Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1

Das kleine Haus des Arztes, den sie in seinem Heimathstädtchen seit seiner Rückkehr aus Kasan, wo er lange Jahre als Privatdocent gelebt, nur den russischen Doctor nannten, war so dicht von Epheu und wildem Wein zugerankt, daß man kaum den Klingelzug an der Thüre hätte finden können, wenn er nicht so blank geputzt gewesen wäre, daß er wie ein goldener Faden niederhing. Ein großer, alter Garten, der freilich etwas vernachlässigt war und in dem die Blumen und Sträucher nach Belieben wachsen durften, wie es ihnen eben gefiel, schloß sich an den kleinen, saubern Hof. Unmittelbar an dessen Mauer stieß der Buchenwald, der sich ganz allmälig bergauf zog und auf der ersten Hügelspitze ein zerfallenes Tempelchen trug mit einigen Bänken und einem schwermüthig zur Seite sich neigenden Steintisch. Irgend ein Naturfreund hatte ihn wohl vor vielen Jahren hier aufbauen lassen; nach seinem Tode war das Ruheplätzchen dann nach und nach zerfallen. Im Städtchen hatte man kein Geld, es im Stand zu halten.

Doctor Armin Elbthal hatte sich in der fernen russischen Stadt eine große Praxis zu erwerben gewußt. Man dichtete ihm in seiner Heimath förmliche Wunderdinge von Curen an und behauptete, er sei ein wahres Phänomen an Geschicklichkeit, eine Meinung, die der alte russische Diener Iwan, den der Doctor mitgebracht, in seinem kaum verständlichen gebrochenen Deutsch zu verstärken sich bemühte. Wo Worte nicht ausreichten, mußte die ausdrucksvolle Pantomime nachhelfen. Nach Iwan's Versicherung hatte sein Herr unzählige Nasen und Ohren abgeschnitten, der Arme und Beine gar nicht zu gedenken, und niemand hätte Schmerz empfunden unter seinem Messer.

Die wunderlichsten Dinge in großen Glaskruken voll Spiritus bildeten eine Verzierung seines Arbeitszimmers, die Iwan jeden Morgen beim Abstäuben voll heimlicher heißer Sehnsucht betrachtete. Was hätte er darum gegeben, das köstliche Naß von ihnen allen abtrinken zu dürfen! Nun, es mochte vielleicht auch hin und wieder geschehen; denn der Doctor wunderte sich oft, daß in manchen Gläsern der Spiritus so häufig nachgefüllt werden mußte. Auch der Vorrath des türkischen Tabaks schmolz nicht selten in erschreckender Weise zusammen, und da weder die Köchin noch das Stubenmädchen der Leidenschaft des Rauchens fröhnten und Fräulein Marianne, die alternde Cousine des Hausherrn, sogar die Pfeifen und Cigarren mit ihrem Hasse verfolgte, so mußte nothwendigerweise Iwan der Liebhaber sein. Er leugnete freilich, trotz seiner von allen bemerkten häufigen einseitigen Backengeschwulst, und sein milder Herr hielt ihm die gewohnte Strafpredigt. Es war ein seltsamer Actus. Doctor Armin hatte nämlich in der Fremde nie die russische Sprache zu erlernen vermocht; er las und verstand sie, aber er sprach sie nicht. So würden ihm auch die Scheltworte für Iwan gefehlt haben, wenn er sich nicht aus seinem russischen Wörterbuch eine Liste ausgezogen hätte von allen erdenklichen strafenden Ausdrücken und Bezeichnungen, die mit dem Wort »Rebell« begannen und mit »Hund« endeten. Diese Liste las er, in seinen Sessel zurückgelehnt, feierlich vor dem Delinquenten ab, der, an der Thüre stehend, mit der Miene tiefster Zerknirschung alles anhörte, dann seinem Herrn den Rocksaum küßte und hinausschlich.

Fräulein Marianne hatte schon oft auf die Entfernung des »Wilden«, wie sie den russischen Diener ihres Vetters zu nennen pflegte, angetragen, aber Armin konnte sich nicht von ihm trennen. Iwan war für ihn ein lebendiges Stück Erinnerung an eine seltsame, arbeitsvolle Zeit seines Ringens und Kämpfens auf fremdem Boden. Vielleicht würde er noch jahrelang in Kasan geblieben sein; aber die Erbschaft eines kleinen Vermögens durch den Tod eines entfernten Verwandten, den er kaum gekannt, ließ plötzlich wie eine verzehrende Flamme das Heimweh nach Deutschland und nach dem weltverlorenen Städtchen emporlodern, wo seine Wiege gestanden und das fern von dem athemlosen Getriebe der Eisenbahnen weiter träumte, wie es vor hundert und aber hundert Jahren geträumt.

So rief er als seinen Minister des Innern denn seine vereinsamte Cousine zu sich, die man ihm als ein Muster von Hausfrau bezeichnete, und kaufte sich jenes kleine Haus, das er in der Fremde im Wachen und im Traum vor sich gesehen – jahrelang.

Fräulein Marianne seufzte zwar im Stillen, daß er sich in sein kleines Heimathstädtchen zurückzog und nicht eine Weltstadt zu seinem Aufenthaltsorte erwählte, wo man neue Gesichter zu sehen bekommen hätte und das Theater besucht haben würde. Aber wiederum erschien ihr der Gedanke, Alleinherrscherin in einem wohlhabenden kleinen Haushalt spielen zu dürfen, so schön und verlockend, daß sie ihrem Vetter überall hin gefolgt sein würde. Sie hatte ihn immer gern gehabt und empfand einen gewissen Respect vor ihm; nur tadelte sie an ihm leise und laut seine offenbare Abneigung gegen die Ehe. Ein unverheiratheter Arzt war nach ihrer Ansicht mindestens eine Unklugheit. Aber Armin suchte lachend ihre derartigen Vorwürfe zu bekämpfen und behauptete, im Gegentheil sei der unverheirathete Arzt viel befähigter, ganz und gar ohne jeden Nebengedanken seinem Berufe sich hinzugeben, als der verheirathete.

»Nur derjenige, den keine Sorge um Weib und Kind zurückhält, kein Gedanke an die Familie, opfert sich freudig, wenn es darauf ankommt,« sagte er; »und daß ich trotz deiner Zweifel ein Herz habe, können dir meine Patienten bekunden. Ich hatte keine Zeit zur Liebe für das Individuum bis jetzt, liebe Marianne, und jetzt ist's eben zu spät. Wozu auch heirathen, wenn Hände wie die deinigen das Haus in Ordnung halten, und Iwan für mich sorgt? Mich verlangt nicht nach eigenen Schmerzen und Qualen, die ja, wie die Dichter behaupten, von der Liebe unzertrennlich sind; ich sah und sehe genug der Leiden und Pein um mich her.«

In der Fremde hatte er sich stets mit wahrhaft brennendem Eifer seinem Berufe hingegeben und sich bald den Beinamen »Väterchen« erworben. Besonders war es die Kinderpraxis, welche ihn gefangen nahm, und es gab wohl in der ganzen düstern russischen Universitätsstadt keinen Jungen und kein Mädchen der ärmern Bevölkerung, das ihn nicht kannte, ihm nachlief, wenn er vorüberging, und sein schmutziges Näschen an seinem Rockzipfel abrieb.

Aber auch manch schönes Frauenaugen-Paar folgte der hohen, kräftigen Gestalt mit dem ernsten, von einem gewaltigen, röthlichblonden Vollbart umschatteten Gesicht; manch üppiger Mund lächelte ihm zu und manche verführerische Lehrmeisterin erbot sich, dem Herrn Doctor das für ihn so unendlich schwierige fremde Idiom beizubringen – er ging achtlos an allen Lockungen vorüber. Er hatte in der That keine Zeit.

Und dann – war eine Erinnerung da. Wie ein verblaßtes Pastellbildchen stieg sie vor ihm auf zwischen all den grellen Bildern des Elends und der Martern, die ihn umgaben. Plötzlich – bei Tag oder auch im Traum – erschien ein Mädchenköpfchen, so ganz anders als jene dunkeläugigen Schönen in der Fremde, ein Kind fast, ein wenig blaß, vornehm, mit einem eigensinnigen Näschen, blauen, strahlenden Augen, lichtbraunem Haar, zarter, kindlicher Gestalt, mit den zierlichsten Händen und Füßen, und grüßte und nickte schalkhaft lächelnd herüber.

Das war das Jugend-Ideal des etwas ernsthaften fleißigen Gymnasiasten Armin Elbthal, das einzige Kind eines französischen Emigranten, der in eben jenem grünumrankten Häuschen damals menschenscheu und stolz abgeschlossen lebte und sein Töchterchen von einer alten französischen Gouvernante erziehen ließ. Die Gartenmauer hatte damals, wie noch heute, nach dem Walde zu ein eisernes, kunstvoll gearbeitetes Gitterthor, und wenn Armin, wie er in der guten Jahreszeit zu thun pflegte, mit seinen griechischen und lateinischen Wörterbüchern und Arbeitsheften in den Wald schlenderte, weil daheim, wo die Eltern wohnten – der Vater war Lehrer –, keine Spur eines Gartens sich zeigte, und er behauptete, im Freien viel besser lernen zu können, so sah er die Mädchengestalt, immer in Weiß, mit bunten Schleifen und reichgestickten Säumen, auf dem breiten Kiesweg auf und ab hüpfen. Sie trug helle, weite Lederhandschuhe, und das war's, was ihn zuerst fesselte – wie konnte man im Garten seine Hände verstecken! Zuweilen stand sie auch dicht am Gitterthor, das Köpfchen an die kalten Eisenstäbe gedrückt. Der große Hut hing dann an dem blauen Band im Nacken, die Augen blickten voll Sehnsucht in das tiefe Waldesgrün, streiften wohl auch den Gymnasiasten, der zögernd vorüberschritt, bisweilen auch ein Buch fallen ließ, um noch langsamer vorwärts zu kommen.

Das blonde Kind war so ganz anders wie alle die Mädchen im Städtchen, die Schwestern seiner Kameraden, die Nachbarskinder, sogar anders wie die Töchter des Bürgermeisters, die man Muster von guter Erziehung und zierlichem Aussehen nannte. Wie plump erschienen sie nach der Meinung Armin's neben dieser Fremden. Sie hatte etwas von einer Libelle oder von der Art jener zarten, grün und goldig schillernden, geflügelten Geschöpfe, die nur einen einzigen Sommertag durch die Luft schwirren dürfen und dann sterben.

Auch auf der Promenade – wie jene alte, düstere Allee von Lindenbäumen genannt wurde, die sich rings um die Stadt zog – erschien das fremde Mädchen zuweilen, aber nie ohne die Begleitung der streng blickenden, seltsam aufgeputzten, verwitterten Französin. Zuweilen hing die Kleine auch am Arm ihres Vaters und dann plauderten beide angelegentlich und offenbar heiter mit einander. Im allgemeinen reiste aber der Marquis sehr viel hin und her. Wohin, wußte niemand.

An einem Frühlingstage – die ersten Maiblumen blühten im Walde, und die Vögel zwitscherten ohne Ende – geschah es, als Armin wieder am Gitterthore in gewohnter Weise vorüber streifte, daß ein großer Lederball hoch über die Pforte und ihm gegen das rechte Auge flog. Der jähe Schmerz entlockte ihm einen leichten Schrei, die Bücher fielen zur Erde; wie geblendet, griff er nach dem ersten besten Baum. Da wurde hastig der Schlüssel umgedreht im Eisenschloß, da kreischte das Thor in seinen Angeln, da stand etwas Weißes, hastig Athmendes dicht neben ihm, weiche, kleine Hände versuchten mit sanfter Gewalt seine Hand vom Auge wegzuziehen und eine süße Stimme sagte schmeichelnde Worte zu ihm in einer ihm wenig geläufigen Sprache: sie redete französisch in ihn hinein.

Er biß nun die Zähne zusammen – vor einem Mädchen sich merken zu lassen, daß er Schmerz empfand! Und doch blieb er hülflos, denn er konnte das Auge noch nicht öffnen. Eine Zorneswelle stieg in ihm auf; er stieß jene kleinen Hände – diesmal hatten sie die Handschuhe abgestreift – zurück und wandte sich ab. Aber sie ließen sich nicht abschütteln, sie kamen immer wieder und die Stimme dazu, die immer bittender klang. Allmälig verstand er denn auch, in Erinnerung an die ihm allezeit verhaßte französische Stunde, aus der er stets das Prädicat »ungenügend« heimgebracht, daß man ihn in der eindringlichsten Weise um Verzeihung bat und ihn zu dem Springbrunnen führen wollte, der unweit des Gitterthores im Garten melancholisch plätscherte. Und Armin ließ sich führen – die Füße widerstrebten noch, während Kopf und Herz schon mit gingen. Dann fühlte er ein duftendes feuchtes Tüchlein auf seinem brennenden Auge, der Schmerz ließ nach. Das gesunde Auge öffnete sich langsam und blickte in das lieblichste Gesicht, das, erröthend, mit einem Gemisch von Schelmerei und Aengstlichkeit, sich vorbeugte, um ihn anzusehen. Da schwang er sich denn empor zu einem heroischen: » Merci bien, Mademoiselle!«. Schulkameraden waren ja nicht in der Nähe, sonst hätte er die Worte nicht über die Lippen gebracht.

Da endlich – eine scharfe Frauenstimme aus der Tiefe des Gartens rief den Namen »Hortense« – rissen die kleinen Hände ein Gewebe von Spitzen vom Halse, legten es über das feuchte Tuch und knoteten es über seinem Haar – es war ein sehr weiches dunkelblondes Haar – zusammen. Dann schlüpften sie hurtig wieder in die abgestreiften Handschuhe, die irgendwo am Boden lagen, und endlich schoben sie den Patienten aus dem Gitterthor. Bittendes Geflüster schlug an sein Ohr, aus welchem er nur die Worte: » à demain … au revoir!« verstand.

Armin suchte zwar den gewohnten Platz im Walde auf und lag lange im Grase, aber diesmal lernte er kein Wort. Es summte ihm seltsam in den Ohren: » à demain … au revoir!«

Als er an jenem Tage nach Hause kam, suchte er sofort aus seinem Bücherkasten die tief versteckte französische Grammatik hervor und eine Sammlung von französisch-deutschen Gesprächen. Er wollte morgen der Ballwerferin die Tücher zurückbringen mit kurzem Dank, und ihr versichern, daß das Auge nicht mehr schmerze. Aber er fühlte, daß es ihm leichter werden würde, einen lateinischen Aufsatz niederzuschreiben, als diese paar Phrasen zusammen zu bringen. Natürlich riß Armin sich die Hüllen ab, ehe er der Mutter unter die Augen trat, und erschien erst im Dämmerlicht möglichst unbefangen im Wohnzimmer. Trotzdem fragte sie erschreckt nach der Ursache seines rothen, geschwollenen Auges.

Es war merkwürdig! Sie sah eben alles. Ein Baumast mußte die Ungeschicklichkeit der kleinen Französin auf sich nehmen. Die beiden feinen Tücher schloß er in seine Commode. Erst am späten Abend nahm er sie heraus und breitete sie vor sich hin. In dem Winkel des Taschentuchs entdeckte er den Buchstaben H mit einer Krone darüber. Er fand es lächerlich, in ein Taschentuch solch ein Enblem aufzunehmen. Und gar das andere Ding, dies Spitzengewebe, das einen ganz leisen Veilchenduft ausströmte, sollte es etwa vor Wind und Wetter schützen?! Welch unnützen Kram doch solch verwöhntes Mädchenvolk brauchte und mit sich herumschleppte! Und gar so eine Pariserin! Da waren doch die alten deutschen Frauen ganz anders. Was sollte nur ein rechter Mann mit einem Püppchen anfangen, das solche Taschentücher führte, solches Spinngewebe um den Hals schlang und im Garten Handschuhe trug? Was wohl die Mutter sagen würde über die immer so frischen weißen Kleider der jungen Französin, sie, die nur Sonntags sich den Luxus weißer Manchetten gönnte und den Verbrauch von Kragen und Vorhemdchen von Mann und Sohn streng überwachte? Daß er überhaupt »die Französischen« kannte, wie man den Marquis mit seinen Damen im Städtchen nannte, hätte sie erschreckt; denn sie haßte Land und Leute noch immer brennend, sowohl wegen 1793, wie sie bei jeder Gelegenheit aussprach, als noch mehr wegen 1812.

»Ich habe die ganze Misère mit erlebt von Anno zwölf,« erzählte sie immer und immer wieder, »und ich vergebe ihnen nicht, so lange ich lebe, daß sie zu uns einbrachen.«

Der junge Primaner aber träumte in dieser Nacht von lauter Riesenbällen, die in der Luft herumflogen, und alle trafen ihn, und Tücher über Tücher schlangen sich um seinen Kopf, und dann legten sich zwei kleine weiche Hände auf sein Herz, und eine süße Stimme fragte: » Est-ce que cela vous fait très-mal?!«

Am andern Tage gab es sehr viel zu repetiren im Gymnasium, und da wollte seltsamerweise das Gedächtniß Armin's nicht in gewohnter Weise gehorchen. Der Tag schien heute ein paar Stunden mehr zu haben als sonst. Trotzdem fand er sich doch endlich um die bestimmte Stunde auf dem bekannten Wege und wanderte etwas unruhig klopfenden Herzens an dem Gitterthor vorüber. Unter dem tief niedergezogenen Mützenschirm hervor sah er verstohlen in den Garten. Da schimmerte es weiß zu ihm herüber, Hortense's Händchen, vom Handschuh befreit, streckte sich durch die Eisenstäbe ihm entgegen.

» Oh Monsieur, enfin! Comment ça va-t-il donc?«

Da mußte er denn, als junger Mann von Lebensart, nothwendig herantreten, die Mütze ziehen und das inzwischen von allen Farben umgebene Auge zeigen; dabei versicherte er, was er sich hundert Mal im Stillen recapitulirt: » Je me porte assez bien, Mademoiselle!« Dann wickelte er das Tüchelchen aus dem Papier und übergab es mit einem kühnen: » Merci bien!« der Eigenthümerin. Wo war das andere geblieben? Hortense fragte nicht danach; aber sie plauderte und lächelte so heiter, schloß dann das Thor auf und trat zu ihm heraus, Armin hörte nur zu; das Bächlein ihrer Rede floß munter plätschernd dahin, und wie Sonnenschein standen die Augen darüber, und der frische Mund leuchtete wie eine junge Rose.

» Ah que j'aime la forêt!« sagte sie, tief aufathmend. Und die Bäume rauschten leise über den beiden jungen Häuptern, und Armin und Hortense gingen längs der Mauer auf dem Wege langsam auf und nieder.

Im Grase standen die ersten Veilchen und unzählige Maßliebchen. Armin hätte sie gern gepflückt, aber er konnte sich nur auf den lateinischen Namen Viola odorata besinnen, um die Welt auf keinen andern, und so bückte er sich denn nicht. Allmälig entschloß er sich jedoch, seiner reizenden Gefährtin, so gut es eben ging, mitzutheilen, daß er sehr wenig Französisch spreche; aber er that es mit jähem Farbenwechsel und leiser Stimme, weil er von der seltsamen Wahnvorstellung befangen war, daß irgend ein Mitschüler lausche.

Die Kleine unterbrach ihn sehr bald mit hellem Lachen und dem Ausruf: »Ich nix kann Deutsch!« Dann fragte sie ihn plötzlich, ob er ihr deutsche Stunden geben wolle; sie werde ihn dann Französisch dafür lehren. Sie versicherte eifrig, den Papa fragen zu wollen, der es gewiß erlauben würde. Auch erkundigte sie sich nach seinem Namen und seiner Wohnung und ob er noch eine Mutter und Geschwister habe. Als er ihr nun geantwortet, sagte sie mit einem Schatten von Wehmuth in dem lieblichen Gesicht: » Je n'ai plus de mère, ni frères, ni soeurs!«

Dann bat sie ihren jungen Gefährten, sich vor Mademoiselle Fifine, ihrer Gouvernante, nicht zu fürchten; sie sei nicht so böse, als sie aussehe. Er lächelte etwas überlegen, worauf sie zu versichern sich beeilte, daß er und Fifine sicher gute Freunde werden würden.

»Ist sie es, die Ihnen befiehlt, immer Handschuhe zu tragen?« radebrechte er.

Sie lachte und nickte.

»Ich ziehe sie gar zu gern aus. Hier sind sie, verwahren Sie sie mir für ein Weilchen,« bat sie.

Er schob sie in seine Rocktasche.

»Und doch möchte ich keine braunen oder rothen Hände haben wie so viele deutsche Mädchen, die ich sah,« fuhr Hortense fort. »Das ist so häßlich, noch häßlicher wie die Handschuhe!«

So wanderten sie hin und her oder standen neben einander am Gitterthor, bis jener bekannte Ruf sie rasch trennte.

Auch heute ließ sich's im Walde nicht besonders lernen, obgleich das Auge wieder gesund war.

Wie Hortense es angefangen, den Marquis zu bewegen, in einem zierlichen Billet ihn zu ersuchen, seine Tochter im Deutschen zu unterrichten, wußte Armin nicht: er sah sich nur eines Tages als deutscher Lehrmeister einer reizenden jungen Schülerin gegenüber. Der Marquis hatte sogar seinen Eltern einen Besuch gemacht, und der Vater war entzückt von seinem feinen Wesen und der Aussicht auf einen Verdienst seines Sohnes. Die Mutter aber schüttelte bedenklich den Kopf und sprach mehr denn je von 1812.

Die Lehrstunden in dem grünumrankten Hause wurden aber nicht in üblicher steifer Weise abgehalten in dieser goldenen Frühlingszeit. Man wanderte vielmehr aus dem Zimmer in den Garten, machte sich's in der Laube bequem oder am Springbrunnen. Zuweilen, wenn Mademoiselle Fifine guter Laune war, lagerte man sich sogar im Walde auf dem Rasen oder man stieg hinauf zu dem kleinen Tempel auf der Hügelspitze. Armin fürchtete sich freilich nicht vor der verbitterten alten Französin, die jeden Tag verwünschte, den sie, fern von la belle France, in dem langweiligen Deutschland verleben mußte. Sie betrachtete den jungen Deutschen durch ihre große Lorgnette nicht eben sehr freundlich und würdigte ihn möglichst selten ihrer Unterhaltung. Dafür überließ sie die beiden »Kinder« ihrem Schicksal und begnügte sich, in einiger Entfernung von ihnen irgend einen Roman zu lesen.

Wer am meisten lernte von der ihnen fremden Sprache, Armin oder Hortense, untersuchte niemand; aber jene festgesetzte Stunde erschien beiden regelmäßig viel zu kurz, um etwas Nennenswerthes zu begreifen. Armin blieb deshalb länger und immer länger, bis Mademoiselle, müde des Lesens, das Zeichen gab, aufzuhören, und der jugendliche Lehrmeister sich verabschiedete.

Sie gehörten in den lachenden Frühling und in die Rosenzeit, jene beiden jungen Gestalten, und Hortense's helles Lachen in all' das lustige Vogelgezwitscher, das rings umher ertönte. Wie drollig waren aber auch jene deutschen Worte, die sie aussprechen sollte, und wie ungelenk war die Zunge des » cher maître« für die französischen Laute. Armin aber lernte allmälig mitlachen. Zuweilen sprang das lebhafte Mädchen auf, schüttelte die Fülle des lockigen braungoldigen Haares aus der Stirne und lief fort, und er mußte dann natürlich die widerspänstige Schülerin zurückholen. Zuerst, so lange er noch im Bann der Augen des Fräuleins war, that er es mit der langsamen Würde eines Lehrmeisters, dann aber mit dem vollen Uebermuth der Jugend. Sie verfolgten und haschten sich bis zur Athemlosigkeit, wie tolle Kinder. Schnell wurde ein wenig Federball dazwischen gespielt, bis Fifine's Gestalt irgendwo auftauchte mit dem langgezogenen: » Eh bien?« Dann saß man wieder einander gegenüber, und Hortense wiederholte, während die Grübchen in ihren Wangen von verhaltenem Lachen sich vertieften: »Ich abe, du ast, er at« und so weiter.

Merkwürdig still hörte sie aber zu, wenn ihr Lehrmeister irgend ein deutsches Gedicht vorlas.

»Das ist Musik!« sagte sie oft. »Ich fühle, was es sagen will, wenn ich's auch nicht verstehe.«

Und da wurde unter den Eichendorff'schen wunderbaren Versen – Armin las wieder und immer wieder seinen über alles geliebten Eichendorff – ganz besonders jenes so zauberhaft gemalte Bild ihr Liebling:

»Ich hör' ein Bächlein rauschen
Im Walde her und hin;
Im Walde bei dem Rauschen,
Ich weiß nicht, wo ich bin.

»Die Nachtigallen schlagen
Hier in der Einsamkeit,
Als wollten sie was sagen
Von der alten, schönen Zeit.

»Die Mondesschimmer fliegen,
Als säh' ich unter mir
Das Schloß im Thale liegen,
Und ist doch so weit Von hier.

»Als sollte in dem Garten
Voll Rosen weiß und roth,
Meine Liebste auf mich warten,
Und ist doch so lange todt!«

Sie bat ihn, ihr das Gedicht mit französischen Buchstaben aufzuschreiben, und dann lernte sie es mit allem Eifer auswendig.

Einmal – der Sommer ging schon mit leisen Schritten durch's Land – als Armin auf die Bitten seiner Schülerin wieder jene träumerischen Verse gesprochen, stand sie schweigend auf und ging zu den Rosen, die in üppiger Fülle zwischen weißen Lilien blühten. Mit einer gewissen Hast pflückte sie einen Strauß von den rothen und weißen Blüthen und legte ihn auf den Tisch vor ihn hin. Er trug ihn in der Hand, als er heim ging; die Duftwellen wallten fast betäubend zu ihm auf. Welch ein liebliches, gutherziges Ding sie doch war, die Kleine! Die Mutter selbst, trotz ihrer Erinnerungen an das Jahr 1812, würde sie lieb haben müssen!

Am andern Mittag, als Armin aus dem Gymnasium kam, fand er zu seiner Ueberraschung einen Brief des Marquis auf seinem Arbeitstisch. Er enthielt das Honorar für die Stunden und einige verbindliche Worte, schloß aber mit der Bitte, den Unterricht bis auf weiteres aussetzen zu wollen, da Besuch eingetroffen sei.

Im Grunde war Armin mit der gebotenen Pause zufrieden. Das Abiturienten-Examen stand in Aussicht, dringende Arbeiten lagen vor und die ließen sich nun viel rascher erledigen. Eine Zerstreuung waren doch immerhin jene Stunden im grünumrankten Hause; der Ordinarius hatte schon mehrere mißliebige Bemerkungen über verminderte Aufmerksamkeit fallen lassen. So wollte er denn einstweilen auch gar keinen Versuch machen, Hortense wiederzusehen, und einen andern Weg zum Walde nehmen, der nicht an dem Gitterthor vorbeiführte.

Wenn nur die Rosen und Lilien im Wasserglase nicht so betäubend geduftet hätten, als er diesen Entschluß faßte! Er hatte sie schon in der Hand, um sie aus dem Fenster zu werfen. Aber was konnten die armen Blumen dafür, daß er immer an den wilden Garten denken mußte, wo sie gewachsen! Und erhielt es aus bis gegen Abend. Dann wanderte er wieder den alten, geliebten Pfad längs der Mauer hin dem Walde zu, am Gitterthor vorbei. Er wollte es nur seiner Schülerin sagen, daß er in nächster Zeit nicht mehr hier vorübergehen werde; so ohne weiteres ganz und gar unsichtbar zu werden, würde doch gar zu unhöflich gewesen sein. Aber kein weißes Kleid schimmerte ihm entgegen, alles war still und leer; nur die Fenster des Gartenzimmers nach der kleinen Terrasse zu waren erleuchtet. Er meinte Gestalten sich hin und her bewegen zu sehen, auch Fifine's scharfe Stimme glaubte er zu hören. Immer wartete er noch auf Hortense's Silberlachen. Sie lachte ja, wenn er bei ihr war, so oft und gern. Aber jetzt wurde es nicht laut, und da ging er langsam wieder nach Hause.

Am folgenden Abend, eben als Armin sich wieder zur Waldwanderung rüsten wollte, kam eine Botschaft für ihn. Ein fremder Knabe brachte einen kleinen Brief, der nach Veilchen duftete.

»Vom französischen Fräulein,« sagte er. »Antwort brauche ich nicht!«

Mit einem seltsamen Angstgefühl riß Armin den Zettel auf. Ungeschickte deutsche Buchstaben starrten ihm entgegen. Er las:

 

»Lieber Lehrmeister!

Die Tante Marquise Duvois ist gekommen und nimmt mich mit nach Paris. Es ist die Mutter des Vetters Réné, den ich später, wie Papa sagt und Fifine, heirathen soll. Ich weiß nicht, wann wir hierher zurückkommen, und werde sehr weinen bei der Abreise. Sobald wir hier sind, lerne ich weiter. Es war so schön und lustig. Ich werde Sie nicht vergessen, jamais! Au revoir. Bitte zu denken an die betrübte

Hortense.«

 

Wochenlang konnte er sich nicht entschließen, an jenem Hause vorüberzugehen, bis eines Tags seine Mutter sagte: »Der Franzose ist nun auch fort aus dem Hause. Der alte Küster der Marienkirche hat es übernommen, den Garten in Ordnung zu halten, bis sie wiederkommen. Glaube mir, es ist gut so, mein lieber Junge!«

Da ging er denn im Vollmondschein ganz langsam und scheu, als ob er etwas Unrechtes zu thun im Begriff stehe, noch einmal an das Gitterthor und schaute hinein.

Das Idyll war ausgespielt. Todtenstille überall. Wie kalt erschien ihm das Silberlicht, das auf allen Wegen lag; todestraurig klang das Plätschern des kleinen Springbrunnens: ein kühler Wind ließ die Bäume aufrauschen; leise Duftwellen von dem Rosenbeet erreichten ihn. Wie im Traum mußte er jetzt den Schluß des Eichendorff'schen Gedichtes vor sich hinmurmeln, das der Entfernten so lieb geworden war:

»Als sollte in dem Garten
Voll Rosen weiß und roth,
Meine Liebste auf mich warten,
Und ist doch so lange todt!«

»Adieu, kleine, liebe Hortense … ich sehe dich nie wieder!«

Es war in der That eine Trennung für immer; die lichte Gestalt seiner jungen Schülerin tauchte nicht wieder auf vor den leiblichen Augen Armin's, und keinerlei Kunde von ihr drang jemals zu ihm. Wer hätte sie ihm auch bringen sollen? Die Eltern starben, als er kaum die Universität bezogen; die Verbindung mit dem weltverlorenen Heimathstädtchen war unterbrochen. Die ernsten Studienjahre nahmen ihn gefangen; er war Mediciner geworden, eigentlich gegen den Wunsch des Vaters, aber es trieb ihn gewaltsam in diesen mühevollen Beruf.

Nach beendeter Universitätszeit ließ ihn der Zufall die Bekanntschaft eines an der Lungen-Entzündung erkrankten reichen Russen machen, eben als er sich zur Rückreise in die Heimath anschickte, um sich dort niederzulassen und Praxis zu suchen. Armin Elbthal hatte das Glück, den Fremden der Genesung zuzuführen, und zum Dank dafür und weil ihm und seinem halb erwachsenen Sohne der angehende deutsche Doctor so sehr gefiel, machte der russische Kaufherr ihm den Vorschlag, sein Reisebegleiter nach dem Süden zu werden, gewissermaßen als Leibarzt bei ihm einzutreten, und mit dem jungen Hilmar gelegentlich etwas Deutsch und Geschichte zu repetiren. Da hatte Armin denn ein großes und herrliches Stück Welt gesehen, um endlich – auf Zureden der neuen Freunde – in Rußland hängen zu bleiben.

Aber das kleine Spitzentuch der reizenden Hortense hatte ihn überallhin begleitet. Darüber waren nun mehr als dreißig Jahre vergangen, und der vielbeschäftigte Arzt hatte ganz andere Dinge erlebt und gedacht als jene kleine Idylle.

Aber seltsamerweise blieb sein Herz von der Liebe unberührt. Nicht daß er sich gesträubt hätte der Frauenschönheit gegenüber, oder geflissentlich jenem urewigen Zauber aus dem Wege gegangen wäre – es war eben keiner Frau gelungen, ihm mehr als ein flüchtiges Interesse einzuflößen. Dachte er einmal über diese seltsame Thatsache nach, so lautete der Refrain aller seiner Ueberlegungen: »Ich habe keine Zeit zum Lieben, und keine Lust zum Freien ohne Liebe!«

In seiner Junggesellenwirthschaft entbehrte er die Frau nicht; Iwan hing an ihm mit der Treue eines Hundes. Und so ging die Zeit hin, ohne daß er gewahrte, wie rasch die Jahre vorüberflogen. Aber allmälig stand doch eine Sehnsucht auf nach der fernen Heimath, nach der Stille des alten Städtchens, nach dem Rauschen der Bäume des deutschen Waldes; und sie wuchs dermaßen, daß sie ihn krank machte. So knüpfte er denn brieflich längst aufgegebene Verbindungen wieder an mit der Vaterstadt und sprach den Wunsch aus, sich dort niederzulassen, um auszuruhen. Da geschah es, daß man ihm das grünumrankte Haus anbot, das eben leer stand und verkauft werden sollte; und er erwarb es mit einer Hast und einer Freude, als sei es das denkbar schönste Besitzthum der Welt.

Dies Fleckchen Erde schien ihm unverändert, als er einzog. Er fand die Cousine schon dort. Sie hatte alles nach seinen Angaben und mit der Summe, die er ihr dazu angewiesen, wohnlich eingerichtet und über vier Wochen nach Herzenslust dort gewirthschaftet, um alles in Stand setzen zu lassen. Sie erschrak über den hochgewachsenen Vetter, dessen Bart schon Silberfäden durchzogen; sie hatte ihn seit zwölf Jahren nicht gesehen und ihn sich viel jünger gedacht. Iwan's Erscheinung flößte ihr Entsetzen ein – ihrem Wunsche nach hätte sein erster Gang dem einzigen Friseur des Städtchens gelten müssen; aber Herr und Diener lachten über dies Verlangen.

Armin durchwanderte mit seltsamen Empfindungen als Fremder die Heimathstadt. Moderne Häuser waren entstanden, ganze Straßen hatte man angelegt, eine kleine Bahnhof-Station erhob sich vor den Thoren. Wenn er das einsam gelegene kleine Haus nicht erworben hätte, an dem so viele Erinnerungen hingen, er wäre wieder fortgezogen. Ein unaussprechlich süßer, melancholischer Zauber umfing ihn hier; es war wie in dem Eichendorff'schen Gedicht:

»Als sollte in dem Garten
Voll Rosen weiß und roth,
Meine Liebste auf mich warten,
Und ist doch schon lange todt.«

Der Hollunderbaum stand noch da, unter dem er einst das Käthchen von Heilbronn gelesen, während seine Schülerin eine deutsche Uebersetzung zu Stande zu bringen versuchte, und die Büsche von Federnelken und Goldlack, die Rosen und Lilien, deren Düfte oft plötzlich in den Hörsälen, am Secirtisch und an den Krankenbetten, ja sogar in den Orangengärten von Sorrent ihn überströmt hatten, waren alle noch da.

In seinem nunmehrigen Besitzthum kannte er jedes Steinchen auf den Wegen, jeden Baum; draußen fühlte er sich fremd. Die bekannten Gesichter waren verschwunden, die damals jung gewesen, alt geworden, die Alten unsichtbar geworden. Statt der Kegelbahn im »Rothen Löwen« war ein sogenanntes Casino aufgetaucht mit einem armseligen geschnörkelten Garten voll moderner kümmerlicher Blumen. Die alten Kastanienbäume, die man hatte stehen lassen, schienen fort und fort über diese traurige Wandlung die Köpfe zu schütteln. Reiche Leute hatten sich hübsche Villen für die Sommerfrische gebaut, um Waldluft zu athmen. Auch unweit des grünumrankten Hauses, das nun dem russischen Doctor gehörte, stand ein allerliebstes Schweizerhaus; die Familie eines reichen Kaufherrn der nächsten Hafenstadt bewohnte sie.

Armin empfand einstweilen, zur großen Verwunderung seiner Hausverwalterin, noch nicht die mindeste Lust, sich in eine Praxis zu stürzen. Er wollte einmal eine Pause machen, wie er sagte, und wieder warm werden unter den Leuten, die ihm fremd geworden. Besuche wurden pflichtschuldigst gemacht und erwidert; dann sollte ein größeres medicinisches Werk begonnen werden – nur kein Gesellschaftsleben. Fräulein Marianne mußte allein die Einladungen annehmen und verschiedene Abendfeste besuchen, Kaffee- und Theestunden ungerechnet. Für das nächste Jahr stellte der russische Doctor einige Mittagsgesellschaften in Aussicht; vorderhand wollte er sich einleben.

»Die Leute haben sich alles ganz anders gedacht,« klagte Marianne. »Man hoffte, du würdest ein Haus machen. Und ich fürchte, für eine spätere Praxis ist es schlimm, daß du unverheirathet bist. Hier ist außer den beiden Doctoren, die viel jünger sind als du, sogar der Zahnarzt verheirathet. Es ist traurig, daß du nur für die Allgemeinheit ein Herz hast und nicht für das Individuum. Aber ich wette, zur Strafe deiner Fühllosigkeit wird dich die Liebe einmal Hals über Kopf überfallen!«

Er lachte über ihre Drohung. Sie aber sagte sich ganz heimlich im stillen Kämmerlein, daß vielleicht ihr stilles Walten und Mühen um ihn diese Stunde eines Tages herbeiführen würde. Der Spiegel, den sie bei dieser Reflexion zu Rath zog, zeigte ihr, daß sie für eine Achtunddreißigjährige noch recht frisch aussehe. Und war sie nicht ein Muster von Sparsamkeit und Wirthlichkeit? Und war das nicht die Hauptsache bei der Wahl einer Frau für einen Mann seines Alters? Es war doch eigentlich schade um ihn; er würde einen trefflichen Ehemann abgegeben haben. Nun, es war eben noch nicht aller Tage Abend.


 << zurück weiter >>