vorsichtig auf – einen Moment später war die Thüre fast geräuschlos in's Schloß gefallen. Alles blieb still im grünumrankten Hause.

Im Wohnzimmer fand am nächsten Morgen der russische Doctor einen Brief mit seiner Adresse. Er öffnete ihn und las bestürzt folgende Zeilen.

 

»Suche nicht nach einer Krankenpflege für Hilmar Ussikow, theuerer Onkel; sie ist gefunden – ich bleibe bei ihm, dem Verlassenen, mit Iwan, bis alle Gefahr vorüber oder – bis er in den Himmel ging. Zürne nicht, daß ich heimlich ging; aber ich wäre gestorben, wenn man mich zurückgehalten, – und du hättest mich zurückgehalten. Jede Minute wurde mir zur Ewigkeit, und jede Minute ist kostbar für die Pflege des Kranken.

»Die Gottesmutter wird ihn schützen und mich mit ihm – ich will ja nichts, als ihn pflegen dürfen! Und du, theuerer Onkel, wirst ihn gesund machen. Auf Wiedersehen in der Krankenstube, wo dir deine Hände dankbar küssen wird

Desirée.«

 

»Großer Gott, was werden die Leute sagen!« rief Marianne, als Armin ihr mit wenigen Worten Desirée's Flucht mitgetheilt. »Wir dürfen sie nie wieder zurücknehmen in's Haus. Auch schon der möglichen Ansteckung wegen nicht … Aber die Menschen, die Menschen!«

»Nun, das ist das wenigste, meine ich. Wird Hilmar wieder gesund, so findet jedermann die That seiner Braut einfach heroisch.«

»Seiner Braut?«

»Ja, Marianne. Hilmar von Ussikow gestand mir unmittelbar vor seinem Weggehen seine Liebe zu Desirée.«

»Zu diesem Kinde? Und das thörichte Ding meinte, er wolle mich zu seiner Frau machen? Nun, ich beruhige mich nur mit dem Bewußtsein, daß ich ihr sagte, solchen Antrag würde ich nie angenommen haben. Aber wenn er nun stirbt …«

»Ich hoffe, er wird leben bleiben. Ich will sofort hinaus nach Grünfelden. Gott ist barmherzig!«

Aber er ging doch noch einmal in sein Arbeitszimmer und schloß seinen Schrank auf. Da nahm er aus einem kleinen Kästchen ein vergilbtes, dünnes Spitzengewebe. Er barg es vorsichtig in die hohle Hand, dann drückte er es auf seine Augen – lange – lange.

Es waren dunkele Gedanken, die, wie scheue Nachtvögel vorüberflatternd, den russischen Doctor beherrschten, als er in einem Wagen den einsamen, langen Weg nach jenem Bergdörfchen zurücklegte, den in vergangener Nacht Desirée's kleine Füße gewandert. Warum mußte das alles geschehen? Warum für ihn allein kein Glück – kein Tropfen jener Labe, nach der sein Herz schrie. Hat nicht jedes menschliche Wesen ein Anrecht auf einen Sonnenstrahl?

Und wenn Hilmar nun stürbe – wäre das nicht die natürlichste Lösung dieses Conflicts? Würde dann nicht Desirée zurückkehren zu ihm für immer? … Ach, aber dann nicht mehr Papillon – nur eine gebrochene, trostlose bräutliche Wittwe. Aber sie bliebe doch bei ihm, und er dürfte sie trösten und auf den Händen tragen. Sollte er das wünschen, und lag die Erfüllung dieses Wunsches nicht zum Theil in seiner ärztlichen Hand? Die kleinste Vernachlässigung diesem Kranken gegenüber in eben diesem Stadium seines Leidens genügte. – – Ihn schauderte, er entsetzte sich vor sich selber und faltete die Hände. Welch' grauenvolle Macht hatte doch jene Empfindung, die im Gedanken an das junge Mädchen seine Brust erfüllte!

»Führe uns nicht in Versuchung!« flüsterten die blassen Lippen, der Angstschweiß trat auf seine Stirne.

Der Tag war so leuchtend, die Vögel sangen, die Natur trug ihr sommerliches Festgewand. Von den Bergen strömte die erquickende Luft zu ihm nieder, die Schwalben schossen dicht an ihm vorüber mit ihrem herzerquickenden Jubelschrei – wie schön war die Welt! Welch ein Kampf, sie zu verlassen mit dem Bewußtsein der Liebe einer Desirée!

Da tauchte das arme Haus vor dem Doctor auf. Das Fenster des Stübchens, das den Kranken beherbergte, war geöffnet, die herrliche Sommerluft drang ungehindert herein. »Das hat Papillon's Hand gethan!« dachte er.

Zögernd trat der russische Doctor über die Schwelle. Die alte Frau humpelte ihm entgegen. »Wie geht es?« fragte er leise.

»Besser, denke ich, Herr Doctor, seit die Liebste da ist. Das arme junge Ding! Aber er erkannte sie gleich und rief, als sie an sein Bett trat: »Geliebte, … endlich kommst du! Nun sterbe ich leicht. Lege deine Hand auf meine Stirne!« Und das that sie denn auch, und so sitzt sie noch, das Lamm.«

Sie öffnete leise die Thüre zum Krankenzimmer. Ja, da saß sie, das liebliche Wesen, blaß und erschöpft, aber mit einem seligen Leuchten in den Augen, die sich auf den Eintretenden richteten. Ihre Hand lag auf der Stirne des Schlummernden. Iwan zog sich in den Hintergrund zurück, als er seinen Herrn erkannte.

»Onkel, er hat meinen Namen genannt … er bat mich, die Hand auf seine Stirne zu legen,« flüsterte sie mit einem schwachen Lächeln. »Ich habe gebetet für ihn und dich herbeigerufen in meinem Herzen; sonst habe ich nichts gedacht bis zu dieser Minute, seit ich dein Haus verlassen. Nun bist du da … du zürnst mir nicht … du kommst, um zu helfen. O, alles wird gut!«

»Ja, mein Kind, ich hoffe es zu Gott! Wir wollen ihn retten – du und ich. Hier bin ich und hier bleibe ich bis zur Krisis … Es wird sein wie damals in jener Nacht, als ich dich zum ersten Mal sah, Papillon! Weißt du noch?«

Hilmar Ussikow genas – und das enge, niedrige Bauernstübchen wurde ein blumengeschmücktes Paradies für zwei Glückliche, die sich gefunden.

Später siedelte er auf kurze Zeit über in das grünumrankte Haus, wo die Geliebte ihm zuerst erschienen.

Noch im Spätherbst wurde dort eine stille Hochzeit gefeiert. Unmittelbar nach der Trauung reiste das junge Paar nach dem Süden ab.

Der russische Doctor aber saß, als er die junge Frau aus den Armen gelassen und dem Freund an's Herz gelegt, den Rest des Tages und die folgende Nacht am Bette eines armen, todkranken Kindes – genau wie damals, als er die Tochter Hortense's zuerst gesehen. Als der Morgen graute, da stürzte eine glückselige Mutter vor ihm nieder und küßte seine Hände – ihr Liebling war gerettet.

Das Leben im grünumrankten Hause floß allmälig so ruhig weiter, als wäre nie ein glänzender Papillon dort umhergeflattert. Der russische Doctor widmete sich fortan nur den Armen und Kranken weit und breit, daneben seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Er war, nach Mariannens Meinung, etwas unzugänglicher und schwerfälliger geworden, und seine Freigebigkeit entsetzte sie nicht selten. Denn es geschah wohl einmal, daß er ohne Ueberzieher nach Hause kam, weil ihm ein Armer begegnete, der ihn nöthiger brauchte, wie er lächelnd versicherte. Die Kinder alle kannten ihn, wo er hinkam, und hingen an ihm wie die Kletten.

Marianne hoffte jedoch von Jahr zu Jahr geduldig, daß »seine Stunde« kommen werde.

Was Iwan betraf, so geschah es häufiger als früher, daß ihm die Liste seiner Sünden vorgelesen werden mußte. Er trank im stillen, wie in Gegenwart Anna's, die auch im Hause alt und grau wurde und sich vor dem Fieber fürchtete, gar zu oft die Gesundheit der »lieben schönen« jungen Frau.

Viele Briefblätter flogen aus weiter Ferne fort und fort in das Haus des russischen Doctors. Sie alle sagten: »Wir sind glücklich!« – zur größten Verwunderung Mariannens, die jahraus jahrein darauf wartete, das Gegentheil zu hören. Es war ja unmöglich, daß ein Mann wie Hilmar Ussikow mit einem so unwissenden Kinde, das weder einen Hacken in einem Strumpf noch einen Braten selbständig zu fabriciren verstand, auskommen konnte. –

Später trippelten Kinderfüßchen durch den wilden Garten und eine schöne, glückstrahlende Mutter, von Hilmar's Arm umschlungen, sah zu, wie der »Großonkel« mit dem lustigen Kerlchen Ball spielte. Es war jener Ball, den einst Hortense's Händchen dem Gymnasiasten Armin Elbthal vor's Auge geworfen.

Jetzt ruht er längst schon aus von seinem mühevollen Tagewerk, der russische Doctor. Aber sein Grab auf dem Friedhof des Städtchens ist das schönste von allen; denn gar viele Hände wetteiferten, es zu schmücken, als die Ruhestätte eines Mannes, den die ganze Gegend liebte und ehrte als ihren Wohlthäter.

Eine Weide läßt ihr grünes Haar tief herabhängen auf einen einfachen Stein, auf dem man nur die schlichten Worte liest: »Hier schläft unser russischer Doctor.«

Daß dem Steine nie der Schmuck von Blumen und Grün fehle, dafür sorgen auch aus der Ferne in treuer Anhänglichkeit Hilmar und Papillon.


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