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3

Als Armin in sein Arbeitszimmer trat, fand er einen Brief seines ehemaligen jungen Reisegefährten und Schülers Hilmar von Ussikow vor, den ersten, den er in seinem deutschen Heim von ihm erhielt. Die Correspondenz zwischen den beiden war nie sehr lebhaft gewesen. Aber Armin wußte, daß trotzdem Hilmar an ihm hing; und er selber interessirte sich für diese von seinem eigenen Wesen so verschiedene Männernatur, für dieses verwöhnte Glückskind, das bestimmt schien, fort und fort im Sonnenschein zu wandeln. Aber wenn Hilmar scherzend schrieb, daß ihm das Vergnügen keine Zeit ließe zum Briefeschreiben, so durfte damals Armin sagen, die Arbeit lasse ihm keine Zeit. Lebhaft erregte ihn nun heute folgende Stelle:

 

»Erschrick also nicht, alter Freund und Mentor, wenn ich eines Tages nicht mehr brieflich, vielmehr leibhaftig vor dir erscheine und in dein Arbeitszimmer falle. Die Aerzte schicken mich eigentlich nach dem Süden; aber ich halte zunächst deine Heimath, deine Nähe für den wirksamsten klimatischen Curort für mich. Du kannst dir dann den Einband meines Lebensbuches einmal gründlich ansehen und mir offen sagen, ob es noch lohnt, ihn auszuflicken. Die Brust ist gesund – Nervenabspannung, dazu ein Herzleiden benennen die hiesigen Aerzte mein Leiden. Ich sehne mich nach anderer Luft, nach einer andern Lebensweise, nach einem – lache nicht – philiströsen Stillleben. Vielleicht hole ich mir unterwegs eine deutsche Frau. Aber verstehe mich recht: um alles keine Herzenserregung mehr – das ist abgethan. Ich habe ausgetobt und meine Schiffe hinter mir verbrannt. Das Meer der Leidenschaft habe ich die Kreuz und Quer durchschifft, die Frauen haben mich verwöhnt – und leider immer die schönsten. Ich bin nun mit den Jugend-Illusionen fertig, glaube es mir, obgleich ich noch nicht die Vierzig erreichte. Erst im nächsten Winter gedenke ich an diesem Markstein anzulangen, allwo man in allen Landen vernünftig werden soll. Du weißt genug von meinem Diplomaten-Leben in St. Petersburg, das ich nun quittirte, ohne eine nennenswerthe Stufe erreicht zu haben, um zu begreifen, daß mir jetzt nur eines Noth thut: eine kluge, praktische Hausfrau, wie man sie nur bei euch findet. Aber nur keine, die noch sentimentale Ansprüche macht, keine, die noch jung – nein, einzig und allein eine, die sich zur Landwirthin eignet, die mit fester Hand die Zügel meines Hauswesens ergreift und mich umsorgt. Ich bin reich genug, nachdem ich das Gut des lieben verstorbenen Papa meinem jüngern Bruder überlassen und sein Haus in Petersburg ebenfalls, mich irgendwo anzukaufen, wo es mir behagt, einen tüchtigen Verwalter zu nehmen und meinen alten Liebhabereien, der Musik und Malerei, zu leben. Zur eigentlichen Arbeit werden wir nun einmal in unsern Regionen nicht erzogen, du hast es gesehen – das Arbeiten lernt man nur bei euch in allen Schichten der Gesellschaft. Ich lerne es zwar nicht mehr; aber ich werde mich anständig beschäftigen, und meine Frau wird ein behagliches Leben führen. Wenn sie nicht musikalisch ist, desto besser; denn entweder ist sie es in höherm Grade als ich, und dann langweile ich sie, oder in geringerm Grade, und dann langweilt sie mich. Wer weiß, ob mir nicht in deinem Städtchen das begegnet, was ich suche. Das wäre mir das Liebste. Denn zu einem andern Arzt als zu dir würde ich mich in der Fremde schwer entschließen. Du hast mir den guten Papa gesund gemacht und warst doch damals erst ein angehender Heilkünstler – du wirst auch mich wieder zusammenflicken.

»Also nochmals: erschrick nicht, wenn sich plötzlich, vielleicht früher als du denkst, bei dir in Scene setzt

dein Hilmar.

»Schreibe mir, sobald du meinen Brief gelesen, ein paar Zeilen nach Berlin – wo ich im Russischen Hof absteigen werde – ob du zu Hause bist und ob ich kommen darf.«

 

Als Armin im Speisezimmer zum Abendbrod erschien, sah er so erregt aus, daß Desirée sofort rief: »Onkel, du hast uns etwas Besonderes zu erzählen!«

»Du hast recht,« antwortete er, immer noch ein wenig zerstreut; »ein Besuch ist uns angekündigt worden.«

»Dem Himmel sei Dank, die jungen Gemüse sind jetzt da!« warf Marianne ein. »Wer ist es denn? Irgend ein alter Kasaner Professor?«

»Nein, ein jüngerer Freund. Ich habe dir den Namen schon genannt, Hilmar von Ussikow, ein halber Deutscher; seine Mutter stammte aus den Ostseeprovinzen. Ich curirte vor langen Jahren seinen erkrankten Vater und begleitete ihn nach dem Süden.«

»Ach, dann werden wir unsere Stunden unterbrechen müssen, lieber Onkel.«

»Durchaus nicht, Kind! Er wird ein Hausgenosse sein, der uns nicht im geringsten in unserer Hausordnung stört.«

»Aber er wird den Thee aus Gläsern trinken, die dann Iwan, der ihn doch bedienen soll, dutzendweise zerbrechen wird; ich hörte, daß die Russen fortwährend ein Glas Thee im Zimmer haben müssen. Iwan wird überhaupt gar nicht mehr zu bändigen sein, wenn er einem veritablen Landsmann zugetheilt wird. Ich hoffe, daß dein Freund ihn nicht gründlich verdirbt … Hat er irgend welche Gewohnheiten, was das Essen und Trinken betrifft? Wird er in allen Räumen rauchen? Das könnte ich durchaus nicht zugeben, lieber Vetter; vor acht Tagen wurden frische Gardinen aufgesteckt. In seinem Zimmer mag er thun und lassen, was er will!«

»Liebe Marianne, du wirst ihn ohne Zweifel sehr angenehm finden, wie bisher alle Frauen ihn angenehm fanden. Er ist ein vornehmer Mensch durch Erziehung und Bildung, und ich denke, ein solcher hat in allen Landen dieselben guten Manieren. Er wird sich in Deutschland ankaufen und niederlassen; seine Gesundheit verträgt das russische Klima nicht. Jedenfalls bleibt er ein paar Wochen hier. Wir können ihn sicher in spätestens acht Tagen erwarten.«

Am Abend dieses Tages ging ein Briefblatt nach Berlin, das folgende Zeilen enthielt.

 

»Bravo, mein Freund, du hast den vernünftigsten Gedanken ausgesprochen, den je ein Brief von dir zu mir getragen. Komm, so bald und so lange du willst. Du findest, dank meiner Cousine Marianne, das behaglichste Heim; sie ist Virtuosin in der Kunst, eine Haushaltung zu führen. Wohl jedem Manne, der einen solchen Schatz an praktischen wirthschaftlichen Kenntnissen besitzt! Ich darf dich also getrost zu mir einladen, weil ich weiß, daß dir hier jenes Wohl bereitet wird, das unser Goethe als den wünschenswerthesten aller Zustände bezeichnet. Daß ich mich auf dich freue, bedarf keiner Versicherung. Ruhe dich also hier aus, so lange du willst. Mit Freuden wird dich erwarten und umarmen dein

Armin.

» NB. Du wirst ein kleines Mädchen hier im Hause finden, eine Französin, die aber vortrefflich deutsch spricht, das Kind einer Jugendfreundin. Sie wird dich durchaus nicht stören. Ich unterrichte sie zu meinem Vergnügen.«

Es waren seltsame, verworrene Fieberträume, welche in dieser Nacht den russischen Doctor heimsuchten. Marianne erschien ihm im Brautkranz und Schleier am Arm eines schlanken Mannes mit Hilmar's interessanten Zügen, und Papillon flatterte umher, glückselig lächelnd. Sie hing sich an seinen Arm und flüsterte: »Nun bleibe ich immer bei dir!«

»Ein Brief aus Berlin ist da!« sagte Armin, in die Laube tretend, wo Marianne eben Ranken aufband. In dem knappen, frischen hellblauen Musselinkleide und der weißen Schürze, ein weißes Tüchelchen über das blonde, noch reiche Haar gebunden, erschien sie ihm fast hübsch trotz ihrer kleinen, etwas üppigen Gestalt. Papillon stand am Eingang, ihr den Bast reichend. Sie erschien schlank und hoch neben ihr.

»Onkel, erzähle mir doch etwas von Herrn von Ussikow!« rief sie ihm zu. »Wie sieht er eigentlich aus?«

»Er wird wohl jetzt einen etwas kränklichen Eindruck machen, fürchte ich. Früher nannte man ihn den schönen Ussikow.«

»Warum bringt er seine Frau nicht mit?«

»Weil er keine hat, Papillon!«

»Hast du mir nicht einmal erzählt, daß er etwas leichtsinnig sei?« fragte jetzt Marianne über die Schulter hinweg, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen.

»Wohl möglich. Aber er war wohl schwerlich anders als die meisten jungen Leute in seinem Alter und in solcher verführerischen Atmosphäre. Er ist jetzt voll Sehnsucht nach einem deutschen Stillleben.«

»Aber, bitte, Onkel, ist er häßlich oder alt?«

»Zwölf Jahre jünger als ich.«

Warum war es dem russischen Doctor plötzlich unangenehm, den Freund zu beschreiben, wie er wirklich war? Er erinnerte sich der schönen dunkeln Augen mit dem bald melancholischen, bald feuerigen Blick, des schön gezeichneten Mundes mit den blitzenden Zähnen, der fein gebogenen Nase und der hohen, elastischen Gestalt, des stolz getragenen Kopfes mit dem leicht gewellten dunkeln Haar.

»Ussikow ist sehr musikalisch und zeichnet und malt allerliebst. Er hat einen sympathischen Bariton. Ich denke, er wird es nicht verschmähen, auf unserm bescheidenen Pianino zu musiciren.«

»Musik? O, dann freue ich mich auf ihn!« rief Papillon lebhaft.

Marianne aber sagte: »Wie kann ein Mann sich mit solch' unnützen Dingen so viel befassen? Nun, ich denke, er wird vielleicht viel spazieren gehen … stundenlang Musik zu hören, wäre doch auch für dich eine Störung, Vetter!«

»Warten wir ab, wie Hilmar sich selber die Stunden hier eintheilt. Er ist ein viel zu vollkommener Cavalier, als daß er sich nicht in jeder Weise der Hausgebieterin angenehm machen sollte, Marianne. Und auf mich, seinen alten Freund, braucht er keinerlei Rücksicht zu nehmen, wie ich nicht auf ihn. Die Parterrestube links von der Terrasse wird ein vortreffliches Wohnzimmer für ihn abgeben, und in dem anstoßenden Alcoven wird er gut und gesund schlafen, hoffe ich.«

In gewohnter friedlicher Stille flossen die nächsten Tage hin. Das Mädchen zeigte fort und fort den größten Eifer und machte es dem Lehrmeister leicht, stets freundlich und geduldig zu sein. In die üblichen Spaziergänge kam aber eine kleine Unregelmäßigkeit. Desirée behauptete, daß ihr keine Zeit bleibe zu ihren Aufgaben, da Marianne sie zu allerlei Vorbereitungsarbeiten heranziehe, die dem zu erwartenden Gast galten.

So geschah es denn, daß der russische Doctor eines Abends später als gewöhnlich von seinem einsamen Spaziergang heim kam. Man hatte im Wohnzimmer schon die Lampe angezündet, die Thüre nach der Terrasse war geöffnet – wie ein Fremdling fast blieb er auf der Schwelle stehen, ohne daß man ihn bemerkte in dem lebhaften Sprech-Duo Mariannens und einer Männerstimme.

»Ich will ihn herbeisingen mit einem alten russischen Volksliede, das er so gern hörte,« sagte jetzt die Männerstimme. »Wenn er noch so tief in der Arbeit saß, kam er zu mir! Vielleicht übt es auch jetzt noch seine Macht.«

Eine hohe, schlanke Gestalt nahm jetzt vor dem Pianino Platz, und ein weicher, geschulter Bariton sang das Lied vom Dreigespann:

»Seht ihr drei Rosse vor dem Wagen
Und diesen jungen Postillon –
Von weitem schon hört man ihn klagen
Mit seines Glöckleins bangem Ton.«

Marianne saß trotz der verlockenden Töne mit ihrer Häkelarbeit in gewohntem Fleiß am runden Tische, ihr volles, rothwangiges Gesicht zeigte keinerlei Veränderung. Armin's Blick glitt an ihr vorbei – wo war Papillon?

Da kauerte sie auf der Lehne des Sessels in der Fensternische, in sich zusammengesunken. Das Köpfchen auf dem schlanken Halse vorgebeugt, lauschte Desirée halb athemlos. In den weit geöffneten Augen lag ein Gemisch von dem naiven Staunen eines Kindes und der Bewunderung des verständnißvollen Mädchens. Der weiche Melodieenstrom floß ruhig und voll dahin von den Lippen des Sängers – die Strophe Heine's von dem wundersamen Troubadour Bertrand de Born fiel dem Lauscher in der Thüre ein:

»Er sang sie alle in sein Netz …«

Da mußte er denn plötzlich mit Hast über die Schwelle treten, und sein Ruf: »Willkommen, Hilmar!« klang seltsam rauh in die schönen Töne hinein.

Mit einem schrillen Accord brach der Sänger ab und sprang auf.

»Armin, lieber, alter Freund!«

Marianne schaute verwundert auf ihren Vetter und ihre Stirne zog sich unwillig zusammen. Papillon aber flog in die Höhe und stürzte auf ihn zu. In auffallender Erregung hing sie sich an seinen Arm.

»Endlich bist du da, Onkel! Wir dachten schon, du hättest dich im Walde verlaufen!«

Und erglühend zu ihm aufschauend, brach sie in Thränen aus.

»Aber, Papillon, ich kenne dich ja gar nicht! Hast du von Wölfen geträumt?« lächelte er. Aber dieser wunderliche Empfang that ihm seltsam wohl. »Ich glaube, mein Freund hat euch mit seinem Singsang nervös gemacht. Wir wollen ihm das Handwerk legen … Wie konntest du ohne meine Erlaubniß hier den Hausfrieden stören?« wandte er sich jetzt zu dem Freunde, der ihn umarmte. »Komm jetzt mit mir in mein Arbeitszimmer; wir rauchen eine Cigarre und plaudern, bis Marianne zum Nachtessen ruft. Papillon wird hübsch helfen.«

»Wie froh bin ich, hier zu sein!« sagte jetzt Hilmar und legte seinen Arm in den des Freundes. »Wie behaglich ist es in deinem Versteck! Die Damen haben mir in deiner Abwesenheit dein deutsches Heim im schönsten Lichte erscheinen lassen. Aber das unterbrochene Opferfest der Lieder feiern wir später weiter … Auf Wiedersehen, meine Damen!«

Als die Thüre des Arbeitszimmers hinter den Freunden sich geschlossen, fragte Hilmar: »Wo ist denn aber dein kleines Mädchen?«

»Nun, du sahst sie ja! Marianne hat euch doch mit einander bekannt gemacht? Papillon – so nenne ich sie – war etwas aufgeregt durch deinen Gesang. Wir sind eben unmusikalische Leute, meine Cousine und ich. Desirée ist sehr empfänglich für alle künstlerischen Eindrücke … in dieser Beziehung eben mehr Französin als Deutsche.«

»Ein Kind, sagst du? Nun, wenn das eben ein Wesen von unberührter Frische und Grazie bedeutet, dann ist sie allerdings ein Kind. Du erlaubst mir aber doch, deinen Papillon als Dame zu behandeln?«

»Verwöhne sie nur nicht durch Galanterieen, die sie gar nicht begreifen würde. Sie hat in untergeordneter Stellung als Erzieherin gelebt, das arme kleine Ding, und fängt erst jetzt an, sich von dem Druck zu erholen, der auf ihr gelastet. Störe sie in keiner Weise, ich bitte dich! … Und nun genug von ihr, und zu dir. Du siehst nicht besonders kräftig aus, wir müssen dich gesund zu machen versuchen. Vorderhand bleibst du hier, damit ich dich beobachten kann; und dann wollen wir weiter sehen, was für dich am besten ist. Also zunächst Ruhe und Gehorsam!«

Iwan trat ein und meldete mit glückseligem Grinsen in russischer Sprache, daß das Abendessen aufgetragen sei. Welche Wonne für ihn, wieder einmal jemand vor sich zu sehen, den er in seiner Muttersprache anreden durfte!

Marianne hatte ein vorzügliches Abendbrod hergerichtet trotz aller heimlichen Seufzer und düstern Prophezeiungen Desirée gegenüber, daß nichts in der Schnelligkeit herbeizuschaffen möglich gewesen sei und alles verderben würde. Der kleine Tisch war in gewohnter Weise zierlich hergerichtet. Aber auch etwas Außergewöhnliches war darauf zu sehen, – eine Schale voll Blüthen und Ranken aus dem Garten, mit wunderbarem Geschick geordnet.

»Wer hat denn dies unnütze Ding da aufgestellt?« fragte Marianne verwundert, mit leichtem Stirnrunzeln.

»Ich!« antwortete Desiree erröthend in demselben Augenblicke, als die Herren eintraten.

»Welch eine thörichte Neuerung! Nimm die Schale fort, Liebe.«

»Aber sie sieht doch so heiter und hübsch aus!« bat das junge Mädchen.

»Das finde ich auch!« rief Hilmar.

»Der Braten muß auf dieser Stelle stehen, und Desirée weiß, daß ich nichts gelten lasse, was nur schön aussieht.«

»Diesmal gebe ich Marianne recht. Iwan würde die Schale beim Aufwarten auch sicher umwerfen,« sagte Armin mit ungewöhnlicher Bestimmtheit.

Desirée erhob sich und trug die Schale auf den Nebentisch. Ihre Wangen glühten, die langen Wimpern blieben gesenkt. Hilmar trat hinzu, nahm eine Narzisse aus der Blumenfülle und steckte sie an.

Bei Tisch zeigte der junge Russe sich als brillanter Erzähler; seine Schilderungen der eleganten Kreise der russischen Hauptstadt, in denen er sich viel bewegt, und des Musiklebens dort waren ungemein fesselnd. Die aufmerksamste Zuhörerin war Desiree, obgleich sie an der allgemeinen Unterhaltung wenig Antheil nahm.

Später, als der Gast auf Mariannens Bitten noch einige Lieder gesungen und endlich aufstand, um sich zurückzuziehen, sah das junge Mädchen zu ihm auf und fragte: »Ist sie schwer, die russische Sprache?«

»So schwer, daß Ihr Onkel Armin sie nie zu erlernen vermochte – er hatte freilich auch gar wenig Zeit dazu – und daß ich selber daran verzweifle, sie jemals sans faute zu sprechen. Mama redete mit uns stets ihr geliebtes Deutsch, und in der Gesellschaft sprach man Französisch.«

»Ich möchte nur die Lieder verstehen, die Sie sangen!«

»Morgen werde ich sie Ihnen übersetzen, Fräulein Desirée.«

Vom andern Tage an kam sehr bald eine gewisse Regelmäßigkeit in das Leben im Hause des russischen Doctors; der neue Gast fügte sich in den Stundenplan ein, als ob er immer mit den Bewohnern gelebt.

Er streifte mit seiner Zeichenmappe viel allein umher und behauptete, Wald und Umgegend seien für ihn unerschöpflich an neuen, interessanten Motiven. Wenn er aquarellirte, richtete er sich auf der Terrasse ein, und in der Dämmerstunde pflegte er sich an das Clavier zu setzen, um zu singen. Marianne begab sich dann mit der Häkelarbeit – denn sie erlaubte ihren Händen zu keiner Zeit eine Unthätigkeit – zu ihm in's Zimmer. Desirée saß auf der Terrasse in dem dunkelsten Eckchen, und Armin wanderte mit seiner Cigarette zwischen den Lippen langsam dort auf und nieder.

Die Lehrstunden des jungen Mädchens wurden keinen Tag unterbrochen; nur die Spaziergänge mit dem Onkel Armin fielen fort, denn die beiden Herren begaben sich sehr oft auf eine gemeinsame größere Wanderung. Die beiden Frauen lebten im wilden Garten, der jetzt die ersten Rosen trug.

»Sie sagten einmal, der Onkel habe Ihnen erzählt, Herr von Ussikow sei leichtsinnig gewesen, aber auch habe der Onkel gesagt, daß er gelebt wie alle reichen jungen Männer in der großen nordischen Stadt. Was will er eigentlich damit ausdrücken, Fräulein Marianne?« fragte eines Tages Desirée. Sie saßen allein in der Laube und componirten ein so zierliches Morgenhäubchen, wie es kaum je aus den Händen einer Putzmacherin von Profession hervorgegangen. Das junge Mädchen bückte sich in diesem Moment so tief auf ihre Arbeit, daß das ganze Gesichtchen in Rosenroth getaucht erschien.

»Was soll er anders meinen, als daß Hilmar Ussikow sehr wenig gearbeitet hat, von einem Balle und einer Gesellschaft in die andere gegangen ist, viel Geld verbrauchte und unzählige Liebschaften in Scene setzte. Ueber das Leben der Männer muß man gar nicht nachdenken; man findet selten solche Mustermenschen wie meinen Vetter.«

»Aber er sieht melancholisch und leidend aus. Ich begreife nicht, daß er keine Frau fand, die er liebte und die ihn liebte.«

»Daran wird es nicht gefehlt haben, liebes Kind; aber die Liebe dauerte eben nicht, weder auf der einen noch auf der andern Seite. Nur wenn man die erste Liebe eines Männerherzens ist – das kannst du in allen Büchern lesen – wird man nicht vergessen!«

»Und wenn man die letzte ist?« sagte Desirée, und ein schalkhaftes Lächeln blitzte aus ihren Augen zu Marianne hinüber.

»Die letzte? Wann kann man bei den Männern darauf rechnen? Wer darauf hin heirathet, ist sehr leichtsinnig. Ich würde nur meine Hand einem Manne reichen, dessen erste Liebe ich gewesen!«

»Ich denke, wenn wir die erste rechte Liebe eines Herzens sind, müssen wir zufrieden sein. Eine Liebe, die keine Treue zu halten vermöchte, ist eben keine Liebe. Hilmar von Ussikow hat die Liebe gesucht, aber der Aermste fand sie nicht!«

»Das sind die thörichten, romanhaften Ideen eines Kindes, liebe Desirée. Herr von Ussikow ist nicht im geringsten zu beklagen; er fühlt sich ganz glücklich und wird eines Tages eine reiche Frau heirathen – denn je mehr ein Mann hat, desto reicher muß die Frau sein, welche er sucht. Dann wird er sich von ihr pflegen lassen. Denn daß er die Schwindsucht bekommen wird, daran ist kein Zweifel. Ich begreife nicht, daß die Frauen ihn schön fanden; nach meinem Gefühl kann er keinen Vergleich aushalten mit meinem Vetter. Wie kräftig und gesund sieht der aus! Ihm hat in seinem Leben sicher noch kein Zahn weh gethan.«

»Aber der Onkel hat doch schon graue Haare, und der Bart fängt auch an …«

»Weil er so viele Strapazen durchmachte,« unterbrach Marianne sie heftig, »weil er arbeitete! Er hat nur einen Fehler – er hatte nie ein Herz für die Liebe!«

»Dafür hat er das beste, gütigste Herz für alle, die in Noth sind, für Kranke wie für Gesunde. Nein, ich werde nie zugeben, daß der Onkel einen Fehler hat!« rief jetzt Desirée. »Was er der einzelnen nicht gab, kam der Allgemeinheit zu gut.«

»Du brauchst ihn nicht zu vertheidigen. Aber wenn man diese beiden Männer neben einander sieht, kann man, meine ich, keinen Augenblick im Zweifel sein, wem man den Preis zu geben hat … Und nun zeige mir einmal das Häubchen. Die Schleife hier oben mußt du abnehmen, sie sieht zu coquett aus. Aber Geschick hast du in deinen Händen, das muß man dir lassen, Kind! Und nun komm mit, wir wollen dein Werk einmal vor dem Spiegel prüfen!«

In derselben Stunde durchwanderten Armin und Hilmar den Wald und redeten hin und her über die Wahl eines künftigen Wohnorts des letztern. Der Arzt rieth zur Umgebung des Genfer See's.

»Das wäre die Luft, die deine Nerven brauchen, und kommt der Winter, so gehst du über die Alpen an den Lago di Como. Kräftigende Luft, beständiger Aufenthalt im Freien und Ruhe thut dir noth. Dann wirst du bald gesund sein wie ein Fisch im Wasser.«

»Du magst recht haben; aber allein ist's eben überall trostlos. Das ist die Ruhe eines Kirchhofs. Wie glücklich du bist! Welch eine Hausverwalterin ist Marianne!«

»Gefällt sie dir?«

»Ich beneide den Mann, den sie umsorgt.«

»So wirb um sie! Vielleicht wäre sie die Frau, die du brauchst … nach deinem letzten Briefe an mich.«

»Du magst recht haben … Aber hier sind wir an meinem Lieblingsplätzchen, der Waldwiese. Sieh nur diese entzückende Gruppe von alten Buchen. Die Bäume werden schöner und interessanter, je älter sie werden – schade, daß es den Menschen nicht auch so geht! Ich möchte hier noch ein wenig zeichnen.«

»Dann schlendere ich nach Hause. Komm nicht zu spät nach, lieber Junge!«

Wie langsam Armin Elbthal nach Hause ging, wie schwer sein Schritt war! Er fühlte sein Herz so heftig schlagen, als ob er eine Sünde begangen. Es quälte ihn im Grunde, daß er so zu seinem Freunde gesprochen, und doch fluthete ein Glücksgefühl ohne Gleichen über sein Herz bei der Vorstellung, daß, wenn Marianne schied, dann Desirée ihre Stelle in seinem Hause übernehmen werde. Wirre Bilder eines sonnig heitern Stilllebens zog an seinem Geiste vorüber, und immer war es dasselbe liebliche junge Gesicht, das ihn anlächelte, die süße Stimme, welche ihm zuflüsterte: »Ich bleibe immer bei dir!« Wo konnte sie auch besser gehütet und wärmer geborgen sein als bei ihm, das Kleinod Hortense's, als eben hier in diesem grünumrankten Hause unter seinem Schutze?

»Der Himmel selber hat alles so wunderbar gefügt,« rief es in ihm. »Erwarten wir ruhig das Weitere!«

Von diesem Tage an schien der russische Doctor sich mehr und mehr in seine Arbeit zu vertiefen und überließ seinen Gast sich selber und der Gesellschaft Mariannens und ihrer jungen Gefährtin. Er sah mit Vergnügen, daß Hilmar mit den beiden weite Spaziergänge unternahm und stundenlang bei ihnen in der Laube saß oder auf der Terrasse und ihnen vorlas. Bei den gemeinsamen Zusammenkünften richtete der Gast jetzt vorzugsweise das Wort an Marianne; die beiden führten oft ein so lebhaftes Wortgeplänkel, daß Desirée erstaunt von einem zum andern sah, und Armin heiter lächelte. Meist waren es die Eigenschaften der Frauen und Männer in der Ehe, die den Anlaß zu diesen Debatten gaben. Wenn nun Armin währenddem mit Desirée plauderte, mußte diese dann und wann das Köpfchen wenden zu den beiden andern. Papillon erschien zu seiner Verwunderung offenbar zerstreut. Was sie wohl sagen würde, wenn sie Marianne als Braut begrüßen sollte?

Auf den Erdbeer-Beeten lag schon der Schatten, ein leiser Wind wehte. Papillon ging mit einem Körbchen zu ihnen hin, um die zur Bowle nöthige Menge einzusammeln. Sie hatte den Strohhut abgenommen, einen Zug stillen Sinnens lag auf der jungen Stirne. Jetzt aber blieb sie vor einem dichten Jasminstrauch stehen, in der Haltung einer Lauschenden, das Köpfchen vorgestreckt, regungslos. Da nahten Schritte.

»Darf ich helfen, Fräulein Desirée?« fragte Hilmar's Stimme. »Ich sah Sie mit dem Körbchen fortgehen und ahnte Ihre wohlthätige Mission. Es ist ohnehin nicht mehr das rechte Licht zum Zeichnen! Also darf ich?«

Ein brennendes Roth flog plötzlich über ihre Wangen, dann wandte sie sich ihm zu und legte den Finger auf die Lippen.

»Was ist's? Haben Sie irgend ein Ungeheuer entdeckt? Soll ich Roland spielen?«

»Sie sollen ganz still sein,« flüsterte sie jetzt, »und nur leise näher kommen; dann will ich Ihnen ein Häuflein Glücklicher, Beneidenswerther zeigen!«

Er schlich näher. Ueber ihre Schulter hinweg sah er in das grüne, blühende Buschwerk hinein. Da begegnete er zwei hellen, runden Vogelaugen, die halb furchtlos, halb bittend zu ihm aufschauten, es war eine Grasmücke, die eben ihre Jungen fütterte, während das Männchen von einem nahen Aste zusah.

»Und was ist's, das Ihren Neid erweckt?« fragte er kaum hörbar in ihrer Muttersprache.

»Sie haben ein Heim … Vater und Mutter!«

Es war etwas in der Stimme und dem Blick des jungen Mädchens, der jetzt seinen Augen begegnete, das ihn tief ergriff.

»Aber sind Sie jetzt nicht hier geborgen wie in einem Vaterhause?«

»Gewiß … aber es ist doch immerhin nur eine Zuflucht … kein Heim. Still davon! Freuen wir uns des Vogelvölkchens! Sieht das Weibchen Sie nicht an, als wollte es sagen: »Ich weiß, du thust mir nichts.«?«

»Weil ich mit Ihnen komme! Das kleine Ding kennt Sie ja.«

»Nein, das ist's nicht! Es ist, weil der Vogel fühlt – Sie wissen, Kinder und Thiere haben in dieser Beziehung gleiche Empfindungen –, daß Sie ein guter Mensch sind, der nicht kommt, um zu zerstören.«

»Halten Sie mich in der That für gut? … Sie wissen ja noch nichts von mir!«

Sie sah ihn voll an mit ihren strahlenden Augen und sagte einfach: »Sie sind ein Freund Armin Elbthal's.«

»Aber das Zerstören, fürchte ich, liegt einmal in der Natur des Mannes. Ohne irgend welche Zerstörung in gewissem Sinne kann ich mir die Erreichung keines Zieles unseres Ehrgeizes und unserer Wünsche denken.«

»Dann ist es nur eine Zerstörung, um Anderes, Neues aufzubauen, nicht um zu vernichten, zu zertreten, wie man etwa das Nestchen solch' glücklicher Vogelmütter zertritt.«

»Wie manches Nestchen zerstört die Männerhand, wie manches Heim voll ungetrübten Friedens! Fragen Sie die Mütter, sie werden es klagend bestätigen. Ein Fremder tritt in einen eng geschlossenen Familienkreis; das Herz der Tochter, des wohlgehüteten, theuern Kleinods, neigt sich ihm zu, – die Liebe reißt sie von Vater und Mutter los, das stille Familienglück hat ein Ende. Das geliebte Kind folgt nach dem heiligen Wort der Schrift dem Fremden: ›Du sollst Vater und Mutter verlassen, um dem Manne anzuhangen.‹«

Es war ein Schauer, der die Mädchengestalt erzittern ließ wie ein junges Bäumchen, durch dessen zarte Zweige ein plötzlicher Windstoß fährt. Dann sagte Desirée ruhig: »Das muß so sein, denn das ist eben die Liebe, wie ich sie mir denke.«

»Mädchenträume! Was weiß Papillon von Liebe?«

Der Ton dieser scherzenden Worte war tief ernst, die dunkeln Männeraugen blickten fragend in das reizende Gesicht vor ihm.

»Ich habe in einem seltsamen Buche, das in Mama's Arbeitskörbchen lag, Aussprüche verschiedener Art über die Liebe gelesen, die mir viel zu denken gaben. Eine Frau schrieb sie nieder: es war eine Fürstin, die Prinzessin Constanze Salm in Paris, deren Vater am Hofe des armen sechszehnten Ludwig und seiner schönen Antoinette lebte. Sie nennt die Liebe das Fieber der Seele, die Leidenschaft aber ihr Delirium. Aber sie behauptet zugleich, daß die Empfindungen einer Frau über dies wichtigste Capitel ihres Daseins einzig und allein von einer Frau verstanden würden, denn: › Une femme vraiment délicate et sensible, eprouve une foule de sensations qui sont inconnues à la plupart des hommes.‹«

»Ich kenne dies Buch; es fiel mir zufällig einmal in die Hand, und ich habe es durchblättert. Es ist schön und edel, aber es sind französische Gedanken über die Liebe.«

»Aber ist Liebe nicht Liebe überall … und ganz dieselbe?« fragte Desirée, sich von dem Nestchen langsam wegwendend und leichten Schrittes weitergehend.

Er blieb an ihrer Seite, auf das gesenkte Köpfchen niederblickend mit glühender Stirne und heftig pochendem Herzen.

»Wenn Sie das Buch lasen, so kennen Sie auch das alte Lieblingslied der Prinzessin, das sie von ihrer Mutter singen hörte – jenes schlichte Lied, das eine so unendliche Sehnsucht ausspricht in so wenigen Worten?«

»Ja! Und ich kenne auch die einfache Melodie; Mama sang sie auch.« Und leise wie ein Vogel im Traum sang Desirée:

» Comme le jour me dure,
Passé loin de toi …
«

»Ob sie es je so empfinden wird, wie der Poet es in seinem verlangenden Herzen sang?« dachte er, verloren in den Anblick der jungen Gestalt. Es war etwas so unberührt Jungfräuliches, fast Kindliches in der ganzen Erscheinung und in dem Ausdruck ihres Gesichtes, daß es ihm unmöglich schien, die Wogen des stürmischen Meeres der Leidenschaft könnten ihre Füße netzen. Und doch – welche Seligkeit, dies Herz zur Liebe zu erwecken!

Sie waren an den Erdbeer-Beeten angelangt. Ueberall glühte es roth zwischen den grünen Blättern. Desirée stieß einen Freudenruf aus, sie war jetzt wieder Papillon.

»Welche Fülle reifte über Nacht … das ist ein leichtes Pflücken! Aber nun helfen Sie auch!« gebot sie lächelnd und reichte ihm den Korb hin. »Ich fürchte freilich, Sie werden sich nicht besonders geschickt benehmen. Wissen Sie auch die reifen von den unreifen zu unterscheiden?«

Er lachte und nahm den Korb. Sie kniete zwischen den Beeren nieder und pflückte hastig. Eine kleine Weile versuchte er zu helfen, dann stellte er seufzend den Korb auf den Boden neben ihr und sprang über die Beete hinweg zu der Bank unter einer alten Linde.

»Verzeihung, ich bin zu ungeschickt. Ich will Ihnen lieber von hier aus etwas vorlesen … ich habe Lamartine in der Tasche.«

»Das wäre schön, aber ich fürchte, ich werde dann nicht viel pflücken!«

»Hilmar, wo bleibst du, hast du unsere Verabredung vergessen?« rief jetzt die Stimme des russischen Doctors von der Terrasse herüber, und gleich darauf wurde sein fester Schritt auf dem Wege laut. Die hohe, kräftige Gestalt bog um die Ecke. »Ich warte auf dich!« setzte er unmuthig, mit einem unruhigen Blick auf Desirée, hinzu.

Der Angeredete sprang auf.

»Verzeihung!« antwortete er mit einer gewissen Verwirrung, das Buch in die Tasche schiebend. »Ich war eben im Begriff, durch etwas Lamartine die mühsame Arbeit des Erdbeerpflückens zu erleichtern. Im Geplauder habe ich die Zeit total vergessen. Andiamo! Fräulein Desirée, ein andermal! Ich darf doch?«

Sie nickte mit einem flüchtigen Lächeln, grüßte dann Armin mit der Hand, und die beiden Herren brachen auf.

Die Augen des jungen Mädchens folgten ihnen auf dem langen, geraden Wege, der zum Walde führte; aber es war nicht die hohe Gestalt ihres Beschützers, an der ihr sinnender Blick haftete.


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